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Johanne Johansen muss kurz nach ihrem 65. Geburtstag erfahren, dass das traditionsreiche Familienunternehmen – die Elbreederei Kurt Johansen & Söhne – kurz vor der Pleite steht. Das Lebenswerk ihrer Eltern steht auf dem Spiel und sie weiß, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen kann. Ihre Cousine Luise Gehrke ist zehn Jahre jünger als Johanne und glücklich verheiratet. Zumindest war Luise davon überzeugt, bis ihr Mann einen schrecklichen Unfall hat und plötzlich ihr ganzes Weltbild ins Wanken gerät. Obwohl sich Johanne und Luise nur leidlich verstehen, müssen sie nun wohl oder übel die Reederei gemeinsam retten, da beide Firmenanteile halten. Und dabei kommen gut gehütete Familiengeheimnisse ans Licht, die alles verändern ... Entdecken Sie auch weitere SPIEGEL-Bestseller von Dora Heldt, wie ihre ›Das Haus am See‹-Reihe. (SPIEGEL 2023)
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Seitenzahl: 592
Eigentlich wollte Johanne Johansen einfach nur ihren Ruhestand genießen. Endlich keine nervigen Kinder und unerzogenen Hunde auf dem Weg zur Arbeit, keine geschwätzigen Kollegen, kein chaotischer Chef. Doch als sie erfährt, dass das Familienunternehmen ihrer verstorbenen Großeltern – die Elbreederei Kurt Johansen & Söhne – kurz vor der Pleite steht, gerät alles aus den Fugen. Gemeinsam mit ihrer zehn Jahre jüngeren Cousine Luise, die Johannes Meinung nach nicht mehr als Maniküre, Wellness und ihre angeblich so perfekte Ehe im Kopf hat, muss sie handeln. Doch der bereits entstandene Schaden ist groß und die Geheimnisse, die nach und nach ans Licht kommen, zwingen die Frauen der Familie Johansen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen …
Dora Heldt
Roman
Für alle unterschätzten älteren Frauen: Wenn ihr wollt, könnt ihr es noch!
»Das war’s«, Johanne Johansen legte eine Unterschriftenmappe auf den Schreibtisch ihres in wenigen Sekunden ehemaligen Chefs und ließ einen Schlüsselbund darauf fallen. »Ich gehe jetzt.«
»Was?« Benjamin Gruber hielt seinen Blick auf den Bildschirm gerichtet. »Die BFC Primero läuft um 18 Uhr ein, wo steht denn jetzt hier der Löschbeginn?«
»Vorletzte Spalte, morgen um 7 Uhr. Und ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Ach, da!« Er nickte, dann sah er seine Sekretärin plötzlich verständnislos an. »Wie? Alles Gute?«
»Heute ist mein letzter Tag.« Johannes Gesichtsausdruck war neutral. »Ich bin ab sofort in Rente. Die Mappe können Sie nach dem Unterschreiben Svenja geben, sie macht dann die Post fertig. Meine Schlüssel habe ich hier hingelegt. Auf Wiedersehen und einen schönen Feierabend.« Sie wandte sich ab und wollte das Büro verlassen, als Benjamin Gruber plötzlich aufsprang und eilig den Schreibtisch umrundete. »Was? Nein. Heute? Also bitte, Frau Johansen, das ist doch nicht Ihr Ernst? Sie sind doch noch bis Ende des Monats hier?«
»Nein.« Johanne war schon an der Tür. »Ich habe es Ihnen bereits vor vierzehn Tagen mitgeteilt und Ihnen letzte Woche eine Mail geschrieben, mit cc an die Personalverwaltung. Unter Berücksichtigung meiner restlichen Urlaubstage und der Überstunden ist heute der letzte Tag. Also, wie gesagt, alles Gute.«
»Moment, Moment, warten Sie«, er schob sich hektisch an ihr vorbei und versperrte den Weg. »Aber Ihr Abschied? Die Feier? Wir wollten doch noch eine kleine Feier machen, Sie können nicht einfach so gehen. Außerdem wollten wir noch darüber sprechen, ob Sie eventuell doch noch ein paar Tage … Sie können nicht heute so einfach …«
»Doch«, nickte Johanne, »kann ich. Und ich habe Ihnen bereits mindestens zwanzig Mal gesagt, dass ich nicht länger zur Verfügung stehe. Wenn Schluss ist, ist Schluss. Außerdem hasse ich Abschiedsfeiern, ich glaube, auch das habe ich mehrfach erwähnt. Svenja ist eingearbeitet, ich habe alles übergeben, also gehe ich jetzt. Auf Wiedersehen, Herr Gruber.«
Sie schob ihn energisch zur Seite und öffnete die Tür. Er folgte ihr mit hängenden Schultern und warf einen hilfesuchenden Blick ins Nebenbüro, in dem eine junge Frau am Schreibtisch saß. »Bitte, Frau Johansen, einen Moment noch. Svenja, wussten Sie das? Dass Frau Johansen heute geht? Für immer? Was ist denn mit der Feier? Wir können doch nicht einfach so auseinander… nach dreißig oder wie vielen Jahren … Svenja, sagen Sie doch auch mal was.«
»Ja, aber …«, Svenja hatte sich erhoben und sah ihren Chef nervös an. »Was soll ich denn …?«
»Zweiundvierzig«, bemerkte Johanne, während sie ihre Jacke vom Garderobenhaken nahm und sie anzog. »Genau gesagt zweiundvierzig Jahre, acht Monate und vier Tage Schiffslogistik und Warenverkehr. Das reicht.« Sie drapierte ein Seidentuch um den Hals und knöpfte die Jacke zu, während sie ihren Chef und ihre Kollegin ungerührt musterte. »Also dann. Ich muss los, sonst ist der Bus weg. Svenja, schließen Sie den Mund. Herr Gruber, einen schönen Tag.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Büro und nahm zum letzten Mal die Treppe zum Ausgang. Es war erledigt.
An der Haltestelle St. Annen musste Johanne nur zwei Minuten warten, bis der Bus kam. Sie stieg vorn ein und setzte sich auf den freien Platz hinter dem Fahrer. Hier saß sie am liebsten, sie hatte den Busfahrer gern im Blick. Zumal es heute wieder der etwas dickliche mit den dünnen Haaren war, der immer so missmutig guckte. Sie war sich nie ganz sicher, ob er nicht irgendwann einfach aussteigen würde und die Fahrgäste sitzen ließe. Sie hatte da lieber ein Auge drauf.
Während der Bus an den roten Backsteingebäuden der Speicherstadt vorbeifuhr, legte sich eine große Zufriedenheit über Johanne. Es war ihre letzte Heimfahrt nach ihrem letzten Arbeitstag. Ab morgen könnte sie jeden Tag ausschlafen, wenn sie wollte. Sie könnte im Bademantel im Garten sitzen und Vögel beobachten. Oder nächtelang dicke Bücher lesen. Sie musste nicht mehr auf die Uhr sehen, hatte keine Termine mehr einzuhalten und brauchte nicht mehr unter Menschen. Es waren ausgezeichnete Aussichten.
»Mama, ich will ein Eis! Mamaaa. Ich. Will. Ein. Eiiis!« Die durchdringende Stimme des pummeligen Jungen, der gerade von seiner Mutter an der nächsten Station in den Bus gezogen wurde, riss Johanne aus ihren Gedanken. Sie warf ihm einen bösen Blick zu, den nur die Mutter auffing, die genauso böse zurücksah, bevor sie ihren krakeelenden Sohn weiter durch den Bus schob. »Gleich, mein Schatz. Mama kauft dir gleich ein Eis.«
Johanne sah den beiden hinterher. In zehn Jahren würde das dicke Kind vermutlich Gelenkschmerzen und Diabetes haben. Sein Weg war vorgezeichnet, Johanne hätte die Mutter gern über dieses Schicksal informiert, aber was sollte das nützen? Sie selbst hatte weder Kinder noch Enkel, dieser Kelch war an ihr vorübergegangen, was sie keinesfalls bedauerte. Die meisten Kinder und jungen Menschen gingen ihr auf die Nerven. Fast so sehr wie Hundebesitzer, von denen jetzt auch noch einer zustieg und sich vor ihr in den Gang stellte. Der Hund sabberte auf den Boden, Johanne wandte ihren Blick angeekelt von den nassen Flecken ab. Widerlich. Jetzt fing der Typ auch noch an, laut zu telefonieren. Mit einer Vanessa. Konnte er dieses Gespräch nicht privat führen? Musste er alle Umstehenden zwingen, sich diesen Unsinn anzuhören? Das war das Problem dieser neuen Generation. Sie waren laut, indiskret und raumgreifend. Und viele von ihnen hatte Hunde oder – fast noch schlimmer – Kinder.
Sie zwang sich, nach draußen zu sehen und all das zu ignorieren, sie hatte es bald geschafft.
»Nächste Station: Goldbekplatz.«
Johanne drückte auf die Haltetaste und stand auf. Sie schlängelte sich am Hund vorbei, um zur Tür zu kommen, der immer noch telefonierende Mann stand mit dem Rücken zu ihr und versperrte den Weg. Sie tippte ihm auf die Schulter, er drehte sich um und sah verblüfft zu ihr hoch, bevor er zur Seite trat. Johanne überragte ihn um einen Kopf, damit hatte er anscheinend nicht gerechnet. Als der Bus hielt, stieg sie aus und blieb noch einen Moment stehen. Das war er also gewesen, der letzte Tag ihres Berufslebens. Und die letzte Fahrt. Ein dickes krakeelendes Kind, ein lauter junger Mann und ein sabbernder Hund. Neben anderen müden Menschen, die bräsig auf ihre Handys starrten und nichts von der Welt mitbekamen. Nichts davon würde sie vermissen. Gar nichts. Sie warf einen letzten Blick auf den abfahrenden Bus und wandte sich um. Jetzt hatte sie endlich ihre Ruhe.
Der bunte Teppich aus Krokussen war so dicht, dass immer wieder Passanten stehen blieben, um die Pracht zu bewundern. Es war das einzig Bunte in ihrem Garten und lenkte wenigstens von der maroden Backsteinwand und dem vernachlässigten Vorgarten ab. Johanne ließ die quietschende Metallpforte hinter sich zufallen und ging, einigen überhängenden Zweigen ausweichend, über den schmalen Weg an den wilden Narzissen vorbei zu den Steintreppen, die zur Haustür führten. Mit dem Fuß schob sie einen abgebrochenen Ast vom Weg ins Beet und stieg die Treppe hoch. Wie jedes Mal, wenn sie die schwere Tür aufschloss, von der die weiße Farbe abblätterte, dachte sie, dass sie dringend einen Maler anrufen müsste, der die Tür lackierte. Jetzt konnte sie das endlich erledigen.
»Johanne?« Die Stimme kam aus der oberen Etage. »Bist du das?«
»Ja, Edda.«
Sie warf einen kurzen Blick in den hohen Spiegel, der hier schon stand, seit Johanne denken konnte. Sie nahm ihr Tuch ab, zog die Jacke aus und hängte beides an einen Bügel, bevor sie versuchte, ihre grauen, welligen Haare zu glätten. Sie musste dringend zum Friseur, sie hatte es in den letzten Monaten nicht geschafft, und dementsprechend konnte man das, was sie auf dem Kopf hatte, nicht mehr als Frisur bezeichnen. Jetzt waren es nur noch sehr viele Haare. Sie war nicht sonderlich eitel, deshalb störte es sie auch nicht, allerdings wurde ihr langsam zu warm auf dem Kopf. Sie rückte den Kragen ihrer weißen Bluse gerade und strich einen Faden von der dunkelblauen Strickjacke.
»Johanne?«
»Ich komme.«
Ihre Schritte hallten auf den alten Steinfliesen, als sie den Eingangsbereich durchquerte. Die Hand am Treppenlauf stieg sie schließlich langsam die ausgetretenen Stufen hoch.
»Deine Cousine hat schon dreimal angerufen«, Edda kam ihr langsam entgegen, wie immer im gestärkten weißen Kittel, den sie heute über einem gelben Pullover trug. »Es geht um die Feier. Du sollst sie zurückrufen. Willst du eine Tasse Tee?«
»Ja, bitte«, Johanne folgte Edda ins Wohnzimmer. »Ich ruf sie später an. Ich habe jetzt keine Lust über diese alberne Silberhochzeit zu reden. Fünfundzwanzig Jahre mit diesem schrecklichen Thilo-Alexander, das ist doch weiß Gott kein Grund, zu feiern. Hast du wieder Rückenschmerzen? Du gehst so schief.«
»Ja«, leise ächzend ließ Edda sich in ihren braunen Cordsessel fallen. »Aber was will man machen? Ich werde in zwei Jahren achtzig, mein Rücken auch. Der Lack ist ab. Und? Wo sind die Blumen?«
»Welche Blumen?« Johanne stand noch und schenkte den Tee ein, bevor sie sich setzte.
»Deine Abschiedsblumen«, antwortete Edda erstaunt. »Sag bloß, du hast keine bekommen. Du hattest heute deinen letzten Arbeitstag. Das gehört sich doch so.«
»Ich hatte Glück«, entgegnete Johanne und rührte Sahne in den Tee. »Sie haben vergessen, dass heute mein letzter Tag war, deshalb gab es weder Blumen noch alberne Reden noch Geschenke, die sowieso niemand braucht.«
»Johanne!« Edda war empört. »Manchmal übertreibst du es aber auch mit deiner Art. Du stößt die Leute vor den Kopf. Ich bin mir sicher, dass deine Kollegen sehr bedauern, dass du aufhörst, von deinem Chef ganz zu schweigen. Niemand kennt sich so gut in der Firma aus wie du, jetzt ist all das Wissen weg. Du hättest ihnen Gelegenheit geben müssen, sich gebührend von dir zu verabschieden. Du hättest sie zu einem kleinen Abschiedsgetränk einladen können. Und was machst du? Du gehst einfach. Das ist nicht nett.«
»Nett?« Johanne hob die Augenbrauen. »Edda, ich bitte dich. Ich hatte keine Lust, unter irgendwelchen schrecklichen Girlanden und Luftballons zu stehen und selbstgebackenen Kuchen zum lauwarmen Sekt zu essen. Svenja hätte vermutlich auch noch ein lustiges Gedicht zum Ruhestand vorgelesen, so was kann ich nicht ertragen.«
»Aber ich hätte wenigstens das Geschenk genommen«, Edda verschränkte ihre Finger im Schoß. »Das Abschiedsgeschenk. Nach all den Jahren hättest du was Schönes verdient. Eine Uhr vielleicht. Oder eine schöne Reise. Der Herr Gruber hätte sich bestimmt nicht lumpen lassen.«
»Ich habe immer die Geschenke besorgt«, Johanne lächelte schmal. »Sogar für seine Frau. Er hat doch keine Lust, sich Gedanken zu machen.« Langsam stellte sie ihre Tasse ab und sah sich in Eddas Wohnzimmer um.
»Sag mal, hast du Fenster geputzt? Du sollst doch deinen Rücken schonen.«
»Ach was«, winkte Edda ab und beugte sich ein Stück vor. »Ich kann ja nicht den ganzen Tag rumsitzen. Wie geht es denn jetzt weiter? Gehst du nie mehr ins Büro?«
»Nein. Ich bin jetzt in Rente. Nie wieder Hafengeschäfte, nie wieder Container, nie wieder Lkws, nie wieder Slotbuchungen, nie wieder Geschäftsreisen organisieren, nie wieder Termine. Ich muss nirgendwo mehr hin, ich mache jetzt nur noch das, was ich will.«
»Und was bitte soll das sein?«
Johanne hob den Kopf und sah Edda an. Sie konnte ihr nichts vormachen, Edda Frank war als ganz junge Frau in dieses Haus gekommen, um hier als Haushälterin zu arbeiten. Damals wohnten noch Kurt und Marianne Johansen in der Villa, Johannes Großeltern. Als Edda ihre Stelle angetreten hatte, war sie selbst noch ein Kind gewesen und nur ab und an zu Besuch gekommen, später war sie dann auch in die Villa gezogen. Inzwischen waren nur noch sie beide da. Zwei alte Frauen in einer alten Villa.
»Was?«, wiederholte Edda. »Was willst du nun tun?«
»Nichts«, Johanne sah sie gelassen an. »Eigentlich nichts. Vielleicht lese ich mal ›Moby Dick‹. Oder ich sortiere meine Fotoalben. Oder ich backe Kuchen. Mal sehen. Hauptsache, ich habe meine Ruhe.«
»Dann fängst du bald an, dich zu langweilen«, entgegnete Edda. »Und du wirst dick. Außerdem konntest du noch nie backen. Du musst dir ein Hobby suchen und ein paar Freunde. Sonst wirst du wunderlich. Und vergesslich. Apropos, willst du nicht mal Luise zurückrufen?«
Johanne hob die Augenbrauen. Sie war bereits wunderlich, zumindest war das die Meinung der wenigen Familienmitglieder, die es noch gab. Und deren Nähe sie so gut es ging mied. Ihre Eltern und Großeltern waren tot, Geschwister hatte sie nicht. Blieb nur ihr etwas schwieriger und in einer Seniorenresidenz lebender Onkel Friedrich, seine Tochter Luise, deren Mann Thilo-Alexander und deren mittlerweile erwachsene Kinder Henner und Emma. Wobei sie nur mit Emma verwandt war, den etwas bräsigen Henner hatte Thilo-Alexander mit in die Ehe gebracht. Eine fürchterliche Familie, die sie am liebsten ignorierte. Das tat sie auch die meiste Zeit. Es sei denn, Luise rief an. Wie aufs Stichwort klingelte jetzt das Telefon unten im Flur.
»Das wird sie sein«, sagte Edda sofort schadenfroh. »Du kommst heute nicht drum herum.«
»Ich mache es kurz«, Johanne stand entschlossen auf und strich ihre Strickjacke glatt. »Ich bin gleich wieder da.«
Das Telefongespräch hatte tatsächlich nur wenige Minuten gedauert, kopfschüttelnd legte Johanne das Mobilteil zurück auf die Station und ging zurück.
»Und?«, rief Edda ihr schon von oben entgegen. »Was wollte sie von dir?«
»Nichts, was ich machen will«, war Johannes Antwort. »Weißt du, was das Schlimme ist? Die Leute werden alle immer dümmer.«
Luise wickelte hektisch ihre lange Perlenkette um den Finger, nachdem sie das Telefon wütend auf den Tisch im Wintergarten geknallt hatte. Ihre Cousine wurde immer schräger, es war nicht zu fassen, sie hatte doch nur eine kleine Frage gestellt. Unmöglich, wirklich unmöglich. Plötzlich war ein leises Knacken zu hören, im nächsten Moment sprangen die Perlen auf den Boden. »Scheiße«, rief Luise und versuchte erfolglos, die kostbaren Stücke mit einer Hand aufzufangen. »Nein, nein, nein.« Sofort ging sie auf die Knie, um die überall herumkullernden Perlen aufzuklauben.
»Emma!« Einige Kügelchen rollten hinter den Schrank, sie würde sie niemals alle wiederfinden. »Herrgott, Emma! Sitzt du auf deinen Ohren?«
»Was?« Ihre Tochter kam in den Wintergarten geschlurft, Kaugummi kauend, das unvermeidliche Handy vorm Gesicht und keinen Blick an ihre Umgebung verschwendend. Sie hatte weder Augen für ihre auf dem Boden herumkriechende Mutter noch für die atemberaubende Aussicht auf den blühenden Garten und die Elbe dahinter.
»Hilf mir mal suchen. Meine Perlenkette ist gerissen, die ist noch von Oma, du hast keine Ahnung, was die wert ist.«
»Perlen bedeuten Tränen«, sagte Emma gelangweilt und ging aufreizend langsam in die Hocke. »Ich hoffe, du bist nicht abergläubisch.«
»Red keinen Unsinn, leg das Handy weg und hilf mir.« Luise ließ die ersten Perlen in eine Glasschale gleiten, die auf dem Tisch stand, und rutschte auf Knien ein Stück weiter. »Und das alles nur, weil ich mich schon wieder über Johanne aufrege. Ich habe sie lediglich gebeten, für mich bei ihrer Freundin Renate anzurufen, um sie noch mal an die Bestätigung zu erinnern, aber nein, das macht sie nicht. Sagt einfach, sie hätte nichts mit der Feier zu tun. Ist doch unmöglich.«
»Hat sie ja auch nicht«, Emma ließ zwei Perlen in die Glasschale fallen. »Ist ja eure Feier. Wieso soll sie da herumtelefonieren?«
»Weil sie Renate Michaelsen privat kennt«, Luise legte sich auf den Bauch, um mit der Hand unter dem Schrank herumzutasten. Deshalb konnte sie nur mit gepresster Stimme hinzufügen: »Die ist die Chefin von der Hafenbar Michaelsen, wo wir den Empfang machen wollen. Und ich habe sie schon zweimal anzurufen versucht, um eine Bestätigung der gemeldeten Personen zu bekommen, die Michaelsen ist aber nie da. Und ruft auch nicht zurück. Ich werde noch wahnsinnig. Deswegen wollte ich Johanne um diesen kleinen Gefallen bitten. Fass mal von deiner Seite unter den Schrank, du kommst da besser ran.«
»Ich habe ein weißes Shirt an«, widersprach Emma empört, »und der Boden ist ganz staubig.«
»Ja, dann hol den Staubsauger.« Luise setzte sich wieder auf und funkelte ihre Tochter an. »Wenn es der Dame zu schmutzig ist, muss sie mal putzen. Du machst hier auch gar nichts mehr.«
»Wieso sollte ich?« Emma zuckte die Achseln. »Hat Frau Arndt Urlaub?«
Luise presste die Lippen zusammen und zählte bis zehn, bevor sie antwortete: »Frau Arndt kommt nur einmal die Woche, was meinst du, wer hier zwischendurch immer putzt?«
»Niemand«, Emma ließ eine Kaugummiblase zerplatzen, »sonst wäre es ja nicht so staubig. Ich muss los, Mama, ich hab jetzt keine Zeit, deine Perlen zu suchen. Bis später.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Wintergarten. Luise zog sich an einem Stuhl hoch und beeilte sich, ihr zu folgen. »Emma, ich glaube, wir müssen uns dringend mal unterhalten.«
»Ich muss zur Uni, sorry.« Emma stand schon an der Haustür, griff nach ihrem Schlüssel und einer Jacke und wandte sich nur kurz um. »Viel Erfolg bei der Suche. Bis später.«
»Das machst du jetzt nicht, du …«
Sie hatte die Tür schon aufgerissen, wich aber einen Schritt zurück, als plötzlich eine Frau vor ihr stand, die gerade einen Finger auf die Klingel gelegt hatte. »Ach, da hast du ja jemanden, der mit dir Perlen suchen kann. Hallo, Franziska.«
Unter Luises wütendem und Franziskas irritiertem Blick ging sie in die offen stehende Garage und schob ihr Rennrad heraus. »Tschüss dann.« Sie schoss die Auffahrt hinunter und war schon um die Ecke gebogen, bevor jemand antworten konnte.
»Ärger im Paradies?« Franziska sah Luise an und lächelte neugierig. »Was hat Emma denn mit ihren Haaren gemacht? Wo sind ihre schönen Locken hin?«
Luise zuckte nur die Achseln. »Ihr gefällt es so. Möchtest du einen Kaffee?« Sie hatte keinesfalls die Absicht, ihrer Nachbarin Franziska zu erzählen, dass sie Emmas pinkgefärbte Haare mit dem zu kurzen Pony und den seltsamen Strähnen in unterschiedlichen Längen einfach nur grauenhaft fand. Zumal sie davon überzeugt war, dass ihre Tochter sich diese Frisur nur deshalb hatte machen lassen, um ihre Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Kurz vor der Silberhochzeit.
»Ja, gern«, Franziska ging schon ins Haus, Luise folgte ihr nachdenklich. Und natürlich fuhr Emma jetzt auch nicht in die Uni, das machte sie nie mit dem Fahrrad, das war ihr von den Elbvororten viel zu weit. Wahrscheinlich hing sie wieder mit irgendwelchen Typen in der Schanze herum, trank Dosenbier und redete dummes Zeug. Das Kind lief ihr im Moment völlig aus dem Ruder.
»… ein Auslandssemester. Macht Emma das auch?«
»Wie bitte?«, Luise war stehen geblieben, sie hatte überhaupt nicht zugehört. Ihre Nachbarin stand schon an der Kochinsel der Designerküche und zog sich einen der beiden Lederhocker vor, auf den sie sich jetzt schwang. Sie sah Luise fragend an. »Ob Emma auch ein Auslandssemester machen will, habe ich gefragt. Unsere Sophie geht im Oktober für ein Jahr nach London. Aber Titus kommt dafür im Sommer zurück aus Boston. Gott sei Dank. So ganz ohne Kinder ist das große Haus zu leer«, sie lachte gekünstelt auf. »Aber wem erzähle ich das, du bist ja auch so eine Glucke. Wie macht Emma sich denn im Studium?«
Genau genommen hatte sie keine Ahnung, wie oft Emma die Uni überhaupt von innen gesehen hatte. Sie erzählte ihr so gut wie nichts mehr. Vielleicht klebte sie sich an den Tagen, an denen sie nicht zuhause war, auf irgendwelchen Straßen fest. Oder überfiel Kioske. Oder alte Frauen an Bushaltestellen. Oder … Luise riss sich zusammen, als sie Franziskas neugierigen Gesichtsausdruck sah, und antwortete betont fröhlich: »Ach, du, gut. Sie studiert ja auf Lehramt und es scheint genau das Richtige zu sein. Sie ist viel unterwegs, lernt gern zusammen mit Kommilitonen, sie findet ja immer schnell Anschluss, das läuft alles ganz prima. Wie war denn eigentlich euer Urlaub? Du hast noch gar nichts erzählt.«
Es klappte, Franziska fing sofort an, das teure Golfhotel in Andalusien zu beschreiben: welche wichtigen Menschen sie dort wieder kennengelernt hatten, beschwerte sich wie immer über das Personal und das instabile WLAN, nannte die Luxusrestaurants, in denen sie mit diversen Freunden gegessen hatten, und ratterte die Labels der Modedesigner herunter, deren Stücke sie wie immer zu unfassbar kleinen Preisen in den diversen spanischen Boutiquen geshoppt hatte.
Luise hörte nur mit halbem Ohr zu, sie kannte die Urlaubsbeschreibungen von Franziska und ihrem Mann zur Genüge, es ging immer um dieselben Sachen, sie musste sich nicht auf die Einzelheiten konzentrieren. Aber es war besser, die geschwätzige Nachbarin reden, anstatt fragen zu lassen. Luise kam ohnehin nicht gegen ihren erfolgreichen Rechtsanwaltsgatten und die beiden hochbegabten und attraktiven Kinder an. Sophie und Titus waren wohlgeraten, sportlich, gut aussehend und schon jetzt in den richtigen Kreisen unterwegs, während Emma gerade alles boykottierte, was ihre Eltern machten. Auch ihr Halbbruder Henner, jetzt schon mit nach hinten gerutschtem Haaransatz und Übergewicht, war nicht gerade der Vorzeigesohn, mit dem Luise hier hätte punkten können. Was sie auch nicht wollte, schließlich hatte Thilo-Alexander ihn mit in die Ehe gebracht. Damals war er zehn Jahre alt gewesen, hatte bei seiner Mutter gelebt und zum Glück nur jedes zweite Wochenende bei ihnen verbracht. Bei diesen Gelegenheiten hatte er alle mit seiner kindlichen Bosheit boykottiert und terrorisiert. Seine Abneigung Luise gegenüber war von Anfang an da gewesen und sie beruhte auf Gegenseitigkeit, daran hatten auch die vergangenen fünfundzwanzig Jahre nichts geändert.
»Und jetzt fahren wir mit unseren neuen Bekannten im Herbst nach Südafrika«, fuhr Franziska fort. »Sie organisieren auch alles, die waren schon ein paar Mal da und kennen sich aus. Und ich wollte da immer schon mal hin, wir waren noch nie in Afrika, das wird doch jetzt Zeit. Reinhardt war aber erst überzeugt, als er gehört hat, dass er in dem Hotel auch Golf spielen kann. Da war er dann einverstanden.«
»Toll«, erwiderte Luise etwas lahm und zwang sich sofort zu mehr Begeisterung. »Und die ganzen Tiere, die man da sehen kann.«
»Ja.« Franziska nickte beiläufig und sah sich um. »Das muss ich jetzt nicht unbedingt haben, so eine Safari in der Hitze, aber das kann man natürlich machen. Wie war das mit dem Kaffee?«
»Entschuldige«, Luise setzte sich sofort in Bewegung und schaltete die große silberne Maschine an. »Milchkaffee, Cappuccino, Latte Macchiato?«
»Cappuccino. Hast du Hafermilch?«
»Natürlich«, Luise lächelte sanft, »Emma trinkt nichts anderes.«
Während sie darauf wartete, dass die Maschine ihre Betriebstemperatur erreichte, fragte sie: »Wolltest du eigentlich was Bestimmtes? Oder nur einen Kaffee?«
»Ach Gott, jetzt haben wir uns fast verquatscht«, Franziska beugte sich sofort vor. »Hätte ich vor lauter Plauderei fast vergessen. Es geht um eure Silberhochzeit. Reinhardt muss an dem Freitag noch nach Frankfurt zu einem Termin und sein Flugzeug landet am Samstag nun erst um 13.45 Uhr. Er schafft es nicht, früher zurückzufliegen. Ihr macht doch den Empfang in der Hafenbar Michaelsen und danach gehen wir erst auf das Schiff zum Feiern, oder? Wann legt das denn ab? Damit Reinhardt hinterherkommen kann.«
»Der Empfang ist ab 11 Uhr«, Luise nahm die Hafermilch aus dem Kühlschrank und kippte sie in den Milchbereiter. Ihr wurde schon von dem Geruch übel. »Dann streiche ich deinen Mann von der Liste. Wir gehen erst ab 18 Uhr an Bord. Das habe ich extra so geplant, damit man sich nach dem Empfang noch umziehen kann. Oder einen Moment hinlegen. Wir sind ja alle nicht mehr so taufrisch.«
Sie fächelte sich mit einer Serviette Luft zu, es war wahnsinnig warm in der Küche. »Kannst du mal hinter dir das Fenster öffnen, ich geh hier gerade ein.«
»Bist du mit den Wechseljahren immer noch nicht durch?« Franziska sah sie mit großen Augen an. »Ich habe kaum Symptome, seit ich Hormone nehme. Solltest du auch machen, dieses Schwitzen ist doch unangenehm. Aber dann komme ich allein zu Michaelsen. Und erst zu zweit an Bord. Sehr schön. Übrigens hat Reinhardt gefragt, warum Thilo-Alexander ein fremdes Schiff mietet. Ihr habt doch genug eigene.«
Der Cappuccino war fertig, Luise zog die Tasse aus der Maschine und streute Kakaopulver auf den Milchschaum. »Bitte«, sagte sie und schob Franziska die Tasse hin. »Und was hast du ihm geantwortet?«
»Dass man auf euren abgerockten Kähnen keine schicke Silberhochzeitsfeier machen kann«, Franziska stockte kurz, dann setzte sie nach. »Na ja, eure Schiffe sind ja okay für Hafenrundfahrten, die die Touris so machen, aber es ist doch kein Rahmen für eine Feier. Das hat Thilo-Alexander neulich selbst gesagt.«
Luise nickte kurz, bevor sie sagte: »Wir haben einen Dreimaster gemietet. So ein Schiff haben wir überhaupt nicht. Aber seid ihr eigentlich mal bei uns mitgefahren? Also, auf einer der Barkassen? Oder auf einem der Fahrgastschiffe?«
»Wozu?«, Franziska lachte. »Ich habe als Kind schon so viele Hafenrundfahrten gemacht, das brauche ich nicht mehr. Und schon gar nicht auf solchen Touridingern, auf denen alles nach Würstchen und Bier riecht. Das hat Thilo-Alexander schon richtig gemacht, dieses schicke Segelschiff zu mieten. Das hat doch Art. Ich habe mir im Internet die Bilder angesehen, ganz toll, wirklich ganz toll.«
Luise hatte sich gewundert, dass Thilo-Alexander unbedingt dieses Schiff hatte mieten wollen. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie die Silberhochzeit im Fischereihafen Restaurant gefeiert und nicht auf der Elbe. Aber ihr Mann war der Meinung, dass es sich für eine Reedersfamilie so gehörte. Auf einem der eigenen Schiffe wollte er die Veranstaltung aber keinesfalls machen, die Leute könnten denken, er wolle sparen. Von abgerockten Kähnen war dabei aber nie die Rede gewesen.
Franziska trank den Cappuccino aus und stellte die Tasse hörbar ab. »Vielen Dank für den Kaffee, aber ich muss jetzt los. Reinhardt kommt in einer halben Stunde und ich habe Sushi bestellt, die muss ich noch abholen. Wir sehen uns morgen im Pilateskurs, oder?« Sie stand etwas umständlich auf und beugte sich zu Luise, um ihr einen Luftkuss neben das Ohr zu hauchen. »Du musst mich nicht rausbringen, ich kenne den Weg. Bis morgen, ciao!«
Luise hörte das Klacken ihrer Highheels im Flur, dann das Zuschlagen der Haustür. Abgerockte Kähne. Vielleicht hatte sie sogar recht, auch Luise war seit Ewigkeiten nicht mehr an Bord gewesen. Aber es war ihre Familie, die die Reederei gegründet hatte, und deshalb konnte sie es nicht leiden, wenn eine Fremde schlecht darüber sprach. Da war sie eigen.
Eine halbe Stunde später ließ Luise die letzte Perle in die Glasschale kullern. Sie hoffte, dass sie alle gefunden hatte, ansonsten würde Frau Arndt mit Glück die restlichen beim Saubermachen finden. Mit einem leisen Ächzen stützte sie sich beim Hochkommen am Tisch ab, im selben Moment hörte sie jemanden durch den Flur kommen.
»Emma?«
»Nein, ich bin’s, ich brauche Unterlagen aus Papas Schreibtisch.«
Luise schloss kurz die Augen, bevor sie langsam den Wintergarten durchquerte und an der Tür stehen blieb. »Ich habe dich doch schon mal gebeten, zu klingeln, statt einfach so reinzukommen. Ich könnte ja auch nackt im Garten liegen.«
Ihr Stiefsohn stand schon am Fuß der Treppe und sah sie ausdruckslos an. »Das ist doch nicht mein Problem. Ich will nur eine Mappe holen, ich bin gleich wieder weg.«
Henner polterte hoch in Richtung Thilo-Alexanders Büro, während Luise ihm nachsah. Sein Hemd war zerknittert und verschwitzt, er müsste dringend mal ein paar Kilo abspecken, dachte sie, der Mann war noch keine vierzig und schnaufte jetzt schon beim Hochgehen. Bei Emma hatten sich glücklicherweise Luises Gene durchgesetzt, ihre Tochter war schlank und drahtig, sie ähnelte mehr ihrer Großmutter als ihrem Vater. Mit Henner hatte sie wenig gemeinsam.
Sie wandte sich ab und ging zurück in den Wintergarten, wo sie sich an die offene Tür stellte und über den gepflegten Rasen und die weißen Tulpenbeete auf die Elbe blickte. Gerade tuckerte eine Barkasse der Reederei Johansen vorbei, sie verfolgte sie mit dem Blick und nahm sich vor, demnächst mal wieder auf einer mitzufahren. In der Hoffnung, dass es nicht ganz so schlimm war, wie Franziska behauptete.
Henners schwere Schritte auf der Treppe waren bis hierher zu hören, Luise drehte sich um und sah ihn auf sich zukommen. »Ich bin dann wieder weg«, sagte er, ohne den Blick von der Mappe zu nehmen, die er in der Hand hielt. »Du kannst dich jetzt nackt in den Garten legen.«
»Sehr freundlich«, antwortete sie frostig. »Und bei der Gelegenheit würde ich dich bitten, deinen Schlüssel hierzulassen, ich weiß gar nicht, wozu du ihn brauchst. Du kannst auch klingeln, wenn du was willst.«
»Mein Vater hat mir den Schlüssel gegeben, er wird seine Gründe dafür haben«, Henner sah sie mit einem arroganten Grinsen an. »Frag ihn danach, wenn er kommt.«
»Er kommt erst morgen, er hat eine Sitzung in Kiel. Und im Übrigen sind das hier mein Haus und meine Schlüssel.«
»Eine Sitzung in Kiel?« Henner hob die Augenbrauen und grinste. »Hat er das gesagt? Na denn, Stiefmutti, ich wünsche dir einen schönen Tag. Tschüss.«
»Was …«, Luise konnte ihren Satz nicht beenden, die Haustür fiel schon hinter ihm ins Schloss.
Johanne schlug die Augen auf und drehte ihren Kopf zum Wecker. Es war drei Minuten vor sechs. Normalerweise hätte er um sechs geklingelt und wie jeden Tag war sie drei Minuten vorher wach geworden. Sie sah zum Fenster und dachte darüber nach, wie sie es fand, nicht mehr aufstehen zu müssen. Einfach liegenbleiben zu können. Ihr wurde warm, sie schob die Decke weg und versuchte weiterzuschlafen. Eine Amsel in der Linde vor dem Haus fing an zu zwitschern, irgendwo hatte Johanne gelesen, dass Vögel in der Stadt lauter waren als auf dem Land, weil sie die Straßengeräusche übertönen mussten. Diese Amsel übertönte alles.
Johanne drehte sich zur Seite und knuffte ihr Kissen zurecht. Wenn sie so lag, tat ihr der Rücken weh, sie ließ sich zurückrollen und zog die Knie an. Dann streckte sie die Beine wieder aus und starrte an die Decke, sie war hellwach und draußen schrie dieser Vogel. Sie sah auf den Wecker. 6.10 Uhr. Jetzt drehte die Amsel richtig auf. Wenn es nicht so warm wäre, könnte sie das Fenster schließen. Dann wäre es zwar stiller, aber auch wärmer. Zu warm, um zu schlafen. Außerdem drückte ihre Blase. Abrupt setzte sie sich auf. Warum sollte sie sich von einem Rentenbescheid diktieren lassen, wann sie aufzustehen hatte? Was war das für ein Blödsinn?
Entschlossen griff sie nach ihrem Morgenmantel, warf ihn über und ging zur Toilette, danach in die Küche, um wie jeden Morgen die Kaffeemaschine anzuschalten. Als sie auf den Knopf drückte und sich zum Gehen wandte, blieb sie plötzlich stehen. Sie musste sich noch nicht anziehen, sie könnte, wie Millionen anderer Rentnerinnen, den ersten Kaffee im Morgenmantel trinken. Ganz entspannt und ohne daran zu denken, dass sie den Bus erwischen musste. Zögernd setzte sie sich an den Tisch und stützte ihr Kinn auf die Hand, den Blick auf die blubbernde Kaffeemaschine gerichtet. Lief der Kaffee immer so langsam durch? Gab es etwas Langweiligeres, als einer Kaffeemaschine zuzusehen? Sie beschloss, stattdessen die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Das machte sie normalerweise erst, nachdem sie sich angezogen hatte, was ihr aber erst einfiel, als sie an der Haustür stand. Zögernd öffnete sie die Tür und trat einen Schritt vor, um an den Briefkasten zu kommen. Niemand war auf der Straße, sie zog eilig die Zeitung heraus und huschte wieder ins Haus. Alte Frauen im Morgenmantel wollte doch am frühen Morgen niemand sehen. Im weiteren Tagesverlauf vermutlich auch nicht.
Aus dem sanften Blubbern war ein lautes Gurgeln geworden, ein Zeichen, dass die Kaffeemaschine langsam zum Ende kam. Während Johanne auf das finale Zischen wartete, faltete sie die Zeitung auseinander und überflog die Schlagzeilen. Die Welt war verrückt geworden, jeden Tag passierte irgendwo eine Katastrophe, drehte irgendwo jemand durch, beschwerte sich irgendwo jemand über irgendetwas. Manchmal war sie froh, dass sie schon so alt war und nicht mehr alles vor sich hatte. Sie hob den Kopf und sah aus dem Fenster in den verwilderten Garten, der so gar nicht in diese hanseatisch vornehme Straße passte. Eigentlich war es sogar so, dass sie nicht nur nicht mehr alles vor sich hatte, im Grunde genommen hatte sie sogar das meiste hinter sich. Sie war in Rente. Und saß hier tatsächlich im Morgenmantel mit dem einzigen Ziel, den ersten Kaffee zu trinken. Als sie sich schließlich mit der gefüllten Tasse wieder der Zeitung zuwandte, fiel ihr im Regionalteil gleich die erste Schlagzeile ins Auge: Feierliche Jungfernfahrt mit der Princess – Barkassenkönig Sigi Schröder erweitert seine Flotte um ein neues Fahrgastschiff
Johanne runzelte die Stirn und überflog den Artikel. Sigi Schröder, ein Barkassenkönig? Ihr Großvater würde im Grab rotieren, wenn er das wüsste.
»Was machst du für ein grimmiges Gesicht?« Edda stand plötzlich in der Tür, einen weißen Kittel über einem dunkelblauen Kleid. »Guten Morgen, Johanne. Du bist noch gar nicht angezogen.« Der letzte Satz war eine verwunderte Feststellung.
»Morgen«, Johanne sah sofort hoch. »Es behagt mir auch nicht, ich gehe gleich ins Bad und ziehe mich an.«
»Wozu?«, Edda nahm sich einen Kaffee und setzte sich Johanne gegenüber. »Du musst nicht ins Büro. Millionen Rentnerinnen trinken im Morgenmantel Kaffee. Was ist mit Sigi Schröder?« Sie verrenkte sich fast den Hals beim Versuch, den Artikel zu lesen. Johanne schob die Zeitung über den Tisch. »Er hat schon wieder seine Flotte vergrößert und wird jetzt als Barkassenkönig tituliert. Dieses Kamel. Das ist doch nicht zu glauben.«
Sie betrachtete Edda, die mit der Zungenspitze zwischen den Lippen den Artikel überflog. Seit Mitte der sechziger Jahre lebte Edda in diesem Haus, seit Johannes Großeltern Kurt und Marianne die junge alleinstehende Frau eingestellt hatten. Edda hatte ihre Mutter kurz nach der Flucht aus Ostpreußen verloren, ihr Vater war im Krieg gefallen, darum war sie bei ihrer Tante aufgewachsen, die sie nur widerstrebend und aus Pflichtgefühl aufgenommen hatte. Deshalb war Edda froh gewesen, den Haushalt dieser herrschaftlichen Villa führen zu dürfen, in der sie auch noch eine kleine Wohnung im Dachgeschoss bekommen hatte.
Schon im ersten Jahr hatte sie sich als Glücksgriff für Marianne und Kurt erwiesen, bis sie ihnen dann plötzlich eröffnet hatte, dass sie schwanger sei. Im Nachhinein war Johanne heute noch erstaunt, dass ihre erzkonservativen Großeltern vergleichsweise entspannt mit dieser Situation umgegangen waren. Es war wohl nur damit zu erklären, dass Edda einfach die perfekte Haushälterin gewesen war, auf deren Dienste die Johansens nicht mehr hatten verzichten wollen. Dafür hatten sie sogar ein uneheliches Kind in Kauf genommen. Die kleine Paula war in diesem Haus aufgewachsen, über den Vater hatte niemand auch nur ein Wort verloren, irgendwann hatten sich alle an das kleine Mädchen gewöhnt, das mit seiner Mutter in der Dachgeschosswohnung lebte.
Paula, mittlerweile fünfundfünfzig und ebenfalls alleinerziehende Mutter, betrieb eine Imbissbude an den Landungsbrücken und hatte sich nie wirklich für ihren Erzeuger interessiert.
»Er wird ein Arsch gewesen sein«, hatte sie irgendwann zu Johanne gesagt. »Sonst hätte Edda mal was erzählt. Aber sie sagt nichts. Und ich frage auch nicht mehr. Manchmal ist es gut, die Details nicht zu wissen.«
»Was aus so einem dicken, dummen Jungen doch werden kann«, Edda schob die Zeitung wieder weg und schüttelte den Kopf. »Der Sigi. Paula und er waren zusammen in einer Klasse, Sigi hatte immer eine Rotznase und hat viel geheult. Und gepetzt. Ein blödes Kind, das ständig von Paula abgeschrieben hat. Sonst wäre der nie versetzt worden. Und jetzt das.«
»Verrückt«, Johanne sah sie an. »Jetzt nennen sie ihn Barkassenkönig und Paula verkauft Pommes. Die Welt ist nicht gerecht.«
»Was hast du gegen Pommes?«, fragte Edda sofort. »Imbissbetreiberin ist etwas sehr Ehrenhaftes.«
»Natürlich«, beeilte sich Johanne zu sagen, »aber es klingt nicht so gut wie Barkassenkönig. Egal, ich gehe mich jetzt mal anziehen.«
»Was ist das hier eigentlich?«, Edda zeigte auf eine schwarze Mappe, die auf dem Tisch lag. »Die war gestern schon hier. Kann die weg?«
Johanne warf einen kurzen Blick darauf. »Da ist eine Liste drin und die dazugehörigen Unterlagen.« Edda sah sie verständnislos an und hob die Schultern. »Wie? Was für eine Liste?«
»Eine Liste der Dinge, die ich in der ersten Woche meiner Rente erledigen muss«, erklärte Johanne geduldig. »Ich habe gern eine Struktur, wie du weißt.«
Edda hatte die Mappe schon aufgeklappt, griff nach dem Blatt, das zuoberst lag, und fing an, laut vorzulesen: »1. Friseur, 2. Termin Orthopäde für Edda, 3. Maler für die Haustür, 4. Hobbys suchen, 5. Sebastian Kruse (Journalist) anrufen.«
Langsam hob Edda das Kinn und starrte Johanne an. »4. Hobbys suchen?« Sie blätterte weiter in der Mappe. Nach den Visitenkarten des Friseurs, des Orthopäden und einer Malerfirma hatte Johanne ein Volkshochschulverzeichnis in die Mappe gelegt, das Edda nun hochhob. »Du willst Kurse belegen?«
»Ja, vielleicht«, Johanne hob die Schultern. »Ich könnte noch mal eine Sprache lernen. Oder Nähen. Oder Fotografieren.«
»Du?« Edda hob die Augenbrauen. »Nähen? Da bin ich mal gespannt. Und wer ist Sebastian Kruse?«
»Ein Journalist, der über den hundertsten Geburtstag der Reederei Kurt Johansen schreiben will. Er braucht alte Fotos von Kurt und seinen Söhnen und der Reederei, Luise hat ihm meine Adresse gegeben und ihm gesagt, dass ich immer noch in Kurts altem Haus wohne und der ganze Keller voller Kartons und Unterlagen ist. Und ich mich mit der Geschichte der Firma auskenne. Luise hat sich doch nie darum gekümmert.«
»Dieses alte verstaubte Zeug im Keller?« Edda riss die Augen auf. »Da lässt du doch hoffentlich niemanden rein. Was soll der denn denken, so wie es da aussieht?«
»Wie in einem Keller«, antwortete Johanne. »Und natürlich lasse ich ihn da nicht rein. Wenn ich Zeit habe, suche ich ihm ein paar alte Bilder raus, das war’s dann auch. Mit der Reederei habe ich doch gar nichts zu tun, was soll ich ihm erzählen?«
»Du hältst fast ein Viertel der Anteile«, widersprach Edda. »Du hast sehr wohl was damit zu tun.«
»Nur auf dem Papier«, Johanne streckte sich. »Zum Glück, sonst müsste ich mich mit Thilo-Alexander auseinandersetzen, das würde ich nicht überleben.«
»Er würde es nicht überleben«, korrigierte Edda. »Wobei ich es immer noch falsch finde, dass du Thilo-Alexander alles überlassen hast. Paula hat neulich erzählt, dass es im Hafen jede Menge Gerüchte gibt. Über ihn und die Reederei. Und ihren Ruf.«
»Edda«, mit einer Handbewegung wischte Johanne das Gesagte weg. »Du weißt, dass ich diesen Klatsch hasse. Onkel Friedrich hält 51 Prozent der Firmenanteile, Luise und ich teilen uns den Rest und Luises Mann führt die Geschäfte. Fertig. Wir gucken zu und bekommen jedes Jahr ein bisschen Geld überwiesen. Das war immer schon so. Und ich habe nicht die Absicht, irgendetwas an diesem Konstrukt zu ändern.«
Abrupt stand sie auf. »Jetzt ziehe ich mich an. Und anschließend arbeite ich meine Liste ab. Zumindest die Punkte eins bis drei.«
»Ich habe übrigens Paula und Frida zum Essen eingeladen«, Edda wischte ein paar Krümel vom Tisch. »Frida ist gestern aus Flensburg gekommen, das Kind hat bald Semesterferien und bleibt dann bis Ende September in Hamburg. Ist das nicht schön? Die beiden kommen um sieben, um deine Rente zu feiern. Ich habe ihnen gesagt, sie bräuchten dir keine Blumen mitzubringen, weil du bestimmt sehr schöne zum Abschied bekommst. Das war ja wohl nichts. Aber dann kannst du sie gleich nach den Gerüchten über Thilo-Alexander fragen. «
»Ich werde mit Frida und Paula garantiert nicht über Thilo-Alexander sprechen, Edda.« Johanne schüttelte den Kopf. »Das Kind soll mir alles über ihr Nautikstudium erzählen und was sie sonst noch so erlebt. Und Paula muss im Imbiss den ganzen Tag reden, die hat abends dann auch keine Lust mehr, irgendwelche wilden Gerüchte zu verbreiten. Klatsch und Tratsch sind ohnehin nur was für Leute, die ein langweiliges Leben führen. Falls du deine eigene Langeweile besiegen willst, kannst du gern Frühstück machen.«
Sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels fest und verließ die Küche.
Als sie nach dem Duschen vor ihrem Kleiderschrank stand, noch darüber nachdenkend, ob sich die Kleidung einer Rentnerin von der einer Chefsekretärin überhaupt großartig unterschied, fiel ihr Blick auf die Fotos, die gerahmt auf einer kleinen Kommode standen. Eines zeigte ihre Eltern, Inga und Johannes, die mit Johanne auf einem Bootssteg standen und in die Kamera lächelten. Sie war damals sechzehn gewesen, wirkte ungelenk, die langen dünnen Beine staksig, die blonden Haare in alle Richtungen abstehend, dafür ein breites Lächeln in einem sommersprossigen Gesicht. Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit der aparten und dunkeläugigen Inga Johansen, sie sah aus wie ihr Vater und hatte von ihm die Liebe zum Wasser geerbt. Gefühlt war sie in jeder freien Minute ihrer Kindheit auf dem Boot gewesen. »Mein Elbemädchen«, hatte er irgendwann zu ihr gesagt. »Du bist fürs Wasser geboren, du wirst irgendwann das Sagen in der Reederei haben und wirst das besser machen als Friedrich und ich.«
Es war das einzige Versprechen, das er ihr gegeben hatte und nicht hatte halten können.
Das Bild war ein knappes Jahr vor dem Segelunfall entstanden, als noch niemand hatte ahnen können, dass ein Mastbruch während eines Segeltörns auf der Nordsee dieses Familienidyll so abrupt vernichten würde.
Johanne nahm das Bild in die Hand und betrachtete es. Wie wohl ihr Leben verlaufen wäre, wenn ihre Eltern damals nicht ertrunken wären? Und sie nicht mit siebzehn in dieses Haus zu ihren Großeltern hätte ziehen müssen? Sie stellte das Foto zurück. Im silbernen Rahmen daneben steckte ein Foto, das sie zusammen mit ihren Großeltern zeigte. Kaum noch Sommersprossen, kein breites Lächeln, aber eine praktische Kurzhaarfrisur und ein ernster Blick. Es war fast unheimlich, wie sehr sie auf diesem Foto ihrem Großvater Kurt ähnelte. Zwischen diesen beiden Bildern lagen nur zwei Jahre, es waren aber Welten gewesen.
Ein satter Zweiklanggong dröhnte plötzlich durchs Haus und riss sie aus ihren Gedanken. Wer um alles in der Welt stand schon um kurz vor halb acht vor der Tür? Sie saß hier noch in Unterwäsche.
»Edda? Kannst du mal nachsehen? Ich bin noch nicht angezogen.«
Es kam keine Antwort. »Edda?«
Sie antwortete immer noch nicht, also zog Johanne wieder den Morgenmantel über und ging zur Haustür, während der Gong erneut durchs Haus klang. »Ja doch, ich komme.«
Sie öffnete die Tür und sah erst einen riesigen Blumenstrauß, dann den jungen Mann dahinter. »Oh.« Er sah an der Blütenpracht vorbei und grinste sie an. »Habe ich Sie aus dem Bett geholt?«
»Natürlich nicht«, Johanne hob entschlossen das Kinn. »Es ist gleich halb acht. Für wen ist der?«
»Für Frau Johanna Johansen. Geiler Name.«
»Johanne«, korrigierte sie ihn und nahm ihm die Blumen ab. »Mit e. Nicht mit a. Das wäre gewöhnlich. Genauso wie das Wort geil, das ohnehin nicht in diesen Zusammenhang passt. Und beim nächsten Mal reicht es, wenn Sie einmal klingeln. Ich fange nicht an zu rennen, nur weil Sie hier so einen Alarm machen. Schönen Tag noch.«
Er sah sie auffordernd an. Sie starrte zurück. »Ist noch was?«
»Nein«, er trat zurück und schüttelte achselzuckend den Kopf. »Ebenfalls.«
Sie sah ihm mit zusammengepressten Lippen nach, er ließ die Gartenpforte etwas zu forsch zufallen, das war vermutlich die Strafe für das ausgebliebene Trinkgeld. Hätte er nicht so blöd gegrinst und nicht das Wort geil benutzt, hätte er vielleicht etwas bekommen. Aber auch nur dann, wenn sie angezogen gewesen wäre. So nicht.
Mit dem Blumenmonstrum im Arm ging sie zur Küche. Wer immer diesen Strauß ausgesucht hatte, war nicht mit besonders viel Geschmack gesegnet. Diese florale Meisterleistung passte eher auf die Motorhaube eines Hochzeitsautos als in eine haushaltsübliche Vase.
»Mein Gott, was ist das denn?« Edda kam gerade aus dem Nebenzimmer und blieb erstaunt stehen. »Das sieht aus, als wäre jemand gestorben.«
»Stimmt«, antwortete Johanne und legte das Gebinde vorsichtig auf die Spüle. »Haben wir dafür überhaupt eine Vase?«
»Hinten in der Kammer«, antwortete Edda und trat neugierig näher. »Von wem … ach, da ist eine Karte.«
Johanne zog sie aus der Papiermanschette und öffnete den Umschlag.
Liebe Frau Johansen, wir wünschen Ihnen alles Gute zum verdienten Ruhestand und hoffen, dass Sie sich nur noch schöne Tage machen. Mit den allerbesten Grüßen, Ihr Benjamin Gruber und alle Kollegen und Kolleginnen der Abteilung
PS: Die Einzelheiten des Abschiedsessens wird Svenja Ihnen noch mitteilen, so auch die genaue Terminabsprache. LG
Johanne legte die kitschige Karte kopfschüttelnd auf den Tisch, dann zog sie ein zweites Blatt aus dem Umschlag.
Gutschein für ein Wellnesswochenende im Spreewald. Zwei Übernachtungen für zwei Personen mit Halbpension und Nutzung unseres großzügigen Wellnessbereichs.
Ganz langsam ließ Johanne den Gutschein sinken und sah Edda an. »Großer Gott«, sagte sie, »Spreewald. Die spinnen doch.«
»Zwei Mettbrötchen, zwei Tassen Kaffee. Bitte schön«, Paula schob die beiden Teller und Becher über den Tresen und sah zu den beiden Hafenarbeitern, die am Stehtisch neben dem Eingang standen. »Hallo, ihr beiden Süßen, soll ich die Brötchen noch in Häppchen schneiden oder worauf wartet ihr? Und was bekommt ihr zwei?«
Die nächste Frage galt schon einem jungen Paar, das den Imbiss gerade betreten hatte. Während die Frau sich noch die Tafel an der Wand durchlas und die Hafenarbeiter ihre Bestellung abholten, rief Paula schon dem nächsten Ankommenden zu: »Moin, Werner, Becher Kaffee, Käsebrötchen?«
»Ja, Paula, wie immer, danke, wie geht’s dir?« Er schob sich dicht neben das junge Paar und reichte Paula über den Tresen die Hand. »Du siehst aus wie der junge Frühling.«
»Danke, Schätzchen. Ich bekomme trotzdem vier fünfzig.«
»Sollst du haben«, Werner legte einen Fünfeuroschein neben den Teller und griff nach seinem Becher. »Stimmt so. Und sonst?«
»Alles paletti«, Paula lächelte, während sie zwischendurch routiniert mit einem feuchten Tuch über den Tresen wischte und das junge Paar auffordernd ansah. »Und, was soll es werden?«
»Zwei Cola und einmal Pommes mit Ketchup«, sagte der junge Mann. »Was bekommen Sie?«
»Sieben fuffzig.« Die Colaflaschen standen schon vor ihm, während Paula das Sieb der Fritteuse im zischend heißen Fett versenkte. »Ihr könnt euch schon einen Platz suchen, ich sag Bescheid, wenn die Pommes fertig sind.«
Sie wischte sich ihre Hände an einem Tuch ab und lehnte sich für einen Moment an die Spüle. Heute herrschte schon den ganzen Tag Hochbetrieb. Seit die ersten Werftarbeiter auf dem Weg zu ihren Fähren um halb sechs ihre belegten Frühstücksbrötchen und ihren Kaffee geholt hatten, war der Strom der Hungrigen überhaupt nicht abgerissen. Jetzt war es kurz vor zwei, und Paula sehnte sich danach, einen kleinen Moment draußen auf dem Stuhl vor dem Imbiss selbst einen Kaffee zu trinken und vielleicht sogar eine Zigarette zu rauchen. Einen kurzen Augenblick musste sie noch warten, um 14 Uhr würde Hakim kommen, ihre Aushilfe, der seit ein paar Monaten bei ihr jobbte und den sie eigentlich eingestellt hatte, weil er so schöne Augen hatte. Er war wie ein Lotteriegewinn, arbeitete hervorragend, hatte nicht nur schöne Augen, sondern auch gute Manieren und den Anteil der weiblichen Kundschaft eindeutig gesteigert.
Sie kippte die fertigen Pommes in eine Metallschüssel, streute ihre Gewürzmischung darüber und schüttete sie in eine Pappschale. »Die Pommes«, rief sie laut, um dann wieder in normaler Lautstärke zu fragen: »Wer war der Nächste? Ach, herrlich, Hakim, mein Schatz, du kannst hier gleich weitermachen.« Mit einem breiten Grinsen war Hakim gerade reingekommen und zog sich bereits im Gehen seine Jacke aus. Er verschwand nur kurz hinten, um einen Kittel anzuziehen, und kehrte strahlend zurück. »Einen wunderschönen guten Tag, Paula. Möchtest du erst mal eine kleine Pause machen? Die Sonne scheint. Ich mach das hier.«
»Ach, mein Hakim, wenn es dich nicht schon gäbe, müsste man dich erfinden«, Paula legte ihm kurz die Hand auf den Arm, bevor sie ihn umrundete und sich einen Kaffee einschenkte. »Bis gleich. Abkassiert ist schon alles.«
Die Sonne blendete, Paula kniff lächelnd die Augen zusammen, atmete tief ein und betrachtete zufrieden den Trubel auf den Landungsbrücken, auf denen ihr Imbiss stand. Sie liebte es, liebte die vorbeilaufenden Menschen, die ablegenden Hafenbarkassen, die schreienden Möwen, die Fahrkartenverkäufer, die die Touristen zur Hafenrundfahrt lockten, die vorbeifahrenden Fähren, den Blick auf die Kräne im Containerhafen, die ganze Atmosphäre, die es nur hier gab und die ihr Zuhause war.
»Moin, Paula«
»Hallo, Eva.«
»Paula, meine Süße, wie geht’s?«
»Gut, Hannes, alles fein, die Sonne scheint.«
»Hallo, Paula, ich komme nachher zum Feierabendbier.«
»Ich warte auf dich, mein Heinzi.«
Sie winkte und nickte in alle Richtungen, aus denen ihre Stammgäste kamen und gingen. Sie stellte ihren Kaffeebecher auf eine umgedrehte Holzkiste, die ein kleines Stück neben dem Eingang stand, und ließ sich zufrieden auf den alten Campingstuhl daneben sinken. Seit über zwanzig Jahren betrieb sie nun schon den kleinen Imbiss, der schlicht und einfach Paula hieß. Von 5.30 Uhr bis 20 Uhr gab es hier Frühstück, Pommes, Fischbrötchen, Currywurst, Schaschlik und Schnitzel. Ob zum Kaffee oder Feierabendbier: Hier trafen sich Hafenarbeiter in ölverschmierten Overalls, Lotsen und Wasserschutzpolizisten in Uniformen, ausgehfeine Touristen, die vor ihrem Musical noch schnell eine Bratwurst essen wollten, Personal von den Fähren oder die aufgedonnerten Ticketverkäuferinnen der Hafenrundfahrten. Es war immer bunt, es war immer was los und es war immer alles dabei.
Paula streckte die Beine aus und fingerte die Zigarettenschachtel aus ihrer Kitteltasche. Den ersten Ring blies sie in die Luft, bevor sie den Kaffeebecher mit der anderen Hand umschloss. Herrlich, dachte sie, was für ein schöner Tag. Jetzt musste nur noch ihre Tochter auftauchen und gute Nachrichten verkünden, dann war alles perfekt.
»Du weißt, dass Rauchen ungesund ist?« Die tiefe Stimme kam plötzlich von der Seite. Paula beschirmte ihre Augen mit der Hand und sah hoch. »Matthes«, sagte sie grinsend und nahm die Hand wieder weg. »Stimmt, das hab ich neulich auch gelesen, das soll nicht gesund sein. Aber vermutlich ist es auch nicht gesund, den ganzen Tag neben der Fritteuse zu stehen. Oder den ganzen Tag Verbrecher zu jagen, so wie du. Und dann noch auf dem Wasser. Du könntest jeden Tag erschossen werden. Oder ertränkt.«
Sie beugte sich vor und drückte die halb gerauchte Zigarette aus. »Ich kann sowieso nur noch heimlich rauchen. Frida hasst es und hält mir Vorträge, meine Mutter guckt traurig, und wenn jetzt auch noch dauernd die Wasserschutzpolizei kommt und es mir verbietet, macht es bald gar keinen Spaß mehr. Wenn du einen Kaffee willst, musst du reingehen, Hakim ist da und macht dir einen. Ich darf fünf Minuten Pause machen und es sind erst zwei rum.«
»Du bist alt genug, Paula, ich wollte dich nur informieren. Dann hole ich mir mal einen Kaffee.«
»Mach das«, sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Sie kannte Matthes Kruse seit der Grundschule, er war ihr Sitznachbar gewesen. Nach der Schule hatten sie sich ein paar Jahre aus den Augen verloren, irgendwann war er zurück nach Hamburg gekommen, als Wasserschutzpolizist, der jetzt im Hafen Dienst machte. Sie mochte ihn, er war sogar mal in sie verliebt gewesen, das war aber schon Jahrzehnte her. Mittlerweile hatte er eine nette Frau, eine Tochter, einen hässlichen Hund und war einer ihrer besten Freunde.
»So«, Matthes kam zurück und hockte sich, den Kaffeebecher balancierend, vorsichtig auf die Holzkiste. »Hält die mich aus?«
»Wenn du flach atmest und dich nicht bewegst, könnte das klappen.«
Er nippte an seinem Kaffee, während er die vorbeiströmenden Menschen beobachtete. »Das ist ja ein netter junger Typ, dein Hakim, kein Vergleich zu dem dünnen, nervösen Blonden, der vor ihm da war.«
»Nicht nur der«, antwortete Paula. »Die beiden Mädchen davor konntest du doch auch vergessen. Die machen fünfmal Pommes, und wenn dann noch jemand ein Schaschlik will, kriegen die Burnout. Da ist Hakim eine ganz andere Liga, der hat den ganzen Tag gute Laune und schwitzt noch nicht mal, wenn der Laden brennt. Der ist ein echter Glücksgriff. Übrigens gelernter Koch, wenn die Restaurants hier im Hafen das spitzkriegen, werben die ihn mir ab. Aber erzähl das nicht weiter. Ich finde so jemanden nie wieder, die jungen Dinger sind ja alle nicht mehr belastbar. Alle, bis auf unsere Töchter natürlich.«
»Na ja«, Matthes sah sie an. »Svenja hat mich gestern Abend heulend angerufen, um mir zu erzählen, dass Johanne Johansen Knall auf Fall bei Gruber Logistik aufgehört hat. Jetzt muss meine Tochter einen Teil ihrer Arbeit übernehmen, bis Benjamin Gruber jemand neuen gefunden hat. Svenja meint, es sei unmenschlich, sie hätte keine Ahnung, wie Frau Johansen das alles in der normalen Bürozeit gemacht hätte, sie säuft jedenfalls total ab. Zitat Ende. Klingt doch auch schon fast nach Burnout. Was war denn da los, dass Johanne so plötzlich aufgehört hat?«
»Weil sie plötzlich fünfundsechzig geworden ist«, Paula lächelte schief. »Sie hatte es so geplant und auch angekündigt, Gruber hat nur nicht glauben wollen, dass sie wirklich aufhört. Ich übrigens auch nicht, ich weiß gar nicht, was sie jetzt machen will.«
»Warum? Das ist doch traumhaft. Schön ausschlafen, Freunde treffen, Reisen machen, einfach so in den Tag reinleben, klingt großartig.«
»Du kennst Johanne anscheinend nicht«, widersprach Paula. »Ich mag sie sehr, wirklich, ich kenne sie, seit ich sieben bin. Aber ganz ehrlich, so klug sie auch ist, sie hat null soziale Fähigkeiten, Reisen sind ihr ein Gräuel, ihre einzigen privaten Kontakte sind Renate Michaelsen, meine Mutter, Frida und ich, alle anderen Menschen, mitsamt ihrer komischen Restfamilie, meidet sie. Sie hasst Haustiere und kleine Kinder, der einzige Mensch, bei dem sie manchmal ein bisschen schwach wird, ist Frida. Meine Tochter war auch das einzige Kind, das sie je angefasst hat. Ich habe keine Ahnung, was sie jetzt machen wird, wenn sie nicht mehr ins Büro geht. Edda weiß es auch nicht, sie macht sich schon richtig Sorgen, dass Johanne nur noch auf einem Stuhl in der Küche sitzt und blöde wird.«
»Na, na«, Matthes lachte auf. »Ihr übertreibt. Vielleicht legt sie sich noch ein total verrücktes Hobby zu, im Rentenalter drehen manche noch mal richtig auf. Guck mal«, er deutete plötzlich mit dem Kinn in Richtung Wasser. »Das neue Schiff von Sigi Schröder. Schönes Ding. Und groß.«
Paula kniff die Augen zusammen und nickte widerstrebend anerkennend. »Nicht schlecht, der Kahn«, sagte sie. »Ich frage mich nur, wie er das angestellt hat, vom Klassentrottel zum Barkassenkönig zu werden. So doof, wie der immer war. Hätten wir ihn nicht abschreiben lassen, wäre er schon in der vierten Klasse sitzengeblieben. Hättest du das gedacht?«
»Nein. Aber er war immer irgendwie clever. Und eine Zecke. Jetzt profitiert er von der Schwäche der anderen Barkassenreeder. Er wirbt denen auch hemmungslos die Leute ab, das ist kein feiner Zug. Aber das geht uns ja nichts an. Oh, schau mal, wer da kommt. Hallo, Frida.«
»Hey, Matthes.« Frida, im blauen Kleid, die blonden Haare zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, berührte ihn kurz am Arm, bevor sie sich zu ihrer Mutter beugte und sie auf die Wange küsste. »Hallo, Mama. Ist nichts bei dir los, dass du so einfach draußen sitzen kannst? Sag mal«, sie schnupperte plötzlich, »hast du geraucht?«
»Hol dir was zu trinken, mein Schatz. Hakim ist drin. Wie war’s denn?«
»Erzähl ich gleich, ich hol mir eben eine Cola. Und du hast geraucht, das ist ungesund.« Sie verschwand in Richtung Tür, während Paula ihr noch nachrief: »Sei nicht so streng, ich bin deine Mutter.«
Matthes sah ihr nach und musterte dann Paula. »Dass ihr beide Mutter und Tochter seid, glaubt euch auch kein Mensch.«
»Die Füße«, Paula funkelte ihn aus grünen Augen unter schwarzgefärbten, kurzen Haaren an. Das trägerlose Shirt, das sie trug, war auch schwarz und gab die zahlreichen Tattoos auf ihren Armen frei. »Wir haben die gleichen Füße. Unverkennbar. Ansonsten ist sie eben etwas feiner. Und braver. Keine Ahnung, von wem sie das hat. Von ihrem Vater nicht. Zumindest glaube ich das. Ich habe ihn ja nicht lange gekannt, nur die zwei Wochen am Strand. Und?« Sie wandte sich um, als sie Frida zurückkommen sah. »Wie war es bei Gehrke? Wann kannst du anfangen.«
Frida klappte sich einen mitgebrachten Stuhl auf und setzte sich. »Der blöde Gehrke hat mich abgelehnt.« An Matthes gerichtet fuhr sie fort: »Ich habe mich bei der Reederei Johansen als Schiffsführerin beworben. Ab sofort und bis die Uni wieder anfängt, ich dachte, ich könnte ein bisschen Geld verdienen. Aber die wollen mich nicht.«
»Was?« Erstaunt starrte Paula sie an. »Warum? Mir hat doch neulich jemand erzählt, dass Thilo-Alexander Gehrke händeringend Leute sucht. Sonst hätte ich dir das doch gar nicht gesagt.«
Achselzuckend setzte Frida die Colaflasche an die Lippen und trank. Als sie das Getränk wieder sinken ließ, sagte sie: »Es war nur der Sohn da, Henner Gehrke. Er hat zu mir gesagt, dass sie genug Schiffsführer haben, ich könnte aber in der Gastronomie anfangen. Nach dem Gespräch war ich noch auf dem Klo, und als ich auf dem Rückweg an seinem Büro vorbeikam, war sein Vater da, und zu dem hat er gesagt, dass er keine Weiber auf der Brücke will, das brächte nur Unruhe.«
»Was für ein Arsch«, platzte es aus Paula heraus. »Das ist doch nicht zu fassen. Und du sollst auf den Barkassen Würstchen und Bier verkaufen? Du bist ausgebildete Schiffsführerin, der hat sie doch nicht alle. Dann arbeitest du lieber bei mir.«
»Du hast Hakim«, antwortete Frida frustriert. »Und ich hatte mich auf die Hafenrundfahrten gefreut. So ein Scheiß.«
»Aber ich kann noch jemanden zusätzlich brauchen. Wobei … du bist doch für die Imbissbude viel zu schade.«
»Sigi Schröder«, mischte sich jetzt Matthes ein. »Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass er dringend mindestens drei Schiffsführer sucht. Und bei ihm arbeiten bereits einige Frauen auf der Brücke. Soll ich ihn fragen?«
»Sigi?« Erstaunt fuhr Paula hoch. »Wir hatten doch gerade das Thema.«
»Schon, aber seine Leute sind mit ihm zufrieden, Frida will auf die Brücke und ich kann ein gutes Wort für dich einlegen. Er will es sich doch nicht mit der Wasserschutzpolizei verderben.«
»Das darf Johanne aber nicht wissen, sie hasst ihn«, Frida biss sich auf die Unterlippe. »Hat Sigi Schröder nicht sogar in der Reederei Johansen gelernt und Johannes Großvater hat ihn gefeuert, weil er sich da danebenbenommen hat?«
»Das ist hundert Jahre her«, Paula sah ihre Tochter an. »Eine Ewigkeit. Daran erinnert sich doch kaum noch jemand. Aber würdest du das wollen?«
Unsicher blickte Frida zwischen Matthes und ihrer Mutter hin und her und sagte: »Er ist die Konkurrenz. Das darf Johanne gar nicht wissen.«
»Sie wird es sowieso erfahren«, Matthes quälte sich von der Kiste in eine aufrechte Haltung und sah auf beide Frauen hinab. »Im Hafen wird viel gequatscht. Aber ich denke, sie kann damit leben. Sie hat doch auch gar nichts mit der Reederei Johansen am Hut. Soll ich Sigi fragen?«
»Schätzchen«, Paula beugte sich vor und strich ihrer Tochter eine lockere Strähne hinters Ohr, »du kannst bei Johanne doch gar nichts falsch machen. Sie ist immer auf deiner Seite, egal, was du tust. Du bist ihre einzige Schwachstelle.«
Frida lächelte kurz, blickte nachdenklich auf den Boden und hob plötzlich den Kopf. »Also ja. Wenn du das machen würdest, Matthes, wäre das schön. Ich möchte so furchtbar gern wieder aufs Schiff. Ich habe mich während des ganzen letzten Semesters darauf gefreut. Ich war mir so sicher, dass ich bei Johansen anheuern kann. Und ich brauche das Geld.«
»Wer weiß, wozu das gut ist«, Matthes lächelte und stellte den leeren Kaffeebecher auf die Holzkiste. »Paula, dann geht der Kaffee hier aufs Haus. Vermittlungsgebühr. So, ich wollte Svenja noch ein bisschen Schokolade bringen, damit sie nicht durchdreht, und in einer halben Stunde ist Dienstbeginn. Ich wünsche euch noch einen feinen Tag. Bis bald.«
»Tschüss, Matthes«, Paula erhob sich langsam und streckte ihren Rücken durch. »Dann mal beste Grüße an Sigi.«
Luise hob den Kopf, als sie das Geräusch des sich öffnenden Garagentors hörte, und sah irritiert auf ihre Uhr. Es war kurz nach drei, eine ungewöhnliche Zeit für Thilo-Alexander, nach Hause zu kommen. Sie schob den Nagellackpinsel zurück ins Fläschchen und stand mit den Händen wedelnd auf, um ihrem Mann entgegenzugehen, der gerade den Flur betrat.
»Hallo, Schatz«, Luise blies Luft auf den noch feuchten Nagellack, während sie ihm die Wange hinhielt. »Warum bist du so früh?«
Thilo-Alexanders trockene Lippen trafen ihr Ohr, bevor er seine Tasche fallen ließ und sich an ihr vorbeischob. »Ich habe um 16 Uhr einen Geschäftstermin«, er warf sein Jackett über den Stuhl neben der Garderobe und ihr einen flüchtigen Blick zu. »Und muss mich noch umziehen.«
»Mit wem triffst du dich?« Luise folgte ihm ein paar Schritte, die lackierten Nägel immer noch trocken pustend.