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David Baldacci

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Beschreibung

Eine traumatisierte Ermittlerin, eine Leiche im Grand Canyon und eine gigantische Verschwörung

Als Atlee Pine sechs Jahre alt ist, dringt ein Mann in ihr Kinderzimmer ein und entführt ihre eineiige Zwillingsschwester Mercy. Mercy taucht nie wieder auf, Atlee bleibt traumatisiert zurück. Knapp dreißig Jahre später ist sie zur einzelgängerischen FBI-Agentin geworden, die sich ein möglichst einsames Büro nahe des Grand Canyon gewählt hat. Eines Tages wird am Boden der Schlucht ein grausam aufgeschlitztes Maultier gefunden. Ein scheinbar harmloser Provinzfall. Doch dann stößt Atlee auf Spuren einer mörderischen Verschwörung, die bis in die obersten politischen Kreise reicht. Kann sie höchste Gefahr für Amerika und die Welt abwenden – und zugleich dem Entführer ihrer Schwester näher kommen?

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Seitenzahl: 543

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Das Buch

Ene, mene, muh – nie wird Atlee Pine den Abzählreim vergessen, mit dem der nächtliche Eindringling zwischen ihr und ihrer Zwillingsschwester Mercy auswählte. Mercy nahm er mit. Atlee durfte bleiben. Und sah ihre Zwillingsschwester nie wieder.

Knapp dreißig Jahre später sitzt sie als FBI-Ermittlerin in Shattered Rock, Arizona, der tiefsten Provinz. Auch ihr neuer Fall klingt zunächst extrem provinziell: Sie soll herausfinden, wer das Maultier am Grund des Grand Canyon aufgeschlitzt hat. Doch dann entpuppt sich die Angelegenheit schnell als brisant. Der Reiter des Maultiers ist spurlos verschwunden – aber er war offensichtlich auch kein normaler Tourist, sondern verfolgte eine eigene Agenda. Plötzlich soll Atlee Pine vom Fall abgezogen werden, Befehl von oben. Das stachelt ihren Ehrgeiz erst recht an. Noch ahnt sie nicht, wie groß und weitreichend die Verschwörung ist, die hinter allem steckt. Wird sie Amerika aus größter Gefahr retten können – und zugleich dem Entführer ihrer Schwester näher kommen?

Der Autor

David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit über 130 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. »Ausgezählt« ist der erste Roman in seiner neuen Bestsellerserie um die Ermittlerin Atlee Pine.

DAVID BALDACCI

AUSGEZÄHLT

THRILLER

Aus dem Amerikanischenvon Norbert Jakober

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Long Road To Mercybei Grand Central Publishing / Hachette Book Group Inc., New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 by Columbus Rose, Ltd.

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung von Trevillion Images (Stephen Mulcahey) undShutterstock (S. Borisov, Chantal de Bruijne, Doug Lemke)

Redaktion: Wolfgang Neuhaus

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-24488-0V003

www.heyne-verlag.de

Für Kristen White,

eine großartige Kollegin und Freundin.

Du bist unser rechter Arm, unser linkes Bein und noch viel mehr!

Ich weiß nicht, was wir ohne dich anfangen würden.

Hoffentlich müssen wir es nie herausfinden.

1

Ene, mene, muh.

FBI Special Agent Atlee Pine betrachtete die strenge, düstere Fassade des Gefängniskomplexes, in dem einige der gefährlichsten Exemplare der Gattung Mensch verwahrt wurden.

Mit dem schlimmsten von ihnen wollte Pine heute Abend sprechen.

Das ADX Florence, ungefähr hundert Meilen südlich von Denver, war das einzige Hochsicherheitsgefängnis im US-Bundesstrafvollzug, das den »Supermax«-Standard erfüllte, die maximale Sicherheitsstufe, die man durch Haftbedingungen erreichte, die einer Isolationshaft nahekamen. Insgesamt saßen mehr als neunhundert Sträflinge auf diesem abgelegenen Flecken Erde hinter Gittern.

Nachts, wenn alle Lichter brannten, funkelten die Gebäude des Gefängniskomplexes, vom Himmel aus betrachtet, wie Diamanten auf schwarzem Samt – so kalt und hart wie die Männer in diesen Mauern, ob Wärter oder Häftling. Es war kein Ort für Leute mit schwachen Nerven. Es war ein Ort, an dem Bestien in Menschengestalt untergebracht waren, Psychopathen übelster Sorte.

So beherbergte das Supermax unter anderem den Unabomber, den Attentäter vom Boston-Marathon, die 9/11-Terroristen, mehrere Serienkiller, einen Mittäter des Anschlags von Oklahoma, verschiedene Spione, Anführer der White-Supremacy-Bewegung sowie eine Reihe von Mafia- und Drogenbossen. Die Jüngsten unter ihnen waren Mitte zwanzig, die Ältesten gingen auf die achtzig zu. Die meisten würden in diesen Mauern sterben. Wer zu mehrfach lebenslänglich verurteilt war, konnte sich keine Hoffnungen machen, jemals freizukommen.

Das Hochsicherheitsgefängnis lag fernab der menschlichen Zivilisation in einem kargen Landstrich in Colorado. Noch nie war es einem Häftling gelungen, aus dem ADX Florence auszubrechen. Sollte es wider Erwarten doch jemand schaffen – er hätte keine Chance. Hier gab es kein Versteck, keine Deckung, keinen Schutz in der flachen, offenen Landschaft, in der es nicht die winzigste Erhebung gab, so weit das Auge reichte. Nirgends wuchs ein Grashalm, geschweige denn ein Baum oder Strauch. Der Gefängniskomplex wurde von vier Meter hohen, von Stacheldraht gekrönten Mauern umschlossen. Auf dem Gelände patrouillierten rund um die Uhr bewaffnete Wärter mit Kampfhunden. Falls doch einmal ein Häftling bis zur Mauer durchkam, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Kugel oder scharfen Hundezähnen getötet. Und niemand würde ihm auch nur eine Träne nachweinen.

Durch die schmalen, einen Meter hohen Fenster der Zellen sah man nur den Himmel oder das Dach des Gefängnisbaus. ADX Florence war so angelegt, dass die Insassen zu keinem Zeitpunkt wussten, in welchem Teil der Anlage sie sich befanden. Die Zellen waren dreieinhalb mal zwei Meter groß, und praktisch alles im Innern, außer dem Häftling, war aus Stahlbeton. Die Duschen schalteten sich nach kurzer Zeit von selbst ab, und die Wände waren schallisoliert, sodass kein Häftling mit einem anderen Kontakt aufnehmen konnte. Die massiven Stahltüren wurden hydraulisch betätigt, und die Essensausgabe erfolgte durch einen schmalen Schlitz in der Zellentür. Außerhalb der Zellen war jede Kommunikation untersagt; die einzige Ausnahme bildete der Besucherraum. Für aufmüpfige Häftlinge und Notfälle gab es die Z-Einheit, »Schwarzes Loch« genannt – ein Bereich, in dem die Zellen völlig dunkel blieben und die Betonbetten mit Riemen versehen waren.

Einzelhaft war in dieser Anstalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Supermax war nicht dafür gedacht, den Insassen in seinen Mauern Freude und Zerstreuung zu bieten.

Atlee Pines Wagen war sorgfältig durchsucht, ihr Name und Ausweis anhand der Besucherliste gecheckt worden. Erst danach hatte man sie zum Haupteingang geführt, wo sie den Sicherheitsmännern ihre Papiere zeigte, die sie als FBI Special Agent auswiesen.

Pine war fünfunddreißig und trug seit zwölf Jahren die FBI-Dienstmarke am Gürtel. Auf der golden schimmernden Plakette prangte ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen; darunter war Justitia mit Waage und Schwert zu sehen. Pine fand es irgendwie passend, dass eine weibliche Figur das Abzeichen der weltweit bekanntesten Polizeibehörde zierte.

Nachdem sie den Sicherheitsleuten ihre Glock 23 ausgehändigt hatte, war Pine unbewaffnet, denn die Beretta Nano, die sie normalerweise in einem Fußholster trug, war im Auto geblieben. Vermutlich war es das erste Mal, dass Pine freiwillig ihre Waffe herausgab. Beim FBI gab man seine Pistole nur ab, wenn man tot war. Doch Amerikas einziges Supermax-Gefängnis hatte seine eigenen Regeln, an die auch Pine sich halten musste, wenn sie hineinwollte – und das wollte sie.

Um jeden Preis.

Atlee Pine war groß, eins einundachtzig ohne Schuhe, und athletisch. Die Größe hatte sie von ihrer Mutter geerbt, den durchtrainierten Körper verdankte sie jahrelangem Krafttraining. Die Muskulatur an Oberschenkeln und Waden, Schultern und Oberarmen war ausgeprägt und gut definiert. Neben Gewichtheben hatte Pine Mixed Martial Arts und Kickboxen betrieben und sich dabei so ziemlich alle Tricks und Kniffe angeeignet, um sich gegen einen größeren, schwereren Gegner zu behaupten.

All diese körperlichen Vorzüge und Fertigkeiten hatte Pine mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen erworben: in einer männlich dominierten Welt zu überleben. Ihre physische Kraft, ihre Ausdauer und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten waren dabei extrem hilfreich. Pines Gesicht war kantig, doch auf seine eigene Weise attraktiv. Ihr Haar war dunkel und schulterlang, und das verwaschene Blau ihrer Augen strahlte etwas Unergründliches aus.

Pine hatte das ADX Florence noch nie besucht. Während zwei stämmige Wärter, die bislang kein Wort gesprochen hatten, sie durch die Gänge führten, fiel ihr als Erstes auf, wie still es hier war. Als FBI-Agentin hatte sie schon mehr als einen Knast von innen gesehen. Normalerweise herrschte eine lebhafte Geräuschkulisse: Schreie, Flüche, wüste Drohungen, vermischt mit banalem, meist lautstarkem Gequatsche; man sah Finger, die Gitterstäbe umklammerten, und drohende Blicke aus den schummrigen Tiefen der Zellen. Wer noch nicht völlig verroht war, würde es spätestens bei seiner Entlassung sein. Falls er bis zur Entlassung überlebte. In Florence lag die Todesrate extrem hoch.

Es war wie in Herr der Fliegen.

Mit dem Unterschied, dass es hier Stahltüren und Toiletten gab.

Doch anders als in anderen Gefängnissen war es hier so still wie in einer Kirche. Pine war beeindruckt. Es war bemerkenswert, wenn man bedachte, dass hier Männer einsaßen, die zusammengenommen Tausende Mitmenschen abgeschlachtet hatten – mit Bomben, Schusswaffen, Messern, Gift oder bloßen Fäusten. Oder, im Fall der Spione, mit Heimtücke und Verrat.

Ene, mene, muh,

und raus bist du.

Pine war von St. George, Utah, herübergefahren, wo sie einige Jahre zuvor gewohnt und gearbeitet hatte. Es war eine lange Strecke; sie hatte den gesamten Bundesstaat Utah und die Hälfte von Colorado durchquert. Ihrem Navi zufolge hätte sie für die 650 Meilen etwas mehr als elf Stunden benötigen müssen; sie hatte die Strecke in knapp zehn Stunden bewältigt, dank des bärenstarken Motors ihres SUV und des elektronischen Warngeräts, das sie durch die allgegenwärtigen Radarfallen gelotst hatte.

Einmal hatte sie haltgemacht, um die Toilette aufzusuchen und sich einen Happen für unterwegs zu besorgen. Den Rest der Zeit hatte sie einfach nur das Gaspedal voll durchgetreten.

Sicher, sie hätte nach Denver fliegen und nur das letzte Stück mit dem Auto fahren können, doch sie hatte Urlaub und brauchte ohnehin ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie vorgehen würde, sobald sie ihr Reiseziel erreicht hatte. Eine lange Fahrt durch weite, menschenleere Landschaften bot dafür ideale Voraussetzungen.

Pine war im Osten aufgewachsen, hatte aber den Großteil ihres Berufslebens in den schier endlosen Ebenen des amerikanischen Südwestens verbracht. Und sie hatte nicht die Absicht, von hier wegzugehen. Sie liebte die Weite und die wilde Schönheit der Natur.

Nach ein paar Jahren beim FBI war Pine in der glücklichen Lage gewesen, sich ihre Dienststelle aussuchen zu können, denn sie war bereit gewesen, in die Provinz zu gehen, wohin sonst niemand wollte. Die meisten Agenten zog es an eines der sechsundfünfzig FBI Field Offices. Manche mochten es heiß und bevorzugten Miami, Houston oder Phoenix. Andere hofften auf eine steile Karriere und bemühten sich um einen Posten in New York oder Washington, D.C. Auch Los Angeles und Boston waren aus verschiedenen Gründen äußerst beliebt. Doch Pine hatte nie Interesse gehabt, in einer dieser Städte zu landen. Sie bevorzugte die Abgeschiedenheit einer Resident Agency, kurz RA, einer kleinen FBI-Niederlassung mitten im Nirgendwo. Und solange sie ihre Arbeit tat und Ergebnisse lieferte, ließ man sie in Ruhe.

In den einsamen Landstrichen des Südwestens war Pine oft die einzige Vertreterin der Bundespolizei in vielen Hundert Meilen Umkreis. Aber das störte sie keineswegs. Manche mochten sie für einzelgängerisch und ungesellig halten, vielleicht sogar für einen Kontrollfreak, aber damit tat man ihr unrecht. Sie kam mit den Leuten in ihrer Umgebung gut aus. Es war unmöglich, die Rolle einer FBI-Agentin effizient auszufüllen, wenn man nicht mit Menschen umgehen konnte.

Doch Pine legte großen Wert auf Privatsphäre. Aus diesem Grund hatte sie sich in die kleine, mit nur zwei Agenten besetzte Resident Agency in St. George, Utah, versetzen lassen. Nach zwei Jahren hatte sich dann die Gelegenheit geboten, in die noch kleinere Ein-Agenten-Zweigstelle im Städtchen Shattered Rock zu wechseln. Dieses erst kürzlich eingerichtete Büro westlich von Tuba City befand sich unweit des Grand-Canyon-Nationalparks. Dort wurde Pine von ihrer Sekretärin Carol Blum unterstützt. Die knapp sechzigjährige Frau war seit Jahrzehnten beim Bureau beschäftigt. Blums erklärter Held war der ehemalige FBI-Direktor J. Edgar Hoover, der lange vor ihrer Zeit beim FBI gestorben war.

Pine war sich nicht sicher, ob Blum es mit ihrer Bewunderung für Hoover ernst meinte oder es nur eine Marotte war.

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

Punkt Mitternacht.

Die Besuchszeit im ADX Florence war längst vorbei, doch für Pine hatte die Gefängnisaufsichtsbehörde eine Ausnahme gemacht.

Geisterstunde, ging es Pine durch den Kopf. Die dunkle Stunde, in der die Monster aus ihren Verstecken hervorkriechen. Die passende Zeit für das, was ich vorhabe.

Pine wurde in den Besucherraum geführt und setzte sich auf einen Metallhocker vor eine dicke Trennscheibe aus Sicherheitsglas. Ein Telefon gab es hier nicht; stattdessen war eine runde Sprechöffnung in das Glas eingelassen und bot die einzige Kommunikationsmöglichkeit. Bei einem Besuchstermin nahm der Häftling auf der anderen Seite der Scheibe auf einem ähnlichen Hocker Platz, der am Boden festgeschraubt war. Der Sitz war unbequem, was durchaus beabsichtigt war.

Pine saß da und wartete auf ihren Gesprächspartner, die ineinandergefalteten Hände auf dem laminierten Tisch vor ihr. Sie hatte sich die FBI-Dienstmarke ans Revers geheftet, weil sie wollte, dass der Mann sie sah. Ihr Blick ruhte auf der Tür, durch die die Wärter ihn gleich hereinführen würden. Er wusste, dass Pine mit ihm sprechen wollte. Er hatte sich mit ihrem Besuch einverstanden erklärt – eines der wenigen Rechte, die er hier im ADX Florence genoss.

Pine spannte sich innerlich an, als sie Schritte hörte, die langsam näher kamen.

Ene, mene, meck.

Die Tür öffnete sich mit einem Summen, und ein massiger Wärter mit der Figur eines Schwergewichtsboxers trat ein. Ihm folgte ein zweiter Wärter, dann ein dritter – beide genauso gebaut wie der erste. Offenbar musste man als Wärter in Florence bestimmte körperliche Voraussetzungen mitbringen, von psychischer Robustheit ganz zu schweigen.

Das ist auch anzuraten. Genau wie eine Tetanusimpfung und eine gute Lebensversicherung, ging es Pine durch den Kopf.

Sie schob diese Gedanken beiseite, als nach den drei Wärtern ein mit Fußketten gefesselter Hüne hereinkam. Daniel James Tor. Der Mann, den sie sprechen wollte. Mit über eins neunzig und muskelbepackt eine furchteinflößende Erscheinung.

Dem Häftling folgten drei weitere Wärter. Wie Pine erfahren hatte, galt hier die Regel, dass die Gefangenen bei jedem Schritt außerhalb ihrer Zelle von mindestens drei Wärtern bewacht werden mussten.

Bei Daniel James Tor hielt man anscheinend die doppelte Anzahl für angemessen. Pine konnte es nur zu gut nachvollziehen.

Tor hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Seine Augen starrten leer vor sich hin, als die Wärter ihn zum Hocker führten und seine Ketten an einem Stahlring im Fußboden befestigten. Eine eher untypische Vorsichtsmaßnahme bei Besuchen, wie Pine wusste. Aber auch das schien angemessen für den siebenundfünfzigjährigen Tor.

Er trug einen weißen Overall mit schwarzen, gummibesohlten Schuhen ohne Schnürsenkel. Seine schwarz gerahmte Brille bestand gänzlich aus weichem Gummi, ohne Metallscharniere oder Schrauben. Die Gläser waren aus dünnem Kunststoff. Es war so gut wie unmöglich, diese Brille als Waffe zu benutzen.

In einem Gefängnis musste jedes noch so kleine Detail beachtet werden. Schließlich hatten die Häftlinge alle Zeit der Welt, über Mittel und Wege nachzudenken, sich selbst oder andere zu verletzen.

Pine wusste, dass Tors Körper unter dem Overall von oben bis unten mit eigenhändig gestochenen Tätowierungen bedeckt war. Einige wenige hatte er sich von seinen Opfern machen lassen, die sich als Tätowierungskünstler betätigen mussten, bevor Tor sie ins Jenseits befördert hatte. Angeblich erzählte jedes einzelne Tattoo eine Geschichte über eines seiner Opfer.

Tor war fast hundertdreißig Kilo schwer, wovon nach Pines Schätzung höchstens zehn Prozent Fett waren. An seinen Unterarmen und am Hals traten die Adern dick hervor. Im Gefängnis gab es wenig anderes zu tun, als zu trainieren, zu essen und zu schlafen. Tor war schon während der Highschool-Zeit ein hervorragender Athlet gewesen. Zu bedauerlich, dass sein Modellkörper mit einem kranken, wenn auch brillanten Gehirn gekoppelt war.

Nachdem die Wärter sich noch einmal vergewissert hatten, dass Tor sicher angekettet war, verließen sie den Besucherraum. Pine hörte, wie sie draußen vor der Tür in Position gingen. Bestimmt war das auch Tor bewusst.

Pine stellte sich vor, was geschehen würde, wenn es Tor irgendwie gelang, die Glasbarriere zwischen ihnen beiden zu durchbrechen. Würde sie sich gegen ihn behaupten können?

Interessante Frage, ging es ihr durch den Kopf. Sie wünschte sich beinahe, Tor würde es versuchen.

In diesem Moment fiel sein Blick auf sie und ließ sie nicht mehr los.

Pine hatte durch Sicherheitsscheiben wie diese schon viele Monster gesehen, von denen sie einige selbst zur Strecke gebracht hatte. Daniel James Tor aber spielte in seiner eigenen Liga. Er war der vielleicht grausamste Serienmörder, der dieses Land je heimgesucht hatte.

Tor legte seine gefesselten Hände auf den laminierten Tisch und neigte den Kopf zur Seite, bis die Halswirbel knackten. Dann musterte er Pine erneut, bevor sein Blick für einen Moment zu ihrer Dienstmarke huschte. Seine Lippen kräuselten sich, als er das Symbol für Recht und Ordnung sah.

»Sie wollten mit mir sprechen«, sagte er mit tiefer, monotoner Stimme. »Und?«

Nun war der Augenblick gekommen, auf den Atlee Pine so lange gewartet und den sie doch so lange hinausgezögert hatte.

Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen nur einen Fingerbreit von der dicken Glasscheibe entfernt waren.

»Wo ist meine Schwester?«

Ene, mene, meck,

und du bist weg.

2

In Tors toten, leeren Augen regte sich nichts, als er Pines Frage hörte. Von der anderen Seite der Tür, wo die Wärter bereitstanden, hörte Pine gedämpfte Stimmen, das Knarren von Schuhsohlen und hin und wieder ein klatschendes Geräusch wie von einem Schlagstock, der auf eine Handfläche trifft. Offenbar wappneten die Männer sich für den Fall, dass die Situation eskalierte und es geboten war, dem Häftling die Waffe über den Schädel zu ziehen.

Pine erkannte an Tors Gesichtsausdruck, dass er die Geräusche ebenfalls hörte. Wahrscheinlich entging ihm nicht die kleinste Kleinigkeit, obwohl er seine Haftstrafe letztlich der Tatsache verdankte, doch etwas übersehen zu haben.

Pine lehnte sich ein wenig auf dem Hocker zurück, verschränkte die Arme und wartete auf Tors Antwort. Sie hatte Zeit. Tor konnte nicht aufstehen und davongehen, und sie hatte nicht die Absicht, diesen Raum ohne Antwort zu verlassen.

Tor musterte sie von oben bis unten – so, wie er möglicherweise seine Opfer taxiert hatte. Vierunddreißig Morde hatte man ihm nachweisen können, aber das waren mit Sicherheit nicht alle. Die tatsächliche Anzahl lag bis zu dreimal so hoch, denn es gab eine ganze Reihe ungelöster Fälle.

Deshalb war Pine hergekommen. Wegen einer Tat, mit der man dieses Monster noch nicht einmal in Verbindung gebracht hatte.

Tor war der Todesstrafe nur deshalb entronnen, weil er mit den Behörden kooperiert und ihnen die Orte verraten hatte, an denen die Leichen von drei seiner Opfer lagen. Auf diese Weise hatten drei Familien wenigstens ein bisschen Frieden gefunden, und Tor war mit dem Leben davongekommen, auch wenn er es bis zum Ende in einem Betonkäfig zubringen musste.

Pine musterte das Ungeheuer. Er hat bestimmt keine Sekunde gezögert, sich auf diesen Deal einzulassen, dachte sie. Seine Opfer waren tot, und er lebte. Dass andere starben, war das Einzige, wofür dieser Mann existierte.

Er war Mitte der Neunzigerjahre festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. 1998 hatte er in einem anderen Gefängnis zwei Wärter und einen Mithäftling umgebracht – in einem Bundesstaat, in dem es keine Todesstrafe gab, sonst hätte Tor jetzt in der Todeszelle gesessen oder wäre bereits hingerichtet worden. Nach diesem Vorfall war er hierher nach Florence verlegt worden, wo er seine zigmal lebenslängliche Haftstrafe absaß. Sofern er nicht das Alter eines Methusalem erreichte, würde er im Gefängnis sterben.

Das alles schien ihn völlig kaltzulassen.

»Name?«, fragte er wie ein Angestellter, der eine Bestellung bearbeitete.

»Mercy Pine.«

»Zeit? Ort?«

Er spielte mit ihr, das spürte sie. Doch wenn sie etwas aus ihm herausbekommen wollte, musste sie sich darauf einlassen.

»Andersonville, Georgia. Siebter Juni 1989.«

Tor dehnte den Hals, wie um eine Verspannung zu lösen, streckte seine langen Finger und ließ die Gelenke knacken. Alles an dem hünenhaften Mann schien auf seltsame Weise angespannt zu sein wie Stahlseile kurz vor dem Zerreißen.

»Andersonville, Georgia«, sagte er nachdenklich. »Da haben viele ins Gras gebissen. Im Bürgerkrieg hatten die Konföderierten dort ein Kriegsgefangenenlager. Henry Wirz, der Kommandant, wurde wegen Kriegsverbrechen hingerichtet. Haben Sie das gewusst? Die haben ihn exekutiert, weil er seinen Job getan hat.« Er lächelte. »Der Kerl war Schweizer. Völlig neutral. Trotzdem haben sie ihn gehängt. Verstehe einer die Justiz.«

Sein Lächeln erlosch wie eine aufflackernde Streichholzflamme.

»Mercy Pine«, wiederholte Atlee. »Sechs Jahre alt. Verschwunden am siebten Juni 1989 in Andersonville, Macon County, Georgia. Soll ich Ihnen das Haus beschreiben? Man sagte mir, Sie hätten ein fotografisches Gedächtnis, wenn es um Ihre Opfer geht. Aber vielleicht muss ich Ihnen ein bisschen auf die Sprünge helfen. Ist schließlich ein Weilchen her.«

»Welche Haarfarbe?«, fragte Tor und entblößte breite, gerade Zähne.

Pine deutete auf ihre Haare. »Wie ich. Wir sind Zwillinge.«

In Tors Augen flammte plötzliches Interesse auf. Pine hatte mit nichts anderem gerechnet. Sie wusste alles über diesen Mann.

Bis auf eins. Das alles Entscheidende.

Deshalb war sie heute hier.

Tor beugte sich vor, und das leise Klirren seiner Ketten verriet seine Anspannung.

Erneut warf er einen Blick auf Pines Dienstmarke.

»Zwillinge«, sagte er. »FBI. Jetzt wird mir einiges klar. Reden Sie weiter.«

»Sie waren damals in der Gegend unterwegs. Atlanta, Columbus, Albany, Macon.« Pine zog einen blutroten Lippenstift aus der Tasche und malte für jede dieser Städte einen Punkt auf die Trennscheibe. Dann verband sie die Punkte zu einem Viereck.

»Sie waren ein Mathegenie, obwohl Sie das College nicht lang besucht haben. Sie haben ein Faible für geometrische Figuren.« Pine deutete auf ihre Zeichnung. »Ein Viereck in der Form eines Diamanten. Dadurch kam man Ihnen auf die Spur.«

Genau das hatte Tor übersehen. Die Ermittler hatten das Muster erkannt, an das er sich bei seinen damaligen Verbrechen hielt.

Pine sah, wie Tor die Lippen aufeinanderpresste. Sie wusste, kein Serienmörder würde zugeben, dass jemand schlauer gewesen war als er. Daniel James Tor war nicht nur ein irrer Soziopath, er war auch ein ausgemachter Narzisst. Im Allgemeinen galt Narzissmus als eine relativ harmlose Eigenschaft; man verband damit die Klischeevorstellung eines eitlen, in sich selbst verliebten Menschen, der nichts lieber tat, als sehnsuchtsvoll sein eigenes Spiegelbild zu betrachten.

Doch Pine wusste, dass Narzissmus einer der gefährlichsten Charakterzüge überhaupt war, und dies aus einem einfachen Grund: Narzissten waren in den allermeisten Fällen nicht fähig, sich in andere hineinzuversetzen oder Verständnis für sie aufzubringen. Deshalb hatte das Leben eines Mitmenschen keinen wirklichen Wert für sie. Im schlimmsten Fall war es für einen Narzissten wie ein Fentanyl-Kick, jemanden umzubringen: Es verschaffte ihm ein Hochgefühl, andere zu beherrschen und dabei von dem rauschhaften Wissen erfüllt zu sein, Macht über Leben und Tod zu haben.

Kein Wunder, dass fast alle Serienmörder ausgemachte Narzissten waren.

Pine blickte zu ihm auf. »Andersonville passt eigentlich gar nicht in dieses Muster. War meine Schwester ein Einzelfall, ein Ausreißer? Haben Sie das nebenher gemacht, im Vorbeigehen, weil es sich zufällig ergeben hat? Warum sind Sie zu unserem Haus gekommen?«

»Es war ein Rhombus, kein Diamant«, stellte Tor klar.

Pine ging nicht auf die Bemerkung ein.

Er begann zu dozieren wie ein Universitätsprofessor. »Mein Muster war ein Rhombus, eine Raute, ein Viereck mit gleich langen Seiten, aber verschieden langen Diagonalen. Ein Drachen, den Kinder steigen lassen, ist nur dann ein Parallelogramm, wenn er eine Raute ist.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die geometrische Figur, die Pine mit dem Lippenstift aufs Glas gemalt hatte. »Ein Diamant – das ist kein präziser mathematischer Begriff. Merken Sie sich das. Solche Fehler sind peinlich und unprofessionell. Wenn Sie schon mit mir sprechen wollen, hätten Sie sich wenigstens vorbereiten können.« Mit einer wegwerfenden Geste seiner gefesselten Hände blickte er noch einmal auf das Viereck, als hätte Pine etwas Widerwärtiges, Obszönes gezeichnet.

»Danke für die Nachhilfe«, sagte Pine, obwohl ihr Rauten und Parallelogramme – Mathematik ganz allgemein – herzlich egal waren. »Also, warum dieser Ausreißer? Sie sind sonst nie von Ihrem Muster abgewichen.«

»Sie gehen davon aus, dass ich von meinem Plan abgewichen bin? Dass ich in der Nacht des siebten Juni 1989 in Andersonville war?«

»Ich habe nicht gesagt, dass es in der Nacht war.«

Wieder ließ Tor ein kurzes Lächeln aufflackern. »Der schwarze Mann kommt doch immer nachts, oder?«

Pine dachte flüchtig an ihren Gedanken von vorhin, dass die Ungeheuer stets um Mitternacht aus ihren Löchern hervorkrochen. Wenn man Killer wie Tor erwischen wollte, musste man lernen, sich in sie hineinzuversetzen. Es war ein Aspekt ihres Berufs, mit dem Pine sich bis heute nicht hatte anfreunden können.

Bevor sie antworten konnte, fragte Tor: »Sechs Jahre alt, sagen Sie? Zwillinge? Wo genau ist es passiert?«

»In unserem Schlafzimmer. Sie sind durchs Fenster gekommen, haben uns den Mund zugeklebt, damit wir nicht schreien konnten, und uns mit den Händen festgehalten.«

Sie zog ein Blatt Papier hervor, hielt es an die Glasscheibe und ließ ihn lesen, was darauf geschrieben stand.

Während er die wenigen Zeilen überflog, blieb sein Gesicht völlig ausdruckslos, sodass auch eine erfahrene Agentin wie Pine nichts darin lesen konnte.

»Ein Kinderreim?«, bemerkte er mit einem demonstrativen Gähnen. »Was denn noch? Fangen Sie jetzt an zu singen, oder was?«

»Sie haben Mercy und mich geschlagen, während Sie den Reim aufsagten«, fuhr Pine fort und beugte sich vor. »Auf die Stirn. Abwechselnd. Bei einem Wort auf meine Stirn, beim nächsten auf Mercys. Bei mir haben Sie angefangen, bei meiner Schwester aufgehört. Dann haben Sie sie mitgenommen. Vorher haben Sie mir noch das hier verpasst.«

Sie strich sich die Haare nach hinten und entblößte eine Narbe hinter der linken Schläfe. »Ich weiß nicht, ob Sie mit der bloßen Faust oder irgendeinem Gegenstand zugeschlagen haben, aber Sie haben mir den Schädel gebrochen. Sie waren damals schon ein kräftiger Mann, und ich war ein kleines Kind.« Sie hielt einen Moment inne, ehe sie hinzufügte: »Jetzt bin ich kein Kind mehr.«

»Stimmt. Sie sind groß. Ich schätze mal, eins achtzig.«

»Meine Schwester war schon mit sechs Jahren groß für ihr Alter. Aber sie war dünn. Ein Kerl wie Sie konnte sie spielend tragen. Wohin haben Sie Mercy gebracht?«

»Nichts als Mutmaßungen. Wie Sie selbst gesagt haben, bin ich nie von meinem Muster abgewichen. Wie kommen Sie darauf, dass ich es in diesem Fall getan habe?«

Pine beugte sich noch näher zur Sicherheitsscheibe. »Weil ich mich an Sie erinnern kann.« Sie starrte ihn an. »Jemanden wie Sie vergisst man nicht so leicht.«

In seinen leblosen Augen schien plötzlich ein Feuer zu brennen. »Sie erinnern sich an mich? Und da kommen Sie erst jetzt zu mir? Nach neunundzwanzig Jahren?«

»Ich hatte alle Zeit der Welt. Ich wusste ja, wo ich Sie finde, und dass Sie hier einen längeren Aufenthalt gebucht haben.«

»Ein lahmer Witz, der meine Frage nicht beantwortet.« Wieder warf er einen Blick auf ihre FBI-Dienstmarke. »Welche Dienststelle? Hier in der Gegend, nehme ich an. Lassen Sie mich überlegen …«

»Wohin haben Sie meine Schwester gebracht?« Pine schleuderte ihm die Fragen entgegen, die sie sich auf der langen Fahrt hierher zurechtgelegt hatte. »Wie ist sie gestorben? Wo ist ihre Leiche?«

Tor führte seinen Gedanken fort, als hätte er sie gar nicht gehört. »Sie arbeiten auf jeden Fall nicht in einem der großen FBI-Büros. Sie sind nicht der Typ. Sie tragen legere Klamotten und kommen zu einer ziemlich ungewöhnlichen Tageszeit. Nicht so, wie man es vom FBI gewohnt ist. Außerdem sind Sie allein. Ihre Kollegen kreuzen immer zu zweit auf, wenn sie in offiziellem Auftrag unterwegs sind. Und dann ist da noch die persönliche Komponente.«

»Wovon reden Sie?« Pine hielt seinem Blick stand.

»Sie haben Ihre Zwillingsschwester verloren und wurden dadurch zur Einzelgängerin. Das ist, als hätte man seine andere Hälfte verloren, nicht wahr? Nachdem die emotionale Verbindung durchtrennt war, konnten Sie niemandem mehr vertrauen. Sie sind nicht verheiratet«, fügte er mit einem kurzen Blick auf ihren Ringfinger hinzu. »Sie haben keinen liebenden Gatten, der die Lücke schließen und das Gefühl des Verlusts lindern könnte, von dem Sie geplagt werden. Sie müssen damit leben, bis Sie eines Tages einsam und allein krepieren.« Er hielt inne, musterte sie mit seltsamer Neugier. »Und doch muss irgendwas passiert sein, das Sie nach fast drei Jahrzehnten hierhergeführt hat. Haben Sie so lange gebraucht, um den Mut aufzubringen, mir gegenüberzutreten? Sie, eine FBI-Agentin?«

»Warum sagen Sie es mir nicht?« Pines Stimme klang beinahe flehentlich. »Auf einen Mord mehr oder weniger kommt es für Sie nicht mehr an. Sie kommen sowieso nicht mehr hier raus.«

Seine Reaktion überraschte sie, obwohl sie vielleicht damit hätte rechnen müssen.

»Sie haben mindestens ein halbes Dutzend Typen wie mich zur Strecke gebracht. Einer von denen hatte gerade mal läppische vier Leute getötet. Der talentierteste hat immerhin zehn geschafft.«

»Talentiert? So würde ich es nicht unbedingt nennen.«

»Oh, da irren Sie sich. Es ist durchaus eine Sache der Begabung und nicht so einfach, wie die meisten Leute es sich vorstellen. Natürlich haben die Nieten, die Sie geschnappt haben, nicht in meiner Liga gespielt, aber jeder fängt mal klein an.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wie es scheint, haben Sie sich auf die Elite spezialisiert. Leute wie mich. Schön, wenn man hohe Ziele hat, aber man kann’s auch übertreiben mit dem Ehrgeiz, sonst läuft man Gefahr, sich zu überschätzen. Sie wissen ja – es rächt sich, wenn man der Sonne zu nahe kommt. Der Tod kommt schneller, als Sie denken, Agentin Pine. Manchmal ist es ein göttlicher Anblick, jemanden abkratzen zu sehen, aber bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher. Ich würde es trotzdem sehr gern ausprobieren.«

Pine ging nicht auf seine unverhohlene Drohung ein. Wenn er davon fantasierte, sie umzubringen, hieß das immerhin, dass sie seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

»Die Täter, die ich gefasst habe, waren alle hier im Westen aktiv«, sagte sie. »Hier gibt es weites, offenes Land, ohne dass an jeder Straßenecke ein Polizist steht. Hier findet Ihresgleichen, was er braucht: einsame Highways und stille Orte, um eine Leiche zu entsorgen. So etwas zieht … Talente wie Sie an.«

Tor grinste. »Wie schön sich das anhört.«

»Noch schöner wäre es, wenn Sie meine Frage beantworten.«

Er ging nicht darauf ein. »Ich weiß noch etwas über Sie: Sie hätten in Ihrer Collegezeit beinahe den Sprung ins Olympiateam der US-Gewichtheberinnen geschafft. Aber Sie haben es vermasselt, weil Sie ein mickriges Pfund zu wenig gestemmt haben.« Da Pine schwieg, fügte er hinzu: »Google hat auch vor diesem Knast hier nicht haltgemacht, Special Agent Atlee Pine aus Andersonville, Georgia. Ich habe ein paar Hintergrundinformationen über Sie verlangt, als Gegenleistung für dieses Treffen. Sie haben sogar eine eigene Wikipedia-Seite. Ziemlich bescheiden im Vergleich zu meiner, aber Sie sind ja noch jung. Obwohl eine Karriere wie die Ihre natürlich schnell und blutig enden kann.«

»Es war ein Kilo, nicht ein Pfund. Das Reißen hat mich das Olympiaticket gekostet. Im Stoßen war ich besser.«

»Ja, stimmt, ein Kilo. Sie sind schwächer, als ich dachte. Was aber nichts daran ändert, dass Sie versagt haben.«

»Sagen Sie mir, was mit Mercy ist«, drängte Pine. »Sie haben keinen Grund, es zu verschweigen. Absolut keinen.«

»Sie wollen Ihren Frieden finden, was?«, fragte er gelangweilt. »So wie die anderen?«

Pine nickte schweigend, damit ihr nichts Unbedachtes herausrutschte. Tors Vorwurf, sie habe sich nicht auf dieses Treffen vorbereitet, war unbegründet. Nur konnte man sich auf eine Konfrontation mit einem solchen Monster nicht hundertprozentig vorbereiten.

»Wollen Sie wissen, was mir an der ganzen Sache am meisten gefällt?«, setzte Tor nach.

Pine schaute ihn an, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Am meisten gefällt mir, dass ich Ihr ganzes armseliges Leben geprägt habe.«

Kaum war das letzte Wort verklungen, schnellte sein Oberkörper vor. Seine breiten Schultern und sein kahler Kopf schienen die gesamte Glasscheibe auszufüllen. Es sah aus, als würde er jeden Augenblick durch ein Schlafzimmerfenster steigen wie ein fleischgewordener Albtraum, um ein kleines Mädchen zu holen, so wie damals in jener Nacht. Einen furchtbaren Augenblick lang war Pine wieder sechs Jahre alt und musste erleben, wie dieser Dämon bei jedem Wort eines Kinderreims brutal auf sie und Mercy einschlug, um das Schicksal entscheiden zu lassen, wer von ihnen beiden sterben musste.

Es hatte Mercy getroffen. Nicht sie.

MERCY.

Nicht sie.

Sie stieß leise den Atem aus und griff nach der Dienstmarke an ihrer Jacke.

Ihr Fixstern. Ihr Bezugspunkt. Ihr Rosenkranz.

Die Geste war Tor nicht entgangen, doch er lächelte nicht. Zeigte keinen Triumph, keine Genugtuung, keinen Zorn. Er wirkte einfach nur enttäuscht. Und im nächsten Moment völlig desinteressiert. Sein Gesicht erschlaffte, und seine Augen wurden so leer wie zu Beginn des Gesprächs. Er sank in sich zusammen, schlaff, kraftlos, als wäre jeglicher innerer Antrieb erloschen.

Du hast es vermasselt.

Pine hatte das Gefühl, mit Eiswasser übergossen zu werden. Sie hatte versagt. Tor hatte sie auf die Probe gestellt, und sie hatte kläglich versagt. Der schwarze Mann, der um Mitternacht kam, um sich kleine Mädchen zu holen, hatte sie für unwürdig befunden.

»Wärter«, blaffte er. »Wir sind hier fertig.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Offenbar genoss er es, die Wärter rufen zu können, sodass sie antanzen und ihn holen mussten. Es war eine Gelegenheit, die sich im normalen Gefängnisalltag niemals bot.

Während die Männer in den Besucherraum kamen, Tors Kette lösten und ihn zur Tür führten, stand Pine auf.

»Warum sagen Sie es mir nicht?«, versuchte sie es ein letztes Mal.

Er antwortete, ohne sich umzudrehen.

»Man sagt, die Sanftmütigen werden die Erde besitzen. Soll ich Ihnen was sagen, Atlee Pine aus Andersonville, Zwillingsschwester von Mercy? Die Sanftmütigen werden einen Scheiß besitzen. Finden Sie sich damit ab. Aber wenn Sie es wieder mal versuchen wollen – Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe …« Er drehte sich abrupt zu ihr um, und in seinem Gesicht flammte jähes Verlangen auf – vielleicht das Letzte, was seine Opfer auf dieser Welt zu sehen bekommen hatten. »Jetzt werde ich Sie nie mehr vergessen.«

Die massive Stahltür schloss sich hinter ihm.

Pine lauschte den Schritten, als die Wärter ihren Gefangenen zurück zu seinem zwei mal dreieinhalb Meter großen Betonkäfig führten, und starrte noch einen Augenblick auf die Tür. Dann wischte sie den Lippenstift von der Trennscheibe, was blutrote Flecken auf ihrer Hand hinterließ, drehte sich um und ging.

Nachdem sie ihre Dienstwaffe zurückbekommen hatte, trat sie aus dem Gefängnisgebäude hinaus in die kühle Luft und Stille einer Gegend, die genau eine Meile über dem Meeresspiegel lag.

Sie würde nicht weinen. Das hatte sie noch nie getan, seit Mercy verschwunden war. Sie hätte gern etwas empfunden, doch in ihr war nichts als Leere. Sie fühlte sich schwerelos, wie auf dem Mond. Es war, als hätte der schwarze Mann um Mitternacht ihr die Lebensenergie genommen. Nein, nicht einfach genommen.

Als hätte er sie ausgesaugt.

Aber das war nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste war die nagende Ungewissheit, was mit ihrer Schwester geschehen war.

Pine fuhr hundert Meilen westwärts bis Salida und nahm sich ein Zimmer im billigsten Motel, das sie finden konnte, denn sie musste diese Reise aus eigener Tasche bezahlen.

Kurz bevor sie einschlief, dachte sie an eine Frage, die Tor ihr gestellt hatte.

Sie kommen erst jetzt zu mir? Nach neunundzwanzig Jahren?

Es gab einen guten Grund dafür. Vielleicht war es aber auch nur eine Ausrede.

In dieser Nacht träumte Atlee Pine nicht von Tor. Auch nicht von ihrer Schwester, die sie vor fast drei Jahrzehnten verloren hatte. Das Einzige, was aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins aufstieg, war der verblasste Anblick ihrer selbst, wie sie als Sechsjährige zum ersten Mal zur Schule ging, ohne Mercys Hand in der ihren zu halten. Ein traumatisiertes kleines Mädchen mit Zöpfen, das – um Tors Worte zu benutzen – seine andere Hälfte verloren hatte.

Meine bessere Hälfte, fügte Pine in Gedanken hinzu.

Denn nicht Mercy war es gewesen, die öfter für Ärger gesorgt hatte, sondern sie, Atlee, sodass ihre zehn Minuten ältere »große« Schwester ihr immer wieder aus der Patsche helfen musste.

Doch Mercy hatte es gern getan. Mit unerschütterlicher geschwisterlicher Liebe und Verlässlichkeit. So viel Zuwendung war Atlee Pine nie wieder zuteilgeworden.

Vielleicht hatte Tor ihre Zukunft gar nicht so falsch vorhergesagt.

Wer weiß?

Und dann noch der andere Seitenhieb, mit dem er ihr einen schmerzhaften Stich versetzt hatte.

Am meisten gefällt mir, dass ich Ihr ganzes armseliges Leben geprägt habe.

Mit einem Mal zitterten ihre Lippen. Sie stand auf, taumelte ins Bad, steckte den Kopf unter den kalten Wasserstrahl der Dusche und zog ihn erst wieder heraus, als die Kälte so unerträglich wurde, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte. Doch es mischte sich keine einzige Träne des Schmerzes oder der Trauer in das bitterkalte Wasser.

Im Morgengrauen stand sie auf, duschte, zog sich an und checkte aus. Es wurde Zeit für die Heimreise.

Auf ungefähr halber Strecke machte sie halt, um etwas zu essen. Als sie wieder in ihren SUV stieg, ging auf ihrem Handy eine Nachricht ein.

Sie schickte eine Antwort ab, schlug die Autotür zu, ließ den Motor an und gab Gas.

3

Der Grand Canyon ist eines der sieben Weltwunder der Natur und das einzige in den Vereinigten Staaten. Er ist der zweitgrößte Canyon der Welt, nach der Tsangpo-Schlucht in Tibet, die nur um weniges länger, aber tiefer ist. Jedes Jahr besuchen fünf Millionen Menschen aus aller Welt den Grand Canyon, doch nur ein Prozent von ihnen gelangt bis zu jener Stelle, an der Atlee Pine sich gerade befand: am Ufer des Colorado River auf dem Talgrund der Schlucht.

Die Phantom Ranch war die beliebteste Unterkunft auf dem Grund des Canyons – aber auch die einzige. Es gab drei Möglichkeiten, dorthin zu gelangen: auf dem Wasserweg, auf dem Rücken eines Maultiers oder zu Fuß.

Pine war mit dem Auto zum Flughafen des Grand-Canyon-Nationalparks gefahren und anschließend in einen Hubschrauber gestiegen, der sie hinunter auf die Sohle der Schlucht gebracht hatte. Nach der Landung waren Pine und ihr Begleiter, der Park Service Ranger Colson Lambert, zu Fuß losmarschiert.

Pine, die mit ihren langen Beinen zügig ausschritt, hielt Augen und Ohren offen, wobei sie besonders auf Klapperschlangen achtete. Die Natur hatte diesen Kreaturen aus einem ganz bestimmten Grund eine Rassel verliehen: damit man sie in Ruhe ließ.

Wo ist meine Rassel?, dachte Pine.

»Wann wurde das Tier gefunden?«, fragte sie.

»Heute früh.«

Als sie hinter eine Biegung der Felswand gelangten, fiel Pines Blick auf eine blaue Plane, die man um den Kadaver aufgespannt hatte. Davor standen zwei Männer. Einer war wie ein Cowboy gekleidet; der andere trug, genau wie Colson Lambert, die Uniform des National Park Service: graues Hemd, dazu ein heller Hut mit schwarzem Band und der Aufschrift USNPS. Pine kannte den Mann; er hieß Harry Rice. Äußerlich wirkte er fast wie eine Kopie von Colson Lambert.

Der dritte Mann war groß und schlank, sein Gesicht von einem Leben in rauer Natur gezeichnet. Er hatte dichtes ergrauendes Haar, das von dem breitkrempigen Hut flachgedrückt war, den er in der Hand hielt.

Pine trat auf den Mann zu und zückte ihre Dienstmarke. »Wie heißen Sie?«

»Mark Brennan. Ich bin Muliführer hier.«

»Haben Sie das Tier gefunden?«

Brennan nickte. »Vor dem Frühstück. Ich habe Bussarde kreisen sehen.«

»Könnten Sie die Zeit präziser angeben?«

»Ähm … so gegen halb acht.«

Pine trat hinter die Abschirmung, ging in die Hocke und inspizierte den Kadaver, während die anderen ihr folgten.

Das tote Maultier war sicher über vierhundert Kilo schwer. Maultiere, eine Kreuzung aus einer Pferdestute und einem Eselhengst, waren langsamer als Pferde, dafür aber trittfester. Es waren ungemein kräftige, ausdauernde Tiere.

Pine streifte Gummihandschuhe über, die sie aus ihrer Gürteltasche genommen hatte, und hob eine Peitsche auf, die neben dem Tier lag. Einen solchen »Muli-Motivator«, wie die Maultierführer es nannten, verwendeten die Reiter, um die Tiere dazu zu bewegen, das verlockende Gras zu ignorieren, das am Wegrand zwischen den Felsen wuchs, und darauf zu verzichten, ein kleines Nickerchen im Stehen einzulegen.

Pine berührte den steifen Vorderlauf des toten Tieres.

»Die Totenstarre hat längst eingesetzt. Es muss schon eine ganze Weile hier liegen.« Pine wandte sich an den Maultierführer. »Sie haben das Muli gegen halb acht gefunden. War der Körper da schon steif?«

Brennan schüttelte den Kopf. »Nein. Ich musste allerdings ein paar Aasfresser verscheuchen, die sich am Kadaver zu schaffen machten. Hier … und hier, sehen Sie?« Er deutete auf die Stellen, an denen Fleischfetzen aus dem Körper gerissen worden waren.

Pine schaute auf die Uhr. Es war halb sieben abends. Elf Stunden waren vergangen, seit Brennan das Maultier gefunden hatte. Jetzt galt es festzustellen, wann es getötet worden war.

Sie beugte sich hinunter und blickte auf den Bauch des Tieres.

»Jemand hat es aufgeschlitzt«, stellte sie fest. »Zuerst ein Bauchstich, dann ein Schnitt fast über die ganze Länge.« Pine blickte zu Brennan auf. »Es ist eins von Ihren, nehme ich an.«

Brennan nickte und hockte sich neben sie. Betrübt betrachtete er das tote Tier. »Sallie Belle. Sie war unerschütterlich, hat alles mitgemacht. Eine Schande ist das.«

Pine schaute auf das eingetrocknete Blut. »Ihr Tod war bestimmt sehr schmerzhaft. Hat niemand etwas gehört? Maultiere können ziemlich laut werden. Und der Canyon ist wie ein gigantischer Schallverstärker.«

»Wir sind hier ein paar Meilen von der Ranch entfernt«, gab Harry Rice, der Park Ranger, zu bedenken.

»Aber es gibt doch die Ranger-Station.«

Rice zuckte die Achseln. »Der diensthabende Ranger hat nichts gehört oder gesehen.«

»Okay, aber es haben sich doch bestimmt eine Menge Wanderer am Lagerplatz bei der Phantom Ranch aufgehalten, oder? Die Ranch hat nicht genug Platz für alle, deshalb übernachten viele im Zelt. Ich weiß, das ist ziemlich weit weg, aber das Muli muss ja irgendwie vom Gehege bei der Ranch hierhergekommen sein.«

»Ja, es waren ’ne Menge Leute da«, bestätigte Lambert. »Wir haben auch mit vielen gesprochen, aber keiner hat irgendwas gesehen oder gehört.«

Pine betrachtete die schreckliche Schnittwunde am Bauch des Tieres. »Seltsam. Wer geht das Risiko ein, sich unter ein Maultier zu beugen und ihm den Bauch aufzuschlitzen?«

»Stimmt.« Brennan nickte. »Und normalerweise müsste man das Geschrei bis ins nächste County hören.«

Pine blickte auf den Sattel. »Weiß man, wer auf dem Muli geritten ist?«

»Ein gewisser Benjamin Priest«, antwortete Rice. »Leider fehlt jede Spur von ihm.«

Brennan griff den Faden auf. »Der Mann ist gestern hergekommen. Als Teil einer zehnköpfigen Gruppe.«

»Zehn Leute sind Ihr Limit, stimmt’s?«, fragte Pine.

»Ja. Wir führen jeden Tag zwei Gruppen hier runter. Priest war in Gruppe eins.«

»Okay, dieser Priest ist also auf dem Maultier in den Canyon geritten. Was dann?«

»Wir haben auf der Phantom Ranch übernachtet. Heute früh wollten wir gleich nach dem Frühstück aufbrechen, über die Black Bridge und zurück zum South Rim. Wie jedes Mal.«

»Es sind ungefähr fünfeinhalb Stunden bis hier runter und ungefähr genauso lange zurück, nicht wahr?«, fragte Pine.

Brennan nickte. »Kommt hin.«

Pine ließ den Blick in die Runde schweifen. Hier, am Grund der Schlucht, war es an die dreißig Grad heiß; oben am South Rim, dem Südrand des Canyons, war es mindestens zehn Grad kühler. Pine spürte den Schweiß im Gesicht, unter den Achseln, am Rücken.

»Wann hat man bemerkt, dass Priest verschwunden ist?«

Es war Rice, der ihre Frage beantwortete. »Heute Morgen, als die Leute zum Frühstück in den Speiseraum kamen.«

»Wo hat Priest übernachtet? In einem Schlafsaal oder einer Hütte?«

»In einer Hütte«, sagte Brennan.

»Erzählen Sie mir, wie der Abend gestern verlaufen ist.«

»Die Leute haben alle zusammen im Speiseraum gegessen. Einige haben Karten gespielt oder Postkarten geschrieben. Andere haben sich an den Bach gesetzt und die Füße gekühlt. Alles wie immer. Dann sind sie schlafen gegangen.«

»Und Priest?«

»Der auch.«

»Wann wurde er zum letzten Mal gesehen?«

Rice beantwortete Pines Frage. »Gestern Abend gegen neun, soweit wir wissen.«

»Es hat aber niemand beobachtet, wie Priest schlafen ging oder später die Hütte verließ?«

»Nein.«

»Und wie ist Sallie Belle hierhergekommen?«, fragte Pine, an Brennan gewandt.

»Zuerst dachte ich, sie wäre ausgebüxt. Dann fiel mir auf, dass ihr Sattel und das Zaumzeug nicht da waren. Jemand muss es ihr angelegt haben.«

Pine musterte Brennan einen Augenblick. »Wie haben Sie es sich erklärt, dass das Maultier verschwunden war?«

»Na ja, ich dachte mir, da will wohl jemand noch einen kleinen Ausritt vor dem Frühstück machen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe hier schon die verrücktesten Sachen erlebt.«

»Beschreiben Sie mir Priest.«

»Ende vierzig, Anfang fünfzig. Höchstens eins fünfundsiebzig groß, etwas über achtzig Kilo.«

»Weißer?«

»Ja. Dunkle Haare.«

»Fit?«

»Geht so. Nicht übergewichtig, aber ziemlich stämmig. Jedenfalls kein Marathonläufer.«

»Wer auf einem Muli reiten will, darf nicht schwerer sein als neunzig Kilo, oder?«

Brennan nickte. »Stimmt.«

»Haben Sie mit Priest gesprochen?«

»Nur ein paar Worte auf dem Ritt.«

»Kam er Ihnen nervös vor?«

»Zwischendurch war er ein bisschen blass um die Nase. Aber das ist normal, weil die Maultiere auf den schmalen Pfaden manchmal ziemlich nahe an den Abgrund kommen. Da kriegt man schon mal weiche Knie. Aber er hat sich wacker geschlagen.«

Pine wandte sich an Lambert, den zweiten Park Ranger. »Was können Sie mir über Priest sagen?«

Lambert zog ein Notizbuch hervor und klappte es auf. »Er ist aus Washington, D.C. Arbeitet für eine dieser Vertragsfirmen der Regierung im Beltway. Der Laden heißt Capricorn Consultants.«

»Familie?«

»Ledig, keine Kinder. Er hat einen Bruder in Maryland. Die Eltern leben nicht mehr.«

»Haben Sie den Bruder verständigt?«

»Ja. Priest hatte ihn in seiner Anmeldung als Kontaktperson bei Notfällen angegeben. Wir haben ihm mitgeteilt, dass sein Bruder vermisst wird.«

»Ich brauche seine Kontaktdaten.«

»Ich maile sie Ihnen.«

»Wie hat Priests Bruder reagiert?«

Rice übernahm es, ihre Frage zu beantworten. »Er war besorgt. Hat gefragt, ob er herkommen soll. Ich hab ihm geraten, erst mal abzuwarten. Die meisten Vermissten tauchen bald wieder auf, ohne dass irgendwas passiert wäre.«

»Die meisten, aber nicht alle«, sagte Pine. »Wo sind Priests Sachen?«

»Verschwunden. Er muss alles mitgenommen haben.«

Rice fügte hinzu: »Sein Bruder hat versucht, ihn telefonisch und per Mail zu erreichen. Ohne Erfolg.«

»Haben Sie die sozialen Netzwerke gecheckt?«

»O Mann, daran habe ich nicht gedacht«, gab Rice zu. »Ich hol’s nach.«

»Wie ist er angereist? Mit dem Auto? Dem Bus?«

»Er hat erwähnt, dass er den Zug genommen hat«, warf Brennan ein.

»In welchem Hotel hat er übernachtet?«

Wieder antwortete Rice. »Wir haben überall nachgefragt – El Tovar, Bright Angel, Thunderbird. Er hatte nirgends reserviert.«

»Irgendwo muss er geschlafen haben.«

»Möglicherweise auf einem Zeltplatz, entweder im Park oder in der Umgebung«, meinte Lambert.

»Okay, er ist also mit dem Zug angereist. Aber wenn er aus Washington kam, dürfte er zuerst nach Phoenix geflogen sein. Möglicherweise hat er da übernachtet, bevor er nach Arizona weitergefahren ist. Von dort kommt der Zug, oder?«

Lambert nickte. »Von Williams, Arizona. Es gibt ein Hotel am Bahnhof. Vielleicht hat er sich da ein Zimmer genommen.«

»Haben Sie die Gegend hier schon abgesucht?«

»Einen ziemlich großen Teil. Bis jetzt keine Spur von Priest. Und es ist nicht mehr lange hell.«

Pine ließ sich einen Moment Zeit, um die vielen Informationen zu verarbeiten. In einiger Entfernung ertönte das scharfe Bellen eines Kojoten in der Abenddämmerung, gefolgt vom Rasseln einer Klapperschlange irgendwo in der Nähe. Die zerklüfteten Felswände des Canyons beherbergten ein komplexes, überaus fragiles Ökosystem. Der Mensch war hier Eindringling. Die Natur kam auch ohne ihn zurecht.

Pine drehte den Kopf nach links, wo in der Ferne der Lake Mead lag, unweit der Grenze zwischen Arizona und Nevada. Zur Rechten, ebenfalls meilenweit weg, befand sich der Lake Powell in Utah. Zwischen diesen beiden Seen erstreckte sich der Canyon, ein tiefer Riss in der Erdkruste, der sogar aus dem Weltraum zu sehen war.

»Wir müssen gleich morgen früh einen Suchtrupp losschicken, der die Gegend Meter für Meter durchkämmt«, stellte Pine klar. »Was ist mit den Leuten, die zusammen mit Priest in den Canyon gekommen sind?«

Es war Lambert, der ihre Frage beantworten konnte. »Die haben den Canyon schon wieder verlassen. Einige waren aufgebrochen, bevor wir bemerkt hatten, dass Priest verschwunden ist.«

»Trotzdem, ich brauche ihre Namen und Kontaktdaten«, verlangte Pine. »Falls Priest einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, darf der Täter nicht entkommen – ob zu Fuß, mit einem Maultier oder im Boot.«

Lambert, der wenig begeistert wirkte, warf seinem Ranger-Kollegen einen raschen Blick zu.

»Werden die Maultiere nachts bewacht?«, fragte Pine.

Brennan schüttelte den Kopf. »Ich habe gegen elf Uhr noch mal nach ihnen gesehen. Da war alles in Ordnung. Es gibt Kojoten und Pumas hier in der Gegend, aber an eine Herde Maultiere in einem Gehege wagen die sich nicht ran. Die Mulis können sich mit ihren Hufen gegen jeden Angreifer wehren.«

»Deshalb müsste derjenige, der dem armen Tier den Bauch aufgeschlitzt hat, eigentlich was abgekriegt haben«, entgegnete Pine mit einem Blick auf das tote Maultier. »Jedenfalls sieht es so aus, als wäre Sallie Belle um dreiundzwanzig Uhr noch wohlauf gewesen, zumal der diensthabende Ranger nichts Verdächtiges gehört hat, wie Sie sagten.« Sie blickte Rice an. »Wie heißt der Mann?«

»Sam Kettler.«

»Wie lange ist er schon beim Park Service?«

»Fünf Jahre, davon zwei hier im Canyon. Ein tüchtiger Bursche. Ehemaliger Elitesoldat.«

»Ich muss mit ihm sprechen«, sagte Pine, wobei sie in Gedanken bereits eine To-do-Liste erstellte. »Ich …«

In diesem Augenblick fiel ihr etwas auf.

Wieder schaute sie auf das tote Tier. Irgendetwas stimmte nicht.

»Woher kommt die Blutlache über der Schulter? Es müsste doch alles Blut unter dem Bauch sein, oder?«

Sie schaute zu den Männern hoch, die sie ratlos ansahen.

»Das Tier ist nicht in dieser Position gestorben«, stellte Pine fest. »Helfen Sie mir, es umzudrehen.«

Jeder packte ein Bein des toten Tieres; dann drehten sie den Kadaver auf die andere Seite.

Zwei Buchstaben waren ins Fell geschnitten: J und K.

»Was hat das denn zu bedeuten?«, stieß Lambert hervor.

Gute Frage, dachte Pine.

4

»Das ist Sam Kettler«, stellte Colson Lambert den Mann vor.

Pine stand auf der Veranda vor dem Speisesaal der Phantom Ranch, als Lambert mit dem ebenfalls uniformierten Kettler zu ihr kam.

»Er hatte Dienst in der Nacht, als Priest und das Maultier verschwanden«, fügte Lambert hinzu.

Pine musterte Kettler. Er war ungefähr in ihrem Alter und ein attraktiver Mann, knapp eins neunzig groß und athletisch gebaut. Als er den Hut abnahm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, kam sein kurz geschnittenes blondes Haar zum Vorschein. Seine Augen waren hellgrau. Die Muskeln in seinem scharf geschnittenen Gesicht spannten sich, als er abwartend vor Pine stand.

»Colson sagte mir, Sie hätten nichts gehört.«

Kettler schüttelte den Kopf. »Es war eine ruhige Nacht, nachdem die letzten Camper sich schlafen gelegt hatten. Ich hab meine Runden gedreht, meinen Papierkram erledigt und mich um einen Mülleimer gekümmert, den jemand nicht richtig zugemacht hatte. Ein paar Tiere hatten im Müll gewühlt, und da hab ich sie verscheucht. Sonst war alles wie immer.«

»Hat Colson Ihnen erzählt, was vorgefallen ist?«

Kettler trat von einem Fuß auf den anderen. »Ein Reiter ist verschwunden, und ein Maultier wurde aufgeschlitzt.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz schön krank, wenn Sie mich fragen.«

»Was mich vor allem interessiert: Warum stiehlt jemand ein Muli und tötet es dann? Natürlich drängt sich der Gedanke auf, dass Priest es getan hat, aber das wissen wir nicht. Genauso gut könnte Priest den Täter ertappt haben – und der hat Priest dann zum Schweigen gebracht.«

»So könnte es gewesen sein«, stimmte Lambert zu.

Pine schüttelte den Kopf. Ihr Instinkt sagte ihr, dass diese Theorie falsch war. Es hätten zu viele Zufälle zusammenkommen müssen. Das Leben hatte in der Regel wenig Ähnlichkeit mit einem Film oder einem Roman. Manchmal war die einfachste Antwort die richtige.

Sie warf Kettler einen Blick zu. »Denken Sie noch mal nach. Ist Ihnen irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn es so wäre, hätte ich es gemeldet.«

»Keine Geräusche? Von einem Maultier beispielsweise, auf dem jemand wegreitet?«

»Das hätte ich gehört, da bin ich mir sicher. Um welche Zeit soll das gewesen sein?«

»Das wissen wir nicht genau. Wahrscheinlich kurz nach elf.«

»Ich komme auf meiner Runde auch mal ein Stück weiter weg von der Ranch. Wenn jemand das Maultier zu der Zeit rausgeholt hat, hätte ich es nicht unbedingt gehört.«

»Okay, danke.« Pine nickte ihm zu. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie’s mich wissen.«

»Mach ich. Viel Glück.«

Er schritt zügig davon. Pines Blick ruhte für einen Moment auf seinen breiten Schultern, die sich unter dem Hemd abzeichneten.

»Was nun?«, fragte Colson.

Pine löste den Blick von Kettlers Rücken und wandte sich ihm zu.

»Wir beginnen morgen in aller Frühe mit der Durchsuchung des Canyons, also esse ich jetzt noch eine Kleinigkeit und leg mich dann aufs Ohr.«

Einige Zeit später lag Pine in einem winzigen Zimmer auf der Phantom Ranch und starrte an die Decke. Jemand hatte eine Matratze, ein klumpiges Kissen und eine Decke für sie aufgetrieben. Ein spartanisches Zuhause für diese Nacht, doch für Pine stellte es kein Problem dar. Sie hatte schon viele Nächte an fremde Zimmerdecken gestarrt.

Der Geländestreifen, auf dem die Phantom Ranch stand, war ursprünglich »Roosevelt Camp« genannt worden, nach Präsident Theodore Roosevelt. Er hatte sich 1913 hier einquartiert, nachdem er den Grand Canyon zum National Monument erklärt hatte. Bei der Gelegenheit hatte er verfügt, dass der Stamm der Havasupai die Gegend verlassen müsse, damit der Nationalpark errichtet werden könne. Die widerwilligen Havasupai waren dieser Aufforderung erst fünfundzwanzig Jahre später nachgekommen, als Roosevelt längst tot war.

Pine konnte sie irgendwie verstehen.

Die heutige Phantom Ranch hatte ihren Namen von der berühmten Architektin Mary Elizabeth Jane Colter, die das Anwesen entworfen hatte. Die Ranch war 1922 entstanden, umgeben von Schatten spendenden Pappeln und Platanen. Mehrere unbefestigte Pfade führten kreuz und quer über den gesamten Bereich. Es war eine kleine Oase im tiefen Schlund des Canyons. In der Kantine stand ein Postsack bereit, in den die Besucher ihre Grußkarten werfen konnten; die Post wurde per Maultier nach oben transportiert. Die Karten trugen den Stempel: Mailed by Mule from the bottom of the Grand Canyon. Was konnte es Cooleres geben in einer Welt der Smartphones und Sprachassistenten?

Pine hatte in ihrem Auto stets mehrere Garnituren Kleidung und andere notwendige Utensilien dabei, dazu den Seesack, der sie bei allen Ermittlungen begleitete. Diesmal hatte sie die Sachen in dem Hubschrauber verstaut, der sie auf den Grund der Schlucht gebracht hatte. Als Vertreterin des FBI war Pine für das Gebiet des Grand Canyon zuständig und verkörperte so etwas wie eine Ein-Personen-Kavallerie. Damit konnte sie gut leben. Allerdings musste sie in ihrer jetzigen Situation auf FBI-Spurensicherungsteams verzichten, die einen Tatort so professionell untersuchten wie in den CSI-Serien. Die Arbeit lastete allein auf Pines Schultern, aber so ging es allen Agenten aus den kleinen Büros.

Pine hatte mit den Wanderern und Muli-Touristen, die im Lauf des Tages eingetroffen waren und inzwischen in ihren Betten lagen, im Speisesaal zu Abend gegessen, der mit langen Tischen und Holzstühlen möbliert war.

Die Leute waren müde und schweigsam gewesen, und auch Pine hatte niemandem etwas über sich erzählt – schon gar nicht, warum sie hier war. Small Talk war ohnehin nicht ihr Ding; lieber hörte sie anderen zu. Auf diese Weise erfuhr man oft interessante Dinge.

Zum Abendessen hatte es Eintopf mit Maisbrot gegeben; dazu hatte Pine drei Gläser Wasser getrunken. Hier unten, in der schwülen Hitze am Grund der Schlucht, war es besonders wichtig, ausreichend zu trinken.

Vor dem Schlafengehen hatte sie sich noch einmal mit Lambert und Brennan unterhalten. Jetzt war es ein Uhr nachts, und draußen waren es immer noch um die fünfundzwanzig Grad, sodass es in Pines Zimmer warm und stickig war. Sie hatte ein Fenster geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Ihre beiden Pistolen lagen in Reichweite.

Sie hatte keine Ahnung, wo Ben Priest sich aufhalten mochte. Möglicherweise hatte er den Canyon inzwischen zu Fuß verlassen, dann aber musste ihn jemand gesehen haben. Die Ranger hatten seine Beschreibung in der ganzen Gegend verbreitet und sogar auf der Website des Park Service gepostet. Falls er Sallie Belle getötet und ihr aus irgendeinem abstrusen Grund diese Buchstaben ins Fell geschnitten hatte, würde man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.

Pine hatte sich alle relevanten Fakten notiert und einen Bericht an ihre Vorgesetzten geschickt, zusammen mit einer Liste samt Kontaktdaten jener Personen, die zur fraglichen Zeit zu Fuß, per Boot oder auf einem Maultier im Canyon unterwegs gewesen waren. Diese Informationen würden an alle FBI-Büros im Land weitergeleitet werden, um jeder relevanten Spur nachgehen zu können. Natürlich hatte sie auch ihren unmittelbaren Vorgesetzten in Flagstaff verständigt, der sie daraufhin anwies, sich umgehend zu melden, falls es neue Entwicklungen gab.

Mehr war bis morgen früh nicht zu tun.

Pine lauschte dem Pfeifen des Windes und dem Rauschen des Wassers im Bright Angel Creek.

Der Park Service hatte zwei Wachen bei dem Kadaver postiert. Andernfalls wäre die arme Sallie Belle mit Sicherheit von nächtlichen Raubtieren zerrissen worden. Pine schlug die Augen auf, als der Grand Canyon und das tote Maultier in ihren Gedanken in den Hintergrund rückten.

Stattdessen musste sie an Daniel James Tor denken.

In gewisser Weise hatte Pine all die Jahre darauf gewartet, dem Mann gegenüberzutreten, der mit hoher Wahrscheinlichkeit für das Verschwinden ihrer Schwester verantwortlich war.

Warum hatte sie dann neunundzwanzig Jahre gewartet?

Vor sechs Monaten hatte sie noch keine Erinnerung an das Monster gehabt, das vor drei Jahrzehnten in ihr Schlafzimmer eingedrungen war. Die Ärzte hatten jede Menge Fachausdrücke für dieses Vergessen, doch es lief wohl auf eine Amnesie hinaus, bedingt durch das traumatische Erlebnis. In ihrem eigenen Interesse hatte Pines Bewusstsein ihr die Erinnerung an jene Nacht vorenthalten. Nicht nur in ihrer Kindheit, sondern anscheinend auch später als Erwachsene.

Ihre Mutter hatte sie am nächsten Morgen bewusstlos und blutend im Bett gefunden, die Lippen mit Klebeband verschlossen. Sie hatte sofort einen Rettungswagen gerufen, der Atlee ins Krankenhaus brachte. Ihr Leben stand auf der Kippe; erst nach mehreren Operationen war klar gewesen, dass sie überleben und keine bleibenden Hirnschäden davontragen würde. Als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam, war sie das einzige Kind bei den Pines. Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Ermittlungen aufgrund des Fehlens konkreter Hinweise bereits eingestellt. Auch Atlee hatte der Polizei nicht weiterhelfen können, da sie sich an nichts erinnerte.

Atlee hatte ihr Leben weitergeführt. Ihre Eltern, damals beide Mitte zwanzig, hatten sich getrennt – sie hatten keinen Weg gefunden, das traumatische Ereignis gemeinsam zu bewältigen. Zur Tatzeit waren beide betrunken und high gewesen und hatten nicht mitbekommen, dass jemand ins Haus eingedrungen war. Irgendwann waren sie eingeschlafen, während Atlee schwer verletzt im Bett lag und Mercy entführt worden war, um nie wieder zurückzukehren.

Sie gaben sich gegenseitig die Schuld an ihrem Versagen. Zu allem Überfluss hatten sie eine Zeit lang als Hauptverdächtige gegolten. Vor allem ein Ermittler vermutete, dass Pines Vater im Drogenrausch Mercy verschleppt und ihre Leiche irgendwo abgelegt hatte.

Und obwohl ihre Eltern einen Lügendetektortest bestanden und Atlee ausgesagt hatte, dass ihr Vater nicht der Mann war, der in jener Nacht ins Schlafzimmer gekommen war, hatte die Polizei ihr nicht geglaubt. Die Pines sahen sich einer zunehmend feindseligen Stimmung gegenüber, sodass sie schließlich die Stadt verließen.

Nach der Scheidung der Eltern hatte Atlee bei ihrer Mutter gelebt, doch ohne Mercy war nichts mehr so gewesen wie früher.

In den darauffolgenden Jahren hatte sie sich ziellos treiben lassen. Nichts erschien ihr mehr erstrebenswert. Sie schien sich damit abzufinden, dass sie in allem, was sie unternahm, versagte. Irgendwann begann sie zu trinken und Marihuana zu rauchen. Ihre Schulnoten waren katastrophal. Sie hatte ständig Ärger und wurde wiederholt betrunken von den Cops aufgegriffen. Mehrmals erwischte man sie beim Ladendiebstahl. Ihr war nichts und niemand mehr wichtig, am wenigsten sie selbst.

Als Pine einmal einen Jahrmarkt besucht hatte, war sie, einer Laune folgend, zu einer Wahrsagerin gegangen. Die Frau in dem kleinen Zelt hatte ein buntes Kleid, Schleier und Turban getragen. Pine erinnerte sich noch gut daran, dass sie das Ganze für einen faulen Zauber gehalten hatte. Die Frau hatte ihre Hand genommen und die Handfläche betrachtet.

Und im gleichen Augenblick zu Pines Gesicht hochgeschaut – mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens.

»Was ist?«, hatte Pine gefragt.

»Ich spüre zwei Herzschläge … zwei Herzen.«

Pine war sekundenlang erstarrt. Die Frau konnte doch unmöglich wissen, dass sie eine Zwillingsschwester hatte! Sie hatte ihr kein Sterbenswort über sich selbst verraten.

Erneut betrachtete die Wahrsagerin Pines Handfläche, fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.

Und zog die Stirn in Falten.

»Was ist?«, fragte Pine noch einmal, diesmal mit echter Neugier.

»Zwei Herzschläge.« Die Wahrsagerin hielt einen Moment inne. »Aber nur eine Seele.«

Pine hatte sie entgeistert angestarrt. »Zwei Herzschläge – eine Seele?«

Die Wahrsagerin nickte.

»Wie kann das sein?«

»Ich glaube, das wissen Sie«, hatte die Frau geantwortet.

Dieser Augenblick hatte Pines Leben auf den Kopf gestellt. Sie hatte neue Energie entwickelt, hatte sich wieder Ziele gesetzt. Es war, als hätte sie von nun an versucht, zwei Leben zugleich zu leben. Bei allem, was sie tat, hatte sie das Gefühl, es gleichzeitig für ihre Schwester zu tun, als müsse sie verwirklichen, was Mercy selbst nicht mehr erreichen konnte.