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Auf einer Luxusyacht wird eine brutal ermordete Studentin entdeckt. Der Tatverdächtige ist rasch ermittelt: Benedict von Barneck, reich, attraktiv, umschwärmt und Sportstudent. Er wird verhaftet und verurteilt. Ein weiterer Mord begünstigt sein Wiederaufnahmeverfahren, und er erhält seine Freiheit zurück. Doch diese währt nur kurz.
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Seitenzahl: 374
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Uschi Gassler
Ausmanövriert
Ein Psychothriller aus Karlsruhe
Ruhrkrimi-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2022 Uschi Gassler
© 2022 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr
Druck: BoD
ISBN 978-3-947848-44-7
1. Auflage 2022
Covergestaltung: Uwe Wittenfeld unter Verwendung
der Fotos 323364530 und 372211792 aus dem Adobe-Stock.
Dieses Buch ist auch als
eBook (ISBN 978-3-947848-45-4) erhältlich.
Disclaimer:
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
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https://www.ruhrkrimi.de
Ich habe Gefühle zum Toben gebracht
und einen tödlichen Tsunami ausgelöst.
Doch wo beginnt meine Schuld,
und wo endet sie?
Benedict von Barneck
im Mai 2021
Autorin:
Uschi Gassler, 1957 in Kronach/Oberfranken geboren, lebt mit ihrer Familie im badischen Königsbach. Nach 40 Jahren Angestelltendasein bei der Pforzheimer Sparkasse vollzog die gelernte Industriekauffrau 2018 den Schritt in die Eigenständigkeit, um sich vorrangig der Schriftstellerei zu widmen.
Seit frühester Jugend dem Geschichtenerfinden verfallen, absolvierte sie diverse Fernstudiengänge im kreativen Schreiben. Ihre erste Publikation erfolgte 2009, seither sind von ihr mehrere Kurzkrimis in Verlagsanthologien sowie Thriller erschienen.
PROLOG
Schuld – ein einsilbiges Substantiv mit sechs Buchstaben. Fünf Konsonanten, die einen Vokal umschließen. Ein schlichtes Wort, das einem Menschen grobe Fehler unterstellt und ihm vermeidbares Missverhalten unterschiebt. Ein Wort, das dennoch allzu gerne achtlos ausgesprochen wird: Es ist deine Schuld, dass wir keinen Regenschirm haben und nass werden; er hat Schuld, dass der Tank leer ist und wir die Straße blockieren; keiner hat Schuld, dass der alte Nachbar gestorben ist. Ich kann nicht aufzählen, wie oft es verwendet wird, ohne zu hinterfragen, ob sich nur eine leichtfertige Schlampigkeit, ein nachlässiges Fehlverhalten oder gar eine schwere Straftat dahinter verbirgt.
Aber mit einer aufgebürdeten Schuld steht automatisch auch die Frage nach Verantwortung auf der Schwelle.
Verantwortung für eigenes Fehlverhalten zu tragen, erfordert Charakterstärke. Verantwortung für die Taten anderer zu übernehmen, impliziert einen Mitschuldanteil.
Ich gestehe, durch Ignoranz und Eigennutz schwere Straftaten begünstigt zu haben, weise aber jegliche Schuldvorwürfe im strafrechtlichen Sinn zurück.
Diese Niederschrift ist der Versuch einer Rechtfertigung zur Entlastung meines Gewissens.
Ich bin Benedict von Barneck mit Hauptwohnsitz in der badischen Residenzstadt Karlsruhe, war zum Zeitpunkt des ersten Mordes zweiundzwanzig Jahre alt und studierte Sportwissenschaft mit Lehramtsbezug in der Absicht, Sporttrainer in einer Polizeiakademie zu werden. Dieses anspruchsvolle Berufsziel war nicht aus tieferen Überlegungen heraus entstanden, sondern spontan beim Besuch einer berufsberatenden Informationsstunde auf dem Arbeitsamt. Eine extrem enervierende Sachbearbeiterin versuchte, unbedingt eine Entscheidung aus mir herauszupressen, und ich konnte keine anderen Interessen vorweisen, als meine durchaus nicht verachtenswerten Erfolge bei schulischen Sportveranstaltungen, in einem Wassersportclub und in einem Tennisverein, wo ich Jugendtrainer war.
Mit sechzehn hatte ich erstmals den sittsamen Pfad der Tugend verlassen. Meine Liebesbringerin war zwanzig gewesen, sah aus wie eine Mannequingöttin. Alles an ihr war ebenmäßig, glatt, perfekt. Kein Gramm zu viel, kein Gramm zu wenig. Trug sie Stilettos, und das tat sie allzu gerne, überragte sie mich um fünf Zentimeter. Ihr langes, seidenglattes Haar schien stets in Gold gebadet, ihre hellbraunzarten Augen versprachen wohltuende Geborgenheit und ihre vollen Lippen hemmungslose Glückseligkeit.
Die Frage nach dem Grund, warum sie so vernarrt gewesen war, mich in die Liebe einzuweihen, stand nie zwischen uns. Ob es daran lag, dass ich erwachsener wirkte, als ich es war, ob es ihr gefiel, jüngere Jungs zu verführen, oder ob sie das Geld meiner Eltern reizte, das meinen Background ausfüllte? Es interessierte mich nicht, und wir trafen uns in jeder freien Minute, bis meine Versetzung in die nächste Klasse auf der Kippe stand und die Abschiebung in ein Internat drohend in den Raum gestellt wurde.
Mit der verfehlten Versetzung hätte ich mich abgefunden, aber die zweite Option durfte ich keinesfalls zulassen und zog einen Schlussstrich. Wehmütig, konsequent. Meine Liebesgöttin und ich sahen uns nie wieder.
Im Lauf der Zeit bemerkte ich, dass ich Schwierigkeiten hatte, eine neue feste Beziehung aufzubauen. Mädchen meines Alters oder gar jüngere brachten mir keine Erfüllung, meine heimlichen Sehnsüchte richteten sich auf mindestens zehn Jahre ältere Frauen. Meinen Kumpels blieb das nicht verborgen, sie schleppten mich auf unzählige Partys, wollten mich verkuppeln und zogen über mich her, wenn ihre Aktionen nicht fruchteten.
Mein Verstand sendete erste Warnsignale aus.
Ergo konzentrierte ich mich auf die Schule, aufs Abi und nach einem Auszeitjahr in Australien mit einer temperamentvollen Begleiterin im Schlepptau auf das Studium inklusive diversen Praktika. Drei Jahre mit Abschluss »Bachelor of Education Sportwissenschaft« und danach auf das Masterstudium. Aber je konsequenter ich mich auf mich selbst fokussierte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass mein Körper eine magische Anziehungskraft verströmte.
Egal, ob in den Sportvereinen oder auf dem Campus, die Mädchen umschwirrten mich wie hungrige Wespen ein saftiges Steak. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die seit meiner frühen Jugend ein Problem in der Kombination »Gutaussehen« und »Reichsein« zu erkennen glaubte. Da nutzte es auch nichts, meine alltagsbraunen Haare verwegen lang zu tragen, weißblond zu stylen oder komplett abzuscheren.
Schließlich gewährte ich meinem Äußeren keine Beachtung mehr. Ich ging nur im Notfall zum Friseur, rasierte mich höchstens zweimal in der Woche, und der Großteil meiner Klamotten war nicht mehr mit Markenlabeln verziert.
Die wenigen Wohlstandsbeweise, die ich noch nach außen trug, waren meine zwei Autos und die jederzeitige Nutzungsmöglichkeit unserer Luxusmotoryacht, die im Maxauer Hafen lag, wo ich während einer spendierfreudigen Phase etliche Partys veranstaltet hatte. Was mir allmählich über den Kopf gewachsen war und darin endete, dass ich mich auf eine feste Beziehung mit einer allgemein heftig umworbenen Studienkollegin einließ. Schon um dem dummen Gerede meiner Freunde ein Ende zu setzen und dem partygeilen Jungvolk aus dem Weg gehen zu können, ohne nach Rechtfertigungen suchen zu müssen.
In unsere Villa lud ich ohnehin kaum jemanden ein, es genügte, wenn meine Eltern die hohen Reinigungsrechnungen der Yacht begleichen mussten. Und seitdem die Beziehung zur superschönen Kommilitonin auch in die Brüche gegangen war, ließ ich nur noch meinen allerbesten Freund Severin ins Haus.
Zur richtungsweisenden Spezifizierung meines Studiums gehörte es unter anderem, an gewissen zusätzlichen Kursen teilzunehmen. Hierzu zählten auch sportpsychologische Seminare, bei denen Antiaggressionssport für Gewalttäter im Strafvollzug durchgeführt wurde. Bekanntschaften mit wahrlich schrägen Typen blieben mir hier nicht erspart. Aber wollte ich in Zukunft die Menschen trainieren, die diese Typen hinter Schloss und Riegel brachten, musste ich auch die Charakterzüge der hinter Schloss und Riegel Gebrachten kennenlernen. Es waren durchaus bemerkenswerte Lehrstunden – nicht nur für die Häftlinge.
Im Rahmen eines thematisch gänzlich anderen psychologischen Zusatzprojekts kam ich zu Beginn des zweiten Mastersemesters auf die Idee, das verstörende Thema »Liebe ist ein doppelschneidiges Schwert: Nach Glück folgt Einsamkeit und Tod« aufzugreifen und meine Erfahrungen einzubringen. Mit einer gewissen Art von Einsamkeit kannte ich mich ja aus. Mit dem Tod zwar noch nicht und hatte es auch nicht vor, aber ich war bereit, mich mittels Experimentieren neuen Erkenntnissen zu öffnen. Schließlich war nicht vorherzusehen, welche Psychos sich mir im Laufe meines pädagogischen Berufslebens in den Weg stellen würden.
Von nun an lauerte ich auf das Objekt meiner wissenschaftlichen Begierde und darauf, wohin es mich führen würde. Ich recherchierte, beobachtete, redete mit Kommilitonen jeglichen Geschlechts, gab mich offen, heiter, unbefangen.
Folglich spielten sich täglich gleiche Rituale ab. Ob in der Mensa oder sonst wo auf dem Universitätsgelände, die schönsten Ladies drängten unverhohlen in meine Nähe, beglückten mich mit lüsternen Augenaufschlägen, luden hartnäckig ein, mich zu ihnen zu gesellen. Manche stolperten wie zufällig in meine Arme oder verloren ihre Schals, die dann von Geisterhand geführt vor meine Füße flatterten, und mir blieb keine andere Wahl, als stets aufs Neue meine Ritterlichkeit unter Beweis zu stellen.
Seitdem sich herumgesprochen hatte, dass ich wieder solo war, erreichte die Vergötterung meiner Bewunderinnen sowie einzelner Bewunderer ungesunde Dimensionen, und ich war zu feige, ihnen klipp und klar mein Desinteresse zu bekunden. Ich nahm ihnen nicht ihre Hoffnung auf ein Date, vertröstete sie auf ein Später. Obwohl sich allmählich Zweifel einstellten, durch dieses Verhalten meinen Imagestand bewahren zu können.
Womöglich würde ein Psychiater heute diagnostizieren, mir machte es Spaß, ein falsches Spiel zu treiben. Doch diese Absicht lag mir fern. Ich fürchte, ich war einfach nur nicht in der Lage, mit den Enttäuschungen anderer umzugehen.
1 | APRIL 2019
Montag, 29.04.
Der Eröffnungsakt der Wende vollzog sich unerwartet nach den Osterferien und gewährte mir keine Chance auf ein Ausweichmanöver.
Ich saß ausnahmsweise alleine an einem Tisch in der Mensa, den aufgeklappten Laptop neben mir. Mit der linken Hand stellte ich das leergetrunkene Glas ab, mit der rechten tippte ich ein paar Zahlen in die Tabelle der Statistik, die ich bearbeitete.
Aus mir unerklärlichen Gründen wurde meine Aufmerksamkeit über den Bildschirm hinweggelockt und von olivgrünen Augen eingefangen, stark umrahmt mit schwarzem Lidstrich.
Drei Tische weiter, in meine Richtung gewandt, saß sie: Etwa in meinem Alter, schwarzhaarig, vielleicht gefärbt, sanfte Locken, die auf ihren Schultern ruhten, kleine Stubsnase, ebenmäßige Augenbrauen, langgeschwungene Wimpern und naturfarbene Lippen, die gerade dabei waren, ein gewaltiges Stück Fleisch aufzunehmen.
Arlena, auf dem Campus auffallend bekannt, schaufelte nicht nur Schnitzel und Pommes mit Mayo in sich hinein, sondern dazu einen Schokoladenpudding mit übergroßem Sahneklatsch.
Mein Blick war festgenagelt. Auf die junge Frau mit dem ungewöhnlichen, klangvollen Namen.
Ohnehin zog sie jeden Blick auf sich. Wenn auch ungewollt. Denn sie platzte sprichwörtlich aus allen Nähten. Ja, der Speck quoll aus ihr heraus. Ihr pausbackiges Babyface, der Hals ein Baumstumpf, die Oberarme, der Körper – unbeschreiblich dick.
Ihr Herz tat mir leid. Sowie auch der Stuhl unter ihr, der gar nicht so stabil wirkte, wie er wohl war.
Sie sah auf, nur kurz, schon tauchte sie weg. Wie bei etwas ertappt, schüchtern, peinlich berührt.
Meine Gedanken drifteten ab. In groteske Gefilde. Alles gewaltsame Verdrängen blieb ohne Erfolg. Ich dachte nur noch an das Eine, daran, wie es wohl wäre, mit ihr Liebe zu machen. Mit einer Frau, die so gänzlich unseren Standardvorstellungen widersprach. Genauer gesagt, Vorstellungen, wie sie uns eingetrichtert werden. Von der Werbung, von Filmen, von überall her. Schlank, rank, blank rasiert von den Achselhöhlen bis sonst wohin, ergo prickelnd wie die Plastikhaut einer Barbie-Puppe, nichts dran, was einen noch reizen könnte. Nichts Weibliches, nichts Wohltuendes, nichts Wärmespendendes. Keine künstlich gepuschte Brust der Welt war in der Lage, Natürlichkeit zu ersetzen.
Ich bekam nicht mit, wie Arlena ihren Platz verließ. Sie war plötzlich fort. Meine suchenden Blicke fanden sie nicht mehr. Weshalb ich mir gebot, diesen seltsamen Moment, diesen unkontrollierten Wachtraum auszublenden, zu vergessen.
Was mir während der Nachmittagsvorlesung gut gelang und auch auf der Heimfahrt. Allerdings schon beim einsamen Abendessen sich wieder in den Vordergrund drängte und ich mit einem Actionfilm abwehrte.
In der Nacht quälten mich abartige Traumsequenzen, die ich aus Pietätsgründen nicht niederzuschreiben wage. Und ein gewisser Selbstschutz sollte auch gewahrt bleiben.
Dienstag, 30.04.
Wie zum Hohn stolperte mir Arlena am frühen Morgen im Eingangsbereich zum Audimax vor die Füße. Und das auf einem Gelände, wo man sich nur selten rein zufällig über den Weg läuft, sofern man nicht dieselben Seminare aufsucht. Irgendein Rüpel hatte sie beim Vorbeigehen so hart gestreift, dass sie ihr Gleichgewicht verlor und gegen mich prallte.
Ausgerechnet.
Ich hatte Mühe, dem standzuhalten, obwohl ich einen Kopf größer war als sie und neben meinen sportlichen Aktivitäten auch zusätzliches Krafttraining betrieb.
»Tut mir leid«, sagte sie mit melodischer Stimme und gesenktem Blick.
»Macht nix!« Heroisch stützte ich sie, bis sie ihren Mordskörper wieder in der Gewalt hatte.
Während sie bemüht eilig davonschlurfte, kam mir erneut das Absurde in den Sinn, ließ mich nicht mehr los. Es war etwas unglaublich Fieses, dem ich mich nur deshalb öffnete, weil ich wirklich schon lange keine Frau mehr im Bett gehabt hatte. Meine momentane Ablehnung sämtlicher Einheitsgirls schürte die Sehnsucht, auch mal neben etwas Handfestem kuscheln zu wollen.
Die Idee fraß sich in mir fest. Wie ein Virus bohrte es sich in mein Hirn, nährte ein seltsames Verlangen.
Was ich sogar meinem besten Freund nicht mehr vorenthalten wollte. Doch wie und vor allem bei welcher Gelegenheit besprach man so etwas mit seinem besten Freund?
Severin Suttor kannte ich seit Kindertagen. Er war acht Monate älter, einen halben Kopf kleiner und überhaupt nicht sportlich. Überschlank war er trotzdem, als eingefleischter Veganer aß er ja kaum etwas Vernünftiges. Seine ursprünglich aschblonden Haare ließ er alle zwei Wochen von seinem Lieblingsfriseur aufhübschen und in immer neue Richtungen stylen. Seiner naturfahlen Haut gab er durch bedächtige Solarienbesuche einen braungetönten Touch.
Pedantisch wie er war, musste alles bis ins kleinste Detail passen, seine Kleidung hatte Stil und wirkte stets, als sei sie dem aktuellsten Männermodemagazin entnommen. Ihm in die Wiege gelegt hatten dieses Faible seine sehr vermögenden Eltern, die bis heute Juweliergeschäfte in Karlsruhe, Rastatt und Baden-Baden betreiben.
Severin und ich standen uns näher als Brüder. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an. Geheimnisse hatten wir keine voreinander. Glaubte ich zumindest.
Ich vereinbarte mit ihm noch am selben Abend einen Kinobesuch, dafür war er immer zu haben. Der Rachethriller mit Liam Neeson war schwarzhumorig und etwas überspannt. Ich schweifte mit meinen Gedanken ständig ab.
Als wir im Anschluss auf dem Weg zum Parkhaus waren, stieß Severin mir ohne Vorwarnung seine Faust in den Rücken und brach seinen filmkommentierenden Redefluss ab.
Ich stolperte und entkam nur knapp einem Sturz. »Bist du verrückt?«, stieß ich verärgert aus.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fuhr er mich im Gegenzug an und blieb stehen. »Du benimmst dich echt seltsam.«
Ich wandte mich um. »Wie kommst du darauf?«
»Ich hab dich jetzt schon zweimal gefragt, ob –«
»Sorry, ich mach mir Gedanken wegen eines Experiments«, unterbrach ich ihn.
»Ein Experiment? Erzähl mal!« Er näherte sich einen Schritt.
Die Versuchung, gleich auszupacken, zwang ich erfolgreich nieder. »Hier doch nicht, lass uns etwas trinken gehen.«
Er war sofort einverstanden.
Minuten später drängten wir uns dicht aneinander vor der Theke einer überfüllten Bar, und seine Mundwinkel zuckten in der Unentschlossenheit, sich zu einem Lachen verziehen zu wollen oder mir ihre Verachtung zu demonstrieren.
»Du – du willst mit dieser fetten Arlena …?«
Severin entschied sich fürs Lachen, und ich war eigenartigerweise nicht bereit, mich seiner Humorigkeit anzuschließen.
Nach einem ausufernden Glucksen rang er allmählich nach Fassung und schüttete sein alkoholfreies Bier in einem Zug hinunter. Verschluckte sich, hustete.
»Na, ausprobieren kannst du’s ja mal. Aber pass auf, dass es niemand mitbekommt.«
Auf seine herablassenden Worte war ich gefasst, weshalb ich mir meinen Ärger nicht anmerken ließ.
2 | MAI 2019
Montag, 13.05.
Nach zweiwochenlangem Abwägen, Überlegen sowie innerem Kampf stand der Plan für meine Strategie fest, und ich fing Arlena am späten Nachmittag vorm Eingang der Unibibliothek ab. An eine Säule gelehnt folgte ich ihr mit meinem Blick, bis sie die unterste Treppe erreicht hatte und mich wahrnahm.
»Hallo, Arlena!« Ich lächelte sie an.
Das Lächeln hatte ich ausgiebig vorm Spiegel geübt. Es sollte aufmerksam, freundschaftlich und vertrauenerweckend wirken. Keinesfalls hämisch oder anzüglich. Auf den erwünschten Erfolg hoffend, stieß ich mich von der Säule ab und trat ihr entgegen.
Bepackt mit ein paar Büchern, riss sie erstaunt ihre Augen auf. Wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum, wenn es bestätigt kriegt, dass es doch ein Christkind gibt.
»Hallo, Benedict. Du heißt doch so? Ich meine, ich hätte gehört … Was willst du?«
»Mit dir reden. Appetit auf ein Eis? Ich lade dich ein.«
»Mich?« Vorsichtig äugte sie umher.
»Ja. Ist das so abwegig?«
»Hm.« Sie wandte sich wieder mir zu, wich allerdings meinem Blick aus.
Ohne abzuwarten, was ihre Überlegungen bringen würden, hakte ich mich bei ihr unter und zog sie mit zu meinem VW-Golf, dem nachtschwarzen, getunten. Widerstand leistete sie eigenartigerweise nicht, was wohl meinem überfallartigen Auftritt geschuldet war. Ich öffnete ihr die Tür, befreite sie von den hinderlichen Büchern und folgte ihren Bewegungen, den ungelenken.
Sie plumpste auf den Sitz. Der Golf sackte seitlich ab. Glücklicherweise fing die harte Spezialfederung das Schlimmste auf.
Nach der ersten Schrecksekunde verkniff ich mir ein Auflachen, Gott sei Dank bekam sie es nicht mit. Sie war beschäftigt, sich zu sortieren und anzuschnallen. Der Gurt reichte tatsächlich um sie herum. VW hätte eine Dankeskarte verdient.
Ich schlug die Tür zu, umrundete mein Auto mit schrägem Blick auf seinen Schiefstand, stieg ein und startete. Fuhr mit ihr nach Rüppurr ins Café Das Rieberg, wo ich den hinteren Ecktisch am Fenster reserviert hatte, und ließ sie bestellen, was ihr gemartertes Herz begehrte. Ließ sie in Ruhe löffeln, schaufeln, schlemmen. Zuerst eine Marzipantorte, dann einen Eisbecher mit Früchten und riesiger Sahnehaube. Dazu ein Kännchen Kaffee mit Milch und mehreren Zuckerschüben.
Ich trank meinen Kaffee schwarz und bitter. Verzehrte drei Kugeln Eis mit einem doppelten Schuss Baileys darüber.
Die konsternierten Blicke, die uns streiften, ignorierte ich. Ich kannte ohnehin niemanden und erflehte Gegenseitigkeit.
Unser Gespräch verlief unerwartet zurückhaltend, wollte einfach nicht über ein banales »schön ist es hier«, »ja, so gemütlich«, »und so viel leckere Sachen«, »ja, man weiß gar nicht, was man sich aussuchen soll« und so weiter hinausgehen und endete abrupt in zähen Schweigeminuten. Das war ich von mir nicht gewohnt. Üblicherweise kannte ich keine Hemmungen bei Konversationen.
»Also, Benedict«, sagte Arlena schließlich, während sie eine Erdbeere zwischen ihren Zähnen zerquetschte, »was willst du von mir?«
Ihre Frage war meine Befreiung.
»Du gefällst mir.«
»Ha!«
Ihr erschrockener Aufschrei hatte ein Verschlucken zur Folge, wodurch sie uns mit ihrem lauten Husten erst recht ins Augenmerk der anderen Gäste rückte.
Es gab keine Alternative. Ich atmete aus, stand auf – ganz Kavalier – und klopfte ihr auf den Rücken, den aufgedunsenen. Hitze drängte durch ihr enganliegendes T-Shirt.
Glücklicherweise beruhigte sie sich, ohne dass ich verstärkte Maßnahmen einleiten musste, und sie schob verschämt meine Hand weg.
»Bitte, sag sowas nicht, verarschen kann ich mich selbst.«
»Ich möchte mit dir schlafen«, flüsterte ich ihr ins Ohr und verzog mich rasch auf meinen Platz.
Mein Gefühl sagte mir, bei der Frau musst du direkt und aufrichtig sein. Lügen tischte man ihr vermutlich regelmäßig auf.
Entgegen meiner Erwartung – eigentlich wusste ich nicht, welche Regung ich zu erwarten hätte – blieb sie ruhig. Löffelte ihr Eis, schlurfte den Becher leer. Stellte ihn ab. Warf mir zwischendurch unsichere Blicke zu.
Eine Träne erschien in einem ihrer Augenwinkel, blieb an einer Wimper haften.
»Arlena, ich meine es ernst. Ich möchte dich auf ein paar schöne gemeinsame Stunden einladen. Wir tun nur, was du auch willst. Lassen uns treiben und kosten unsere Freiheit aus. Wir sind erwachsen und niemandem verpflichtet. Wir können tun, wonach es uns sehnt.«
»Aber – warum mit mir?«
»Ich will es probieren.«
Sie tupfte sich übers Auge. »Du spinnst ja.«
Plötzlich zuckten ihre Mundwinkel. Schmunzelte sie?
»Hey, Leni, ja, ich spinne. Lass uns einfach mal spinnen. Du genießt etwas, was dir so schnell keiner bieten wird, und ich – ich mache ein Experiment.«
Sie kniff die Brauen zusammen. »Ein Experiment?«
Sie lehnte sich zurück, innere Abwehr flackerte in ihren Augen auf.
»Ja, ich habe noch nie eine so – so imposante Frau an meiner Seite gehabt.«
Keine Reaktion. Nur ein lauerndes Verharren.
Ich suchte nach schlagkräftigeren, übertriebeneren Argumenten, ohne das eigentliche Projektthema zu benennen.
»Meine berufliche Zukunft hängt davon ab, wie ich mit beleibten Menschen umgehen kann. Und du sollst mein erster Proband sein.«
Immer noch ein schweigendes Abwarten.
»Leni, mach es mir nicht so schwer. Ich will dich näher kennenlernen, um abzuwägen, ob ich in der Lage bin, Menschen aus ihren hamsterradmäßigen Gewohnheiten herauszuholen.«
Sie verharrte noch zwei, drei Sekunden, dann lachte sie laut auf. Schüttelte den Kopf.
»Heißt das ja?« Ich grinste sie aufmunternd an.
»Ich weiß nicht. Das ist wirklich das Bescheuertste, das ich je gehört habe. Das mir überhaupt jemand gesagt hat.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich!« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Das beruhigt mich.«
3 | JUNI 2019
Samstag, 01.06.
Die Sonne stach vom Himmel, und ich wartete geduldig am Eingangstor zum Maxauer Motorboothafen. Meine Tasche hatte ich verstaut, die Vorbereitungen getroffen, nun stand ich da in kurzer Jeans, weißem Shirt und weiß-blauer Baseballkappe.
Und Madame war nicht pünktlich. Vielleicht hatte sie Schiss bekommen. Was ich ihr nicht verübelt hätte. Ich an ihrer Stelle hätte mich nicht auf eine solche Verabredung eingelassen.
Doch dann tauchte das von mir für sie georderte Taxi auf, schob sich durch die parkenden Autos das Sträßchen heran, hielt, und meine Verabredung quälte sich heraus. Zuerst die aufgequollenen Füße, verpackt in bequemen weißen Sandalen, gefolgt von nackten drallen Beinen, das Kleid nach oben gerutscht, und dann der restliche Körper. Der Stoff des hellblauen Sommerkleids fiel nach dem Aufrichten seiner Besitzerin bis zu deren Knie herab, und ich musste mir eingestehen, ein paar Nummern kleiner, und die Komposition hätte ganz hübsch ausgesehen. Ihre Haarpracht hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Pony ragte in sämtliche Richtungen, wohl verursacht durch rühriges Schweißentfernen.
Ich hätte jetzt kneifen können, mir nicht vor den anderen Clubmitgliedern und Kurzzeitgästen die Blöße geben müssen, mit dieser Frau verabredet zu sein, hätte mich zwischen den Mülltonnen im Metallverschlag neben dem Eingang verbergen können, aber nein, ich stand zu meinem Entschluss. Ich besaß Charakterstärke.
Tapfer schritt ich aufs Taxi zu, zahlte den Fahrer, noch bevor Arlena in der Lage war, ihre umgehängte Handtasche zu öffnen, und holte ihre Reisetasche aus dem Kofferraum.
»Danke, das ist aber lieb.« Ächzend wischte sie sich über die Stirn. Die Hitze machte ihr mehr zu schaffen als mir.
»Tut mir leid«, stöhnte sie, »dass ich das Taxi habe warten lassen müssen.«
»Komm mit«, sagte ich ohne Verlangen nach einer Begründung und ging voraus, die flexible Brücke hinunter zu den Stegen, vorbei am Restaurantschiff, schwenkte nach links und marschierte an etlichen Motorbooten vorbei bis ganz hinaus zur ›MARNIE‹, unserer schneidigen, dreiundsechzig Fuß langen Motoryacht, die aufgrund ihrer Größe am äußersten Quersteg ihren Liegeplatz hatte.
Arlena schnaufte hinter mir her. Ich wandte mich nicht um, wollte jeglichen Dialog, der unweigerlich Erklärungen erfordern würde, umgehen. Erst als ich stehenblieb, stellte ich mich ihrem kindlichen Erstaunen.
»Wir fahren mit einem Schiff?« Verblüffung vereinnahmte ihre Mimik, während ihre Augen über die Bordwand bis zum Oberdeck hinauf schweiften.
Ja, dieses Detail hatte ich ihr verschwiegen. Ein kleiner positiver Überraschungseffekt war sicherlich nicht verkehrt.
»Wenn du sie so nennen willst, dann ja. Du leidest hoffentlich nicht an Seekrankheit?«
»Nein, ich glaube nicht. Es ist schon lange her, da haben wir mal eine Neckarfahrt in Heidelberg gemacht. Das war schön.«
»Na also, dann macht dir das auch nichts aus. Kannst du schwimmen?«
»Ja, es geht. Ist das etwa dein Schiff?« Über ihr Gesicht huschte schattenhafte Skepsis.
»Gechartert.« Dieser kleine Schwindel rutschte mir unverhofft leicht über die Lippen.
Ich half Arlena auf die etwas tieferliegende Badeplattform am Heck der ›MARNIE‹, hielt sie fest, bis sie im seichten Wellengang ihre Standsicherheit gefunden hatte, führte sie über die drei Stufen hinauf aufs Deck und hinein in den Salon, wo ich sie hinsetzen ließ. Ihre Tasche brachte ich hinunter in die größte der drei Schlafkabinen.
Als ich zurückkam, blickte sie mich mit Riesenaugen an.
»Das sieht ja toll aus. Und so viel Technik.« Sie deutete nach vorn auf den Navigationsbereich. »Und du kennst dich mit sowas aus?«
»Ein bisschen.« Ich blinzelte sie an. »Willst du mit nach oben? Unter freiem Himmel macht das Fahren doppelt Spaß.«
Verschreckt linste sie zu der schmalen Treppe hin.
»Keine Panik, ich halte dich«, beugte ich rasch einer Ablehnung vor. Mit Erfolg. Sie nickte verhalten.
Wir schafften den Aufstieg problemlos, und ich überließ ihr die Platzwahl. »Neben dem Steuerstand oder hinten am Tisch?«
Verunsichert sah sie umher. »Am Tisch?«
»Okay.« Ich geleitete sie hin, das Schaukeln des Boots ließ auch sie gefährlich wanken. Die Erleichterung, wieder zu sitzen, war ihr anzumerken.
Ich befestigte einen Rettungsring an der Reling neben ihr, das war notfalls besser als nichts, denn eine Schwimmweste in ihrer Größe hatte ich unbedachterweise nicht an Bord.
»Willst du was trinken?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, und ich eilte hinunter, um die Vertäuung zu lösen, bevor sie sich es anders überlegte und einen Rückzieher machte.
Dann setzte ich mich ans Steuer, warf die Maschinen an, kuppelte ein, gab Gas und lenkte hinaus auf den Rhein. Dort legte ich den Hebel um und erhöhte die Geschwindigkeit auf angemessene vierzig Stundenkilometer. Der 2000-PS-starke Sound löste ein prickelndes Verlangen in mir aus. Eine Temposteigerung um mindestens fünfzehn Stundenkilometer wäre mit Leichtigkeit machbar gewesen, aber ich wollte die Aufmerksamkeit anderer Bootsfahrer wegen eines zu hohen Wellengangs nicht auf mich lenken, also verzichtete ich darauf.
Arlena sollte relaxt und ohne unnötige Aufregung auf ihre Kosten kommen. Dass sie sich verkrampft am Tisch festhielt, missachtete ich, heimlich vor mich hin lächelnd.
Nach einer etwa halbstündigen Rheinabwärtsfahrt peilte ich die Ausfahrt zur Insel Rott an, hielt mich strikt nach links und manövrierte die ›MARNIE‹ neben einen Anlegesteg, der deutlich als Privateigentum beschildert war. Stellte ihre Maschinen ab. Positionierte die walzenförmigen Gummifender an der Außenbordwand, damit der Rumpf vor Beschädigungen geschützt war, wenn aufgrund der Wasserbewegungen die Yacht am hölzernen Steg entlangwetzte, dann befestigte ich die Taue.
Arlena hatte sich noch nicht von ihrem Sitz wegbewegt, was ich ihr nicht verdenken konnte, denn der Wellengang war infolge hohen Aufkommens von Güterschiffen ziemlich unruhig gewesen und für sie womöglich auch beängstigend. Obwohl ich achtsam den schlimmsten Strömungen ausgewichen war und unsere hochseetaugliche Yacht so manch raue Heimsuchungen gut wegsteckte.
Arlena betrachtete unsicher die Umgebung. Außer uns war keine Menschenseele in Sicht.
»Wo sind wir hier?« Sie richtete ihren Blick nun auf mich.
»Bei Dettenheim. Warst du noch nie in dieser Gegend?«
»Hm, ach so. Na ja, mit dem Auto schon. Früher mal. Da waren wir Fischessen in einem netten Lokal, ganz in der Nähe.«
»Das ist ein paar hundert Meter südlicher, auf der Insel Rott. Willst du dich ein wenig frischmachen? Komm, ich zeige dir die Kabinen.«
»Benedict, …« Sie zögerte.
Ich überging ihre erkennbar aufkeimende Unsicherheit, nahm sie an der Hand, der feuchten, und führte sie in den Salon hinab, der auch den Laien unter den Gästen erkennen ließ, welche Kostbarkeiten dieses ›Schiff‹ barg.
Arlena schaute sich erneut um, doch ich dirigierte sie weiter ins Unterdeck, wo im Heck die Gästekabinen und im Bug die große Schlafkabine lagen, und sich im Mittelbereich die Pantry befand, eine kleine Küche mit Sitzgelegenheiten.
Ich öffnete die Tür ins Schlafgemach und ließ Arlena eintreten. In diesem Moment erkannte ich in ihren Augen das gewisse Blitzen, das jeden befiel, der von dessen prachtvollen Ausstattung in Empfang genommen wurde.
»Das ist ja wundervoll.« Ihr Flüstern war erfüllt von Ehrfurcht. »Luxuriöser als eine Hotelsuite.«
Nun ja, vermutlich hatte sie noch keine Suite der oberen Preisklasse begutachten können, sonst hätte sie diesen Vergleich etwas relativiert. Ich ließ ihr Zeit, zur Toilette zu gehen, sich frisch zu machen. Schenkte uns derweil jedem ein Gläschen Champagner ein. Stellte die Flasche ins Kühlfach der kleinen Bar zurück.
Zog mich aus, machte es mir auf dem Bett bequem. Betrachtete das perlende Fangspiel in den Kristallgläsern, die sich allmählich mit kalter Feuchte überzogen.
Als Arlena herauskam, umgab sie ein blumiger Duft. Erstaunlich angenehm, anregend, untermalte die zartweißen Blumenköpfe auf ihrem Kleid. Ihr schwarzes Haar war offen und umrahmte seidig ihr Vollmondgesicht, die Wangen gerötet vom sonnendurchfluteten Fahrtwind. Sie starrte mich an.
Ich hielt ihr ein Glas entgegen. »Zur Abkühlung.« Schenkte ihr ein Lächeln.
»Du siehst gut aus.« Sagte Arlena zu mir. Sagte sie zu mir!
Ich verschluckte mich ein wenig. »Ähm, wären das nicht eigentlich meine Worte?« Ich beugte mich vor, reichte ihr das Glas. »Du siehst hübsch aus, Arlena.«
Ihre Unsicherheit raubte mir den Atem, als sie das Glas mit spitzen Fingern ergriff.
»Setz dich zu mir.«
Meine Aufforderung befreite sie aus der Erstarrung, sie setzte sich tatsächlich an den Bettrand. Mit Vorsicht, als könne etwas kaputtgehen. Aber das Bett war stabil, das merkte wohl auch sie, und sie rutschte sich bequem zurecht.
Wir stießen an, tranken. Ich zwei Schluck, sie leerte alles in einem Zug.
»Kannst Benni zu mir sagen«, schlug ich ihr vor, stellte mein Glas auf den Beistelltisch, streichelte ihr über den Rücken, roch an ihrem Haar. Fühlte, wie sie erschauerte.
»Benni, willst du jetzt …?«
Meine Hand suchte sich einen Weg zu den Knöpfen vor Arlenas gewaltigem Busen, ich öffnete einen um den anderen. Ein praktisches Kleid. So ohne Anstrengung zum Aus- oder Anziehen, egal wie beweglich oder unbeweglich man war.
Da wehrte sie ab. »Bitte, nein, ich weiß nicht, ob du dir das tatsächlich antun willst.«
»Willst du es?«
Ihre Augen überzogen sich mit einem Hauch Traurigkeit. Sie nickte kaum wahrnehmbar. Zuckte mit den Schultern. »Deshalb sind wir ja hier, oder?«
Sie würde doch nicht annehmen, jetzt eine Art Opfer werden zu müssen?
»Nur, wenn du willst.« Konnte ich sie beruhigen?
»Wärst du mir böse, wenn ich nicht will?«
Als galanter Gastgeber immer auf alles gefasst, lächelte ich sie an. »Leni, wo denkst du hin? Wir tun nur, was wir beide wollen.«
Sie atmete hart durch. Streckte mir ihr Glas entgegen. »Gib mir bitte noch einen Sekt!«
Ich verkniff mir ein Auflachen, holte die Flasche aus dem Kühlfach, schenkte ein. »Lass dir den Champagner ruhig schmecken. Für einen schönen Anlass nur das Beste.«
Sie hielt inne, überlegte wohl, ob sie etwas sagen sollte, besann sich, und kippte den edlen Tropfen in ihre Kehle.
Jetzt hielt mich nichts mehr.
Ich entkleidete sie. Ohne Gegenwehr. Und versank in ihr.
Der bewaldete Weg war schattig und gut begehbar, was Arlena gefiel. Ich hielt ihre Hand, die sie mir nicht entzog, und spürte die beschwingte Leichtigkeit, die sie verströmte. Ein erstauntes Flackern erreichte ihre olivgrünen Augen, als das topmodern renovierte, ehemalige Wasserschlösschen vor uns auftauchte.
»War das schon immer da?«
Was für eine Frage.
»Nun ja, seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Ein badischer Adliger ließ es einst als Ruhe- und Erholungsort errichten, früher war es mit Wasser umgeben. Die späteren Besitzer haben die Gräben trockenlegen und den ganzen Parkbereich aufforsten lassen.«
»Kann mich gar nicht erinnern, es damals gesehen zu haben, obwohl wir eine ziemlich ausgedehnte Wanderung unternommen hatten.«
»Der Weg von der Straße her ist ja auch als Privatweg für den öffentlichen Betrieb gesperrt. Es dürfen nur Hotelgäste oder Restaurantbesucher hereinfahren.«
Über die im mediterranen Flair angelegte Terrasse betraten wir den Restaurantbereich. Obwohl es unter den großen Sonnenschirmen verlockend herrlich war, hatte ich sicherheitshalber im Innern einen Tisch reserviert. Hier war es angenehm klimatisiert. Der Ober führte uns an einen Fensterplatz mit Sicht ins Grüne. Pikierte Blicke blieben uns vom Personal erspart, diesbezüglich hatte ich vorgesorgt. Jeder sprach mich brav mit »Herr Barneck« an, ließ anweisungsgemäß das von mir auch in der Uni unterschlagene »von« weg, und Arlena zeigte sich irritiert, vermutlich wegen der Tatsache, dass ich beim Personal einen gewissen Bekanntheitsgrad besaß.
Erklärungen gab ich keine ab, genauso wenig wie ich bisher über die Yacht oder andere persönliche Dinge gesprochen hatte. Ich wusste nicht, ob Arlena über meine Herkunft informiert war.
Ich jedenfalls wusste über sie nur das, was im Allgemeinen getratscht wurde. Und das war ziemlich inhaltsleer. Bei ihr stand stets ihre Leibesfülle im Vordergrund.
Deshalb hatte ich kein Menü vorbestellt. Ihr offenkundig ungezügelter Heißhunger auf gehaltvolle Portionen machte es mir unmöglich, abzuschätzen, ob sie sich auch mit übersichtlich gefüllten Tellern zufrieden gab oder gleich zu verhungern glaubte. Da ich ihr ein Wohlfühlwochenende versprochen hatte, ließ ich sie wählen, was sie begehrte. Ich gab mich mit einem klassischen Dreigänge-Menü zufrieden aus buntem Salat, Entrecôte vom Rind mit karamellisierten Walnüssen und gebratenen Kartoffeln. Für den Abschluss bestellte ich ein hausgemachtes Sorbet mit frischen Früchten.
Arlena las die Speisekarte dreimal durch, bis sie sich zu einer Entscheidung durchrang. Was nicht am Preis lag, sie wusste ja, dass sie eingeladen war. Nein, vermutlich konnte sie mit den Beschreibungen nicht viel anfangen, weshalb ich höflich einsprang und ihr Vorschläge unterbreitete. Sie entschied sich zum Einstieg für Tatar mit Wachtelspiegeleier samt einem Stück Bauernbrot und als Hauptgang etwas Deftiges mit Spätzle. Den »Gruß des Küchenchefs« überließ ich ihr komplett, worüber sie sich sehr freute.
Nach der Vorspeise war der ideale Zeitpunkt für etwas Smalltalk gekommen. Dazu tranken wir Wein, sie einen schweren roten, ich einen trockenen weißen.
»Was studierst du eigentlich genau?«, fragte ich sie.
»Chemie, Deutsch und Philosophie mit Ethik. Ich will Gymnasiallehrerin werden.«
»Wow! Wie kommst du auf Chemie?«
»Meine Eltern sind Apotheker. Mit chemischen Mittelchen bin ich aufgewachsen. Und du?«
»Ich stochere auch im Pädagogik-Bereich herum. Sportwissenschaften.«
»Oh, toll! Dann könnten wir ja mal Kollegen werden.«
»Ich habe andere Pläne.« Genaueres wollte ich ihr nicht preisgeben, daher wechselte ich das Thema. »Wo wohnst du? Kommst du aus Karlsruhe oder hast du hier nur ein Zimmer?«
»Wir wohnen in Neureut, haben ein Haus, worin sich auch die von uns betriebene Apotheke befindet. Ich lebe gerne dort. Hast du Geschwister?«
»Nein, du?«
»Ich auch nicht. Das finde ich schade. Man hat niemanden zum Spielen und wird einsam.«
War das der Grund für ihre Leibesfülle?
»Na, das muss aber nicht sein«, versuchte ich zu beschwichtigen. »Es hat auch Vorteile. Man muss mit niemandem ums Spielzeug streiten.«
»Du hast Recht.« Sie atmete seufzend durch. »Streiten brauchte ich mit niemandem.«
Zwischen Hauptgang und Dessert entdeckte ich den jüngeren Sohn des Hotelmanagers. Er stand vor der gläsernen Zwischentür zum Foyer und beobachtete uns. Ich entschuldigte mich bei Arlena und ging zu ihm.
»Hallo, Lars.«
»Hallöchen, Benni. Welch eine Schönheit führst du denn heute aus?« Seine Lippen verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen.
»Eine Studentin von der Uni. Hab ihr eine Bootsfahrt versprochen.«
»Einfach so?«
»Einfach so. Die anderen Tussen sind mir zu sehr auf die Pelle gerückt, da habe ich einen Puffer gebraucht.«
»Einen Puffer!« Lars lachte glucksend. »Einen gewaltigen Puffer!« Er kriegte sich nicht mehr ein.
Ich schob ihn außer Reichweite der Tür, weiter nach hinten zum Treppenaufgang, damit Arlena uns nicht sah, falls sie nach mir Ausschau halten würde.
»Jetzt hör mal, Lars. Wen ich ausführe, geht dich nichts an. Und was ich tue, auch nicht. Wir essen, dann nächtigen wir auf der ›MARNIE‹, und morgen nach dem Brunch fahren wir wieder fort. Ich hoffe, du beherrschst dich und bringst ihr Respekt entgegen. Auch will ich nicht, dass sie mitkriegt, wie wir zueinander stehen. Kapiert?«
Lars nickte, kicherte albern in sich hinein und trabte die Treppe empor. »Mutter kriegt ’nen Nervenzusammenbruch und Vater ’nen Lachanfall. Das versprech ich dir. Wissen das eigentlich deine Eltern?«
»Halt die Klappe!«, rief ich ihm nach.
Sonntag, 02.06.
Die Nacht war wie geschaffen für Romantik. Auf dem Oberdeck genossen wir den bilderbuchgleichen Sonnenuntergang, tranken viel Champagner, verzogen uns in die »Suite« und trieben es ein paar Mal miteinander. Ich glaube, es gefiel Arlena besser, als sie es sich eingestehen wollte. Leider schwebte die Scham stets über ihr. Aber darüber ging ich hinweg, Kavalier, wie ich bin.
Ich wachte noch vor ihr auf, duschte, zog mir frische Klamotten an, legte ihr ein Duschtuch zurecht und begab mich aufs oberste Deck. Wartete inmitten des morgendlichen Vogelpalavers geduldig auf das Erscheinen meiner Begleiterin. Schwelgte in der würzigen Luft, beobachtete einen Frachter, der draußen auf dem Rhein vorbeischipperte.
Etwa eine Stunde später erschien sie. Stufe um Stufe tauchte ihr Körper auf. Die schwarze Haarpracht umrankend offen, ihr Gesicht bestäubt von einer heiteren Gelassenheit, der Oberkörper umschmeichelt von einem blaugemusterten, ärmellosen Blusentop und der Rest umflattert von einer leichten, mittelblauen Sommerhose.
»Du bist aber schick!«, stieß ich überrascht aus und entlockte ihren Augen ein Aufleuchten, das sich mitten in mein Herz brannte.
Vorsichtig, als wäre der Boden eisüberzogen, tapste sie zu mir her, ließ sich auf den Sitz fallen.
»Es ist so herrlich. Kommst du oft hierher?«
Ich vermied eine aussagekräftige Antwort, brachte ihr nur ein knappes »bin gleich wieder da« entgegen, spurtete hinab in die Pantry, holte kühlen Champagner und schenkte uns ein. Wir schlurften jeder ein Gläschen, versunken in einträchtigem Schweigen, und machten uns auf den Weg ins Hotel. Wir brunchten ausgiebig bis in die Mittagsstunden. Lars ließ sich nicht mehr blicken.
Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, als wir ablegten. Arlenas entspannter Gesichtsausdruck bewies ihr Wohlbehagen. Hoffentlich vergaß sie unsere Abmachung nicht: Ein Wochenende mit viel Spaß ohne Verpflichtungen.
Im Heimathafen angekommen, vertäute ich das Boot, nahm die Reisetaschen und bat Arlena, mir zu folgen. Wir gingen am Restaurantschiff vorbei, hinauf zum clubeigenen Parkplatz. Dort stand mein Audi A8, weißmetallic, das letztjährige Geburtstagsgeschenk meiner Eltern als Belohnung für topbestandene Prüfungen und als Trost für unzählige einsame Stunden allein zuhause.
Erwartungsgemäß riss Arlena beim Anblick der Nobelkarre ihre Augen auf. »Gehört der deinen Eltern? Ist was mit deinem Golf?«
Ich schüttelte den Kopf, grinste sie an und öffnete die Beifahrertür. »Steig ein«, sagte ich bloß und ließ den Moment für sich wirken.
Ohne weitere Worte kam sie meiner Aufforderung nach, dabei hätte ich zu gern gewusst, was ihr durch den Kopf ging.
Auf einem der leeren Apothekenparkplätze hielt ich wenig später, verließ das Auto, öffnete die Beifahrertür, half ihr beim Rauswuchten. Brachte ihr die Tasche bis vor die geschlossene Haustür.
»Bis dann«, sagte sie.
»Bis dann«, sagte ich.
Wir standen uns gegenüber, und ich überlegte, wie ich mich verhalten sollte.
Da hauchte sie mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, es war schön.«
Ich nahm ihr Gesicht zwischen meine Hände und presste ihr einen festen Kuss auf die Lippen.
Welcher Dämon hatte mich in dieser Sekunde bloß geritten?
Samstag, 22.06.
Dreimal innerhalb drei Wochen war es mir gelungen, einer Begegnung mit Arlena auszuweichen. Einmal sah ich sie in der Mensa sitzen, warf ihr aber nur ein kurzes Nicken zu, weil ich bereits andere Mitstudenten anpeilte, mit denen ich oftmals die Pausen verbrachte.
Ein anderes Mal suchte sie einen Platz in der Bibliothek, wobei ich ihr keinen bei mir anbieten konnte, weil sich schon zwei Superschönheiten breitgemacht hatten. Larissa, meine Ex, und ihre allerbeste Freundin Mona. Zwei Barbies wie aus der Retorte. Larissa blondgebleicht, Mona rotgefärbt. Gleiche Haarlänge, gleicher Haarschnitt, beide stark geschminkt mit Minirock und offenherzigem Blusentop. Die eine in grellblendenden Rottönen, die andere in augenkrebsfördernden Grüntönen.
Den säuerlichen Blick in Arlenas Augen missachtete ich, schließlich hatte sie keinen Grund zum Sauersein. Weder unterhielt ich mich übers normale Maß hinaus mit den beiden Kommilitoninnen noch hatte ich mit Arlena eine Verabredung.
Weitere Annäherungsversuche aus dem Kreise holder Weiblichkeiten wimmelte ich freundlich, aber bestimmt ab, kniete mich in die Prüfungsvorbereitungen und ließ mich durch nichts mehr ablenken. Sogar Severins Angebot, mal wieder so richtig einen draufzumachen, lehnte ich ab und vertröstete ihn auf ein Später. Meine Klausurbewertungen waren mir das Wichtigste, denn im Folgejahr standen die Masterprüfungen an.
Die dritte Begegnung mit Arlena verlief nicht sehr harmonisch. Ich erteilte ihr eine Abfuhr, eine höfliche, als sie mich eines späten Nachmittags am Universitäts-Parkplatz abfing und mir den Vorschlag für einen Kinobesuch unterbreitete. Sie zeigte sich sehr beleidigt, und ich versprach ihr ein Treffen zu einem günstigeren Zeitpunkt. Denn fürs Wochenende hatte ich eine Bootstour geplant, alleine irgendwohin, nur mit Laptop und Büchern.
Es war noch nicht mal halb acht, aber der Himmel stahlblau, als ich zum Hafen kam. Ich zwängte meinen Golf an ein paar Polizeiautos vorbei, fuhr nach hinten auf einen freien Stellplatz, dachte mir zunächst nichts dabei. Es geschah leider hin und wieder, dass eingebrochen wurde.
Ich ging die Brücke hinab und am Restaurantschiff entlang in Richtung der linksseitigen Bootsstege, fühlte Schritt um Schritt zunehmendes Unbehagen aufziehen. Polizisten in Uniform und Zivil, manche gar in weißer Schutzkleidung, bevölkerten den Steg und schienen sogar direkt neben und auf der ›MARNIE‹ herumzuwuseln. Unser Hafenmeister gestikulierte aufgeregt mit den Armen, diskutierte mit einem uniformierten Beamten und hatte kein Auge für mich übrig, als ich ihn ansprechen wollte. Also verfiel ich in einen schnellen Trab, wollte dem Treiben bei unserem Boot ein Ende bereiten. Oder hatte man gar dort eingebrochen?
»Na, Benni, mal wieder ’ne heiße Party geschmissen?«, schnarrte die Stimme eines Bootsbesitzers von irgendwoher in mein Ohr. Was ich nicht beachtete.
An einem Absperrband vorm letzten Drittel des Stegs stoppten mich zwei Polizisten.
»Ich will zu dem Boot, dort am Quersteg. Es gehört uns.« Meine Stimme klang härter als gewollt.
»Moment, junger Mann!«, herrschte einer der Beamten mich an. »Sie warten hier. Ich gebe der einsatzleitenden Hauptkommissarin Bescheid.« Er marschierte fort.
»Was ist passiert?«, fragte ich den anderen Beamten.
»Gedulden Sie sich einen Moment.«
»Was ist passiert?«, schrie ich wütend.
Ich fühlte, dass sich da ganz und gar etwas Ungeheuerliches abspielte. Die waren nicht wegen eines Einbruchs gekommen, nein, nicht mit diesem Aufgebot.
Es winkte jemand, und der Beamte hob das Sperrband hoch. »Sie können jetzt zu der Dame dort gehen, das ist Hauptkommissarin Steiner von der Kriminalpolizei.«
Besagte Dame, schätzungsweise Ende vierzig, Durchschnittsfigur, kastanienbrauner Kurzhaarschnitt, beingerade graue Jeans, gelbe Kurzarmbluse, große abgegriffene Ledertasche quer umgehängt, kam mir entgegen.
»Und Sie sind …?« Ihre Stimme klang forsch.
»Benedict Barneck. Meiner Familie gehört die Yacht.«
»Wann waren Sie das letzte Mal hier, Herr von Barneck?«
Aha, sie wusste also über uns Bescheid.
»Ich? Das dürften zwei Wochen her sein.«
»Und jemand anderes aus Ihrer Familie?«
»Das weiß ich so spontan nicht.« Warum ich ihr nicht sagte, dass außer mir niemand dagewesen sein konnte, weil meine Eltern im Ausland weilten und ich mindestens einmal wöchentlich nach der ›MARNIE‹ sah, wusste ich hinterher nicht.
»Das werden wir herausfinden. Aber so lange kann das ja nicht her sein, seit jemand hier war. Ihre Yacht ist mit keiner Schutzplane abgedeckt.«
»Ähm«, setzte ich verdutzt an, »das Wetter war durchgängig stabil.« Und ein bisschen Bequemlichkeit spielte auch eine Rolle. Aber das stand jetzt wohl nicht zur Debatte.
»Nun ja, das ist Ihre Sache.« Sie sah mich herausfordernd an. »Wo waren Sie vergangene Nacht?«
Mein Atem stockte. »Ich? Wieso ich? Was ist denn passiert?«
Ihr Blick lag fest auf mir. »Bitte antworten Sie mir. Wo waren Sie vergangene Nacht?«
»Na, daheim. Wo sonst?«
»Kann das jemand bezeugen?«
»Ich war allein, Herrgott nochmal! Was ist los?«
Ihre Überrumpelungstaktik befeuerte meine Ungeduld. Das merkte wohl auch die Beamtin. Ihr Blick wurde freundlicher. Ihre Worte umso gnadenloser.
»Es wurde eine Tote gefunden. Auf Ihrem Boot.«
Meinen bestürzten Unglauben ignorierend, zog sie ein Samsung-Tablet aus der Tasche, klappte die blassgrüne rissige Hülle auf und aktivierte ein Foto. Hielt es vor meine Nase.
»Kennen Sie sie?«
Mich traf der Schlag. Larissa? Liegend auf der Sitzbank am Achterdeck. Den Kopf herabhängend, die rotdurchtränkten Haare wie ein Fächer am Boden ausgebreitet. Kaum zu erkennen inmitten des vielen Bluts. Den aufkommenden Ekel hielt ich erfolgreich in Grenzen und reckte den Kopf, um direkte Sicht auf die tragische Szenerie zu erhaschen.
Vergebens, die Kommissarin fuchtelte mit dem Tablet vor meinen Augen herum. Lenkte meinen Blick wieder auf das Display.
»Sie kennen sie?« Eher eine Feststellung als eine Frage. Wohl das Resümee auf mein entgleistes Mienenspiel.
»Ja, klar«, würgte ich hervor.
»Klar?« Die Beamtin zog das Tablet zurück, schlug die Hülle zu und steckte das Gerät in ihre graubraune Umhängetasche. »Ihre Freundin?«
»Nein!« Mein Ton war zu barsch.
»Nein?« Die Wiederholung klang provozierend.
»Ich kenne sie von der Uni.« Mehr brachte ich nicht über die Lippen, mein Hals war wie zugeschnürt.
»Gut, Herr von Barneck, dann sehen wir uns in einer Stunde für eine kurze Faktenklärung auf dem Kommissariat.« Sie überreichte mir eine Visitenkarte. Tippte mit dem Zeigefinger auf die Adresse der Kriminalpolizeidirektion in der Hertzstraße.
Nahezu zwei Stunden verharrte ich unter Beobachtung eines schweigenden Beamten und einer hochangebrachten, blinkenden Kamera in einem nur mit einem Tisch und drei Stühlen ausgestatteten Raum, bis sich die Tür öffnete und Frau Steiner hereintrat. Die ursprünglich angedachte Fleißarbeit auf der ›MARNIE‹ irgendwo am idyllischen Rheinufer wäre mir tausendmal lieber gewesen.
Die Hauptkommissarin räusperte sich. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich würde unser Gespräch gerne aufzeichnen. Darf ich?«