Ausreißer Ricci - Marisa Frank - E-Book

Ausreißer Ricci E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ich glaube, jetzt kommen sie.« Frieda Bullinger sprang mit einer Behendigkeit von der Bank auf, die man ihr nicht mehr zugetraut hätte. Sie lief ums Haus herum, blieb dann aber enttäuscht stehen. Wieder einmal hatte sie sich geirrt. »Du bist so ungeduldig wie ein kleines Mädchen, das auf den Weihnachtsmann wartet.« Schmunzelnd war der alte Oberförster Bullinger seiner Frau gefolgt. »Oma Förster hat sich schon wieder getäuscht«, rief der sechsjährige Andi. Er war dem Ehepaar mit dem Roller nachgefahren. »Ich werde nach dem Möbelwagen Ausschau halten. Ich bin gleich wieder zurück und erstatte Bericht.« Er flitzte an dem Oberförster vorbei. Geschickt stieß er sich mit dem linken Fuß ab, um dann auch diesen Fuß zu dem rechten auf das schmale Brett zu stellen. Er war sehr stolz auf seine Balancierkunst. Sein Geschrei hatte Sabine Schröder ans Fenster gelockt. »Er wird schon noch kommen«, rief sie Frieda Bullinger zu. »Das sage ich dir schon den ganzen Tag«, brummte der alte Oberförster. Dabei strich er sich durch den langen weißen Vollbart. Der Blick, den er seiner Frau schenkte, sprach aber von Verständnis und Zuneigung. Er wusste doch, wie sehr sie sich auf die neuen Möbel freute. Anfangs war er eigentlich nicht dafür gewesen. Sich auf ihre alten Tage neu einzurichten, hielt er für Geldverschwendung. Aber er hatte sich überreden lassen. Bisher hatten sie sich sowieso nur wenig geleistet. »Komm, Frieda, du kannst nicht den ganzen Tag vor dem Haus stehen und warten. Lass uns etwas essen.« Bestürzt sah die alte Frau auf ihren Mann. »Das habe ich ganz

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Sophienlust – 187 –

Ausreißer Ricci

Wird er je über seinen Kummer sprechen können?

Marisa Frank

»Ich glaube, jetzt kommen sie.« Frieda Bullinger sprang mit einer Behendigkeit von der Bank auf, die man ihr nicht mehr zugetraut hätte. Sie lief ums Haus herum, blieb dann aber enttäuscht stehen. Wieder einmal hatte sie sich geirrt.

»Du bist so ungeduldig wie ein kleines Mädchen, das auf den Weihnachtsmann wartet.« Schmunzelnd war der alte Oberförster Bullinger seiner Frau gefolgt.

»Oma Förster hat sich schon wieder getäuscht«, rief der sechsjährige Andi. Er war dem Ehepaar mit dem Roller nachgefahren. »Ich werde nach dem Möbelwagen Ausschau halten. Ich bin gleich wieder zurück und erstatte Bericht.« Er flitzte an dem Oberförster vorbei. Geschickt stieß er sich mit dem linken Fuß ab, um dann auch diesen Fuß zu dem rechten auf das schmale Brett zu stellen. Er war sehr stolz auf seine Balancierkunst.

Sein Geschrei hatte Sabine Schröder ans Fenster gelockt. »Er wird schon noch kommen«, rief sie Frieda Bullinger zu.

»Das sage ich dir schon den ganzen Tag«, brummte der alte Oberförster. Dabei strich er sich durch den langen weißen Vollbart. Der Blick, den er seiner Frau schenkte, sprach aber von Verständnis und Zuneigung. Er wusste doch, wie sehr sie sich auf die neuen Möbel freute. Anfangs war er eigentlich nicht dafür gewesen. Sich auf ihre alten Tage neu einzurichten, hielt er für Geldverschwendung. Aber er hatte sich überreden lassen. Bisher hatten sie sich sowieso nur wenig geleistet.

»Komm, Frieda, du kannst nicht den ganzen Tag vor dem Haus stehen und warten. Lass uns etwas essen.«

Bestürzt sah die alte Frau auf ihren Mann. »Das habe ich ganz vergessen. Ich habe nichts gekocht.«

»Seht einmal dieses Weib an«, polterte der Oberförster los. »Da lässt sie mich glatt verhungern. Ich hätte mich noch rechtzeitig nach etwas Neuem umschauen sollen.« Seine Augen zwinkerten dabei gutmütig. Er liebte es, seine Frau auf den Arm zu nehmen.

Sabine verfolgte lächelnd das Streitgespräch. Sie fand es wunderschön, dass sich das alte Ehepaar oft noch wie ein verliebtes junges Pärchen neckte. Sie sah den beiden nach, als sie davongingen.

Von ihr unbemerkt war der junge Revierförster ins Zimmer gekommen. Er trat zu seiner Frau und küsste sie zärtlich in den Nacken. »Mir gefallen sie auch. Der alte Oberförster ist mein Vorbild. Er hat seinen Beruf meisterhaft beherrscht. Aber auch sonst wollen wir den beiden nacheifern. Auch wir wollen im Alter noch so glücklich sein wie sie.«

»Könnten wir es nicht schon jetzt sein?«, fragte Sabine und blickte ihn schelmisch an.

Die junge Frau war sehr zierlich. Sie reichte ihrem Mann gerade bis zur Schulter. Für die beiden versank im Moment die Welt. Erst Andi brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Jetzt kommt er wirklich«, schrie der Junge, und als Sabine einen

Blick aus dem Fenster warf, sah sie, dass ihr Sohn recht hatte. Ein riesiger Möbelwagen hielt vor dem Forsthaus.

»Es ist höchste Zeit, dass Sie kommen«, hörte das Ehepaar Schröder den Oberförster mit seinem tiefen Baß brummen. »Wir warten schon seit gestern.«

»Es tut uns leid«, sagte der Fahrer. »Sie standen erst heute auf unserer Liste, und für heute ist Wildmoos unsere letzte Station.«

»Ist schon gut«, mischte sich Frieda Bullinger ein. Ungeduldig trat sie an den Transporter heran. Sie konnte es kaum erwarten, die neuen Wohnzimmermöbel zu sehen.

Die Möbelpacker, zwei kräftige junge Männer, griffen auch sofort beherzt zu. Als ihnen der Oberförster zwei Bierflaschen brachte, schüttelten sie entschieden die Köpfe. »Zuerst die Arbeit!« Um zu zeigen, wie ernst es Ihnen war, spuckten sie kräftig in ihre Hände.

Der alte Mann zog seine Frau zur Seite, dann wies er den Arbeitern den Weg zum Wohnzimmer. Eifrig bestimmte Frieda Bullinger, wohin die Sachen kommen sollten. »Die Couch kommt auf diese Seite und vor das Tischchen. Den Schrank stellen wir dorthin. Wir haben alles genau ausgemessen.«

Nur Andi war beim Möbelwagen stehen geblieben. Ihn faszinierte das riesige Auto. Staunend sah er zu, wie die Möbelpacker ein Stück nach dem anderen herausholten. Was der Wagen alles in seinem Bauch hatte! Vorsichtig schlich Andi noch näher.

»So, nun noch das Büfett, dann haben wir es geschafft. Dann haben wir Feierabend.« Der eine Mann lachte.

Der zweite Mann kam heran, und als auch der Fahrer hilfsbereit zugriff, hoben die drei das schwere Stück aus dem Auto und trugen es ins Haus.

Andi stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte ins Wageninnere zu sehen. Er reckte und streckte sich, doch er war zu klein. Da stieg er kurz entschlossen auf das kleine Laufbrett, das hinten lehnte, empor. So konnte er in das Innere blicken.

Andi war enttäuscht. Viel war nicht zu sehen. So viel er in dem Dämmerlicht erkennen konnte, war der Wagen leer. Nur Stricke und Decken lagen auf dem Boden.

Aber was war das? Bewegte sich da nicht etwas? Andi erschrak, obwohl er eigentlich ein sehr mutiger Junge war. Vor Finsternis fürchtete er sich überhaupt nicht. Sein Vater nahm ihn sehr oft früh am Morgen in den Wald mit. Da raschelte es auch oft verdächtig.

Gewohnt, den Dingen auf den Grund zu gehen, ging Andi noch weiter. Furchtlos spähte er ins Wageninnere. Da lag doch wirklich noch etwas. Hatte der Mann nicht gesagt, dass sie fertig wären?

Andi sah sich um. Niemand war da, den er hätte fragen können. Auch seine Eltern waren in der Wohnung des Oberförsters und bestaunten die neuen Möbel.

Andi handelte. Er ging tiefer ins Wageninnere. Ganz hinten in der Ecke lag etwas, was er nicht erkennen konnte. Doch jetzt hörte er seinen Vater rufen.

»Andi, wo steckst du denn?«

»Hier, Papi.« Andi steckte den Kopf aus dem Möbelwagen.

»Komm sofort herunter.« Klaus Schröder streckte seine Arme aus, um seinen Sohn herunterzuheben.

Andi wollte nicht. »Ich muss noch etwas nachsehen«, erklärte er eifrig. »Da hinten liegt etwas.«

»Das geht dich nichts an, komm!«, forderte sein Vater energischer.

»Schade! Du kommst immer im verkehrten Augenblick. Ein bisschen später, und ich hätte gewusst, was die Männer vergessen haben.« Bevor sein Vater ihn hochhob, sah er noch einmal zurück. »Da! Jetzt bewegt es sich«, rief er aufgeregt. »Papa, es ist ein Junge.«

»Unsinn«, sagte Klaus Schröder. Er wollte Andi auf den Boden stellen, doch dieser klammerte sich an seinem Hals fest.

»Guck doch, Papi. Der Junge ist nicht viel größer als ich. Darf ich mit ihm spielen?«

Ungläubig sah der junge Revierförster ins Wageninnere. Nachdem sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, sah auch er den Jungen, der sich gerade aufsetzte und herzhaft gähnte.

»Was gibt es denn hier zu sehen?«, erkundigte sich Oberförster Bullinger.

»Sie haben nicht zufällig auch einen kleinen Jungen bestellt?«

»Papi! Der ist für mich«, rief Andi und zappelte ungeduldig. »Ich wünsche mir ja schon lange ein Brüderchen. Lass mich los, ich will den Jungen herausholen.«

Der Fahrer und die zwei Möbelpacker stellten die Bierflaschen weg und kamen heran. Der eine Mann öffnete die Flügeltüren weit, sodass der fremde Junge nun deutlich zu sehen war. Er saß zusammengekauert an der hinteren Wand und starrte mit großen Augen, in denen Angst stand, auf die Menschen.

»Wo kommt denn der her?« Die drei Männer, die den Möbelwagen begleiteten, sahen sich ratlos an.

»Keine Ahnung.« Der Fahrer kratzte sich am Hinterkopf, wobei seine Mütze verrutschte. »Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Ich habe ihn gefunden«, rief Andi. Er begriff, dass sich irgendetwas Ungewöhnliches anbahnte. »Er soll herauskommen.«

»Ein vernünftiger Vorschlag.« Oberförster Bullinger nickte Andi zu. »Komm heraus, mein Junge«, rief er dann ins Wageninnere. »Hier ist Endstation.«

Doch er hatte keinen Erfolg. Der Junge presste sich ängstlich an die Wagenwand. Kein Ton kam über seine Lippen.

»Kann er nicht sprechen?«, erkundigte sich Andi. Als niemand antwortete, fragte er weiter: »Warum hat er denn Angst? Schau nur, wie komisch er guckt. Papi, sag ihm, dass wir ihm nichts tun.«

Die Männer waren ratlos.

»Lass mich los«, forderte Andi energisch. »Ich will zu dem Jungen.« Er zappelte heftig in den Armen seines Vaters, und schließlich setzte Klaus Schröder ihn auf die Ladefläche.

Sofort stand Andi auf und lief auf den Jungen zu. »Du bist mit dem Auto mitgefahren. War es toll? Ich möchte auch einmal in einem so großen Auto fahren.«

Der Junge antwortete nicht, und Andi drehte sich zu seinem Vater um. »Ich glaube, der kann nicht sprechen«, sagte er enttäuscht. Jetzt bemerkte er auch, dass der fremde Junge größer war als er selbst. »Papi, er ist sicher älter als ich. Aber das macht nichts. Ich behalte ihn trotzdem.« Er ergriff den Jungen am Arm und versuchte ihn mitzuziehen.

Der alte Oberförster lachte schallend, und schließlich stimmten die Möbelpacker mit ein. »Siehst du«, sagte Andi, »sie lachen. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Er zog den widerstrebenden Jungen hinter sich her.

»So, mein Junge, da bist du ja.« Oberförster Bullinger griff nach dem kleinen blinden Passagier und hob ihn aus dem Wagen.

Mit aufgerissenem Mund sah der fremde Junge dem Oberförster ins Gesicht. Dann streckte er zögernd die Hand aus und berührte den langen weißen Bart des alten Mannes.

Der Oberförster lächelte. Er war solche Reaktionen gewöhnt. Oft waren die Kinder vom nahen Kinderheim Sophienlust hier zu Besuch, und jedes Mal wurde sein Bart aufs Neue bestaunt.

Schüchtern erwiderte der Junge das Lächeln. Seine Miene verschloss sich erst wieder, als der Oberförster fragte: »Woher kommst du?«

Heftig schüttelte der Bub den Kopf.

Der Oberförster ließ den Jungen auf die Erde gleiten. »Du weißt es nicht? Aber wie du heißt, kannst du uns doch sicher sagen?«

Noch einmal schüttelte der fremde Junge den Kopf. Er sah von einem zum anderen, dann drehte er sich blitzschnell um und rannte davon. »Hiergeblieben«, rief der Oberförster Bullinger hinter ihm her. »Noch einmal wird nicht ausgerissen!« Er wollte hinter dem Jungen herlaufen, aber einer der Möbelpacker war schneller. Er packte zu und hielt den Jungen am Arm fest.

»Nicht so stürmisch«, schimpfte der Mann. »Du musst heimlich in unseren Wagen eingestiegen sein.«

Inzwischen waren auch Sabine Schröder und Frieda Bullinger herangekommen. Sie hatten sofort Mitleid mit dem Jungen. »Er hat sicher Hunger und Durst«, sagte die resolute Oberförsterin. »Lasst ihn zuerst trinken und essen. Dann wird er schon erzählen.«

»So lange können wir nicht warten. Was soll nun geschehen? Wir haben Feierabend.« Ungeduldig schüttelte der eine Möbelpacker den Jungen. Seine Kollegen nickten zustimmend.

Jeder versuchte, den Jungen nun zum Sprechen zu bewegen, doch dieser zuckte nur die Achseln oder schüttelte den Kopf, wobei er sich mit großen ängstlichen Augen umsah.

»Mami, sag ihm doch, dass er bei uns bleiben darf. Vielleicht freut er sich darüber.«

Sabine strich ihrem Sohn über das dunkle Haar. »Das geht leider nicht. Der Junge hat sicher auch einen Papa und eine Mama«, versuchte sie zu erklären.

»Das glaube ich nicht. Wenn man Papa und Mama hat, läuft man doch nicht weg«, sagte Andi entschieden. »Sieh nur, er hat noch dunklere Haare als ich.«

Den Erwachsenen fiel erst jetzt auf, dass der Junge auch einen dunklen Teint hatte und ziemlich fremdländisch aussah. Während sie ihre Vermutungen darüber austauschten, versuchte Andi mit dem fremden Jungen ein Gespräch zu beginnen.

»Ich freue mich, dass du hier bist. Ich werde meine Eltern schon dazu überreden, dass du hierbleiben kannst. Das Forsthaus ist zwar nicht groß, aber in meinem Zimmer ist noch Platz für ein zweites Bett. Willst du bei mir schlafen?«

Der Junge nickte, und Andi rief begeistert: »Er versteht mich. Er will heute Nacht bei mir schlafen. Wir müssen schnell in meinem Zimmer ein zweites Bett aufstellen.«

»Moment«, dämpfte Klaus Schröder die Begeisterung seines Sohnes. »Zuerst müssen wir wissen, wie der Junge heißt. Dann sehen wir weiter.«

»Sag doch, wie du heißt«, drängte Andi den fremden Jungen. »Du kannst dich auf mich verlassen«, versicherte er dann. »Hier schimpft niemand mit dir. Was du auch immer angestellt hast, meine Eltern sind sehr lieb.«

Hilflos zuckte der Angesprochene die Schultern.

»Papi, er kann nicht sprechen. Sieh nur, jetzt nickt er«, meinte Andi.

»Vielleicht hat Andi recht«, mischte sich der Oberförster ein. »Ich glaube auch nicht, dass der Junge bockig und trotzig ist.«

»Dann darf er hierbleiben!«, rief Andi erfreut.

Sein Vater hörte gar nicht auf ihn. Ernst sagte er: »Wir müssen etwas unternehmen. Sicher wird der Junge schon vermisst.«

Die Möbelpacker und der Fahrer machten bestürzte Gesichter. Langsam dämmerte ihnen, dass sie noch Schwierigkeiten bekommen würden. Keiner von ihnen hatte den Jungen je gesehen oder konnte sagen, wie er ins Auto gekommen war. Schwer war das nicht gewesen, denn die Türen hatten ja beim Abladen immer eine Zeit lang offen gestanden.

»Wir müssen die Polizei verständigen«, schlug Frieda Bullinger vor. Sie war ins Haus gegangen und kam nun mit einem Glas Milch zurück, das sie dem Jungen reichte. Zögernd griff dieser danach und leerte es in einem Zug. Lächelnd gab er dann das Glas zurück.

»Ich werde Frau von Schoenecker anrufen«, entschied der Oberförster. »Sie kann dann die Polizei verständigen, wenn sie es für notwendig hält.« Erklärend wandte er sich an den Fahrer und dessen Kollegen. »Frau von Schoenecker hat sehr viel Erfahrung mit Kindern. Sie verwaltet das Kinderheim Sophienlust, das auch zu Wildmoos gehört.«

Klaus und Sabine Schröder sowie Frieda Bullinger waren mit dem Vorschlag sofort einverstanden. Sie wussten, auf Denise von Schoenecker war Verlass. Nicht nur die eigenen Kinder hingen mit großer Liebe an ihr, sondern auch die Schützlinge, die ihr anvertraut waren.

*

Denise von Schoenecker klatschte in die Hände und rief: »Schluss für heute!«

Enttäuscht umringten die Kinder sie. Die kleine Heidi, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, griff nach Denises Hand. »Du darfst noch nicht aufhören, Tante Isi. Du hast gesagt, du spielst mit uns, wenn wir brav sind. Und wir waren brav. Sogar ich.« Treuherzig sah sie Denise an. »Ich habe meinen Schrank aufgeräumt. Du kannst nachsehen, alles liegt auf seinem Platz. Ich habe auch kein bisschen genascht.«

Lächelnd strich Denise der kleinen Heidi über das hellblonde Haar, das zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden war. »Ich weiß es. Daher habe ich auch mein Versprechen gehalten. Ich habe doch mit euch gespielt.«

»Aber nur so kurz.« Heidi zog ein Schmollmündchen. Ihre blauen Augen bekamen einen Blick, dem keiner widerstehen konnte.

Heidi war der Liebling aller. Sie wusste es und nützte es weidlich aus. Doch im Augenblick hatte sie damit keinen Erfolg.

»Ich habe wirklich keine Zeit mehr.« Denise seufzte. »Eine Menge Schreibarbeit wartet auf mich.«

»Die kann noch länger warten.« Heidi versuchte Denise wieder auf die Spielwiese zu ziehen.

Da griff Angelika Dommin, von allen nur Pünktchen genannt, ein. »Tante Isi hat ihr Versprechen gehalten, und wir müssen ihr dankbar sein. Trotz der vielen Arbeit hat sie über eine Stunde mit uns gespielt.«

»So lange? Das glaube ich nicht.« Entschieden schüttelte Heidi ihr Köpfchen.«

»Doch, mein Schatz! Du glaubst doch nicht, dass ich dich belüge?«

»Nein«, gab Heidi kleinlaut zu. Dann sagte sie impulsiv: »Du bist die liebste Tante der Welt, und lügen tust du sicher nicht.«

»Da bin ich aber sehr froh, dass du mir glaubst«, erwiderte Denis ernsthaft. »Ihr könnt noch ein wenig draußen bleiben. Schwester Regine wird gleich nach euch sehen. Ich fahre nach Schoeneich.«

»Darf ich mitkommen, Tante Isi?«, bat Pünktchen.

»Du? Was willst du in Schoen­eich?« Denise tat verwundert. Dabei wusste sie genau, was Pünktchen wollte.

Verlegen senkte Pünktchen den Kopf. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und ihre Sommersprossen traten noch deutlicher hervor. »Ich war mit Nick verabredet. Ich dachte nur, wenn du mich mitnimmst …«, druckste sie herum.

»Selbstverständlich kannst du mitfahren.« Denise hakte das Mädchen unter. »Es freut mich doch, dass ihr euch so gut versteht.«

Verstohlen musterte Pünktchen Denise. Als sie sich überzeugt hatte, dass diese es ernst meinte, sagte sie eifrig: »Wir wollen zum Forsthaus reiten und dem alten Oberförster einen Besuch abstatten. Er und seine Frau haben neue Wohnzimmermöbel bestellt. Sie haben uns vorige Woche eingeladen, sie uns anzusehen.«

»Auch ich wurde eingeladen. Ich lasse das Ehepaar Bullinger schön grüßen. Du kannst ausrichten, dass ich in den nächsten Tagen sicher einmal vorbeikomme.«

»Werde ich machen, Tante Isi. Soll ich Schwester Regine Bescheid sagen, dass wir wegfahren?«

»Ja, bitte tu das.«

Leichtfüßig lief Pünktchen vorbei an dem Weiher, der in der Mitte des Parks lag, zu dem schönen alten Herrenhaus, während Denise gleich zu ihrem Wagen ging.

Denise musste nicht lange auf Pünktchen warten. Das Mädchen kam bald zurück. »Es ist alles in Ordnung«, rief es schon von Weitem fröhlich. »Ich habe Schwester Regine Bescheid gesagt.«

Einladend öffnete Denise den Wagenschlag. Dabei sah sie, dass Pünktchen sich umgezogen hatte. Sie trug nun ihre Reithosen und eine dazu passende Bluse. Beides hatte sie zu ihrem letzten Geburtstag bekommen.«

»Der Reitdress steht dir ausgezeichnet«, sagte Denise mit einem anerkennenden Blick.

»Danke.« Pünktchens Augen strahlten.

Denise startete. Da kam Frau Rennert aus dem Portal. Aufgeregt winkte sie. Pünktchen sah die Heimleiterin und machte Denise darauf aufmerksam. »Ich glaube, Tante Ma will etwas von dir.« Alle Kinder nannten Frau Rennert, die eine ehemalige Fürsorgerin war, liebevoll Tante Ma.

Sofort bremste Denise und kurbelte das Autofenster herab.

»Telefon, Frau von Schoenecker, Oberförster Bullinger. Er scheint sehr aufgeregt zu sein.«

»Vielleicht stimmt etwas mit den Möbeln nicht«, mutmaßte Pünktchen.

»Nun, Möbelspezialistin bin ich wirklich keine«, sagte Denise kopfschüttelnd. Aber sie stellte den Motor ab und ging in die Halle, wo das Telefon stand.

Die Stimme des alten Oberförsters klang wirklich aufgeregt. »Bin ich froh, dass ich Sie noch antreffe. »Wir brauchen Ihren Rat. Stellen Sie sich vor, was uns ins Haus geschneit ist.« Ausführlich begann er danach zu erzählen.

Denise musste öfter Zwischenfragen stellen, bis sie alles verstanden hatte. »Und der Junge hatte sich überhaupt noch nicht geäußert?«, vergewisserte sie sich nochmals.

»Nein. Wir dachten zuerst, dass er uns nicht verstehe. Er sieht irgendwie fremdländisch aus. Aber inzwischen haben wir begriffen, dass er alles versteht. Er nickt zur richtigen Zeit oder schüttelt den Kopf. Auf diese Weise begriffen wir, dass er Hunger hat.«

Denises Interesse war erwacht. Ohne zu wissen warum, empfand sie Mitleid mit dem fremden Jungen. »Ich komme sofort bei Ihnen vorbei.«

»Genau darum wollte ich Sie bitten. Sie haben mehr Erfahrung mit Kindern. Vielleicht bringen Sie aus dem Kind etwas heraus.«

»Gut, ich bin gleich bei Ihnen.« Denise dachte nicht mehr an ihre Schreibarbeit. Sie setzte sich wieder ans Steuer und sagte zu Pünktchen: »Ich muss schnell zum Forsthaus.«

Pünktchen machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Du musst nicht mitkommen«, sagte Denise.

»Selbstverständlich komme ich mit, wenn du mich mitnimmst. Ich dachte nur an Nick. Er wird auf mich warten.«