Mutterglück - Marisa Frank - E-Book

Mutterglück E-Book

Marisa Frank

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der jungen Frau rannen Tränen über die Wangen. Vergebens versuchte sie, sie zurückzuhalten. Die Straße verschwamm vor ihrem Blick. Jetzt lenkte Nicola Hauff ihren Wagen an den Straßenrand und hielt an. Ihr Kopf sank auf das Lenkrad. Heftig begann sie zu schluchzen. Das Weinen tat Nicola gut. Nachdem sie sich ausgiebig die Nase geputzt hatte, fühlte sie etwas von ihrer alten Energie zurückkehren. Nein, sie würde nicht klein beigeben. Es war ihr Kind, und niemand hatte das Recht, es ihr wegzunehmen. Nicola drehte sich zu ihrem Kind um. Friedlich schlief die kleine Anke auf dem Rücksitz, wo Nicola ihr mit Decken und Kissen ein Bettchen gemacht hatte. Sachte strich die Mutter ihr die blonden Härchen aus der Stirn. Was für ein Glück, dass Anke noch so klein ist und von den ewigen Auseinandersetzungen nichts mitbekommt, dachte Nicola. Zärtlichkeit überflutete sie, die ihrer beinahe zweijährigen Tochter galt. Plötzlich schämte sie sich ihrer Tränen. Schnell schob sie sich den Innenspiegel ihres Autos zurecht und versuchte die verräterischen Spuren zu verwischen. Nicola Hauff war eine hübsche junge Frau, die man fast noch für ein Mädchen halten konnte. Im Gegensatz zu ihrer kleinen Tochter hatte sie fast blauschwarzes Haar, das sie hochgesteckt trug. Ein wunderschöner Kontrast waren dazu ihre blauen Augen. Sie konnten strahlen wie die Sterne am Himmel, aber seit einem halben Jahr hatte der Schmerz sie verdunkelt. Ein Lastwagen fuhr vorbei. Der Fahrer bemerkte die hübsche junge Frau am Straßenrand und drückte auf die Hupe. Nicola zuckte zusammen. Sie war mit den Gedanken in der Vergangenheit gewesen, aber nun

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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Beliebtheit




Sophienlust –234–

Mutterglück

Nicola muss dafür kämpfen!

Marisa Frank

Der jungen Frau rannen Tränen über die Wangen. Vergebens versuchte sie, sie zurückzuhalten. Die Straße verschwamm vor ihrem Blick.

Jetzt lenkte Nicola Hauff ihren Wagen an den Straßenrand und hielt an. Ihr Kopf sank auf das Lenkrad. Heftig begann sie zu schluchzen.

Das Weinen tat Nicola gut. Nachdem sie sich ausgiebig die Nase geputzt hatte, fühlte sie etwas von ihrer alten Energie zurückkehren. Nein, sie würde nicht klein beigeben. Es war ihr Kind, und niemand hatte das Recht, es ihr wegzunehmen.

Nicola drehte sich zu ihrem Kind um. Friedlich schlief die kleine Anke auf dem Rücksitz, wo Nicola ihr mit Decken und Kissen ein Bettchen gemacht hatte.

Sachte strich die Mutter ihr die blonden Härchen aus der Stirn. Was für ein Glück, dass Anke noch so klein ist und von den ewigen Auseinandersetzungen nichts mitbekommt, dachte Nicola. Zärtlichkeit überflutete sie, die ihrer beinahe zweijährigen Tochter galt. Plötzlich schämte sie sich ihrer Tränen. Schnell schob sie sich den Innenspiegel ihres Autos zurecht und versuchte die verräterischen Spuren zu verwischen.

Nicola Hauff war eine hübsche junge Frau, die man fast noch für ein Mädchen halten konnte. Im Gegensatz zu ihrer kleinen Tochter hatte sie fast blauschwarzes Haar, das sie hochgesteckt trug. Ein wunderschöner Kontrast waren dazu ihre blauen Augen. Sie konnten strahlen wie die Sterne am Himmel, aber seit einem halben Jahr hatte der Schmerz sie verdunkelt.

Ein Lastwagen fuhr vorbei. Der Fahrer bemerkte die hübsche junge Frau am Straßenrand und drückte auf die Hupe.

Nicola zuckte zusammen. Sie war mit den Gedanken in der Vergangenheit gewesen, aber nun war sie in die Gegenwart zurückgekehrt. Wo befand sie sich eigentlich? Sie war einfach drauflos gefahren, hatte weder auf die Landstraße noch auf die Ortsschilder geachtet.

Nicola holte die Landkarte hervor und versuchte ihren Weg zu konstruieren. Wenn sie sich nicht irrte, musste sie in der Nähe der Kreisstadt Maibach sein.

Beim Weiterfahren achtete Nicola mehr auf ihre Umgebung. Die hügelige, waldreiche Landschaft, durch die sie fuhr, bestätigte ihr, dass ihre Vermutungen richtig waren. Gleich darauf erreichte sie die Ortstafel des idyllischen Ortes Wildmoos. Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, denn nun war es Zeit zu überlegen, was sie tun wollte. Ihre Abreise in den frühen Morgenstunden war ziemlich überstürzt vor sich gegangen. Wahrscheinlich hatte ihre Schwiegermutter inzwischen schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um herauszufinden, wohin sie gefahren war. Dabei hatte sie noch immer kein festes Ziel. Ihr einziges Bestreben war, Anke in Sicherheit zu bringen.

Hinter ihr begann das Kind zu weinen. Da in Nicolas Gesichtskreis gerade der Gasthof »Zum grünen Krug« auftauchte, fuhr sie das Auto auf dessen Parkplatz. Nun hatte sie nur noch Augen für ihr Kind.

»Liebling, nicht weinen. Mami ist ja hier.« Nicola wandte sich zu der kleinen Anke um. Das Mündchen, gerade noch weinerlich verzogen, glättete sich, die Händchen streckten sich der Mutter entgegen.

Sofort nahm Nicola ihre Tochter auf die Arme. »Hast du gut geschlafen?« Sie ließ die Kleine auf ihren Knien reiten.

Anke lachte nun über das ganze Gesicht. Übermütig versuchte sie ihrer Mutter ins Haar zu greifen. Nicola hielt die Händchen fest, und dann lachten Mutter und Tochter zusammen. Schließlich gelang es Anke doch, ihre Ärmchen um Nicolas Hals zu schlingen. »Ane Mami lieb«, versicherte sie treuherzig.

Viel konnte die Kleine, da sie das zweite Lebensjahr noch nicht ganz vollendet hatte, noch nicht sprechen, aber die junge Frau freute sich über jedes Wort. »Mami hat Anke auch sehr lieb«, sagte sie und drückte das kleine Köpfchen an sich. Sofort spürte sie Ankes feuchten Schmatz auf ihrer Wange.

Jetzt war Nicola glücklich. Sie bereute nicht, ihr Hotel Hals über Kopf verlassen zu haben. Wichtig war nur, dass sie Anke in Sicherheit brachte. Sie hielt ihre Tochter etwas von sich ab und fragte: »Was machen wir nun, Anke?«

»Ane hm!«, rief die Kleine und legte ihre Hände auf den Bauch.

»Natürlich, du hast Hunger. Dass ich daran nicht gedacht habe. Anke bekommt gleich etwas zu essen.« Nicola sah zu dem Gasthof hinüber, der einladend aussah.

Die Kleine zupfte ihre Mutter am Blusenärmel. »Ane au …« Wieder fuhren ihre Hände zum Bauch.

»Trinken!« Nicola lachte. »Natürlich bekommst du auch etwas zu trinken.« Sie setzte das Kind auf den Nebensitz, dann holte sie von hinten die Schuhe.

»Komm, wir wollen die Schuhe anziehen, Anke wird laufen.«

»Aufen, aufen«, wiederholte Anke und schlug begeistert die Hände zusammen. Gleich wollte sie vom Sitz gleiten, aber Nicola hielt sie fest.

»Halt, zuerst die Schuhe.« Da Anke begeistert zappelte, hatte Nicola große Mühe, der Kleinen die Schuhe überzustreifen. Endlich gelang es. »So, dann wollen wir mal.« Mit Anke auf dem Arm stieg Nicola aus dem Auto und schloss es ab.

»Aufen«, forderte Anke energisch.

»Gut, aber an der Hand.« Nicola stellte ihre Tochter auf die eigenen Beine. Obwohl Anke heftig an ihrer Hand zerrte und loszukommen versuchte, hielt sie die Kleine fest. So sicher stand Anke noch nicht auf ihren Beinen. Sie konnte sich zwar allein fortbewegen und tat dies auch sehr gern, aber sie verlor dabei noch oft das Gleichgewicht.

Anke seufzte herzerweichend, sodass Nicola sich das Lachen verbeißen musste. Schließlich gab die Kleine nach und trippelte neben der Mutter über den Parkplatz.

Die Stufen, die zum Eingang des Gasthofes führten, waren für Anke zu hoch. Da nahm Nicola sie wieder auf die Arme, was sofort ein heftiges Protestgeschrei auslöste.

»Aber, aber! Wenn Anke nicht brav ist, kann sie mit der Mami nicht ins Gasthaus gehen.«

Anke, im Grunde ein sehr liebes und braves Kind, verstummte. Sie legte ihr Köpfchen an die Wange der Mutter und sagte leise: »Ane brav.«

»So ist es recht.« Nicola küsste ihre Tochter auf die Stirn. Dann betrat sie mit ihr die Gaststube.

Es war noch nicht Mittagszeit, und außer zwei Vertretern war niemand anwesend. Nicola setzte sich mit dem Kind auf die Eckbank. Anke war jedoch schon wieder unternehmungslustig. Sobald die Mutter sie neben sich gesetzt hatte, rutschte sie von der Bank. Sekundenlang hielt sie sich zögernd am Tischbein fest. Dann marschierte sie los, die Hände balancierend emporgestreckt. Aber das ging ihr zu langsam. Deshalb ließ sie sich blitzschnell auf die Knie nieder und robbte nun jauchzend über den Fußboden.

»Aber Anke«, rief Nicola entsetzt. »Du machst dich ja ganz schmutzig.«

In diesem Moment betrat die Wirtin die Gaststube. »Ja, wen haben wir denn da?«, meinte sie lachend und hob das Kind auf.

»Oma, Oma!«, rief Anke und fuhr der Frau ins Gesicht.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Nicola und nahm Anke der Frau ab.

»Oma, Oma!«, brüllte die Kleine los und streckte begehrend ihre Händchen aus.

»Aber das ist doch nicht deine Oma«, sagte Nicola etwas ungehalten.

»Ein entzückendes Kind«, meinte die Wirtin. »Darf ich es nehmen?«

»Ane brav«, verkündete die Kleine sofort, als die gutmütig aussehende Frau sie auf dem Arm hielt.

»Wie heißt du?«

»Ane, Ane, Ane!« Anke patschte dabei im Rhythmus in die Hände.

»Sie heißt Anke«, sagte Nicola stolz. »Wir sind heute schon sehr früh aufgestanden. Könnten wir etwas zu essen haben?«

»Das Mittagessen ist leider noch nicht fertig. Aber wie wär’s mit Milch und Rührei? Isst du das, mein Schatz?« Die Wirtin lächelte dem Kind zu.

»Hm!«, machte Anke begeistert.

»Gut«, entschied Nicola. »Und mir bringen Sie bitte einen Kaffee und Schinken mit Ei.« Sie bemerkte erst jetzt, dass auch sie Hunger hatte. Sie selbst war an diesem Morgen viel zu aufgeregt gewesen, um einen Bissen hinunterzubringen.

Es dauerte nicht lange, und die Wirtin brachte das Gewünschte. »So, mein Kleines, und was machen wir mit dir?«, sagte sie freundlich zu Anke. »Vor allem wird Oma dir ein Tuch bringen. Das werden wir dir umbinden, damit du dich nicht bekleckerst.« Sie eilte wieder in die Küche und kam nach wenigen Sekunden mit einem Geschirrtuch zurück.

»Das ist groß genug«, stellte sie zufrieden fest, nachdem sie es Anke um den Hals gebunden hatte.

Die Kleine schien damit nicht einverstanden zu sein. Sie zerrte an dem Tuch und forderte energisch: »Ab, ab!«

»Nein«, die Wirtin schüttelte ihr bereits leicht ergrautes Haar. »Jetzt gibt es gleich etwas Gutes zu essen. Komm, darf die Oma dich füttern?« Bittend sah sie Nicola an. »Meine Enkelkinder kommen so selten zu Besuch.«

Nicola nickte ihr zu. »Aber dann muss Anke brav sein und alles aufessen.«

Anke schien verstanden zu haben. Sie hörte auf, an dem Tuch zu zerren. Anstandslos ließ sie sich von der Wirtin auf den Schoß nehmen und sperrte gehorsam ihren Mund auf.

»Ham, hm.« Nach jedem Bissen gab Anke diese Äußerung von sich. Sie schien wirklich großen Hunger zu haben und schluckte so schnell, dass die Wirtin mit dem Füttern kaum nachkam.

»Sehr brav«, lobte die Wirtin. »Und nun werden wir die Milch kosten.« Sie legte den Löffel weg und griff nach dem Glas.

Anke war anderer Ansicht. »Hm«, sagte sie und griff schon mit der rechten Hand in den Teller. Ungeniert stopfte sie das Rührei selbst in den Mund. Dann lachte sie und verkündete laut: »Ane brav.«

»Natürlich ist Anke brav«, sagte die Wirtin lachend. »Aber wir wollen doch lieber mit dem Löffel essen.«

Der Rest des Essens verlief ohne Schwierigkeiten. »Und nun wollen wir sehen, ob wir für das kleine Mäuschen etwas Schokolade haben. Anke hat ja so brav aufgegessen.« Die Wirtin enteilte, und als sie mit der Süßigkeit zurückkam, hatte sie Ankes Herz endgültig gewonnen. Die Kleine wollte nicht von ihren Knien weichen, sie wollte reiten.

Nur zu gern erfüllte die Wirtin ihr diesen Wunsch. Sie ließ Anke auf- und abwippen.

»Hast du auch eine Oma?«, fragte sie dabei.

»Nein«, sagte Nicola hastig. »Anke und ich sind allein. Wir haben keine Verwandten.«

»Oh!« Bedauernd strich die Wirtin über Ankes Köpfchen. Trotz der abweisenden Miene der jungen Frau fragte sie: »Sie sind aber nicht von hier?«

»Nein«, entgegnete Nicola knapp. »Ich suche eigentlich einen Platz für mein Kind.«

»Da wollen Sie sicher nach Sophienlust. Das ist eine gute Idee. Ein besseres Kinderheim können Sie nicht finden«, sagte die Wirtin erfreut.

Nicola horchte auf. War das nicht die Lösung? Keiner würde Anke dort suchen, sie würde Zeit haben, sich zu überlegen, was sie gegen ihre Schwiegereltern unternehmen konnte.

»Sophienlust wird das Haus der glücklichen Kinder genannt. Ich kann nur bestätigen, dass das der Fall ist«, erzählte die Wirtin eifrig. »Frau von Schoenecker verwaltet das Heim für ihren Sohn. Es gibt kein Kind, für das sie sich nicht persönlich einsetzt. Und dann das Haus selbst …« Jetzt kam die gute Frau ins Schwärmen. »Es liegt mitten in einem großen Park. Spielplätze, Spielwiesen, alles ist vorhanden. Dort haben es die Kinder wirklich schön.«

»Wie alt sind die Kinder, die dort leben?«, erkundigte sich Nicola.

»Es gibt kleinere und größere Kinder. Die Schulkinder werden mit den Bussen zur Schule gebracht. Die jüngeren hierher zur Volksschule, die älteren nach Maibach zum Gymnasium. Es wird wirklich alles für die Kinder getan.«

»Aber Anke ist noch sehr klein«, gab Nicola zu bedenken.

»Umso schneller wird sie sich eingewöhnen.« Die Wirtin wandte sich nun direkt an die Kleine. »Du wirst sicher gleich der Liebling aller sein. Schwester Regine wird sehr gut für dich sorgen.«

»Wer ist Schwester Regine?« Fragend sah Nicola die Wirtin an. Das, was sie soeben gehört hatte, gefiel ihr.

»Sie ist die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust. Mit vollem Namen heißt sie Regine Nielsen. Sie geht ganz in der Fürsorge um die Schützlinge von Sophienlust auf. Ihren Mann und ihr zweijähriges Töchterchen hat sie verloren. So gibt sie ihre ganze Liebe den Kindern des Kinderheims. Sie wohnt auch im Haus. Aber das werden Sie ja alles noch selbst sehen«, beendete die Wirtin ihren Bericht.

»Ja, das werde ich«, sagte Nicola fest. Sie war entschlossen, sich dieses Kinderheim anzusehen.

*

»So, ist das wirklich alles?« Denise von Schoenecker, eine elegante, jugendlich aussehende Frau, sah hoch. Sie saß hinter dem Schreibtisch und hatte gerade eine Einkaufsliste angefertigt.

Schwester Regine dachte nach. »Zahnpasta und Pflegecreme, habe ich das angegeben?«

Denise nahm das Blatt auf und las halblaut vor. Wenn sie in Maibach zu tun hatte, dann ging sie stets auch einkaufen. Da Sophienlust viele Bewohner beherbergte, kam immer eine Menge zusammen.

»Kniestrümpfe und Socken.« Denise überlegte laut. »Heidi braucht beides.«

»Ja«, bestätigte Schwester Regine, »auch Schuhe. Sie ist seit dem Winter um ein ganzes Stück gewachsen.«

Denise nickte lächelnd. Heidi war das jüngste Dauerkind von Sophienlust, und da sie ein besonders anschmiegsames Kind war, bei allen sehr beliebt. »Sie ist auch sehr stolz darauf. Zu ihrem großen Leidwesen muss sie noch ein Jahr warten, bis sie in die Schule gehen darf.«

Denise erhob sich. »Einige Kinder brauchen neue Sachen. Wir werden demnächst mit dem Bus einen Ausflug in die Stadt machen.«

»Da wird Irmela sich freuen. Sie hat bereits von ihren Eltern Geld für die neue Sommergarderobe geschickt bekommen. Erst heute Morgen hat sie mir verraten, dass sie sich dabei gern von Ihnen beraten lassen würde«, erzählte Schwester Regine.

Irmela Groote war bereits fünfzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium in Maibach. Sie war auf ihren Wunsch hin in Sophienlust. Ihre Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes wieder geheiratet und lebte mit ihrem zweiten Mann in Bombay. Zunächst hatte Irmela gegen ihren Stiefvater rebelliert, doch inzwischen hatte sie sich mit dem zweiten Vater abgefunden. Im Grunde ihres Herzens sah sie längst ein, dass ihre Mutter keinen besseren Mann hätte finden können. Trotzdem hatte sie beschlossen, in Sophienlust zu bleiben, um hier das Abitur zu machen. In den Ferien flog sie aber häufig nach Indien und wurde auch sonst von ihrem Stiefvater recht großzügig mit Taschengeld versorgt.

»Gern.« Frau von Schoenecker nahm ihren Terminkalender auf. »Wir können eigentlich gleich einen Nachmittag festlegen. Wie wär’s mit morgen?«

»Da wollen die Kinder doch ihr Tennismatch austragen«, gab Schwester Regine zu bedenken. »Justus hat versprochen, die Plätze frisch zu linieren.«

»Ganz recht. Er tut es sicher auch.« Denise war eingefallen, dass sie beim Herfahren den alten Justus gesehen hatte. Er hatte ein Wägelchen voll Kalk vor sich hergeschoben.

Justus, der frühere Verwalter des ehemaligen Gutes Sophienlust, versorgte jetzt die Tiere, sattelte für die Kinder die Ponys und hatte auch sonst für jedes Anliegen der Kinder ein offenes Ohr. Er hatte schon beachtlich viele Jahre auf dem Buckel und das Recht auf Ruhestand, aber er griff immer noch zu, wenn die Arbeit nicht zu schwer war.

Denise blätterte weiter in ihrem Terminkalender, der sehr viele Eintragungen enthielt. »Samstag ist doch schulfrei. Da könnten wir am Vormittag unseren Einkaufsbummel machen. Anschließend lade ich die ganze Gesellschaft zu einem Eis ein.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte Schwester Regine.

»Wenn Irmela und Pünktchen dabei sind, wird es nicht nötig sein. Ich nehme an, dass sich Nick dann auch anschließen wird.« Denise lächelte leicht. Nick war ihr ältester Sohn, und sie hatte nichts dagegen, dass ihn mit Pünktchen eine innige Freundschaft verband. Ob diese die Kinderjahre überdauern würde, das stand auf einem anderen Blatt. Schließlich war Pünktchen erst dreizehn Jahre alt und Dominik, von allen nur Nick genannt, sechzehn.

Nick war der Erbe und Besitzer von Sophienlust. Er hatte diesen Besitz von seiner Urgroßmutter mit der Auflage geerbt, dass aus dem alten Herrenhaus ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder zu machen sei. Die alte Dame hätte sich sehr gefreut, wenn sie gesehen hätte, wie gut dies unter Denises Verwaltung gelungen war.

»So, da nichts Wichtiges mehr anliegt, werde ich gehen.« Denise faltete die Einkaufsliste zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. »Ich fahre jetzt nach Schoeneich. Dort werde ich essen. Um vierzehn Uhr habe ich eine Verabredung mit Dr. Weber vom Jugendamt in Maibach. Danach werde ich einkaufen und hinterher direkt hierher zurückkommen.«

Die zwei Frauen lächelten sich nochmals zu, dann verließ Denise von Schoenecker das büroähnliche Empfangszimmer und trat hinaus in die Halle des Kinderheims Sophienlust, in der sich die Kinder gern aufhielten. Jetzt war die Halle jedoch leer. Die Schüler drückten noch die Schulbank, während die Kleinen sich bei dem schönen Wetter im Park aufhielten.

Als Denise aus dem Portal des ehemaligen Herrenhauses trat, hörte sie die muntere Stimme von Frau Rennert, der Heimleiterin. Sie schien mit den Kindern Ringelreihen zu spielen.

Denise stieg in ihr Auto ein und fuhr die Auffahrt entlang. Der Besitz wurde von einer hohen dichten Hecke eingefriedet. Nur durch das große schmiedeeiserne Tor gelangte man auf die Straße hinaus. Von hier aus konnte man direkt nach Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker, fahren.

Alexander von Schoenecker, Denises zweiter Mann, verwaltete dieses Gut selbst. Daher pendelte Denise täglich zwischen Schoeneich und Sophienlust hin und her. Auch Nick und Henrik verbrachten oft viele Stunden des Tages im Kinderheim.

Jetzt kam Denise aber nicht dazu, ihr Vorhaben auszuführen und nach Schoeneich zu fahren. Als sie durch das schmiedeeiserne Tor fuhr, wäre sie beinahe mit einem anderen Personenwagen zusammengestoßen, der mitten auf der sowieso nicht allzu breiten Fahrbahn stand. Unschlüssig sah die Fahrerin aus dem heruntergekurbelten Fenster.

Die Bremsen von Denises Auto kreischten. Denise riss das Steuer herum. Knapp vor dem Straßengraben brachte sie das Auto zum Stehen.

Erschrocken stieg Nicola Hauff aus ihrem Wagen und trat zu Denise. »Verzeihen Sie, es ist meine Schuld. Ich hätte nicht mitten auf der Straße anhalten dürfen.«

»Nun, es ist ja nichts geschehen. Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie etwas?«

»Ja …, nein.« Nicola war unsicher geworden. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihr Kind fremden Menschen zu überlassen.

»Mami, Mami!« Zuerst leise, dann immer lauter begann Anke zu brüllen. Festgeschnallt in ihrem Kindersitz, wand sie sich wie ein Aal.

»Mami kommt doch gleich«, rief Nicola über die Schulter zurück. Denise wurde aufmerksam. Ihr geschultes Auge erkannte die Unsicherheit der jungen Frau.

»Ich bin hier zu Hause«, sagte Denise freundlich. »Vielleicht haben Sie Fragen?«