Ein Kind zwischen den Eltern - Marisa Frank - E-Book

Ein Kind zwischen den Eltern E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Ruckartig blieb Sascha von Schoenecker stehen. Das war doch … Und schon setzte er sich wieder in Bewegung. Er rannte hinter dem Mädchen her, dabei klopfte sein Herz nicht nur vom raschen Lauf schneller. Ungeduldig drängte er sich durch die Menschengruppen, die die Gehsteige der Heidelberger Altstadt bevölkerten. Doris, wo war sie nur geblieben? Gerade hatte er noch ihre goldblonden Locken gesehen. Ziemlich unsanft setzte er seine Ellbogen ein, um an einigen Jugendlichen vorbeizukommen. Da sah er sie wieder, sie verschwand gerade in dem Café. Sascha, der zwanzigjährige Student, atmete auf. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Er fuhr sich mit dem Kamm durch das braune Haar. Bisher hatte er nie sonderlichen Wert auf sein Äußeres gelegt. Dann betrat er ebenfalls das Café. Er sah sie sofort. Sie saß an einem kleinen Tisch am Fenster und gab gerade ihre Bestellung auf. Sie hieß Doris, mehr wusste er nicht von ihr. Bisher hatte er sich nie für Mädchen interessiert. Bei ihr war es anders. Sie war ihm sofort aufgefallen. In der Nähe der Universität hatte sie auf einer Bank gesessen. Sie hatte auf ihn einen so traurigen Eindruck gemacht, dass er stehen geblieben war. Da hatte sie den Blick gehoben und ihn angesehen. Er hatte ihren großen blauen Augen nicht widerstehen können und sich zu ihr gesetzt. Auch jetzt traf ihn ein Blick aus ihren Märchenaugen, und Sascha konnte es nicht verhindern, er errötete. »Sascha, wie nett!« Mit einer unnachahmlichen Geste warf sie ihre Locken zurück. »Was für ein Zufall führt Sie in dieses Café?

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Sophienlust – 183 –

Ein Kind zwischen den Eltern

Schicksalhafte Zerreißprobe für die Liebe

Marisa Frank

Ruckartig blieb Sascha von Schoenecker stehen. Das war doch … Und schon setzte er sich wieder in Bewegung. Er rannte hinter dem Mädchen her, dabei klopfte sein Herz nicht nur vom raschen Lauf schneller.

Ungeduldig drängte er sich durch die Menschengruppen, die die Gehsteige der Heidelberger Altstadt bevölkerten. Doris, wo war sie nur geblieben? Gerade hatte er noch ihre goldblonden Locken gesehen. Ziemlich unsanft setzte er seine Ellbogen ein, um an einigen Jugendlichen vorbeizukommen. Da sah er sie wieder, sie verschwand gerade in dem Café. Sascha, der zwanzigjährige Student, atmete auf. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. Er fuhr sich mit dem Kamm durch das braune Haar. Bisher hatte er nie sonderlichen Wert auf sein Äußeres gelegt. Dann betrat er ebenfalls das Café.

Er sah sie sofort. Sie saß an einem kleinen Tisch am Fenster und gab gerade ihre Bestellung auf.

Sie hieß Doris, mehr wusste er nicht von ihr. Bisher hatte er sich nie für Mädchen interessiert. Bei ihr war es anders. Sie war ihm sofort aufgefallen. In der Nähe der Universität hatte sie auf einer Bank gesessen. Sie hatte auf ihn einen so traurigen Eindruck gemacht, dass er stehen geblieben war. Da hatte sie den Blick gehoben und ihn angesehen. Er hatte ihren großen blauen Augen nicht widerstehen können und sich zu ihr gesetzt.

Auch jetzt traf ihn ein Blick aus ihren Märchenaugen, und Sascha konnte es nicht verhindern, er errötete.

»Sascha, wie nett!« Mit einer unnachahmlichen Geste warf sie ihre Locken zurück. »Was für ein Zufall führt Sie in dieses Café? Es ist mein Stammcafé, aber Sie habe ich hier noch nie getroffen.«

Die Röte auf Saschas Wangen vertiefte sich. »Ich war auch noch nie hier. Es ist ein netter Zufall.«

»Setzen Sie sich doch!« Doris machte eine einladende Handbewegung.

Plötzlich hielt sie inne. »Vielleicht erwarten Sie jemanden?«

»Nein, nein«, stieß Sascha hastig hervor. »Ich bin ganz allein. Es freut mich sehr, dass ich Sie treffe.« Eifrig drückte er Doris’ Hand.

Sie lächelte. Es war ein kleines, liebenswertes Lächeln, das zwei Grübchen sehen ließ. Ein netter Junge, dachte sie. Ein bisschen unbeholfen, aber wirklich nett.

Da saß Sascha nun ihr gegenüber und wusste nicht, was er sagen sollte. Dabei hatte er in den letzten Tagen oft von so einer Gelegenheit geträumt. Er hatte sich sogar schon Fragen zurechtgelegt, die er ihr stellen wollte. Aber jetzt brachte er den Mund nicht auf. Dafür musste er sie immer wieder ansehen.

»Warum sind Sie heute so schweigsam?« fragte Doris schließlich. »Erzählen Sie mir doch etwas. Als wir uns das erste Mal trafen, haben Sie so nett von Ihrem Zuhause erzählt. Von Ihren Eltern, dem Gut Schoeneich, dem Stammsitz Ihrer Familie, von Ihrer Schwester Andrea, die in der Nähe wohnt und mit einem Tierarzt verheiratet ist.«

»Das wissen Sie noch?« Sascha strahlte über das ganze Gesicht.

Doris nickte. »Es muss eine glückliche Familie sein. Sie sind zu beneiden, Sascha.«

»Sie sagen das so traurig.«

»Nein.« Doris wurde verlegen. »Eine Familie ist etwas sehr Schönes. Ich habe … Ach, lassen wir das.«

»Was wollten Sie sagen?«

»Lassen wir das! Erzählen Sie von sich. Sie haben doch noch kleinere Geschwister.«

»Ja, mein Vater hat noch einmal geheiratet.«

»Noch einmal geheiratet«, wiederholte Doris. »Ja, kann man denn das? Kann man vergessen, was einmal war?«

»Meine Mutter ist gestorben. Vater kam lange nicht über ihren Tod hinweg, aber dann fand er in Denise eine wunderbare Frau. Sie wurde uns eine gute Mutter.« In Saschas Augen trat ein warmer Glanz, er verehrte seine Stiefmutter sehr.

»Ach so, Ihr Vater war Witwer, das ist etwas anderes.« Ihre Stimme klang bitter, aber Sascha bemerkte es nicht. Er begann von seinem Bruder Henrik zu erzählen, einem neunjährigen Jungen, der voller Streiche steckte, aber eine herzensgute Seele hatte.

Jetzt war Sascha in seinem Element, er erzählte, und Doris hörte zu. Bald hatte sie das Gefühl, den Achtjährigen mit seinem braunen wirren Haarschopf vor sich zu sehen.

Da Henrik sich viel in Sophienlust aufhielt, kam das Gespräch auf das Kinderheim Sophienlust, so hieß das Kinderheim, das auch gänzlich mittellose Kinder aufnahm, wurde durch eine Straße mit Schoeneich verbunden.

»Mutti, ich meine, Denise ist der gute Geist von Sophienlust«, erzählte Sascha. »Sie scheut keine Strapazen, wenn es darum geht, ein verlassenes Kind nach Sophienlust zu holen.«

Sascha schwieg betroffen, ihm war nicht entgangen, dass Doris zusammengezuckt war. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« Besorgt musterte er sie. Ein trauriger Zug lag um ihren Mund.

»Nein, nein«, erwiderte sie, aber sie hielt den Blick gesenkt. »Es ist nur das Wort Kinderheim. Es macht so nachdenklich. Es sind doch arme Kinder, die keine Eltern und kein Zuhause haben.«

»Sophienlust ist in dieser Hinsicht anders. Dort fühlt sich jedes Kind wohl. Ich werde es Ihnen zeigen, dann werden Sie sehen, was ich meine«, versicherte Sascha eifrig.

»Ich muss jetzt gehen«, sagte Doris hastig und winkte dem Kellner.

»Warum, habe ich doch ...« Sascha ergriff ihre Hand. »Ich bin wirklich ein ungeschickter Klotz.«

»Aber nein.« Sie lächelte ihn so lieb an, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. »Ich muss gehen. Ich muss noch etwas erledigen.«

»Darf ich Sie dann wenigstens begleiten?« Hoffnungsvoll sah er zu ihr auf.

»Heute nicht, aber vielleicht ein andermal. Jedenfalls war es sehr nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich hoffe, wir können es bald wieder tun.« Sascha spürte ihre kleine, kühle Hand in der seinen, dann ging sie bereits dem Ausgang zu.

Sein Herz schlug unruhig, Freude erfüllte ihn. Sie hoffte, wieder mit ihm plaudern zu können. Dann wurde er traurig. Wieder hatte er es versäumt, sie nach ihrem Leben zu fragen. Er wusste nichts von ihr, nicht einmal ihre Adresse. Er musste ihr nachlaufen. Er sprang auf, warf einen Geldschein auf den Tisch und stürmte aus dem Lokal.

Sascha hatte Glück. Nachdem er bis zur Ecke gerannt war, sah er sie wieder. Sie ging gerade in einen Laden. Erstaunt trat er näher. Was wollte sie in diesem Geschäft? In der Auslage lagen Strampelhöschen, Windeln – alles, was ein Baby oder ein Kleinkind brauchte.

Sascha musste nicht lange warten. Mit einem Päckchen in der Hand kam sie aus dem Geschäft. Schnell sprang er hinter die Hausecke zurück. Sie sollte nicht sehen, dass er ihr nachgegangen war.

Doris sah sich nicht um, sie dachte auch nicht mehr an ihn. Etwas anderes hielt ihre Gedanken gefangen. Sie achtete auf niemanden, wie eine Schlafwandlerin ging sie dahin, und als sie die Straße überquerte, hupte ein empörter Autofahrer. Doris war einfach auf die Fahrbahn getreten.

Sascha hätte sie gern noch einmal angesprochen, aber er wagte es nicht. Sie erschien ihm so unnahbar, so fern. Einmal sah er ihr Profil, von den Grübchen war nichts zu sehen. Mit leerem Blick sah sie vor sich hin. Unvorstellbar, dass dieses Mädchen vor wenigen Minuten noch gelacht hatte.

So folgte er ihr, bis sie vor einem Haus stehen blieb, einen Schlüssel hervorholte und aufschloss. Hier also wohnte sie. Nur zwei Ecken weiter bewohnte er mit seinem Freund Michael eine Studentenbude. Er hatte nicht gewusst, wie nahe sie ihm war. Beglückt schlenderte er an dem Haus vorbei. Sein Blick suchte die Fassade ab. Hinter welchem Fenster mochte sie leben? Vergnügt pfeifend machte er sich dann auf den Heimweg.

Michael sah von seinem Buch hoch, als Sascha laut krachend die Tür hinter sich zuschlug.

»Was ist mit dir los? Warum kommst du erst jetzt? Wir wollten doch zusammen büffeln.«

»Das ist jetzt nicht wichtig. Stell dir vor, ich weiß, wo sie wohnt.«

Im ersten Augenblick verstand Michael gar nichts. Er war in Gedanken noch bei seiner Lektüre. Er brauchte keine Fragen zu stellen, Sascha platzte mit der Neuigkeit von selbst heraus.

»Doris, du weißt doch – das blonde Mädchen, das wir öfter getroffen haben. Du erinnerst dich doch. Sie hat wunderschöne Locken, und wenn sie lacht, hat sie zwei entzückende Grübchen.«

Michael nickte. Und ob er sich erinnerte. Doris war ein bezauberndes Geschöpf, ganz anders als die Mädchen, mit denen sie die Vorlesungen besuchten. Sie war nicht burschikos, sondern zurückhaltend, und in ihren großen blauen Augen lag immer ein trauriger Glanz.

»Du hast sie getroffen?« Michael schlug das Buch zu. Jetzt konnte er nicht mehr lernen, zu deutlich stand das Bild des bezaubernden Mädchens vor seinen Augen.

»Getroffen ist vielleicht etwas zu viel gesagt«, gab Sascha zu. »Ich habe gesehen, wie sie ein kleines Café in der Altstadt betrat, und da bin ich ihr nachgegangen. Ganz allein saß sie an einem Tisch, und sie hat sich gefreut, mich zu sehen. Wirklich«, versicherte Sascha eifrig, »sie hat es nicht nur gesagt, man hat es ihr angesehen.«

Er war so glücklich, dass er gar nicht bemerkte, wie Michael seinen Blick senkte.

»Wir haben uns lange unterhalten. Sie hat gesagt, sie hofft, dass wir uns bald wiedersehen werden. Es hat ihr Freude gemacht, mit mir zu plaudern. Das heißt doch, dass sie mich auch mag.« Erwartungsvoll sah er seinen Freund an. Nie hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt. Sie waren schon befreundet gewesen, bevor sie zusammen nach Heidelberg gegangen waren, um Jura zu studieren.

Die Langenbach-Geschwister Angelika, Vicky und Michael waren nach Sophienlust gekommen, als sie ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten. Sophienlust mit seiner hügel- und waldreichen Umgebung war somit auch Michael zur Heimat geworden. Er hing sehr an seinen Geschwistern und verbrachte die Semesterferien noch immer in Sophienlust.

Jetzt wich Michael Saschas fragenden Augen aus. Doris hatte auch ihm gefallen, das heißt, sie gefiel ihm immer noch. Gern hätte er sie einmal ausgeführt. Auch er hatte noch nie eine feste Freundin gehabt, aber ihm war es ebenso wie Sascha ergangen. Er hatte Doris zum ersten Mal gesehen und gewusst, so wie sie müsste seine Freundin aussehen. Seitdem spürte er eine bisher nie gekannte Sehnsucht.

»Jetzt werde ich sie öfter sehen«, schwärmte Sascha weiter. »Zwar kenne ich ihren Nachnamen noch immer nicht, aber den bringe ich nun in Erfahrung. Du wirst sehen, sie wird meine Einladung annehmen. Ich werde mit ihr tanzen gehen, und ich werde ihr Schoeneich und Sophienlust zeigen. Stell dir vor, sie interessiert sich dafür.«

»Sie gefällt dir wohl sehr?«, fragte Michael, seine Stimme klang belegt. Sascha achtete nicht darauf, zu sehr war er mit seinen Gefühlen beschäftigt.

»Ja«, gab er offen zu. »Es ist so schön, ihr gegenüberzusitzen. Mit ihr zusammen kann man auch schweigen.

»Du würdest sie heiraten?«

Sascha überlegte. Jetzt glich er seinem Vater, Alexander von Schoenecker, sehr. Auch dieser war ein besonnener Mann, der nie übereilte Schlüsse zog. »Ich glaube schon. Zwar kennen wir uns kaum, aber ich spüre, dass sie die Frau ist, die an meine Seite gehört.«

Er sah seinen Freund an. »Ich weiß, das klingt kitschig, aber ich muss immer an sie denken. Ich glaube, Mi­chael, das ist die Liebe. Wenn ich sie sehe oder in ihrer Nähe bin, dann bin ich glücklich. Nichts anderes ist dann mehr wichtig.«

Michael sagte nichts, er hatte seinen Kopf noch tiefer gesenkt. Da hatte Sascha das ausgesprochen, was er selbst fühlte. Auch er hatte um das Mädchen werben wollen, hatte sich danach gesehnt, mit ihr einmal allein zu sein. Nein, er würde seinem Freund nicht in die Quere kommen. Sascha hatte so viel für ihn getan, er würde ihm nicht sagen, wie es in seinem Innern aussah.

Als er den Kopf hob, lächelte er. »Du hast Glück. Sie ist wirklich ein bezauberndes Wesen. Ich würde an deiner Stelle nicht länger zögern, sondern es ihr sagen, sonst kommt dir noch ein anderer zuvor.«

»Ja, das werde ich tun. Aber zuerst will ich ihr Zeit lassen, mich näher kennenzulernen. Weißt du, es soll ja mehr sein als nur ein Flirt.«

»Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück. Wenn es einer verdient hat, dann bist du es.« Michael erhob sich und klopfte Sascha auf die Schulter. »So, und jetzt gehe ich in die Kneipe.«

»Aber wir wollten doch lernen.«

»Später, das läuft uns nicht davon. Ich glaube, du könntest dich jetzt sowieso nicht konzentrieren.« Michael ging, er musste jetzt einfach allein sein. Saschas strahlende Augen taten ihm weh. Er wünschte dem Freund wirklich von ganzem Herzen Glück, trotzdem schmerzte es, verzichten zu müssen.

*

Immer wieder machte Sascha einen Umweg, dann sah er träumerisch an der Vorderfront des Hauses empor. Die Hoffnung, sie an irgendeinem Fenster zu sehen, erfüllte sich nicht. Wo sollte er sie suchen? Er studierte die Namensschilder. Es war ein großes Haus. Zehn Schilder waren neben zehn Glocken befestigt. Keiner der Namen sagte ihm etwas.

Er war tief deprimiert. Drei Tage hatte er sie schon nicht gesehen.

»Sie muss dort wohnen«, sagte er nachdenklich zu Michael.

»Vielleicht hat sie nur wen besucht«, entgegnete der Freund. »Du musst Geduld haben, du siehst sie sicher wieder. Weißt du noch? Plötzlich sind wir ihr beim alten Schloss oder im Rosengarten begegnet.«

»Ja.« Saschas Augen leuchteten auf. »Immer saß sie allein auf einer Bank. Sie hat sicher keinen Freund.« Aber im Grunde war das für ihn kein Trost. »Ich wollte sie für Sonntag zu einer Schiffsfahrt einladen.«

»Noch ist nicht Sonntag«, sagte Michael, wusste aber selbst, wie vage solche Trostworte klangen.

»Aber es ist Freitag. Ich muss sie heute erreichen. Nach der Vorlesung gehe ich zu dem Haus, in dem sie damals verschwunden ist. Und dann weiche ich nicht von der Stelle, bis ich sie gesehen habe.«

Michael lächelte leicht, denn er wusste, dass sein Freund diese Versprechung wahr machen würde. Wie sein Vater konnte er sehr zielstrebig und ausdauernd sein.

Um vierzehn Uhr stand Sascha vor dem Haus. Er hatte das Gefühl, von vielen Augen beobachtet zu werden, nur nicht von blauen Märchenaugen. Unruhig ging er auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Kurze Zeit sah er einigen Kindern zu, zwei spielten vor dem Haus fangen, andere spielten mit einem roten Gummiball. Auf einmal flog der Ball auf ihn zu, unwillkürlich fing Sascha ihn auf. Ein kleines Mädchen kam herangelaufen, bittend streckte sie die Hände nach dem Ball aus.

»Moment«, sagte Sascha. »Du wohnst doch in diesem Haus.« Er zeigte auf das Haus, an dem er in den letzten drei Tagen immer wieder vorbeigegangen war.

Die Kleine nickte, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und versuchte nach dem Ball zu greifen.

»Gib mir den Ball«, forderte sie, »er gehört meinem Bruder.«

»Gleich.« Sascha lächelte sie an. »Ich möchte dich noch etwas fragen. Du bist doch schon ein großes Mädchen und kannst mir sicher eine Auskunft geben.«

Ernsthaft nickte der Dreikäsehoch.

»Ich suche ein Mädchen. Es hat herrliche blonde Locken …« Er brach ab. Die Haustür hatte sich geöffnet, und er sah die Besitzerin des blonden Lockenkopfes. Ohne nach links und rechts zu schauen, ging sie in Richtung Innenstadt davon.

»Nicht mehr nötig.« Sascha ließ den Ball fallen und lief Doris nach.

Kopfschüttelnd sah die Kleine ihm nach, dann tippte ihr Zeigefinger gegen die Stirne. Eine Geste, die sie erst kürzlich bei einem wütenden Auto­fahrer gesehen hatte.

Sascha holte Doris ein, ehe sie die Fahrbahn überquerte. »Doris!« Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

Erschrocken drehte sich das Mädchen um. »Ach, Sie sind es.«

Das klang nicht gerade ermutigend. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.« Er ging einige Schritte neben ihr her, dann stieß er hervor: »Haben Sie einen anderen erwartet?«

»Nein, nein«, sagte sie hastig, dabei senkte sie aber ihre Lider. Kurze Zeit schwiegen sie. Beinahe hätte Doris den jungen Mann an ihrer Seite wieder vergessen. Ein anderes Männergesicht stand vor ihren Augen.

»Wohin gehen Sie?« fragte Sascha zaghaft. Er fühlte sich völlig entmutigt. Da hob sie aber ihren Blick, und ihr Lächeln galt ihm.

»Wollen Sie mich begleiten? Ich will eigentlich nur ein bisschen frische Luft schnappen. Ich bin in den letzten Tagen kaum aus dem Haus gekommen.«

»Ich weiß.«

Erstaunt sah sie ihn an, und verlegen nagte Sascha an seiner Unterlippe. »Ich habe auf Sie gewartet«, gestand er dann freimütig.

»Auf mich gewartet?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie konnten Sie auf mich warten?«

»Ich wollte Sie wiedersehen«, sagte er einfach.

Ernst sah sie ihn an. Er gefiel ihr, er war so ehrlich, so offen. Seine Gedanken standen in seinem Gesicht geschrieben, aber sie konnte sich dar­über nicht freuen. »Ich weiß nicht, ob es richtig ist«, sagte sie resignierend.

»Warum?« Er sah nur noch sie, die Menschen, die an ihnen vorbeigingen, beachtete er nicht. Fast heftig griff er nach ihrem Arm. »Warum? Wir verstehen uns doch gut. Was hindert uns daran, Freunde zu werden?« Seine Augen baten, und gegen ihren Willen lächelte sie und zeigte ihm ihre Grübchen. Dabei dachte sie: Er hat ja recht. Warum sollten wir nicht Freunde werden, wer sollte uns daran hindern?

Sie versuchte das Gesicht, das sich wieder vor Saschas Augen schieben wollte, zu vergessen.

Später musste sie sich eingestehen, dass es ein netter Nachmittag gewesen war. Sascha war kein bisschen aufdringlich, und doch verstand er es, sie gut zu unterhalten. Zum Abschied kaufte er ihr einen kleinen Frühlingsstrauß. Nichts Pompöses, und trotzdem errötete sie. Wie lange hatte sie schon keine Blumen mehr geschenkt bekommen?

»Wie lieb von Ihnen.« Sie steckte ihr Näschen in die Blüten. »Der Strauß bekommt in meinem Zimmer einen Ehrenplatz. Er wird mich daran erinnern, dass wir Frühling haben.«

»Ja, darüber wollte ich noch mit Ihnen sprechen«, stieß er hastig hervor. Sie waren bereits wieder bei dem Haus angekommen, und er hatte Angst, sie könnte wieder verschwinden.

»Worüber?« Ihre blauen Märchenaugen sahen ihn verwundert an.

»Über den Frühling.« Er räusperte sich. »Haben Sie am Sonntag Zeit? Ich habe mir gedacht – ich wollte Sie zu einer Schiffsfahrt einladen. Jetzt, wo alles grünt und blüht, ist der Neckar besonders reizvoll.«

Sie nickte nachdenklich. Er hatte recht, die Natur war erwacht, aber sie hatte noch nicht viel davon bemerkt. »Bitte, sagen Sie ja!«

»Haben Sie Zeit?«, fragte er.

»Ja, ich habe Zeit.« Es stimmte, sie hatte Zeit. Viel zu viel Zeit.

»Heißt das, dass Sie mitkommen?«