Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Denise von Schoenecker bog in den Park von Gut Schoeneich ein. Zum Glück hatte sie das Tempo schon gedrosselt, denn Henrik, ihr neunjähriger Sprössling, flitzte ungeniert über die Fahrbahn. »Mutti, Mutti! Hast du Jens gesehen?« Kopfschüttelnd brachte Denise ihr Auto zum Stehen. Sie wollte schimpfen, als sie aber in Henriks aufgeregtes Gesicht sah, dessen Haarschopf wieder einmal wild in die Höhe stand, fragte sie nur: »Wer ist Jens?« »Mein Freund«, lautete die Antwort. Vorwurfsvoll ruhten Henriks graue Augen auf der Mutter. »Erinnerst du dich nicht? Ich habe dir doch schon viel von ihm erzählt. Seit Schulbeginn geht er in meine Klasse. Er ist mit seinen Eltern während der Sommerferien nach Wildmoos gezogen. Er wohnt in einem tollen Bungalow. Ich war schon oft bei ihm. Heute kommt er nun zu mir. Ich habe ihm versprochen, ihm die Pferdekoppeln zu zeigen.« Henrik nahm sich kaum Zeit, Luft zu holen, so schnell sprudelte er alles hervor. »Hattest du Jens wirklich vergessen?« Denise hatte es. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass sie Henrik für diesen Nachmittag Kuchen und Sahne versprochen hatte. Da musste sie schnell Martha Bescheid sagen. Henrik erriet ihre Gedanken. »Du hast es vergessen«, stellte er fest. »Aber mach dir keine Sorgen, ich habe Martha bereits heute früh, bevor ich in die Schule ging, Bescheid gesagt. Ich kann mich doch vor Jens nicht blamieren.« »Du bist wirklich ein gescheiter Junge. Außerdem glaube ich deinen Freund gesehen zu haben. Jedenfalls überholte ich einen Jungen, der auf einem Fahrrad fuhr.« Denise wollte Henrik über den Haarschopf streichen, aber sie
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 149
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Denise von Schoenecker bog in den Park von Gut Schoeneich ein. Zum Glück hatte sie das Tempo schon gedrosselt, denn Henrik, ihr neunjähriger Sprössling, flitzte ungeniert über die Fahrbahn.
»Mutti, Mutti! Hast du Jens gesehen?«
Kopfschüttelnd brachte Denise ihr Auto zum Stehen. Sie wollte schimpfen, als sie aber in Henriks aufgeregtes Gesicht sah, dessen Haarschopf wieder einmal wild in die Höhe stand, fragte sie nur: »Wer ist Jens?«
»Mein Freund«, lautete die Antwort. Vorwurfsvoll ruhten Henriks graue Augen auf der Mutter. »Erinnerst du dich nicht? Ich habe dir doch schon viel von ihm erzählt. Seit Schulbeginn geht er in meine Klasse. Er ist mit seinen Eltern während der Sommerferien nach Wildmoos gezogen. Er wohnt in einem tollen Bungalow. Ich war schon oft bei ihm. Heute kommt er nun zu mir. Ich habe ihm versprochen, ihm die Pferdekoppeln zu zeigen.« Henrik nahm sich kaum Zeit, Luft zu holen, so schnell sprudelte er alles hervor. »Hattest du Jens wirklich vergessen?«
Denise hatte es. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass sie Henrik für diesen Nachmittag Kuchen und Sahne versprochen hatte. Da musste sie schnell Martha Bescheid sagen.
Henrik erriet ihre Gedanken. »Du hast es vergessen«, stellte er fest. »Aber mach dir keine Sorgen, ich habe Martha bereits heute früh, bevor ich in die Schule ging, Bescheid gesagt. Ich kann mich doch vor Jens nicht blamieren.«
»Du bist wirklich ein gescheiter Junge. Außerdem glaube ich deinen Freund gesehen zu haben. Jedenfalls überholte ich einen Jungen, der auf einem Fahrrad fuhr.« Denise wollte Henrik über den Haarschopf streichen, aber sie kam nicht mehr dazu. Wie ein Wirbelwind drehte sich der Junge herum und stürzte mit einem wahren Indianergebrüll der Straße zu.
Lächelnd fuhr Denise die paar Meter bis zum Gutshaus, das mitten in einem großen Park lag und ein schlossähnlicher Bau mit einem großen Turm war. Schoeneich, der Stammsitz der Familie von Schoenecker, war ein wunderschöner Besitz. An den dunklen Mauern rankte sich wilder Wein empor. Das Haus glich einem Märchenschloss und entlockte den Besuchern immer wieder Entzückensrufe.
Dafür hatte Denise, die schlanke, noch sehr jugendlich aussehende Frau, im Moment keinen Blick. Sie eilte ins Haus und machte sich sofort auf die Suche nach der Köchin Martha. Sie wollte auf Nummer Sicher gehen. Henrik sollte seinen Kuchen haben. Falls Martha keinen hatte, würde sie rasch zurück nach Sophienlust fahren, denn dort hatte es an diesem Tag zum Nachtisch Kuchen gegeben. Obwohl die Kinder tüchtig zugelangt hatten, waren doch einige Stücke übrig geblieben.
Als Denise das Martha sagte, war die gute Seele zutiefst empört. »Für Schoeneich bin noch immer ich zuständig. Da Henrik mir heute Morgen von seinem Besuch erzählte, habe ich natürlich sofort einen Kuchen gebacken«, erklärte sie energisch. »Magda mag eine gute Köchin sein, aber vom Kuchenbacken versteht sie nicht viel. Das hat unsere Mutter schon immer gesagt.« Sie stemmte die Hände in die Seiten und sah Denise von Schoenecker herausfordernd an.
»Ich dachte ja nur …«, wagte Denise einzuwenden, wurde aber sofort unterbrochen.
»Ich habe Magda erst kürzlich mein bestes Kuchenrezept verraten. Kann sein, dass ihr der Kuchen heute besser gelungen ist.«
Nun musste Denise herzlich lachen. Sie kannte die Rivalität, die zwischen den beiden Schwestern herrschte. Magda war Köchin in Sophienlust, in dem Kinderheim, das an Schoeneich grenzte und von ihr, Denise, verwaltet wurde. Sonst waren die beiden Schwestern ein Herz und eine Seele, wenn es aber um ihre Kochkunst ging, konnten sie einander ganz schön in die Haare geraten.
»Magdas Kuchen habe ich nicht gekostet, aber deinen würde ich ganz gern probieren. Vielleicht hebst du ein Stück für mich auf.«
»Es ist genügend da«, brummte die Köchin, schon wieder halbwegs versöhnt, und schlurfte in ihre Küche zurück.
Da hörte Denise auch schon Henriks helle Stimme, und als sie einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie, dass Henriks Freund bereits angekommen war.
Der Junge gefiel Denise auf Anhieb. Er war etwas größer als ihr Sohn, schien aber der ruhigere der beiden Jungen zu sein. Als er sie sah, grüßte er höflich zu ihr herauf.
»Mutti, das ist Jens. Du kannst ihn dir später genau anschauen. Jetzt will ich ihm die Ponys zeigen. Stell dir vor, er ist noch nie auf einem Pferd gesessen.« Für Henrik, dessen Vater und Halbbruder begeisterte Reiter waren, war das ein unvorstellbarer Gedanken.
»Wenn Janosch auf der Koppel ist, dann könnt ihr es ja versuchen.«
»Sie meinen das Reiten?« Jens riss die Augen auf. »Ich soll wirklich reiten dürfen?«
»Warum nicht? Du wirst sehen, es ist kinderleicht. Alle Kinder von Sophienlust können reiten. Für den Anfang suche ich das zahmste Pony für dich aus«, antwortete Henrik gelassen.
»Wirklich?« Plötzlich machte Jens einen Luftsprung und zeigte damit, dass auch er ein richtiger Junge war. »Ich darf reiten, hurra«, brüllte er, sah dann aber sofort erschrocken auf Denise.
»Du kannst hier schreien, so viel du willst«, meinte Henrik. »Meine Mutti ist so etwas gewöhnt. Sie schimpft auch nur höchst selten.«
Das war ein Kompliment. Denise wusste es, aber trotzdem mahnte sie: »Seid aber vorsichtig und vergesst nicht, Janosch Bescheid zu geben. Er soll für Jens das Pony aussuchen.«
»Gut!« Henrik wandte sich an Jens. »Du wirst sehen, Janosch ist große Klasse.« Er ergriff die Hand seines Freundes und rannte mit ihm davon.
»In zwei Stunden gibt es Kuchen!«, rief Denise hinter den Jungen her, war aber nicht sicher, ob sie das noch gehört hatten.
Für Jens war alles neu. Bis vor Kurzem hatte er noch mitten in der Kreisstadt Maibach gelebt und war selten aufs Land gekommen. Er bestaunte die Pferde, betastete zaghaft die Ponys, und als dann der alte Janosch in sein Blickfeld geriet, brachte er vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
Henrik grinste. Er war auf diese Reaktion seines Freundes gefasst. Janosch war ein ehemaliger Pferdehirt aus der Puszta, der noch immer die Tracht der Pusztahirten trug. Eine weiße Leinenhose, hohe schwarze Schaftstiefel, ein hochgeschlossenes weißes Leinenhemd, dazu eine dunkle Weste.
Henrik stieß Jens in die Seite. »Das ist Janosch. Er besitzt sehr viel Pferdeverstand. Du solltest ihn einmal in seiner Sonntagstracht sehen. Mit seinem weißgrundierten, buntbestickten Mantel wirkt er noch toller.«
Jens sagte nichts. Der alte Mann sah auch so für ihn abenteuerlich genug aus. Er war hager, hatte ein wettergebräuntes Gesicht, weißes Haar und buschige Augenbrauen. Das Eigenartigste an ihm aber waren die Koteletten und der hängende Lippenbart.
Bald hatte Jens jedoch zu dem Siebzigjährigen Vertrauen gefasst. Er ließ sich von ihm auf den Rücken eines Ponys setzen und herumführen.
Jens war begeistert. »Ich komme wieder«, versicherte er immer wieder.
»Wird auch Zeit«, sagte Henrik. »Bisher war immer nur ich bei dir zu Gast. Janosch wohnt im Tierheim Waldi & Co. Er ist ein vortrefflicher Betreuer der Tiere und kennt viele Wundermittel.«
»Waldi & Co? Was ist denn das schon wieder?«
»Ach so, das kennst du ja auch noch nicht.« Henrik kratzte sich am Hinterkopf. »Ich muss dir wirklich noch viel zeigen.« Dann erklärte er aber: »Waldi & Co. ist ein Tierheim. Dort werden herrenlose, kranke oder vernachlässigte Tiere aufgenommen. Meine Schwester wohnt dort. Sie ist mit einem Tierarzt verheiratet.«
»Aha«, sagte Jens. Mehr wusste er nicht zu sagen. Damit kam er jedoch bei Henrik schlecht an. »Nichts aha! Wir haben dort ein Bambi, das im Freigehege lebt, den Esel Fridolin, der aus Italien stammt, und dann lebt dort seit kurzem Mogli. Das ist ein junger Schimpanse, der mit der Flasche aufgezogen wurde.«
»Mensch!«, sagte Jens staunend.
»Ich zeige dir morgen alles«, erklärte Henrik und kam sich dabei sehr wichtig vor. Schließlich war Jens’ Vater Galeriebesitzer in Maibach.
Henrik hatte sich inzwischen erklären lassen, was dies war, und es imponierte ihm mächtig. »Wenn wir Glück haben, erzählt Janosch uns dann eine Geschichte. Er hat sehr viel erlebt«, meinte er.
Daran zweifelte Jens keine Sekunde. Herzlich streckte er dem alten Pferdehirten zum Abschied die Hand entgegen.
Auch Henriks Mutter gefiel dem kleinen Besucher sehr gut. Denise hatte sich zu den beiden Jungen gesetzt und aß nun mit ihnen den herrlichen Apfelkuchen. Jens vergaß beinahe das Heimgehen. Erst als Henriks Vater, Alexander von Schoenecker, heimkam, sah er auf die Uhr, wobei ihm einfiel, dass er seiner Mutter versprochen hatte, spätestens um sechs Uhr zu Hause zu sein.
»Bis dahin schaffe ich es nicht mehr, aber wenn ich meiner Mama erzähle, was ich hier alles erlebt habe, wird sie nicht schimpfen.«
»Ich hoffe, du kommst bald wieder«, sagte Denise. Henriks neuer Freund gefiel ihr. Er war höflich und hatte gute Manieren. Henrik, der etwas wild war, konnte von ihm nur lernen.
»Das ist Ehrensache«, meldete sich ihr Jüngster sofort zu Wort. »Ich muss Jens ja noch so viel zeigen. Du brauchst dir um uns keine Sorgen zu machen. Wir sind und bleiben die besten Freunde.«
Das war wieder typisch Henrik. Denise versetzte ihm einen liebevollen Klaps.
*
Die Freundschaft der beiden Jungen vertiefte sich in den nächsten Tagen immer mehr. Bald waren Henrik und Jens unzertrennlich. Denise freute sich darüber und hatte nichts dagegen, dass Henrik im Bungalow der Schulers zu Gast war. Gern hätte sie Jens’ Eltern einmal zu einem gemütlichen Umtrunk eingeladen, aber sie hatte in letzter Zeit so viel um die Ohren, dass sie die geplante Einladung immer wieder hinausschob.
Elke Schuler erging es ebenso. Sie war sehr froh, dass ihr Sohn Jens so schnell Anschluss gefunden hatte. Sie wusste auch, dass Henrik dafür gesorgt hatte, dass er sich in der neuen Umgebung sogleich wohlgefühlt hatte. Ihr selbst war das Eingewöhnen wesentlich schwerer gefallen. Zwar war Maibach nur wenige Kilometer von Wildmoos entfernt, aber Maibach war eine Stadt, Wildmoos dagegen ein kleines Dorf. Dazu kam, dass in ihrer bisher so glücklichen Ehe Schwierigkeiten aufgetaucht waren. Elke verstand ihren Mann einfach nicht mehr.
Auch sie hatte schon daran gedacht, Henriks Eltern einmal einzuladen. Da sich die Kinder so gut verstanden, war es doch selbstverständlich, dass auch die Eltern miteinander Kontakt hatten. Doch auch sie verschob die Einladung immer wieder. Im Moment fühlte sie sich nicht in der Stimmung dazu, und mit David, ihrem Mann, konnte sie über so etwas zur Zeit überhaupt nicht sprechen. Er hatte andere Sorgen.
Heftig klingelnd fuhr Jens jetzt vor dem Bungalow vor. Erhitzt stürmte er gleich darauf in die Wohndiele. »Verzeih, dass ich mich verspätet habe, aber ich war in Sophienlust. Wir haben ganz prima gespielt.«
»Es ist schon gut. Hauptsache, du hast Spaß gehabt«, sagte Elke matt.
Kritisch musterte Jens seine Mutter. Wieder einmal fiel ihm auf, dass sie müde aussah. »Du musst einmal mit nach Schoeneich oder Sophienlust kommen. Dort ist immer etwas los«, entschied er.
»Werde ich auch tun, mein Junge. Geh dir nun die Hände waschen. Ich habe schon das Abendbrot gerichtet.«
»Und Papa? Isst er nicht mit uns?«
»Er kommt etwas später.« Elke sah die Enttäuschung auf dem Gesicht ihres Sohnes und fügte schnell hinzu: »Du weißt ja, er hat viel zu tun.«
»Ich weiß.« Jens nickte. Er liebte seinen Vater sehr und war auch stolz auf ihn.
Diesen Abend wartete der Junge jedoch wieder einmal vergebens auf seinen Vater. Als es immer später wurde, schickte Elke ihren Sohn zu Bett. Sie kam noch in sein Zimmer, zog ihm die Bettdecke bis zur Nasenspitze und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Morgen kommt Papa sicher früher nach Hause«, versuchte sie den Jungen zu trösten. »Dann könnt ihr im Garten noch zusammen Fußball spielen.«
Tapfer nickte Jens. Dabei dachte er daran, wie oft seine Mutter ihm das in den letzten Tagen schon versprochen hatte. Papa hatte immer seltener Zeit für ihn.
Jens hatte vielleicht eine Stunde geschlafen, als er durch eine zuschlagende Tür geweckt wurde. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Das gelang ihm nicht, aber dafür fielen ihm die Erdbeeren ein. Groß und duftend lagen sie in einer Schüssel, die am Küchentisch stand. Genießerisch fuhr seine Zunge über die Lippen. Er fühlte einen unsagbaren Drang nach diesen Erdbeeren, und schließlich konnte er nicht mehr widerstehen. Leise schob er die Bettdecke zurück und schlich bloßfüßig durch das Zimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür, und da kein Laut zu hören war, ging er auf Zehenspitzen weiter. Zu spät merkte er, dass die Wohnzimmertür geöffnet war. Er hörte die ungeduldige Stimme seines Vaters und blieb stehen.
Jens wollte nicht lauschen, aber das, was Mama gerade sagte, war unbegreiflich. So blieb er wie angewurzelt stehen.
Elke Schuler hatte ihre Stimme erhoben. »Nein, ich kann dir das nicht verzeihen. Wie konntest du dich nur dazu hinreißen lassen? Ich habe dir schon vor Wochen gesagt, dass diese Frau nichts taugt. Warum hast du auf sie gehört?«
Für Sekunden brach Elkes Stimme. Jens hörte seine Mutter aufschluchzen. Er hatte sie noch nie weinen hören. Dass sie es nun tat, berührte ihn. Unwillkürlich griff er Halt suchend nach der Wand.
Der Vater erwiderte nun etwas, aber Jens konnte es nicht verstehen. Dafür verstand er jedes Wort, das die Mutter sagte.
»So geht es nicht weiter. Selbst Jens leidet schon darunter. Du bist nie hier, hast keine Zeit mehr für den Jungen. Ich kann deinen Betrug nicht decken.« Ihre Stimme wurde unbeherrschter. »Es ist besser, du gehst und kommst erst dann wieder, wenn alles in Ordnung ist. Lieber soll Jens keinen Vater mehr haben, als einen, der ihm nicht mehr in die Augen schauen kann.«
Wie konnte Mama so etwas sagen? Papa durfte doch nicht fortgehen. Er gehörte zu ihnen.
Die Erdbeeren waren vergessen. Jens wusste nur, sein Vater hatte irgendetwas getan, und Mama schickte ihn fort. Nur daran konnte der Junge denken. Gern hätte er gefragt, wie das alles war, aber er traute sich nicht.
Seine Eltern stritten sich jetzt heftig. Die Stimme der Mutter klang fast keifend, sodass Jens bei jedem Wort zusammenzuckte. Er war diesen Ton nicht gewöhnt.
Mit hängenden Schultern ging der Junge in sein Zimmer zurück und warf sich auf sein Bett. Warum nur schickte die Mutter den Vater fort? Mama und Papa gehörten doch zusammen. Warum waren sie so böse zueinander? Da Jens keine Antwort fand, weinte er sich in den Schlaf.
*
Henrik schielte immer wieder über die Schulter zurück. Zwei Bänke hinter ihm saß Jens, aber an diesem Tag hatte der Freund ihm noch kein einzige Mal zugenickt. Mit hängenden Schultern saß er da, irgendeinen Punkt fixierend. Als er von der Lehrerin aufgerufen wurde, wusste er keine Antwort, sah sie nur geistesabwesend an.
Endlich ertönte das Pausenzeichen. Henrik wollte zu Jens, aber dieser hatte das Klassenzimmer schon verlassen. Jetzt wusste Henrik genau, dass mit seinem Freund irgendetwas nicht stimmte.
Als die Schule zu Ende war, war Henrik schneller. Er pirschte sich blitzschnell an Jens heran und hielt ihn am Ärmel fest. »Sind wir Freunde oder nicht?«, fragte er.
»Ja«, sagte Jens kleinlaut.
»Dann heraus mit der Sprache.« Henrik ließ den Freund nicht los.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Mit dir stimmt doch etwas nicht. Was ist los? Du kannst mit mir über alles sprechen.«
»Ich verstehe es nicht.« Jens seufzte. Dabei sah er sehr verzweifelt aus.
Henrik erkannte, dass Jens wirklich ein schweres Problem haben musste. Ohne lange zu überlegen, handelte er. Er zog Jens auf eine Parkbank und forderte: »So, und nun pack aus!«
»Es ist schwer. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«
»Am besten, du erzählst von Anfang an. Hat es bei dir zu Hause Krach gegeben?«
»Ja …, nein. Ich meine, nicht meinetwegen.« Jetzt hatte Jens Tränen in den Augen. Henrik, der es sah, biss sich auf die Lippen.
»Es ist wegen Papa. Mama will ihn fortschicken.«
Henrik schüttelte den Kopf.
»Siehst du, das verstehst du auch nicht«, sagte Jens und schnupfte auf. »Papa kann doch nicht einfach fortgehen.«
»Wie kommst du überhaupt darauf?«, erkundigte sich Henrik.
»Ich bin noch einmal aufgestanden, und da habe ich alles gehört. Mutti sagte, sie kann Papa den Betrug nicht verzeihen.«
Einige Zeit sagte Henrik nichts. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und dachte nach. »Ist dein Papa oft nicht zu Hause?«, fragte er schließlich.
»In letzter Zeit schon«, gab Jens zu.
»Da haben wir es. Dein Papa hat eine Freundin.«
»Du meinst, er mag uns nicht mehr, er hat eine andere Frau?«
»Nun«, Henrik machte eine abwehrende Bewegung, »so tragisch darfst du das nicht nehmen. Ich habe kürzlich gehört, wie Martha sich mit unserem Hausmädchen über so einen Fall unterhielt. Sie meinte, so etwas kommt in den besten Familien vor, und meistens werden die Männer rechtzeitig wieder vernünftig.«
»Mein Papa ist nicht unvernünftig. Er hat nur keine Zeit. Er hat viel zu tun, sagt Mama.«
»Und früher, da hatte er Zeit?«
»Sicher.« Jens’ Augen leuchteten auf. »Erst seit einigen Wochen kommt Papa immer später nach Hause. Sonst haben wir zusammen Fußball gespielt, sind radgefahren.«
»Das ist typisch. Er hat eine Frau kennengelernt.«
»Du redest Unsinn«, brauste Jens auf. »Papa hat nur keine Zeit.«
»Aber welchen Betrug soll er begangen haben?«
Jens senkte den Kopf. Dafür hatte er keine Erklärung.
»Sei nicht traurig, Martha hat sicher recht. So etwas geht vorüber.«
»Was meinst du?«
»Na, das mit der Freundin.«
»Woher willst du das wissen? Hat dein Papa vielleicht eine Freundin?« Jens war jetzt richtig wütend. Zornig blitzte er Henrik an.
»Mein Papa doch nicht. Er ist ein vielbeschäftigter Mann. Er verwaltet und bewirtschaftet Gut Schoeneich ganz allein.«
»Und meinem Papa würdest du so etwas zutrauen? Du bist nicht mehr mein Freund.« Ehe Henrik begriff, was er angerichtet hatte, war Jens schon davongerannt. Er rannte einfach über die Fahrbahn. Es war ihm egal, dass ein Auto heftig hupte, während bei einem anderen die Bremsen quietschten.
Henrik schlenderte sehr nachdenklich zurück zur Schule, wo der rote Kleinbus schon auf ihn wartete. »Beeile dich doch! Wo bleibst du denn?«, wurde er von den anderen Kindern bestürmt, die schon ungeduldig auf ihren Plätzen saßen.
Henrik brummte nur etwas und setzte sich ganz hinten hin. Der Kleinbus trug die Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« und brachte die kleineren Kinder jeden Tag von Sophienlust zur Volksschule in Wildmoos, die älteren zum Gymnasium in Maibach.