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Originalität, Flexibilität und Intensität zählen zu den entscheidenden Eigenschaften der zeitgenössischen Mittelschicht. Simon Roloff erfährt dies am eigenen Leib und erkundet Schauplätze der Einübung eines Habitus: Er wird zu seinem Traumjob gecoacht, improvisiert mit Managern und geht für die Ausschöpfung seiner inneren Ressourcen barfuß über glühende Kohlen. Durch einen innovativen Mix aus teilnehmenden Beobachtungen, autoethnografischen Analysen und lyrischen Montagen führt er seine Erlebnisse aus dem Fundus der Selbstverbesserung zu einem kritischen Paradigma der Gegenwart zusammen - und erzählt dabei eine Mikrogeschichte der Implementierung von klassenbasierten Normen am Subjekt.
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Seitenzahl: 218
Editorial
Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.
Simon Roloff, geb. 1980, ist Autor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ICAM der Leuphana Universität Lüneburg. Er promovierte an der Bauhaus-Universität Weimar und war Juniorprofessor für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Kultur- und Medientheorie, Poetologien des Wissens sowie Geschichte und Theorie der digitalen Literatur.
Simon Roloff
Ausweitung der Coachingzone
Drei Versuche zur Selbstoptimierung in der Mittelschicht
Diese Publikation wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Leuphana Universität Lüneburg gefördert.
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Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Simon Roloff
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
https://doi.org/10.14361/9783839468036
Print-ISBN: 978-3-8376-6803-2
PDF-ISBN: 978-3-8394-6803-6
EPUB-ISBN: 978-3-7328-6803-2
Buchreihen-ISSN: 2364-6616
Buchreihen-eISSN: 2747-3775
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de
Für Bine und Frido
Fit für Davos: Einleitung
Werde, was du bist: Originalität
Intelligenz ohne Ehrgeiz ist ein Vogel ohne Flügel
Niemand macht den Job, du zu sein, besser als du
Originalität ist die beste Form der Rebellion
Pflichtschuldige Lockerheit: Flexibilität
Jeder Einzelne ist ein Tropfen, gemeinsam sind wir ein Meer
Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen
Einen Sturm übersteht nur der biegsame Ast
Leben heißt brennen: Intensität
Du bist der Rohstoff, der niemals versiegt
Wahre Exzellenz ist das Ergebnis harter Arbeit in allen Bereichen des Lebens
Feedback ist das Frühstück der Champions
Schluss: Kulturwissenschaft als literarische Übung
Anmerkungen
Meine Integrationsfachkraft gibt sich durchaus zugewandt. Wir sitzen in ihrem Büro, Kinderbilder stehen in selbst gemachten Tonrahmen auf dem Aktenschrank. Auf meinem Ergänzungsformular BB für erweiterten Bedarf klebt ein Smiley-Post-it. Wir streben eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung an.
•Wenn es in der Wissenschaft nicht für Sie weiter geht.
•Gute Erfahrungen mit Selbstständigkeit.
•Umschulungen, Broschüren.
Beim Gehen vergesse ich mein Notizbuch. Ein paar Tage später wird mein Hartz-IV-Antrag aus fadenscheinigen, aber rechtlich unanfechtbaren Gründen abgelehnt. Ich werde schwarz in einer Bar und auf dem Bau arbeiten. Außerdem verwalte ich die Social-Media-Seiten eines Autobauers. Bei Letzterem ist immerhin die Unfallgefahr gering, ich habe ja keine Krankenversicherung.
Anders als andere habe ich ein Jahr später noch mal Glück und unterschreibe im zarten Alter von 34 Jahren meinen ersten Arbeitsvertrag. Die Juniorprofessur an einer kleinen Universität ist ohne tenure ausgeschrieben, mündlich wird jedoch die spätere Entfristung in Aussicht gestellt. Eine durchsichtige Motivationsstrategie, aber man spielt trotzdem mit. Die relative Befriedigung selbstbestimmter und sinnvoller Arbeit in Lehre und Forschung wird im Folgenden von hohem Selbstvermarktungsdruck begleitet. Ich bin außerdem frenetischer Kooperationspartner und übernehme natürlich gerne alle »Bullshit-Jobs« (David Graeber) der Universität: Verwaltungsarbeit, Forschungsanträge, Kommissionssitzungen und Re-Akkreditierungsberichte. Trotz meiner nach allen Seiten bekundeten Verwendungsfähigkeit begleitet mich eine diffuse Angst, dass ich zu wenig leiste und nur durch Arbeit bis zur Erschöpfung oder Vorspiegelung grandioser Forschung eine Chance habe, an der Akademie zu bestehen. Irgendwann schlafe ich nachts nur noch ein paar Stunden.
Diese Gefühlslagen und Verhaltensweisen erklären sich zum Teil aus meiner Herkunft: Mein Vater hatte den ersten akademischen Bildungsabschluss der Familie und so bin ich mit dem Versprechen der Industriegesellschaft des späten 20. Jahrhunderts aufgewachsen, dass Disziplin und eine gute Ausbildung moderate Aufstiegschancen und materielle Sicherheit versprechen. So funktioniert der Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart aber nicht: Hier reicht es nicht, einen Abschluss zu machen, gute Arbeit in der Lehre zu leisten und gute Texte zu schreiben. Man muss sich vielmehr Alleinstellungsmerkmale erarbeiten, beständig auf Tagungen und in Publikationen präsent sein, Diskurstrends erkennen, setzen oder besetzen und dabei immer bereit sein, mehr zu leisten oder zu zeigen als die Konkurrenz um die immer weniger werdenden Professuren – im Mittelbau gibt es dank Wissenschaftszeitvertragsgesetz kaum noch die Möglichkeit, sich zu halten. Wer, vielleicht aus den Resten eines kleinbürgerlichen Habitus heraus, nicht den richtigen Ton und den richtigen Zeitpunkt der Selbstvermarktung findet, wer es nicht schafft, einzigartig und wahrnehmbar zu sein und dabei mit Theoriewendungen mitzuhalten, der hat es schwer, sich gegenüber anderen zu halten.
In einer der Nächte mit wenig Schlaf suche ich nach Stellen für Quereinsteiger außerhalb der Universität und finde dank einer Suchmaschinenfehlleistung die Studie The Future of Jobs des Weltwirtschaftsforums. Auf den wissensintensiven White-Collar-Jobs der Zukunft muss man »mit ungewöhnlichen und klugen Ideen aufwarten oder kreative Lösungen für ein Problem entwickeln«; außerdem soll man »verschiedene Regelwerke für Verknüpfung und Neuanordnung generieren oder anwenden«, dabei »Stärken und Schwächen alternativer Lösungen, Schlussfolgerungen und Herangehensweisen an Probleme vergleichen und bewerten können«; und bei alldem sei eine beständige »Überprüfung der eigenen Leistungen oder der anderer Individuen und Organisationen zur Verbesserung oder Fehlerkorrektur« gefordert.1 Das Anforderungsprofil für den postindustriell arbeitenden Teil der Mittelklasse: eine nützliche und gut vermittelbare Originalität, eine kognitive und biografische Flexibilität und eine gewisse (Selbst-)Beobachtungsfähigkeit, die Verbesserungspotenzial an sich und anderen entdeckt, also mit einer Haltung beständiger Intensivierung die Qualität von Lebens- und Arbeitsweise optimiert.
Offensichtlich sind von den Subjekten einer bestimmten Schicht gegenwärtig und zukünftig konkrete Haltungseigenschaften gefordert. Ein Verhältnis zu sich selbst und zur Arbeit, die über die Zugehörigkeit etwa zum Wissenschaftsbetrieb, aber auch zur Mittelklasse entscheidet.
Ein Schlafcoach hat mir geraten, die Nachtgedanken aufzuschreiben, um mich von ihnen zu lösen. Das ist mir nur mittelprächtig gelungen, aber aus den damaligen Notizen ist dieses Buch entstanden: zunächst fast heimlich und in Konkurrenz zu all den vergeblichen Forschungsanträgen und einem uninteressanten Habilitationsprojekt, zu denen ich mich durch die Juniorprofessur verpflichtet fühlte. Je stärker das Befristungsdatum meines Vertrages ins Bewusstsein rückte, desto stärker wurde die Nacht- zur Tagesbeschäftigung. Zeit für die Niederschrift hatte ich dann, als ich, diesmal erfolgreich, erneut Arbeitslosengeld II beantragen musste. Dabei dachte ich zunächst gar nicht an ein Buch, ich wollte schreibend meine Lage mit den mir zur Verfügung stehenden Begriffen wenigstens verstehen. Dabei war eine Frage maßgeblich: Wo aber lernt ein Subjekt, sich als individuell und authentisch, beweglich und risikofreudig, fehleranfällig und optimierungsbedürftig zu begreifen? Die Publikationen des World Economic Forum werden ja wahrscheinlich von den wenigsten gelesen, um über die von ihnen geforderten Eigenschaften im Jobmarkt auf dem Laufenden zu sein. Wo stellt man also sein Wollen und Wirken, seine Aufstiegshoffnung und seine Lebensplanung auf die Kompetenzen einer sozialen Schicht, etwa der Mittelklasse seiner Zeit ab?
Fragen wie diese sind die Domäne der Soziologie und diese Disziplin verweist auf der Suche nach ihrer Beantwortung gegenwärtig auf einen gesellschaftlichen Strukturwandel der Spätmoderne: Als Folge einer Globalisierungsbewegung der Wirtschaft und technologischer Umbrüche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nachhaltig verändert und dabei insbesondere die Mittelschicht, wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz in Die Gesellschaft der Singularitäten diagnostiziert, verändert. Das, was am Ende des 20. Jahrhunderts eine weitgehend nivellierte Klasse war, spalte sich nun in drei Blöcke auf: Neben der traditionellen, an klassischen Bildungsabschlüssen und Ausbildungsberufen orientierten Mittelschicht entstehe eine wachsende, vielfach prekär beschäftigte Dienstleistungsgruppe und von diesen beiden in Lebensstil und Beschäftigungsverhältnissen wiederum verschieden eine »neue«, nach Selbstverwirklichung strebende Mittelklasse.2 Ich werde im Folgenden argumentieren, dass Selbstentfaltung als Ideal nicht das entscheidende Antriebsmoment der Transformation der Mittelklasse ist. Dabei stütze ich mich zu Teilen auf eine andere kanonische Analyse: Demnach ist die Gesellschaft der Gegenwart ein Ergebnis der Introjektion einer bestimmten Variante der Gesellschaftskritik in die Produktionsprozesse, welche im 20. Jahrhundert Forderungen nach Autonomie und Mitbestimmung erhob. Branchen wie Werbung, Architektur und Design schufen wachsende Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung im Beruf, aber neue Managementlehren absorbierten zugleich die Forderung und schufen so auch auf der Ebene der Angestellten und Facharbeiter Konkurrenzmodelle zu den lange die Mittelklasse dominierenden organization men und women des 20. Jahrhunderts. Luc Boltanski und Ève Chiapello suchen entlang dieser Argumentationslinie eine Erklärung für die Orientierung der gegenwärtigen Mittelschicht an neuen Werten.3 Aus dieser Sicht ist es nicht eine spätmoderne, nur von Notwendigkeiten materieller Lebenssicherung und Statusinvestition gehemmte Selbstverwirklichungstendenz der Subjekte, die eine hohe gesellschaftliche Differenzierungskraft entfaltet, sondern ein von konkreten Arbeitsverhältnissen und ihren Anfordernissen bestimmter normativer Wandel.
Um die Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Differenzierungsform nach diesen Werten zu erklären, sind zuletzt Pierre Bourdieus Arbeiten zur Verteilung »kulturellen Kapitals« entscheidend, wo sie dessen Entstehung, Beschaffenheit sowie Akkumulation durch gesellschaftlich organisierte Subjekte beschrieben. Dieser Theorie nach stehen habituelle Eigenschaften an der Gelenkstelle zwischen kultureller Norm und Individuum: Eignen wir uns doch, Bourdieu zufolge, in Schulen und Universitäten nicht nur das dort gelehrte Wissen an, sondern auch die Normen und Kodes des Verhaltens der bürgerlichen Welt.4 Dies scheint eine notwendige, wenn auch anpassungsbedürftige Ergänzung zu Boltanski und Chiapellos Thesen zu sein: Nicht allein die diskursiven Innovationen von Managementlehren sind für die infrage stehende Transformation verantwortlich, sondern konkrete institutionelle Einrichtungen, Techniken und Praktiken, die den veränderten Habitus der Mittelklasse der Gegenwart herausbilden.
Dieses Buch zielt jedoch nicht auf eine eigene soziologische Theorie der Klasse in der Spätmoderne. Es ist vielmehr in der Kultur- und Literaturwissenschaft angesiedelt und interessiert sich deshalb für eine Mikrogeschichte der Implementierung von Normen am Subjekt, aus der ein etwas anderes Bild der Lage als im Blick der Wissens- und Institutionensoziologie entsteht. Dieses Buch analysiert deshalb Diskurse, Techniken und Praktiken des Coachings in ihrer Herausbildung von Selbstverhältnissen der neuen Mittelschichtsubjekte. Ich lese dafür Ratgeberliteratur und Lebenshilfeliteratur, besuche Weiterbildungsseminare und unterziehe mich Beratungen, in denen Arbeitnehmer*innen von heute sich die von Davos ausgegebenen Eigenschaften antrainieren. Denn in diesen Dispositiven der Gegenwart werden die herrschenden normativen Anforderungen von Beruf, Partnerschaft, Kindererziehung etc. an die Einzelnen vermittelt. Sie eignen sich daher für eine exemplarische Untersuchung und werden in diesem Buch als Milieus beschrieben, in denen Praktiken therapeutischer, pädagogischer und künstlerischer Provenienz das kulturelle Kapital der Mittelklasse ausbilden. Dies führt zur grundlegenden These der folgenden Kapitel: Die Milieus der neuen Mittelklasse entstehen durch die Wirkung von Kulturtechniken. In Verbindung mit ästhetischen und ökonomischen Faktoren bilden sie soziale Differenzierungen zwischen den Subjekten aus.
Fragen gesellschaftlicher Reproduktion werden in den Kulturwissenschaften bisher vorwiegend in der Tradition der englischen Cultural Studies verhandelt. Insbesondere die Thesen der feministischen Kulturtheoretikerin Angela McRobbie zu sozialer Mobilität im Zeichen von Werten wie Selbstständigkeit, Selbstverwirklichung und Kreativität lassen sich dieser Disziplin zuordnen und haben meinem Versuch, mit dem Theorierahmen der deutschen Kulturtechnikforschung über soziale Differenzierung nachzudenken, einige wesentliche Anregungen gegeben.5 Die Methode, mit der dies geschieht, könnte man als »Selbstversuch« bezeichnen. Der Selbstversuch gehört nicht gerade zum Kanon der Sozial- noch der Kultur- und Medien-, geschweige denn der Literaturwissenschaft. Er erfasst aber das Gemeinsame von ethnografischer Untersuchung, Überlegungen zur normativen Wirkung von Kulturtechniken und ihrer ästhetischen Rahmung, sowie autobiografischer Essayistik über soziale Mobilität in der Mittelklasse und Wissenschaft als Arbeit an deutschen Universitäten. Er ergibt sich überdies aus dem Gegenstand: Wenn der Zielpunkt der analysierten Praktiken ein kulturelles Selbst ist, jener Reibungspunkt also, an dem die normative Ordnung einer Gesellschaft sich in die Körper überträgt, so erscheint es sinnvoll, eben jenes Selbst in Gestalt des wissenschaftlichen Beobachters, seiner Ausbildung und seiner Arbeitsbedingungen in die Analyse einzubeziehen. So scheint die konkrete Wirkung der untersuchten Praktiken und Techniken am Subjekt erst nachvollziehbar. Und so lässt sich als wesentliches weiteres Anliegen dieses Buches an die kulturwissenschaftliche Argumentation eine Kritik anfügen, die mit einer Analyse des Hochstapler-Syndroms – oder des Hochstapler-Selbstkonzepts, wie es die aktuelle psychologische Forschung präziser bezeichnet – als weit verbreitete Erfahrungsform in der untersuchten Klasse einsetzt. An dem hiermit verbundenen Komplex aus Gefühlen und Strategien der Subjekte zeigt sich zum einen die Wirkung von Kulturtechniken bei der Eröffnung des Raumes sozialer Mobilität in der Mittelklasse der Gegenwart und zum anderen eine Grenze der Verfügbarmachung der Subjekte durch die daran beteiligten Werte und Haltungen.
Die Untersuchung beginnt mit dem Seminar »Wie ich einen erfüllenden Job finde«, in dem ich meine Neigungen und Interessen erforschen lerne und in Form von Alleinstellungsmerkmalen für den Arbeitsmarkt aufbereite. Die hier durchgeführten biografischen Schreibübungen bilden den Ausgangspunkt für theoretische Überlegungen zu Kulturtechnik, Normativität und der Formation gesellschaftlicher Gruppierungen. Flexibles Handeln und Denken als weitere entscheidende Anforderung nach dem Davoser Forschungsbericht übe ich im zweiten Kapitel in einem Improvisationstraining für Führungskräfte. Hier wirken Techniken des Theatersports und des Psychodramas zur Verbesserung von Teamarbeit und der mit ihr verbundenen (Selbst-)Führungskultur von Managern in den zunehmend komplexen und digitalisierten Prozessen von Unternehmen der Gegenwart. Das intensive Leben und Arbeiten schließlich lerne ich in einem Wochenendseminar des weltweit wohl erfolgreichsten Life Coaches und Selbstoptimierungsgurus Anthony Robbins. Seine Sportstadien füllenden, irgendwo zwischen Selbsterfahrungsworkshop, Massenhypnose und Großraumdisco angesiedelten Seminare basieren auf Praktiken, deren Geschichte bis zur Entstehung des Gruppenfeedbacks und den Selbsterfahrungsgruppen der 1960er-Jahre zurückreicht und stellen sie in den Dienst der inneren Ressourcenbildung des kreativen Mittelschichtselbst der Gegenwart.
Wo die Erforschung dieses Selbst, seiner Wünsche und Motive, seiner Fähigkeiten und seines Verbesserungspotenzials in den von mir belegten Kreativitätscoachings Gegenstand von biografischen Schreibübungen war, schweife ich in einer Zweckentfremdung dieser Techniken immer wieder zu Szenen der eigenen (Selbst-)Abrichtung als Mittelschichtsubjekt ab. Das Schreiben über sich im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung bringt so den Bericht von einer beobachtenden Teilhabe an der Transformation der Mittelklasse unter dem Druck der Veränderung des Kapitalismus der letzten Jahrzehnte hervor. Damit soll nicht die wissenschaftliche Untersuchung durch eine authentische Ich-Perspektive illustriert werden. Teil dieses Projekts war immer auch ein Schreibexperiment, in dem die gesellschaftliche Gegenwart in Zusammenführung von subjektiver Erfahrung und objektiver Analyse eingefangen werden sollte. Dies hat zu einer Textform der Montage kleiner Formen geführt: Berichte teilnehmender Beobachtungen und (durch Kursivierung und als Auflistung gekennzeichnete) Feldnotizen stehen neben historischen Abrissen, autobiografischen Assoziationen, Beobachtungen zum Schreiben an diesem Buch, theoretischen Überlegungen zu Kulturtechnik und Gesellschaft sowie Lyrik und fiktiven Szenen. Diese zweifellos begründungsbedürftige Schreibweise wird in der Poetologie einer Kulturwissenschaft als literarische Übung im Schlusswort nachvollziehbar gemacht.
Ich bin allen dankbar, die im Laufe der Zeit die Entstehung dieses Buchs unterstützt haben: sei es mit Inspiration, Ratschlägen, Kritik, Ideen oder Zeit zum Schreiben. Insbesondere geht dieser Dank an meine Freundin, meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim, nicht zuletzt aber auch seine Studierenden für ihren Enthusiasmus, ihre Neugier und Experimentierbereitschaft in unseren gemeinsamen Seminaren. Ohne die Unterstützung der Kollegforschergruppe Media Cultures of Computer Simulation, der ich freilich ein ganz anderes Forschungsprojekt vorgeschlagen hatte, wäre das Manuskript nie begonnen worden. Daher gilt mein Dank auch seinen beiden ehemaligen Direktoren.
Wir stehen im Gift-Shop des Seminarzentrums, an einer Bar werden Sekt und Orangensaft ausgeschenkt. Kleine vegane Brote, Selleriesticks, jemand bezeichnet den Chili-Erdnuss-Dip als herausragend. Kennenlernen in fünf Minuten, dann schlägt ein vermutlich um die Augenpartie gelifteter Assistent des Seminarleiters einen kleinen Gong. In den Waschbetonregalen an den Wänden self-help-merchandise, Koffertags mit der Aufschrift »emotional baggage«, Kartenspiele mit Selbsterfahrungsfragen, Bücher in grauem Leineneinband und Titeln in pastelligem Blau, Türkis und Rosa.
•A Guide with Exercises to Develop Self-Understanding.
•Anxiety.
•The Guide to Modern Manners.
•Who Am I.
•How to Overcome Your Past.
•Insomnia − Where Does it Come from?.
•The Meaning of It All.
•Procrastination Is a Bitch.
•A Job to Long for.
•Big Ideas for Curious Girls.
•The Pain of Working.
Brigitta Häuser-Schäublin beschreibt die teilnehmende Beobachtung in ihrer Einführung für Anfänger als »widersprüchliches Verhalten«: man muss dazu gehören und dabei so wahrnehmen, als ob man ganz außen steht. Ich nehme an einem Stehtisch mit harter Sekt-Orangensaft-Mixpolitik und gelöster Stimmung teil. »Hi, ich bin Claire, ich bin overdressed!« Am anderen Ende des Raumes zwei Frauen mit aufgespritzten Lippen und identischen goldenen Rolex an den Handgelenken sowie den gleichen knallengen pinken Capri-Hosen um die Waden. Auf dem Weg zur Toilette pralle ich fast mit einer gepflegten Version von Iggy Pop zusammen, die Camouflage-T-Shirt, Jackett und Slippers mit Strasssteinen trägt. Aber abgesehen von diesen Ausnahmen wird Status hier eher über subtile Kleidungsdetails und über Körper markiert, in die Trainingszeit geflossen ist.
Claire kommt negativen Urteilen über ihr Aussehen immer gerne zuvor. Sie hat »im IT-Bereich« in London gearbeitet, »macht aber seit einiger Zeit in PR« und zwar »freischaffend«, sie ist vor kurzer Zeit nach Berlin gezogen und sucht »eine neue Herausforderung«. Einen Stehtisch weiter Jenifer mit einem »n«, IT-Produktmanagerin bei einem größeren deutschen Verlagshaus, ihre Stelle wird aufgrund der EU-Gesetzesnovelle zum Setzen von Cookies auf Webseiten bald wegfallen. Steve ist arbeitsloser Politikwissenschaftler und will gerne in den Energiesektor, Zoë ist Kuratorin, will jetzt nach einer längeren Durststrecke aus dem Kunstbetrieb aussteigen. Teilnehmende Beobachtung benötigt informelle Gespräche, die in systematischer Kombination mit qualifizierten Interviews die Voraussetzung für gelungene Feldforschung sind. Hadsch macht »irgendwas mit Finanzen«, er sagt das mit einem irritierenden Augenzwinkern. Er ist im falschen Kurs gelandet, er wollte eigentlich etwas zu Liebe und Beziehung buchen, will seine Freundin verlassen, seine Mutter ist dagegen. Aber unser Thema Wie man seinen Traumberuf findet interessiert ihn auch. Dann leitet uns der Assistent durch eine Schiebetür in den loftartig mit Küche und Bar ausgestatteten Seminarraum, in dem auf abgezählten Stühlen Namensschilder, Arbeitsbücher, Bleistifte und Notizhefte auf lockeren Stuhlreihen ausgelegt sind. Wir schreiben unsere Vornamen auf Klebebänder und befestigen sie irgendwo am Oberkörper. Der Coach löst sich aus einem Gespräch und adressiert uns mit einem Räuspern:
•Was hindert uns daran, einen Beruf zu finden, der wirklich zu uns, zu unseren Fähigkeiten und Neigungen passt?
•Glaubenssätze, Entscheidungen, Verhalten.
•Vorherrschende Haltung in dieser Gesellschaft: Wenn ich meinen Bedürfnissen nachgehe, begebe ich mich in Gefahr.
•Sorgfältig getrimmter Vollbart, ehemaliger Pfarrerssohn.
•Religiös auch die durch ein Oberlicht schräg einfallenden Sonnenstrahlen über ihm.
•Innere Stimmen waren einmal äußere Stimmen, meistens die unserer Familie.
•Breakout-Sessions zu zweit oder zu dritt, so fällt es oft leichter, Persönliches preiszugeben.
Für unsere Offenheit wird im Voraus gedankt. Ich lerne einen arbeitslosen Architekten und eine österreichische Ingenieurin kennen, die, wie sie sagt, »politisch und menschlich« unglücklich mit ihrem Aufgabenfeld in der Automobilindustrie ist. Der Vater des Architekten hatte, wie er offenbar auch, ein gewisses künstlerisches Talent, wurde aber technischer Zeichner. Jetzt scheitert der Sohn an der Normalisierung seiner Interessen, vor allem daran, Leidenschaft in seine Branche zu investieren. Die Ingenieurin wiederum wäre gerne Autodesignerin geworden, ihre Eltern haben ihr aber das solidere Studium empfohlen. Keiner von ihnen wurde von der Universität abgehalten, im Gegenteil wurden sie darauf verpflichtet und an diese Verpflichtung sind Erwartungen gebunden. Miterleben, mitleiden, mitempfinden sind wesentliche Eigenschaften der Ethnograf*innen bei Brigitta Häuser-Schäublin. Wir schreiben die Ergebnisse unseres Gesprächs und unsere Kurzbiografien in ein Formularfeld im Arbeitsringbuch.
•Schweigen hilft meinem Großvater nach dem Krieg über das Gröbste hinweg.
•Die Spätschicht in einem Walzwerk in der Nähe.
•Ein Haus mit einem kleinen Stall und einem Gemüsegarten, wie viele Arbeiterfamilien auf dem Land.
•Man darf sich nicht mit seinem Platz begnügen. Mit einer Energie, die es manchmal den Leuten auch zeigen will.
•Irgendwann Verwaltungsangestellter, der Schritt zwischen Arbeiterklasse und Kleinbürgertum.
•Immer »etwas zu Papier bringen«: Beiträge zur Verwaltungsgeschichte des Dorfes in einem Band zur 950-Jahr-Jubiläumsfeier.
•Der Sohn macht Abitur und studiert.
•Meinen Bruder nennt er den »Anstreicher«, weil er was mit Malerei machen will. Ich bin der »Schmierfink« und »die Journaille«.
•Kurz vor seinem Tod ruft er mich aus dem Krankenhaus an. »Ich wäre gerne so geworden wie du!«.
Natürlich zu viele Details, die ich in unserer kurzen Breakout-Session im Seminar ausbreite. Ich übertreibe mal wieder, ich versuche die Übung besser als alle anderen zu absolvieren und komme auf diese Weise vom Hundertsten ins Tausendste.
Das Kapitel über die Kleinbürger in Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede habe ich gelesen, als hätte ich ein bisher geheim gehaltenes Dokument über meine Familie auf dem Dachboden gefunden. Auf einmal sind wir mit akademischer Klarheit zu sehen, obwohl die Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland manifest sind: Unser Mangel an lässiger Selbstverständlichkeit des Bildungsbürgertums in soundsovielter Generation, gleichzeitig haben wir das trotzige Abgrenzungsbedürfnis nach oben jener nicht, die zur Zeit der Veröffentlichung von Die feinen Unterschiede noch Proletarier genannt werden. Die herausragende Eigenschaft dieser Schicht ist es, ihren Aufstiegswunsch an die nächste Generation weiterzugeben. Deshalb gleichen die Biografien hier »Fluchtlinien«, wie Bourdieu das nennt: Die Einzelnen befinden sich in einer Bewegung lebenslanger Abgrenzung von der Herkunft. Statt einem festen Punkt beschreibt für ihn der kleinbürgerliche Habitus die »Linie der gesellschaftlichen (individuellen oder kollektiven) Laufbahn, […] in dem die bereits durchschrittene Laufbahn weiterlebt in der Form eines auf Zukunft gerichteten Strebens«.1 Daher die Disziplin, die Sparsamkeit, das Mehr-Scheinen-Wollen, das Streben nach »Kultivisiertheit«, wie eine Tante es immer nannte. Und die Abstiegsangst, diese Furcht vor dem Zurückfallen, nicht unbedingt nur vor Armut im Alter, das auch, insbesondere aber auch in das Nichts der Unbedeutsamkeit.
Bourdieus Kleinbürger sind wie gemacht für die teilnehmende Beobachtung. Auf der einen Seite scheinen sie sich in jedem Milieu auf unauffällige Art auszukennen, für sie ist ja der Übertritt ins Andere ganz vertraut, und sie tun ja schon immer so, als ob sie dazu gehören. Es bleibt immer etwas Hölzernes und Tastendes in ihrer Interaktion, so als ob sie sich ihrer selbst beim Sprechen und Handeln ein wenig zu bewusst wären. Ihr Leben ist die beständige soziale Probebohrung. Und dann ihre leise Überraschung, wenn man auf sie in ganz natürlicher Weise reagiert. Was sie für die teilnehmende Beobachtung meinen Ratgebern zufolge diskreditiert, ist natürlich ihr going native: sie denken immer, sie gehören dazu, weil sie sich ein paar Tricks abgeschaut haben.
•Mein anderer Großvater im blauen Daimler W 124.
•CDU wählen, entgegen den eigenen Interessen, aber entlang denjenigen des Geschäftsmannes, der man hätte sein können.
•Eine Mitgliedschaft im Tennisklub.
•Leben im Traum von dem, was hätte sein können.
•Und meine Großmutter, die am Ende ihres Lebens wütend auf ihn wird und sich in das Verkennen und Vergessen der Demenz zurückzieht.
Bildung als die erste große Fluchtlinie der Kleinbürger: Wissen ist für meine Eltern etwas, das man sich aneignen kann, das bereit liegt und sozialen Gewinn bringt. Mein Vater hat durch sein Studium den verklinkerten Bauernhof der Urgroßeltern verlassen. Seine Kinder gehen auf eine Schule, in der man aus Interesse lernen lernt, in der man Fakten nicht auswendig wissen, sondern durch Herleitungen immer wieder neu herleiten soll. In der eine musische Ausbildung verpflichtend ist, die er nie hatte und von ganzheitlicher Pädagogik die Rede ist. Und wen wundert es, dass diese Söhne dann ein eher loses Verhältnis zu dem entwickeln, was sie wissen. Sind sich unsicher bei Jahreszahlen, können sich Eigennamen nur schwer merken, spekulieren lieber, als mühsam das Gedächtnis zu durchforsten. Etwas hat sich also verändert: statt sich Wissen anzueignen, versuchen sie es selbst hervorzubringen. Ich habe bis zu meiner Promotion gebraucht, um zu verstehen, und eigentlich habe ich es immer noch nicht richtig verstanden, dass dies aber auch von einer gewissen Nonchalance gegenüber dem Produzierten begleitet werden sollte:
Die Kleinbürger machen aus der Bildung eine Frage von wahr und falsch, eine Frage auf Leben oder Tod, und ahnen nicht im Geringsten, welche unverantwortliche Selbstsicherheit, unverschämte Lässigkeit, ja versteckte Unaufrichtigkeit auf jeder Seite eines inspirierten philosophischen, künstlerischen oder literarischen Essays steckt.2
Ähnlich die Kultur als die zweite große Fluchtlinie: »Geschmack zu haben«, also über Auswahl und Durchführung eines Arsenals kultureller Praktiken wie Mode, Essenszubereitung oder Inneneinrichtung zu verfügen. Mehr noch, kompetent über Literatur, Kunst, Musik und Theater sprechen zu können. Distinktionsarbeit des Aufstiegswillens auf der einen Seite, beständige Unruhe und Angst über Selbsttäuschungen auf der anderen Seite.
•Die etwas eingesogene Atemluft meiner Mutter angesichts der als Tischdekoration gedachten Filzblumen auf einem Familiengeburtstag.
•»Hat es dir geschmeckt?« »Och ja, es war reichlich!«
•Rosamunde Pilcher und die schwülen Sexthriller der 1980er-Jahre, vor dem Einschlafen aber Heine oder Otto Flake.
•Die vage Anmutung von Künstlerlofts des New Yorks der 1970er-Jahre in meiner Kreuzberger Wohnung.
Im SeminarWie man seinen Traumberuffindet fällt der Wunsch nach einer Tätigkeit, die einen erfüllt, aus der man Lust oder Befriedigung zieht, statt nur Geld mit ihr zu verdienen, »vor nicht allzu langer Zeit«, wie der Coach sagt, einfach vom Himmel. Alle Menschen würden gerne kreativ sein, aber ihre Familiengeschichte oder ihr Umgang mit ihr hält sie davon ab. Wirklich glücklich kann materielle Sicherheit nie machen, das hatte schon Sartre in den 1960er-Jahren in seiner Theorie der Angst gesagt. Sie hindere das bürgerliche Individuum daran, ein authentisches Leben im Einklang mit seinen Ängsten und Bedürfnissen zu führen, und nur die Konfrontation mit ihnen könne uns beibringen, was wir wirklich wollen. Der Coach kokettiert ein wenig mit dem Begriff Selbstfindung, natürlich seien wir auch ein wenig Hippies hier.
Bourdieus Analyse des Kleinbürgertums in Die feinen Unterschiede ist so wohl nur für Frankreich, wahrscheinlich sogar nur für das Paris der 1960er-Jahre gültig.3 Neben nationalen Unterschieden ist dafür eine historische Transformation verantwortlich: kommt es doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Ausweitung wissensintensiver Produktion und des Dienstleistungsgewerbes sowie einer damit einhergehenden Proliferation akademischer Bildungswege und eines daran anschließenden Wertewandels. Dabei tritt für einen Teil der Mittelschicht an die Seite der Sicherung des materiellen Lebensunterhalts und der traditionellen Investition in Statusgüter wie Immobilien der »neue Leitwert der individuellen Selbstentfaltung«.4 Für Andreas Reckwitz entstehen deshalb zwei Bruchlinien in der weitgehend nivellierten Mittelschicht der Nachkriegszeit: Zum einen wächst ein Dienstleistungsmilieu mit häufig geringen Löhnen und unsicheren Arbeitsverhältnissen heran. Zum anderen spaltet sich eine »neue« Mittelklasse, die sich an eben jener Selbstentfaltung und mit ihr verbundenen Idealen wie Individualität, Eigenverantwortung und Kreativität von der »alten«, durch Ausbildungsberufe und Werten wie Disziplin, Pflichtethos und Konformität geprägten Mittelklasse ab. Diese gesellschaftlichen Gruppierungen befinden sich, Reckwitz zufolge, in zunehmender Wertekonkurrenz und dies führt, wo sich die beschriebene Transformation in Statusangst und materiellem Abstieg äußere, auch zur Popularität rechtsextremistischer Parteien.5
Zwar kann die beschriebene Entstehung neuer normativer Leitlinien der Mittelschicht der Gegenwart kaum in Zweifel gezogen werden. Zugleich ist das Verhältnis zwischen »neuer«, »alter« und »prekärer«