Autismus - Inge Kamp-Becker - E-Book

Autismus E-Book

Inge Kamp-Becker

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Beschreibung

Was charakterisiert Menschen mit Autismus? Was versteht man unter „Autismus-Spektrum-Störungen“? Wie häufig sind sie? Welche Interventionen wirken? Das Buch beschreibt Symptome von Störungen im Autismus-Spektrum und wie man diese fundiert diagnostiziert. Es fasst die aktuelle Forschung zu Ursachen und Einflussfaktoren zusammen und gibt einen Überblick über Leitlinien zu Diagnostik und Therapie. Außerdem werden therapeutische Interventionen und Strategien der sozialen Integration vorgestellt.

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Inge Kamp-Becker · Sven Bölte

Autismus

4., aktualisierte Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Inge Kamp-Becker, Dipl.-Psych., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Heidelberg.

Prof. Dr. Sven Bölte, Dipl.-Psych., Direktor des Karolinska Institutet Center of Neurodevelopmental Disorders, Stockholm / Schweden.

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3567

ISBN 978-3-8252-6315-7 (Print)

ISBN 978-3-8385-6315-2 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-6315-7 (EPUB)

4., aktualisierte Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S. v. § 44 b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

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Printed in EU

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com / bdspn

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einführung

Hauptteil

1Was ist Autismus? – Symptomatik und diagnostische Kriterien

2Gibt es typische Begleiterkrankungen? – Komorbiditäten

3Kommt Autismus häufig vor? – Epidemiologie der autistischen Störung

4Heterogenität des Autismus

5Wodurch wird Autismus verursacht? – Ätiologie und Störungskonzept

6Wie erkennt man Autismus? – Diagnose und Differenzialdiagnose

7Kann Autismus behandelt werden? – Therapie

8Was ändert sich mit zunehmendem Alter? – Der Verlauf autistischer Störungen

9Welche Förderung brauchen Menschen mit Autismus? – Soziale, schulische und berufliche Integration

Anhang

Glossar

Literatur

Register

Einführung

Das gesellschaftliche und wissenschaftliche Interesse an dem Thema Autismus-Spektrum-Störungen ebbt nicht ab. Publikationen zu dieser Thematik haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen: Eine Recherche in der Datenbank PubMed mit dem Schlagwort „autism*“ ergab 311 Nennungen im Jahr 2000, 2021 waren es bereits 44.747 Einträge und 2023 schließlich 61.536 mit dem Begriff Autismus im Titel oder Abstrakt. Autismus hat eine enorme mediale Präsenz: Es gibt mehr als 100 Millionen Videos auf YouTube, alleine 100 von diesen hatten 2021 121 Millionen „views“ und im Internet finden sich unter dem Begriff mehr als 400 Millionen Einträge. Systematische Analysen weisen jedoch darauf hin, dass die Qualität dieser Informationen schlecht ist und sie ein sehr verzerrtes Bild der Störung wiedergeben, welches viele problematische Implikationen mit sich bringt (Kamp-Becker et al. 2020).

Aber auch im wissenschaftlichen Kontext hat sich das Verständnis dieses Störungsbildes sehr gewandelt: Schon die Erstbeschreiber autistischer Störungen (Hans Asperger, 1944; Leo Kanner, 1943) haben erkannt, dass die beschriebenen Störungen als angeboren bzw. als in früher Kindheit entstanden angesehen werden müssen. Die von ihnen beschriebenen Auffälligkeiten sind bis heute einflussreich geblieben, allerdings wurde das Werk von Hans Asperger lange Zeit nicht beachtet. Erst durch die Übersetzung seiner Schrift ins Englische durch Uta Frith und Forschungen der Britischen Ärztin Lorna Wing wurde das Asperger-Syndrom international bekannt. Allerdings unterschied Lorna Wing erstmals nicht zwischen verschiedenen autistischen Störungen, was im Verlauf der Zeit zu heftigen Diskussionen führte. In wissenschaftlichen Studien beschäftigte man sich in der Vergangenheit lediglich mit den „klassischen“ Fällen des frühkindlichen Autismus, d. h. mit Betroffenen mit überwiegend deutlicher kognitiver Beeinträchtigung. Derzeit werden in den Studien jedoch überwiegend männliche Probanden eingeschlossen, die keine kognitive Beeinträchtigung aufweisen (sogenannte „high functioning“ Fälle). Aktuell jedoch besteht eine Tendenz, den Begriff Autismus maximal auszudehnen und sehr viele Studien beschäftigen sich lediglich noch mit einzelnen Symptomen („autism like traits“), sodass die Abgrenzung zu anderen Störungsbildern immer unklarer wird. Auch gibt es Bestrebungen, Autismus nicht als „Störung“ anzusehen, sondern als eine natürliche Form der menschlichen Diversität. Schwierigkeiten entstehen demnach durch eine geringe Übereinstimmung zwischen individuellen Eigenschaften und Anforderungen der Umwelt. Entsprechend dieser Konzeption werden Behandlungen abgelehnt und Forderungen an eine Anpassung der Umwelt gestellt. Diese Sichtweise wird in der Literatur kritisch diskutiert.

Im → Klassifikationssystem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ von 1952 (DSM-I) und 1968(DSM-II) wurde Autismus noch als „kindliche Schizophrenie“ klassifiziert und erst 1980 im DSM-III den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet. Bezüglich des Asperger-Syndroms bestand eine Kontroverse, ob diese Störung von anderen autistischen Störungen, insbesondere dem frühkindlichen Autismus, klar abgegrenzt werden könne. Aktuell werden im DSM-5 und im ICD-11 die verschiedenen autistischen Störungen unter dem Begriff der Autismus-Spektrum-Störung zusammengefasst, da sich Abgrenzungen zwischen den verschiedenen autistischen Störungen als nicht valide erwiesen haben. Im Folgenden wird daher der Begriff Autismus synonym zum Begriff Autismus-Spektrum-Störung verwendet.

Der historische Abriss zum Thema Autismus und die andauernden Diskussionen zur adäquaten Definition des Phänomens mögen verdeutlichen, dass es sich dabei um ein sehr heterogenes Störungsbild handelt. Zwar sind die grundlegenden und somit situationsübergreifenden Beeinträchtigungen im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie repetitive, stereotype Verhaltensweisen in Kombination mit einem sehr frühen Störungsbeginn die zentralen Merkmale, jedoch ist individuell die Variabilität hinsichtlich des Grades der Beeinträchtigung sowie hinsichtlich der kognitiven, verbalen, motorischen, sozialen sowie adaptiven Fähigkeiten der Betroffenen hoch.

Zur Verdeutlichung der Heterogenität autistischer Störungen werden im Folgenden zwei kurze Fallbeispiele aufgeführt, die zum einen die Symptomatik veranschaulichen sollen, zum anderen aber auch deren Variabilität und damit einhergehende Fähigkeiten, wie zum Beispiel Sprache oder kognitive Fähigkeiten, deutlich machen sollen.

Lukas wurde nach komplikationsloser Schwangerschaft in der 40. Schwangerschaftswoche geboren. Die Geburt wurde nach vorausgegangenem Fruchtwasserabgang eingeleitet. Lukas’ nachgeburtlicher Zustand gemessen mit dem Apgar-Wert war mit 10 von 10 optimal. Im Alter von 4 Jahren wird er in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt spricht Lukas noch keine sinnhaften Wörter. Die Sauberkeitsentwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Komplikationen im Säuglingsalter hatten nicht vorgelegen, allerdings klappte das Stillen nicht, daher wurde Lukas mit der Flasche ernährt. Später hatte er deutliche Schwierigkeiten bei der Umstellung von flüssiger auf breiige bzw. feste Nahrung. Als Säugling schlief Lukas fast nur und war wenig durch Außenreize ansprechbar. In der frühkindlichen Phase war die motorische Entwicklung verzögert, mit verspätetem Sitzen bei eher schlaffem Muskeltonus und fehlendem Krabbeln. Deshalb erhielt er ab dem Alter von 9 Monaten krankengymnastische Behandlung. Das freie Laufen setzte mit ca. 20 Monaten ein, bei deutlichem Zehenspitzengang. Die Sprachentwicklung setzte deutlich verzögert ein, auch ein Brabbeln konnte nicht beobachtet werden. Lukas kompensierte die fehlende Sprachfähigkeit nicht durch Gestik oder Mimik. Er lautierte, wobei er nur Silben und diese häufig in einem melodischen Singsang benutzte. Musik und Rhythmus mochte er sehr gerne.

In der durchgeführten Verhaltensbeobachtung zeigt sich eine mangelnde Kontakt- und Beziehungsaufnahme, auch zur anwesenden Mutter. Lukas nimmt zwar flüchtigen Blickkontakt auf, hält diesen aber nicht lange und scheint oft in sich hineinzublicken. Bei allgemein ausgeglichener und zufriedener Stimmungslage kann er sich ausdauernd alleine beschäftigen, wobei er zu stereotypem und repetitivem Spielen neigt: Er versucht alle dargebotenen Gegenstände zum Drehen und Kreiseln zu bringen.

Fehlende Kontaktaufnahme bezieht sich auch auf andere Kinder, Lukas zeigt hier keinerlei Interesse. Häufig kommt es vor, dass er seine Eltern wie ein Werkzeug benutzt, indem er deren Hände auf ein Spielzeug legt, um es beispielsweise in Bewegung zu setzen. Er zeigt ein ausgeprägtes Interesse an allem, was sich dreht, und hat ein großes Geschick darin entwickelt, Gegenstände kreiseln zu lassen. Erst im Alter von knapp 3 Jahren fing er an, auch andere Funktionen von Gegenständen zu erkennen. Außerdem explorierte er noch viel mit dem Mund, roch auch an Dingen. Gehörtes nahm Lukas sehr unterschiedlich wahr. Teilweise reagierte er nicht auf seinen laut gerufenen Namen, um dann aber auf leise gesprochene andere Äußerungen, wie zum Beispiel „Essen ist fertig“, prompt zu reagieren. Sehfähigkeit und Hörvermögen waren fachärztlich untersucht worden und unauffällig. Körperkontakt meidet Lukas häufig, er lässt sich nicht gerne anfassen. Er kuschelt auch nicht gerne, in letzter Zeit jedoch etwas häufiger, wenn das Bedürfnis danach und der Impuls dazu von ihm selbst ausgehen. Lukas ist relativ schmerzunempfindlich, wenn er sich verletzt, will nicht getröstet werden und zeigt häufig keinerlei Schmerzreaktionen. Er ist motorisch sehr unruhig und es ist schwierig, seine Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu lenken.

Peter wird im Alter von 14 Jahren und 11 Monaten in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Seine Mutter ist von Beruf Grundschullehrerin, der Vater Betriebswirt. Der Vater schildert sich selbst als einen Einzelgänger, mit wenig Sozialkontakten. Als Kind sei er sehr eigenbrötlerisch gewesen, habe eigentlich nur zu Erwachsenen Kontakt gehabt. Auch von seiner Frau wird er als Sonderling und Einzelgänger beschrieben, dessen größtes Vergnügen seine Modelleisenbahn sei. Er habe deutliche Kontaktprobleme, sei am liebsten allein. Peter hat noch eine jüngere Schwester, die als unauffällig beschrieben wird.

Schwangerschaft und Geburt seien ohne Komplikationen verlaufen. Peter habe zeitgerecht Laufen gelernt, sei aber bis heute sehr ungeschickt, Fahrradfahren habe er beispielsweise erst mit 8 Jahren gelernt. Die Sauberkeitserziehung sei etwas verzögert gewesen. Er habe früh angefangen zu sprechen, noch vor dem zweiten Lebensjahr habe er ganze Sätze benutzt. Er habe auch sehr deutlich gesprochen, es seien keine → Echolalien, → Neologismen und auch keine → pronominale Umkehr aufgetreten. Erste Auffälligkeiten seien im Kindergarten aufgetreten. Peter habe keinen Kontakt zu anderen Kindern aufgenommen, habe sich lieber alleine in der Bauecke beschäftigt. Eine Erzieherin habe der Mutter einmal rückgemeldet: „Die anderen Kinder verstehen ihn gar nicht, er redet ja wie ein Professor.“ Er habe viel geredet, aber nicht darauf geachtet, ob die anderen ihm auch zuhörten. Gespielt habe er vor allem alleine, mit anderen Kindern sei kein Spiel zustande gekommen. Peter beschäftige sich im Kindergarten gerne mit Konstruktionsspielzeug wie z. B. Lego, er baue Dinge auseinander – und wieder zusammen, spiele aber nicht fantasievoll. Er habe ausgeprägte Sonderinteressen: Eine Zeit lang habe er sich fast fanatisch mit dem Thema Bauernhof beschäftigt, hier vor allen Dingen mit Landmaschinen. Auch mit den Pokémon-Figuren habe er sich ausführlich befasst, und sein diesbezügliches Wissen sei sehr umfangreich. Er habe die dazugehörigen Sammelkarten aber nicht mit anderen Kindern getauscht, sondern die Karten gehortet. Auch heute beschäftige er sich noch intensiv mit Fantasiefiguren und „Kriegsschlachten“. Er denke sich historische Schlachten aus, schreibe ausführliche Listen über die verwendeten Waffen, Ausrüstungsgegenstände, Strategien usw. Stundenlang schreibe und male er hierzu Bilder, Tabellen, Listen, die ganze Ordner füllen würden. Freunde habe er keine. Auffällig sei auch, dass Peter zwanghaft auf bestimmte Uhrzeiten fixiert sei. Er müsse beispielsweise morgens zu einer ganz exakten Uhrzeit zum Bus laufen und gerate in Panik, wenn der Schulbus sich verspäte. Auch Essenszeiten müssten genauestens eingehalten werden. Er dusche nur an bestimmten Tagen in der Woche und sei durch nichts hiervon abzubringen. Der Tagesablauf sei stark ritualisiert, und es sei kaum möglich, von diesen Routinen abzuweichen. Beispiel Ende lich, von diesen Routinen abzuweichen.

Diese einleitenden Informationen zur Historie, Symptomatik und Heterogenität des Phänomens Autismus verdeutlichen die Bedeutung der Thematik für viele Berufsgruppen in Studium und Beruf. Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine früh beginnende, viele somatische, psychologische und Alltagsfunktionen beeinträchtigende, überdauernde Störung, deren Abgrenzung zu vielen anderen Störungsbildern oft schwierig ist. Psychologen, Mediziner, Berufsgruppen aus dem Sozialbereich, Lehrer und andere Pädagogen werden diesem nicht sehr seltenen Störungsbild früher oder später in ihrer praktischen Arbeit begegnen.

Hauptteil

1

Was ist Autismus? –Symptomatik und diagnostische Kriterien

Die Kernsymptome des Autismus sind anhaltende Defizite im Bereich der sozialen Interaktion und Kommunikation, die über verschiedene Kontexte hinweg auftreten, gemeinsam mit eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten, die den Alltag der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Die Auffälligkeiten bestehen von früher Kindheit bis ins Erwachsenenalter und zeigen sich in allen Lebenssituationen. Durch Behandlungsmaßnahmen können sie deutlich gebessert, jedoch nur in einigen Fällen vollständig behoben werden.

Symptomatik

Auffälligkeiten und Defizite im Bereich der wechselseitigen sozialen Interaktion und Kommunikation: Die Eltern bemerken meist früh, dass der Blickkontakt ihres Kindes auffällig ist, da dieser nicht sozial moduliert ist, d. h. er wird nicht genutzt, um die soziale Interaktion zu steuern oder zu lenken. Auch das soziale Lächeln in Reaktion auf das Lächeln der Bezugspersonen ist deutlich reduziert. Gestik und Mimik werden kaum eingesetzt, um die soziale Interaktion zu steuern. Ein auffälliges frühes Symptom ist die Unfähigkeit, „gemeinsame Aufmerksamkeit“(engl. „joint attention“) herzustellen, d. h., die Koordination der Aufmerksamkeit zwischen dem Kind, einer anderen Person und einem Gegenstand oder Ereignis, gelingt nicht. Das Ausmaß, in dem das Kind die Aufmerksamkeit einer anderen Person teilt und / oder sich darum bemüht, deren Auf merksamkeit auf ein Objekt oder Ereignis zu lenken, ist deutlich reduziert. Diese Auffälligkeiten zeigen die betroffenen Kinder sowohl im Kontakt mit ihnen vertrauten, als auch unbekannten Personen. In ihnen fremden Situationen kommt es vor, dass diese Kinder einfach „weglaufen“, d. h., sie überprüfen nicht, ob die Eltern noch in Sichtweite sind, sie „rückversichern“ sich nicht, indem sie sich beispielsweise über Blickkontakt mit den Eltern darüber verständigen, dass die neue Situation in Ordnung ist, keine Gefahr besteht. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind in allen Altersbereichen durch fehlende Wechselseitigkeit gekennzeichnet. Dies kann in der Ausprägung variieren von einem Unvermögen, auf soziale Interaktionen zu reagieren bzw. diese zu initiieren bis zu einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und dem Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten. Die Beziehungen sind überwiegend rein funktional oder durch gemeinsame Beschäftigungen geprägt, die auf sehr wenige Interessen und Aktivitäten reduziert sind. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen verstehen darüber hinaus Emotionen und soziale Situationen nicht, sie reagieren auf die Gefühle anderer Menschen unangemessen und verhalten sich dann auch entsprechend. Beispielsweise teilen sie nicht die Trauer oder die Freude anderer Menschen. Sie suchen auch keinen Trost, wenn sie sich selbst verletzt haben oder traurig sind.

Sehr grundlegend – jedoch auch bei vielen anderen Störungsbildern vorkommend – sind die Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen. Dies kann sich in einem Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen oder in Schwierigkeiten, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen, äußern sowie in Schwierigkeiten, das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen. Kinder mit Autismus wehren Berührungen und Zärtlichkeiten häufig ab; umgekehrt kommt aber auch distanzloses Verhalten vor (das Kind setzt sich beispielsweise bei völlig fremden Personen auf den Schoß, ohne jedoch in einen wechselseitigen Kontakt zu gehen). Wesentlich bei Autismus sind der frühe Beginn und der persistierende Charakter dieser Symptomatik.

Sehr auffallend sind Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten. Dies kann sich in einem vollständigen Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation äußern, z. B. indem die Betroffenen keinen oder kaum Gebrauch von Gesten mit symbolischem Gehalt machen (zum Beispiel Winken beim Abschied, beschreibende oder emphatische Gesten). Es kommt aber auch schlecht aufeinander abgestimmte verbale und nonverbale Kommunikation vor, sowie der abnorme Blickkontakt und die abnorme Körpersprache, dessen Verständnis auch in der Wahrnehmung anderer Personen beeinträchtigt ist.

Viele Kinder mit Autismus zeigen eine Sprachentwicklungsverzögerung, dabei fehlt oft auch das typische Lallen bzw. Brabbeln im Tonfall von Sprache vor dem eigentlichen Sprachbeginn. Bei vielen Betroffenen ist auch die Intonation und die Pragmatik der Sprache deutlich auffällig: Sie betonen Wörter oder Satzteile oft auf ungewöhnliche Art und Weise, die Sprachmelodie ist monoton und der Sprechrhythmus wirkt oft abgehackt. Sie beachten die Regeln der Konversation nicht und neigen zum Monologisieren. Sie erfassen die kontextabhängige und nichtwörtliche Bedeutung sprachlicher Äußerungen nicht.

Das Spielverhalten von Kindern mit Autismus ist – gemessen an ihrem Entwicklungsniveau und ihren kognitiven Fähigkeiten – ebenfalls auffällig: Sie sind nicht zu interaktivem Spielen fähig, da es ihnen nicht gelingt, eine geteilte Aufmerksamkeit (siehe oben) herzustellen bzw. eine Wechselseitigkeit im Spiel herzustellen. Spielzeug wird häufig zweckentfremdet, z. B. bringen die Kinder verschiedenste Gegenstände – Holzklötze, Puppen, Spielzeugautos usw. – ausdauernd zum Rotieren und sind davon völlig fasziniert. Funktionelles, sensomotorisches Spielen (Spiele, bei denen die körperliche Aktivität und das Erfassen von Gegenständen über die Sinne im Vordergrund steht) überwiegt bei diesen Kindern. Sie reihen Spielsachen in stereotyper Weise auf, klopfen sie aneinander, beriechen oder belecken sie usw. Häufig ist auch ein deutliches Interesse an Teilen von Spielsachen zu beobachten, so dreht das Kind z. B. stereotyp die Räder des Spielzeugautos oder klappt die Autotüren immer wieder auf und zu. Die Fähigkeit, imaginierte Ereignisse zu produzieren, Objekten, Umgebungen und Personen (einschließlich des Selbst) eine alternative Identität zuzusprechen, was als „So-tun-als-ob-Spiel“ oder Symbolspiel bezeichnet wird, ist reduziert. Das trifft ebenso auf soziale Rollenspiele mit anderen Kindern (kooperatives soziales Fiktions- / Illusionsspiel) zu.

Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten einschließlich stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder der Sprache: