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Was ist, wenn wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen sind, die Kreativität beweisen und den Wunsch hegen, dass man sich an ihre Existenz erinnert? In der Welt, in der die drei Geschichten dieses Bandes verortet sind, werden Tiere als Wesen betrachtet, die fähig sind zu Spiel, Ritus und Dichtung. Die Anthropologie wurde von der Therologie (von griech. therion, Tier) abgelöst, insbesondere der Therolinguistik. Despret lässt uns eintauchen in die spannenden Debatten dieser neuen Disziplin: Senden die Spinnen vibrierende Hilferufe, da sie unter dem Überfluss menschenproduzierter Schwingungen leiden? Zeugen die Kotbauten der Wombats von einer »Fäkalkosmologie«? Beklagen die Kraken über Tintenspuren auf Tonscherben die Überfischung und Verschmutzung der Ozeane, die ihre Wiedergeburt verhindern? Vinciane Despret schreibt im wahrsten Sinne des Wortes Science-Fiction. Raffiniert verwischt sie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur, zwischen Mensch und Tier. Ein so geist- wie fantasievolles Plädoyer für einen radikal neuen Blick auf die Tierwelt – und unseren Platz darin.
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Seitenzahl: 184
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Autobiografie eines Kraken
Vinciane Despret
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Für Sarah, Jules-Vincent, Samuel,
Cindy und für unsere Kleinen.
Und für alle Odysseus und Camilles,
die bereits unter uns leben oder
noch kommen werden.
Glossar
Kapitel 1Das Studium des Tinnitus oder Die stillen Sängerinnen
Kapitel 2Die Fäkalkosmologie beim Nacktnasenwombat(Vombatus ursinus) und beim SüdlichenHaarnasenwombat (Lasiorhinus latifrons)
Kapitel 3Autobiografie eines Kraken oderDie Gemeinschaft der Odysseus
Quellen
Zitatnachweise
Anmerkungen
Geolinguistik (f.): Die Geolinguistik ist ein spät entstandener Zweig der Linguistik. Er bildete sich zu einem Zeitpunkt aus, als die Linguisten erkannten, dass die Menschen nicht als Einzige Sprachen mit originellen Strukturen erfunden hatten, die sich mit der Zeit entwickelten und Sprechern verschiedener Reiche miteinander zu kommunizieren erlaubten. Die Geolinguistik untersucht die Sprachen lebender und manchmal sogar nicht-lebender Gemeinschaften, obwohl die jüngsten Entdeckungen, die auf die Existenz von Sprachen bei Nicht-Lebenden hinweisen, noch immer umstritten sind. Die Geolinguistik sollte später die Therolinguistik hervorbringen, die sich auf das Studium literarischer Formen bei Tieren und Pflanzen spezialisiert hat.
Therolingustik (f.): Der Begriff »Therolinguistik« leitet sich von dem griechischen ther (θηρ), »wildes Tier« ab. Er bezeichnet jenen Zweig der Linguistik, der sich mit der Untersuchung und Übersetzung schriftlicher Erzeugnisse von Tieren (später auch Pflanzen) befasst, ob Roman, Poesie, Epos, Pamphlet oder Archivdokument … In dem Maße, wie diese Wissenschaft die sogenannte wilde Natur erforscht, erscheinen auch andere Ausdrucksformen, die über die menschlichen literarischen Kategorien hinausgehen (und folglich in das Fachgebiet der Kosmophonie und Paralinguistik fallen). Der Begriff »Therolinguistik« tauchte erstmals 1974 in einer Science-Fiction-Erzählung von Ursula K. Le Guin auf: »Der Autor der Akaziensamen und andere Auszüge aus dem Journal der Gesellschaft für Therolinguistik«.
Theroarchitektur (f.): Architektur des Wilden. Die Bezeichnung »Theroarchitektur« ist relativ spät aufgekommen, obwohl sich unter dem Bienenspezialisten Karl von Frisch Ende des 20. Jahrhunderts bereits eine Vorläuferströmung entwickelt hatte und sich im 21. Jahrhundert zahlreiche Forschungen auf Tierbauten konzentrierten. Die Theroarchitektur untersucht nicht nur Habitate, sondern auch diverse Infrastrukturen der Tiere (Straßen, Unterführungen, Beschilderungen, Denkmäler, Migrationskorridore etc.), und interessiert sich besonders für die künstlerische, symbolische und expressive Dimension dieser Artefakte.
Welche Sprache sprechen die Dinge der Welt, damit wir
uns mit ihnen – auf Vertragsbasis – verständigen können?
(…) Gewiss, wir kennen
die Sprache der Welt nicht oder doch nur ihre verschiedenen
animistischen, religiösen oder mathematischen Versionen.1
Michel Serres
Also suche ich nach wahren Geschichten,
die gleichzeitig spekulative Fabulationen und
spekulative Realismen sind.2
Donna Haraway
Anmerkung der Verfasserin des vorliegenden Berichts
Das Studium des Tinnitus war ein Meilenstein in der Geschichte der Forschungen über die expressiven Künste in der Tier- und Pflanzenwelt. Es war eine lange, schwierige Spurensuche, doch das ihr zugrunde liegende Rätsel hat, wie auch seine spätere Auflösung, das Wissensfeld radikal verändert und neuen Untersuchungsmethoden geöffnet. Bis dato hatte sich der historische Verein für Therolinguistik der Übersetzung und Analyse der wilden Literaturen angenommen. Irgendwann aber stellte sich heraus, dass seine Methoden und die Definition seines Forschungsfeldes zwar heuristisch fruchtbar sein mochten, aber viele Arten, die offenbar romanhafte, poetische, lyrische oder pamphletistische Formen ausgebildet hatten, von der literarischen Praxis ausschlossen. Diese Infragestellung war für den Erfolg des Tinnitus-Studiums ausschlaggebend. Wir haben also beschlossen, dessen Geschichte mithilfe der gefundenen Dokumente zu rekonstruieren. In diese umfangreiche Akte haben wir allerdings nur Archivunterlagen aufgenommen, die uns für das Verständnis grundlegend erschienen.
Archiv Nr. 324 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Auszug aus dem Protokoll der Gründungsversammlung für eine neue, von der Gesellschaft für Therolinguistik unabhängige Gesellschaft
Den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Ausschusses war es zunächst ein Anliegen, die erheblichen, bisher vom Verein für Therolinguistik erbrachten Fortschritte zu würdigen. Besonders jene, die durch die Entdeckung fragmentarischer Botschaften von Ameisen ermöglicht wurden, welche in Form von Drüsenausschwitzungen auf sorgfältig arrangierten Akaziensamen gefunden worden waren.3 Davon auszugehen, dass es sich um eine absichtlich von einer anonymen Ameise hinterlassene Botschaft handelte, war ebenso riskant wie letztendlich erfolgversprechend. Natürlich sorgten die Analyse der Fragmente und erst recht ihre Übersetzung in der Therolinguistik für Kontroversen – da die Ameisen weder die erste noch die zweite Person im Gebrauch der Verben kennen, ließen sich Äußerungen wie »Eier essen!« nur schwer übersetzen. Ähnlich problematisch schien der Ausruf »Die Königin nach oben!« in einer Welt, in der das Oben ausgerechnet für die Gefahr und das zu Vermeidende steht – ob man ihn besser nicht-ethnozentrisch, als Ausdruck einer Revolte hätte fassen sollen: »Nieder mit der Königin!«? Die bis dato undenkbare Vorstellung einer pamphletistischen Poesie bei den Ameisen stellte einen entscheidenden Schritt dar und öffnete das Feld der Theroliteratur für zahlreiche, bisher vernachlässigte Ausdrucksformen. Außerdem beglückwünschen wir unsere Kolleg:innen zu der brillanten Untersuchung des kinetischen Gemeinschaftsschreibens bei den Adeliepinguinen.
Leider können wir hier nicht alle Erfolge einzeln aufführen. Der schönste besteht zweifellos darin, dass den Spinnen nach langer Zeit endlich Gerechtigkeit widerfahren ist: Man hat ihnen die Urheberschaft der Methode schlechthin aller historischen Wissenschaften zuerkannt – die Erfindung des Archivs. Ja, diese wunderbare Erfindung ist tatsächlich den Spinnen zu verdanken. Eine wegweisende Entdeckung der und für die Geschichte. Die Spinnen waren die Ersten, die eine Archivierungstechnologie für Ereignisse ausgefeilt haben, da ihre Netze, noch bevor sie Fallen, Architektur oder Territorium werden, das materielle, ausgelagerte Gedächtnis von Verhaltensweisen, Techniken und Stilen darstellen4 – seidige Kartografien stets in Entwicklung begriffener Gedächtnisse. Treffender kann man das Archiv nicht definieren. Dank dieser Anerkennung haben die Spinnennetze endlich auf die Liste des UNESCO-Welterbes gefunden.
Doch die Ermahnung, die unser zu früh verstorbener Präsident in seinem letzten Leitartikel vorgebracht hat, ist weder befolgt noch überhaupt gehört worden. Seine Forschungen zu tierischen linguistischen (poetischen, lyrischen oder sogar wissenschaftlichen) Formen mögen zwar interessant sein, wendete er ein, hätten jedoch mit einem erheblichen Hemmschuh zu kämpfen: Sie bevorzugten von jeher die Kinetik. Und das Privileg der Kinetik, des in Bewegung befindlichen Ausdrucks, ist das Privileg des Sichtbaren. Sicher, dieses Privileg beruht auf der Existenz von Spuren und ihrer potenziellen Konservierung (vor allem mithilfe von Fotos oder Videoaufnahmen), es hat die Geolinguistik aber dazu verleitet, einen unschätzbaren Teil des Kommunikationssystems der Tiere zu vernachlässigen. Ganz zu schweigen von dem der Pflanzen: Erfassen Sie mit dieser Methode nur mal »die raffinierten und ephemeren Gesänge der Flechte«5. Man erinnere sich an die Worte der präsidialen Ermahnung: »In früheren Zeiten haben wir die lobenswerte und nötige Anstrengung unternommen, auf das Privileg des Hörbaren zu verzichten, das die linguistische Forschung kontaminiert und den Tieren das begrenzte Feld der oralen Literaturen zugewiesen hat.« Wir müssen gegenwärtig unser Forschungsgebiet erweitern und unseren Ehrgeiz daransetzen, nicht-sichtbare Werke ausfindig zu machen.
Natürlich zwingt uns die historische Wahrheitspflicht zu erwähnen, dass die vom Präsidenten zitierte »lobenswerte und nötige Anstrengung, auf das Privileg des Hörbaren zu verzichten« allem Anschein nach keineswegs so freiwillig oder friedlich war wie es die Bezeichnung »Anstrengung« suggeriert: Immerhin endete sie mit dem Abschied der Ornotholinguistik aus unserer Gesellschaft.6 Wir müssen jedoch nicht zwingend auf diese traurige Begebenheit zurückkommen, konzentrieren wir uns lieber auf das eigentlich Revolutionäre am Vorschlag des Präsidenten: Es gelte unter allen Umständen mit dem Privileg des Sichtbaren zu brechen, das die Zukunft der Forschung erheblich einschränke. Es sei fortan Aufgabe der Therolinguistik, sich mit der Entdeckung und Übersetzung der nichthörbaren und nicht-sichtbaren Spuren zu beschäftigen. Für den Präsidenten bestand kein Zweifel: Solche Spuren musste es geben, und sie hatten einen Sinn. Dieser Sinn kann indes nur erkannt werden, wenn man die Auswirkungen untersuchte, deren Ausmaß selbst zu dieser Zeit noch kaum vorstellbar war.
Der Präsident fand kein Gehör. Die Therolinguist:innen waren der Aufgabe einer solchen Methodenerneuerung nicht gewachsen, diese Wissenschaft stieß an ihre eigenen Grenzen, ja wurde geradezu obsolet. Entsprechend wurde beschlossen …
[Die folgenden Blätter sind verloren gegangen. In Anbetracht der späteren Ereignisse können wir allerdings annehmen, dass in diesem Moment die Entscheidung gefallen ist, eine neue Gesellschaft zu gründen: für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften. Die Gesellschaft für Therolinguistik setzte ihre Forschungen fort – und profilierte sich mit ihrem neuen Namen »klassische Therolinguistik« –, ohne sich jedoch an der Studie beteiligen zu wollen, um die es in den vorliegenden Unterlagen geht.]
Archiv Nr. 451 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Auszug aus einem Brief von Misses Frederic Lyman Wells an Doktor A. Bishop, Psychiater, Professor an der Harvard Medical School, 15. Februar 1936
Lieber Doktor Bishop, gerne antworte ich auf Ihre Frage und informiere Sie hiermit über den Gesundheitszustand meines Mannes, Ihres Kollegen Frederic Lyman Wells. Er ist offen gestanden bedenklich, ja hat sich sogar noch weiter verschlimmert. Gegen Ihre ausdrückliche Warnung wollte er die im vergangenen Sommer begonnenen Forschungen unbedingt wiederaufnehmen. Sie hatten die Vermutung geäußert, dass der übermäßige Gebrauch der Stimmgabel möglicherweise für seinen damals aufgekommenen Tinnitus verantwortlich sein könne. Doch er bestreitet nicht nur diese Vermutung, sondern behauptet außerdem, es handle sich gar nicht um einen Tinnitus7. Er bricht jeden Morgen in aller Frühe zu dem etwa 40 Kilometer entfernten Feld bei Hopkinton auf und bleibt dort den ganzen Tag. Man bekommt ihn kaum noch zu sehen, weder im Labor für Psychologie noch in der Klinik, wo er eigentlich seine Testauswertungen durchführen sollte. Manchmal bin ich ihm nachgegangen und habe ihn angefleht, wieder nach Hause zu kommen. Er schlug jedoch nur die Stimmgabel an und notierte fieberhaft jede einzelne Reaktion der Spinnen auf die Vibrationen. Mittlerweile bezeichnet er sich als ihr experimenteller Choreograf und beteuert, dass die Vibrationen, denen er sie aussetzt, indem er die Stimmgabel mal auf einen Faden des Netzes, mal auf eine seiner Halterungen, mal direkt an den Körper der Spinne hält, elegante Bewegungen auslösen, die er sich vorherzusehen bemüht. Die Spinnen tanzen zu stummen Klängen, sagt er. Doch meine eigentliche Sorge betrifft seinen Tinnitus, der sich trotz aller gegenteiligen Beteuerungen erheblich verschlimmert zu haben scheint. Mein Mann behauptet mittlerweile, dass die den Vibrationen ausgesetzten Spinnen Botschaften senden, die er hören kann. Angeblich antworten sie ihm! Auf Ihren Rat hin habe ich mir seine Notizbücher angeschaut und darin so sonderbare Dinge gefunden, dass ich das Schlimmste befürchten muss. Am 21. Dezember: »Respekt für die Rechte der Wirbellosen!« (*)8; am 3. Januar: »Hüte dich vor der geologischen Vergeltung, wenn du redest, ohne zu fragen!« (*). Wenn ich mich genauer erkundige, behauptet er, es handle sich um Orakel oder vielmehr orakelhafte Warnungen. Letzten Montag bekam er die angebliche Botschaft »Frage die mit den besseren Sinnen nach der Richtung« (*), woraufhin er das Haus in einem Zustand höchster Erregung verließ. Ich habe ihn zwei Tage lang nicht mehr zu Gesicht bekommen. Dementsprechend bin ich, wie Sie sich denken können, zutiefst beunruhigt.
Mit freundlichen Grüßen …
Archiv Nr. 452 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Auszug aus der Antwort von Doktor A. Bishop auf den Brief von Misses Wells, 27. Februar 19369
Liebe Misses Wells, bitte entschuldigen Sie zunächst meine verzögerte Antwort auf Ihren Brief vom 15. Februar, aber es war mir ein Anliegen, Ihren Gatten vorher noch einmal zu sehen. Während unseres ausführlichen Gesprächs hat er mir versichert, dass er keine Beschwerden oder Sorgen mehr habe. Daraufhin habe ich Ihre Beunruhigung wegen der Stimmen, die er zu hören meint, angesprochen und ihn gefragt, ob es sich dabei um eine Folge der zuvor aufgetretenen Symptome handeln könne. Ich war ziemlich überrascht, dass er meine Frage bejahte – von Symptomen allerdings könne keine Rede sein. Ich erinnerte ihn an einen Satz, den er gern wiederholte: »In Wirklichkeit hören wir, was wir zu hören erwarten.« Das stimmt, räumte er ein, treffe aber nur auf eine artikulierte Sprache wie die der Menschen zu – das sei im Übrigen Gegenstand seiner Doktorarbeit gewesen, in deren Rahmen er 1906 die Lapsi linguae untersucht habe und dabei auf das Problem einer verzerrten Wahrnehmung von Klängen gestoßen sei. Ist das denn nicht auch jetzt der Fall?, wagte ich einen Vorstoß. Nur, dass die falschen Wahrnehmungen von Klängen ausgehen und auf die Wörter übertragen werden, sagte er, was hier nicht zutrifft. Es seien keine echten Klänge, sondern Empfindungen gezielter Vibrationen, und es seien keine echten Wörter, sondern, ich zitiere, »Bedeutungsimpulse«. Ich fragte ihn also, ob diese Vibrationen nicht dem glichen, was er im Labor untersucht habe, nämlich die elektrischen Reaktionen des menschlichen Körpers (insbesondere in Form einer elektrodermalen Antwort) auf emotionale Veränderungen. In diesem Fall wäre also Ihr Trommelfell für die Weiterleitung der elektrischen Wellen zuständig und nicht Ihre Haut? Auch wenn er die Hypothese elektrischer Wellen für akzeptabel hielt, hätten sie keinen endogenen Ursprung, sondern gingen tatsächlich auf die Spinnen zurück. Er forsche übrigens in dieser Richtung weiter, indem er die Frequenzen der Stimmgabel verändere, um den Spinnen auch anders geartete Antworten auf seine Stimulierungen zu entlocken.
Zugegebenermaßen fällt es mir sehr schwer, ihm vorzuschlagen, sich einer Reihe von Tests zu unterziehen. Er ist nicht nur einer der bedeutendsten Spezialisten, auch sein Vertrauen in diese Tests scheint mir paradoxerweise bedingt, denn immerhin hat er in einem vor knapp einem Jahr veröffentlichten Artikel geschrieben, man dürfe »das Werk von Rorschach genauso wenig wie das von Binet als einen den Heiligen offenbarten Akt des Glaubens betrachten«.
Dennoch habe ich ihm geraten, seine Forschungstätigkeit mit den Spinnen einzustellen, da diese nicht nur seiner Gesundheit schaden könne, sondern auch seiner Karriere, indem sie ihn von seiner Lehrtätigkeit und seiner klinischen Arbeit abhalte. Ausgeschlossen, entgegnete er mir: Ich beschäftige mich gerade mit der Entdeckung, dass die Argiope aurantia nicht nur je nach Reifegrad und Jahreszeit (ihre Aggressivität nimmt nach dem Frühjahr ab), sondern auch individuell ganz unterschiedlich reagieren. Sie sind eigenständige Persönlichkeiten. Eine von ihnen, eine erwachsene Spinne, zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass sie sich auf den Boden fallen lässt, sobald ich näherkomme (was die Stimmgabel-Experimente in ihrem Fall erheblich erschwert). Noch erstaunlicher ist, dass sie sich im Vergleich zu anderen Individuen mit identischem Reifegrad völlig anders verhält, wenn ich mit der Stimmgabel ihren Rücken berühre, ohne das Netz zu streifen. Anstatt anzugreifen und dabei die ersten beiden Beine vorzustrecken, um den Angreifer zu packen, wie es eine gleichaltrige aurantia normalerweise tun würde, zeigt sie das typische Verhalten unreifer Spinnen: Sie kriecht aus der Mitte quer über das Netz und begibt sich auf der anderen Seite in die gleiche mittige Position – das sogenannte »Pendeln«. Eine ihrer Artgenossinnen pendelte, von der Stimmgabel am Bauch berührt, ebenfalls, aber so, dass sie dem Instrument möglichst nahe blieb. Eine weitere Spinne zeigt diese Reaktion, sobald ich mich ihr nähere.10
Leider, gnädige Frau, konnte ich nicht alle Beobachtungen festhalten, mit denen er seine Begeisterung untermauerte, ich denke aber, dass dieser kurze Auszug Ihnen bereits zeigt, wie schwer wir es haben werden, ihn zu einem Verzicht auf seine Forschungen zu bewegen. Ich kann Sie nur ermutigen, sich in Geduld zu üben und darauf zu vertrauen, dass er keine Beschwerden mehr hat. Wissenschaftler sind manchmal exzentrisch, erst recht, wenn sie mit Leidenschaft bei der Sache sind. Als praktizierender Arzt kann ich Ihnen nur raten, ihn, wenn diese Freizeitbeschäftigungen mit Ihren eigenen Pflichten vereinbar sind, bei seinen Feldstudien zu begleiten und seinen, sagen wir, seltsamen Reden nicht zu viel Beachtung zu schenken. Gleichgültigkeit ist oft das beste Mittel gegen Äußerungen von Extravaganz.
Mit freundlichen Grüßen …
[Wir wollen festhalten, dass F. L. Wells parallel zu dem Beitrag, der die im Gespräch mit Doktor Bishop erwähnten Beobachtungen festhält (»›Shuttling‹ in Argiope aurantia«), im Juli desselben Jahres einen anderen Beitrag, »Psychometric Practice in Adults of Superior Intelligence« (American Journal of Orthopsychiatry, Bd. 6, S. 362–375), veröffentlichte, was darauf hinzuweisen scheint, dass er seine Forschungen im Bereich der Humanpsychologie nicht aufgegeben hat. Im Jahresbericht der Kommission für psychische Gesundheit von Massachusetts (November 1938) haben wir jedoch entdeckt, dass Wells als Leiter der psychologischen Abteilung zurückgetreten war, um sich, so ist zu lesen, seinen Forschungen an der Harvard University zu widmen (?). Wir wissen nicht, welchen Schluss wir daraus ziehen sollen. Wells scheint seine Kollegen nicht weiter beunruhigt zu haben (wir finden jedenfalls keinerlei Erwähnung von Tinnitus oder Stimmen) und auf eine lange Karriere zurückblicken zu können. Im Ruhestand sollte er sich ganz den Spinnen zuwenden, er starb 1964 im Alter von achtzig Jahren.]
Archiv Nr. 568 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
Wissenschaftlicher Vermerk von Tamara Cesnosceo, promovierte Biotremologin11, an die Mitglieder der Gesellschaft
Nach der Lektüre der Akte F. L. Wells und einiger ähnlicher Fälle konnten wir genügend Vorgeschichten vereinen, die einen Zusammenhang zwischen der Spinnenforschung mithilfe der Stimmgabel und dem Auftreten eines Tinnitus bei entsprechend exponierten Individuen belegen. Nicht alle scheinen das komplette Krankheitsbild von F. L. Wells zu präsentieren, aber wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass viele Individuen bestimmte Eigenheiten der an sich selbst beobachteten Veränderungen lieber unerwähnt gelassen haben. Obwohl wir also einen statistischen Zusammenhang sehen zwischen den Stimmgabel-Forschungen und dem, was in Ermangelung eines besseren Begriffs als »Tinnitus« bezeichnet wird, bleibt diese Verknüpfung in Bezug auf die Variable sogenannter »Botschaften« statistisch unbrauchbar – nicht alle an einem Tinnitus leidenden Arachnologen zeigen diese (scheinbar) besondere halluzinatorische Form.
Unseren Forschungen zufolge lässt sich der erste Fall auf das Jahr 1880 datieren. Es handelt sich um einen Wissenschaftler aus dem Physiklabor in South Kensington, Charles Vernon Boys, von dem wir eine Veröffentlichung in Nature12 gefunden haben. Selbstverständlich ist in diesem Beitrag nicht von einem Tinnitus die Rede. Doch konnten wir Berichte ehemaliger Studierender von C. V. Boys aufspüren, denen zufolge dieser ab einem bestimmten Zeitpunkt ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt haben soll. Nach manchen dieser Berichte soll er Hörstörungen gezeigt und sich am Rednerpult manchmal fälschlicherweise angesprochen geglaubt haben. Im Rahmen unserer Nachforschungen haben wir außerdem herausgefunden, dass der Schriftsteller H. G. Wells in seinem 1926 veröffentlichten Roman The World of William Clissold diesen C. V. Boys erwähnt. Unseres Wissens steht der berühmte Romanautor übrigens in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu dem Psychologen und Hobby-Spinnenforscher Frederic Lyman Wells (1884–1964), der ebenfalls an einem Tinnitus litt. In Bezug auf Boys indes haben wir die Gewissheit, dass es sich um besagten C. V. Boys handelt, da der Verfasser des Romans diese Begebenheit in dem erwähnten Physiklabor in Kensington spielen lässt (ein Zufall wäre höchst unwahrscheinlich). Nach Wells’ Einschätzung soll Boys ein erbärmlicher und überaus langweiliger Lehrer gewesen sein, dafür aber der herausragendste Forscher, dem er je begegnet sei. Viel mehr sagt Wells nicht dazu, ebenso wenig wie er die Spinnenforschungen oder ein möglicherweise auffälliges Verhalten erwähnt.
Offenbar aber ist der Roman in seiner endgültigen Fassung von anstößigen Stellen gesäubert worden. Dem Tagebuch eines Neffen des Schriftstellers ist zu entnehmen, dass es einen (inzwischen leider verschollenen) Entwurf gegeben haben muss, der der Figur deutlich mehr Raum gegeben hatte. Wells habe dort zahlreiche Seltsamkeiten beschrieben, etwa die Tatsache, dass Boys sich bei seinen Forschungen, je nach Wachzustand, angeblich von »eingesponnenen Tagträumereien« oder »arachno-kosmischen Träumen« habe leiten lassen: bei der Erfindung eines Radio-Mikrometers, das in der Lage war, in anderthalb Kilometern Entfernung eine Kerze ausfindig zu machen, sowie auch bei seinen Forschungen zu Seifenblasen.
Auch wenn die Authentizität des besagten Romanfragments nicht bezeugt ist, können wir doch bestätigen, dass der echte C. V. Boys der Erfinder des Radio-Mikrometers gewesen ist und der Verfasser von Soap Bubbles: Their Colours and the Forces Which Mould Them, ein Buch, das zu Beginn der 1890er-Jahre einen beachtlichen Erfolg hatte. Darüber hinaus gehen wir, auch ohne Beweise, davon aus, dass beide Forschungsthemen eng mit den Spinnen verknüpft sind. Wir haben sogar die Vermutung, dass Letztere die Forschungen eigentlich erst angeregt haben.13
In den Vorlesungsaufzeichnungen eines seiner Studenten haben wir die folgende Behauptung von Boys gefunden: »Nachdem ich mehrfach beobachtet hatte, wie sich die Spinnen auf meine Stimmgabel gestürzt haben oder an die Stelle im Netz, die diese beim Vibrieren berührt hatte, habe ich lange geglaubt und sogar geschrieben, dass sich die Spinnen so verhielten, als hätten sie nicht gewusst, dass ›auch andere Dinge außer ihrer natürlichen Nahrung summen‹. Ich täuschte mich darin. Sie wissen es sogar sehr gut. Nur wir verstehen es nicht, auf ihre Antwort zu antworten.«
Nach der entsprechenden Überprüfung findet sich dieser Satz (»die Spinnen hatten nicht gewusst«) tatsächlich in Boys’ 1880 in der Zeitschrift Nature erschienenem Beitrag über die Spinnen, was für die Zuverlässigkeit der Aufzeichnung zu sprechen scheint.
Fazit: Wir müssen zunächst klarstellen, dass solche zu Beginn der Stimmgabel-Forschungen eher seltenen Tinnitus-Fälle in den letzten Jahren vermehrt vorgekommen sind, ohne dass es einen offensichtlichen Grund für diese unter den Arachnologen grassierende Epidemie zu geben scheint.
Die Tatsache, dass immer mehr Forscherinnen und Forscher, die mit einem vergleichbaren Verfahren die Spinnen studieren, kürzlich tinnitusartige Symptome an sich bemerkt haben, darf jedoch nicht vorschnell zu der gern angeführten Schlussfolgerung führen, daran sei die Stimmgabel schuld. Offenbar hatte der Gebrauch vergleichbarer Instrumente (zum Beispiel einer elektrischen Zahnbürste im Jahr 2013) andere Konsequenzen. Insofern glauben wir die Hypothese aufstellen zu dürfen, dass die Spinnen selbst für diese Sinneswahrnehmungen bei den betreffenden Personen verantwortlich sind. Außerdem können wir auf dem derzeitigen Wissensstand zwar nicht mit Sicherheit behaupten, dass die Spinnen uns etwas zu sagen versuchen, dürfen berechtigterweise aber davon ausgehen, dass es etwas gibt, was Gehör verdient. In diesem Sinne wollen wir die Gesellschaft ausdrücklich dazu ermutigen, die diesbezüglichen Forschungen weiter zu vertiefen.
Archiv Nr. 689 (Bestände der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften)
E-Mail von E. B. Trovato, promovierter Geopsychologe, an Tamara Cesnosceo und den Vorsitzenden der Gesellschaft für kosmophonische und paralinguistische Wissenschaften
Drei Anhänge (nicht zugänglich)
Betreff: Es ist kein Tinnitus
Liebe Kollegin, sehr geehrter Herr Vorsitzender, mit dieser E-Mail möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass wir der Zeitschrift Geopsychopathologie demnächst einen kurzen Beitrag anbieten wollen über die ersten Forschungen, die wir dank des großzügigen Stipendiums Ihrer Gesellschaft in Angriff nehmen konnten. Im Folgenden finden Sie die wesentlichen Elemente.
Bis heute haben wir 30 Individuen mit Symptomen, die dem gemeinhin als Tinnitus bezeichneten Phänomen ähneln, untersucht. Bei 15 von ihnen handelt es sich um Arachnolog:innen, die sich mit den Auswirkungen der durch Stimulation hervorgerufenen Vibrationen auf Spinnen beschäftigt haben (die beobachteten Arten sowie das in den jeweiligen Untersuchungsphasen verwendete Material werden unter dem Punkt »Methodologie« beschrieben, siehe Anhang). Die anderen 15 sind menschliche Patient:innen, die ohne ein besonderes Verhältnis zu Spinnen an einem Tinnitus leiden – wir haben unser Experiment ausschließlich auf Menschen beschränkt, um die Anzahl der möglichen Variablen zu begrenzen und weil dieses Krankheitsbild bei nicht-menschlichen Wesen nur schwer auszumachen ist.