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Eltern, die sich an einer kindgerechten Erziehung orientieren möchten, brauchen das Standardwerk von Remo H. Largo in seiner neuesten Ausgabe: die »Babyjahre« komplett aktualisiert und erweitert. Seit Jahren führen seine Bücher die Longsellerlisten an, »Babyjahre« ist längst ein Klassiker. In diesem Erziehungsbuch über die ersten vier Lebensjahre gelingt es dem renommierten Schweizer Kinderarzt die Eltern an ihr Kind heranzuführen, ihnen sein Wesen verständlich und sie damit im Umgang mit ihrem Kind kompetenter zu machen. So vertrauen Hunderttausende Eltern und Großeltern auf Largos Konzept von der Einmaligkeit jedes Kindes und seiner individuellen Entwicklung. Jetzt hat Largo sein Standardwerk komplett überarbeitet und aktualisiert.
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Seitenzahl: 617
Veröffentlichungsjahr: 2017
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Von Remo H. Largo liegen im Piper Verlag vor:
Babyjahre
Kinderjahre
Glückliche Scheidungskinder (mit Monika Czernin)
Schülerjahre (mit Martin Beglinger)
Jugendjahre (mit Monika Czernin)
Lernen geht anders
ISBN 978-3-492-96571-2
Vollständig überarbeitete Neuausgabe
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007, 2017
Redaktion der Neuausgabe: Margret Trebbe-Plath
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Coverabbildung: Achim Binz
Konvertierung: bureau23, Mainz
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Für
Eva, Kathrin und Johanna,
Jana und Remo,
Aron und Miguel,
Brigitt und Sibi
Die größte Bereicherung meines Lebens waren für mich als Vater, Arzt und Wissenschaftler die Kinder. Sie haben mich in meiner langjährigen klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit das Staunen über das menschliche Wesen und seine Welt gelehrt. Meine wohl größte Einsicht war: Jedes Kind ist einzigartig. Es will auch so wahrgenommen werden und seine Begabungen auf seine Weise und in seinem Tempo entfalten. Dies ist die Botschaft, die ich Eltern und allen, die sich mit Kindern beschäftigen, mit den »Babyjahren« überbringen möchte.
Wesentliches über die Freuden und Sorgen als Eltern würde in diesem Buch fehlen oder wäre nur trocken abgehandelt worden, ohne die Erfahrungen, die ich als Vater von drei nun erwachsenen Töchtern und vier Enkelkindern machen durfte. Ich habe erlebt, wie mühselig es ist, wenn man mehrmals pro Nacht aufstehen muss, um einen schreienden Säugling zu beruhigen. Schlimmer noch, wenn man anschließend den Schlaf nicht mehr findet, wach im Bett liegt und sich vorstellt, wie man sich übermüdet durch den morgigen Tag quälen wird. Ich weiß auch, wie ein »schlechter Esser« Eltern, selbst wenn sie Ärzte sind, beunruhigen kann. Wunderbar aber ist es, als Eltern mitzuerleben, wie die Kinder größer werden und die Welt entdecken. Die Lebensfreude der Kinder, ihr nie nachlassender Drang, ihre Begabungen zu entfalten, und vor allem auch ihr unverfälschtes Wesen, dem wir als Eltern größte Sorge tragen müssen, konnte ich – so hoffe ich – in den »Babyjahren« zum Ausdruck bringen.
Eine neuerliche Überarbeitung dieses Buches ist notwendig geworden, da sich Familie und Gesellschaft, aber auch unsere Sicht auf das Kind in einem rasanten Wandel befinden. Die Rollen von Mann und Frau und damit auch von Mutter und Vater verändern sich ständig. Immer mehr Mütter sind berufstätig und immer mehr Väter engagieren sich in der Familie. Patchworkfamilien und alleinerziehende Eltern prägen zunehmend das Familienleben. Und dann ist da noch die Digitalisierung, die die Welt der Eltern und Kinder nachhaltig verändert. Die Eltern fühlen sich durch all diese Veränderungen in ihrem Privatleben und bei der Arbeit immer mehr unter Druck gesetzt. So ist es für viele sehr schwierig geworden, Familie und Beruf in Übereinstimmung zu bringen. Dieser Druck wirkt sich leider auch auf die Kinder aus. Sie müssen oftmals bereits in den ersten Lebensjahren und dann vor allem im Schulalter Erwartungen von Eltern und Lehrern erfüllen, die nicht kindgerecht sind und die sie daran hindern, sich so zu entwickeln, wie es ihrem Wesen entspricht. In dieser schwierigen und schnelllebigen Zeit möchte ich mit den »Babyjahren« die Eltern in ihrem Bemühen unterstützen, den Bedürfnissen der Kinder, wie auch ihren eigenen möglichst gerecht zu werden.
Das bewährte Konzept von »Babyjahre« habe ich bei der Überarbeitung beibehalten. Das Buch will nach wie vor kein Ratgeber für Problemsituationen sein. Es möchte vielmehr den Eltern die Bedürfnisse und Eigenheiten des Kindes nahebringen, damit sie möglichst entwicklungsgerecht mit ihm umgehen können. In den vergangenen Jahrzehnten habe ich die Erfahrung gemacht, dass Eltern, die ihr Kind mit seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten, mit seinen Gefühlen und Vorstellungen verstehen und akzeptieren, keine Ratschläge brauchen. Sie sind, so wie es sich ihre Kinder wünschen, kompetente Eltern.
Es ist mir ein großes Anliegen, nachdrücklich auf die emotionalen und sozialen Bedürfnisse hinzuweisen, die es zu befriedigen gilt, damit sich das Kind möglichst gut entwickeln kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kind-Eltern-Bindung, der familienergänzenden Betreuung und den Erfahrungen zu, die Kinder miteinander machen.
Ich möchte die Eltern weiterhin in der zuversichtlichen Grundhaltung bestärken, dass sich ihr Kind aus sich heraus entwickeln will. Damit es seine Begabungen entfalten kann, soll es selbstbestimmt die notwendigen Erfahrungen, etwa in der Natur, machen können. Das Kind darin zu unterstützen, ohne es dabei zu über- oder zu unterfordern, ist zu einer großen Herausforderung geworden. Echte Förderung besteht darin, dem Kind zu Erfahrungen zu verhelfen, die es selbstbestimmt machen kann.
Ein Schwerpunkt der »Babyjahre« nach der Überarbeitung besteht weiterhin darin, auf die enorme Vielfalt in der kindlichen Entwicklung und die Einzigartigkeit jedes Kindes hinzuweisen. Wie unterschiedlich sich Kinder entwickeln, wird ausführlich beschrieben und anhand zahlreicher Grafiken in allen Entwicklungsbereichen wie Motorik, Sprache oder Schlafverhalten dargestellt. Der Individualität ihres Kindes in jedem Entwicklungsbereich und in jeder Altersperiode aufs Neue gerecht zu werden ist vielleicht die größte Aufgabe, die Eltern zu erfüllen haben.
Die Angaben über die Vielfalt und die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung beruhen weitgehend auf den Daten der Zürcher Longitudinalstudien, die zwischen 1954 und 2005 am Universitätskinderspital Zürich erhoben wurden. In diesen Studien wurde die Entwicklung bei mehr als 900 Kindern von der Geburt bis ins Erwachsenenalter umfassend untersucht. Manche Leserin und mancher Leser mögen sich nun zu Recht fragen, ob diese Daten für ihr Kind überhaupt noch gültig sind, etwa bezüglich Wachstum, Sauberkeitsentwicklung, Schlaf- und Spielverhalten. Sie sind es, und zwar einfach deshalb, weil sich die Entwicklung und das Wachstum in den letzten Jahrzehnten kaum mehr verändert haben. So werden die Kinder nicht mehr größer. Sie werden im gleichen Alter trocken und sauber und schlafen gleich viel. Ihre Spielsachen sind wohl ganz andere als in den 1960er-Jahren, aber sie spielen immer noch auf dieselbe Art und Weise wie damals. Leser und Leserinnen, die mehr über die Zielsetzung, Durchführung und Ergebnisse der Zürcher Longitudinalstudien erfahren möchten, finden nähere Angaben im Anhang.
Die erneute Überarbeitung des Buches ist dann gelungen, wenn die »Babyjahre« auch weiterhin einen Beitrag dazu leisten, Eltern und Fachleuten Wesen und Welt des Kindes näherzubringen sowie Freude und Faszination an der kindlichen Entwicklung zu vermitteln.
Remo H. Largo
Uetliburg, Juni 2017
Sara ist gerade auf die Welt gekommen. Sie wiegt 3,5 Kilogramm, hat einen wohlgeformten Kopf und volle Wangen, runde Arme und Beinchen. Sie schreit kräftig und strampelt lebhaft. Immer wieder blickt sie Mutter und Vater mit großen Augen an.
Die Eltern von Sara sind überglücklich: Sie haben ein Kind. Auch Stunden nach der Geburt sind sie immer noch von Dankbarkeit überwältigt. Immer wieder schauen sie Sara an und erfreuen sich an jeder kleinsten ihrer Regungen. Für die Eltern gibt es von nun an nichts Wichtigeres als ihre Tochter.
In einigen Tagen werden sie mit Sara nach Hause zurückkehren, und spätestens dann wird ihnen bewusst werden: Wir haben nun die alleinige Verantwortung für dieses kleine Wesen, und das für etwa die nächsten 20 Jahre. Werden wir Sara gerecht werden können? Fragen, die sie in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten besonders beschäftigen werden, sind:
Welche körperlichen Bedürfnisse hat Sara? Wie können wir sie befriedigen? Wie viel körperliche Nähe und Zuwendung braucht unser Kind?Wie wird sich Sara entwickeln? Was können wir zu ihrer Entwicklung beitragen? Wie können wir unsere Tochter am besten fördern?Wie erziehen wir Sara? Wann bestimmt sie, und wann bestimmen wir?Welche Bedeutung hat Sara für uns als Eltern? Wie sehr wird sie unser Leben verändern? Wie kann uns der Spagat zwischen Kinderbetreuung einerseits und Partnerschaft, Arbeit und eigenen Interessen andererseits gelingen?In diesem einleitenden Kapitel geht es darum, was Eltern tun können, damit ihr Kind seine Begabungen voll entfalten und ein gutes Selbstwertgefühl und eine gute Selbstwirksamkeit entwickeln kann. Einmal erwachsen, sollte es von sich sagen können: Ich mag mich so wie ich bin. Ich kann in dieser Welt erfolgreich bestehen.
Was sich alle Eltern wünschen: ein lebensfrohes Kind. [7]
Wir alle haben als Eltern unsere eigenen Vorstellungen darüber, wie sich Kinder entwickeln, etwa über das Alter, in dem sie frei gehen oder die ersten Worte sprechen sollten. Manche Eltern orientieren sich an Normvorstellungen und legen großen Wert auf Frühförderung, weil sie sich davon erhoffen, dass sich diese langfristig positiv auf die Entwicklung ihres Kindes auswirken wird. Bestimmend für ihre Rolle als Eltern sollten aber weniger Erwartungen als vielmehr das Kind als einzigartiges Wesen sowie die Grundelemente und Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung sein.
Ein Kind kann sich dann gut entwickeln, ist beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv, wenn die Eltern dafür sorgen, dass seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse ausreichend befriedigt sind. Körperliches Wohlbefinden setzt Gedeihen und Gesundheit voraus. Hunger und Durst, aber auch andere körperliche Bedürfnisse wie Schutz vor Kälte oder trockene und saubere Kleidung wollen zuverlässig befriedigt sein. Nur wenn das Kind ausreichend ernährt, gepflegt und gesund ist, kann es sich körperlich und psychisch voll entfalten. Wie nachteilig sich Mangel- und Unterernährung, aber auch Krankheiten auf die Entwicklung von Kindern auswirken können, erfahren wir täglich durch Medienberichte aus armen Ländern.
Eltern freuen sich, wenn ihr Kind gesund ist. Ein Säugling, der viel trinkt, oder ein Kleinkind, das kräftig isst, bestätigt den Eltern, dass sie gut für ihr Kind sorgen. Hat ein Kind hingegen kaum Appetit, kann es nicht nur Mutter und Vater, sondern die ganze Verwandtschaft ängstigen. Eltern fragen sich daher: Wie viel Milch muss ein Säugling trinken? Wann sollten wir mit der Beikost beginnen? Für alle diese Fragen gibt es Richtlinien, zum Beispiel auf der Packung der Säuglingsmilch. Diese Angaben entsprechen dem einzelnen Kind aber oftmals nicht, weil die Bedürfnisse von Kind zu Kind sehr verschieden sind. Manche Säuglinge trinken nur halb so viel Milch wie andere Gleichaltrige. Das Interesse und damit auch die Bereitschaft, Beikost zu essen, stellt sich bei jedem Kind in einem anderen Alter ein. Ein Kind gedeiht dann am besten, wenn sich die Eltern an seinen körperlichen Bedürfnissen orientieren. Zu wenig ist immer abträglich, aber zu viel ist keineswegs immer besser und kann sogar nachteilig sein.
Geborgenheit [7]
Genauso wichtig wie Ernährung, Pflege und Schutz sind für das Kind Geborgenheit und emotionale Zuwendung. Ein Kind, das in seinem psychischen Wohlbefinden beeinträchtigt ist, etwa weil die Mutter krank ist und niemand sonst sich ausreichend um das Kind kümmert, kann in seinem Wachstum und in seiner Entwicklung erheblich eingeschränkt sein (Brisch et al. 2002, Rutter 1976, Ernst 1985). Geborgen fühlt sich ein Kind dann, wenn ihm vertraute Personen das Gefühl geben, nicht allein zu sein, und wenn seine Bedürfnisse zuverlässig befriedigt werden. Zuwendung erhält das Kind nicht nur durch Liebkosungen, sondern auch durch einen vielfältigen Austausch mit vertrauten Personen.
Was für die Ernährung und Pflege gilt, trifft auch für die Zuwendung zu: Das Kind entwickelt sich nicht umso besser, je mehr Zuwendung es erhält. Auch das Umsorgtwerden hat seine Grenzen und bei deren Überschreiten gar nachteilige Folgen. Genauso wie mit der Überfütterung verhält es sich mit der Überbehütung. Sie vermehrt nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer emotionalen Abhängigkeit und macht es unselbstständig. Es ist häufig verstimmt, je nach Temperament ängstlich oder aggressiv und zeigt wenig Neigung, eigene Erfahrungen zu machen.
Es gilt also im Umgang mit den kindlichen Bedürfnissen, diese angemessen zu befriedigen, ohne dem Kind etwas aufzudrängen, damit es sich möglichst selbstständig entwickeln kann.
Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Die ersten 5 Lebensjahre machen zeitlich etwa ein Drittel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren eignen sich die Kinder jedoch alle wesentlichen Fähigkeiten wie die Sprache weitgehend an. Sie kommen als kleine, hilflose Wesen auf die Welt, können sich kaum bewegen, nur wenig kommunizieren und kaum Einfluss auf die Umwelt nehmen. Mit 5 Jahren besitzen sie differenzierte fein- und grobmotorische Fähigkeiten und beherrschen die Alltagssprache. Sie können einigermaßen kompetent mit ihren Mitmenschen umgehen und verfügen über erste geistige Vorstellungen, etwa über Kausalität, Raum und Zeit.
Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermaßen durch Einheitlichkeit und Vielfalt aus. Einheitlich verläuft der Entwicklungsprozess: Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung als Erstes bestimmte Phasen der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken.
Sehr vielfältig hingegen verläuft die Entwicklung von Kind zu Kind, wenn wir auf das zeitliche Auftreten von Entwicklungsstadien und die Ausprägung von Verhaltensweisen achten. Bereits Neugeborene sind unterschiedlich groß und schwer. Manche haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander auch in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewegungsverhalten. Im Verlauf der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. Ende des 1. Lebensjahres sind manche Kinder 8, andere bis zu 13 Kilogramm schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte bereits mit 10 Monaten, die meisten mit 12 bis 16 und einzelne nicht vor 18 Monaten. Das eine Kind spricht erste Wörter mit 10 bis 12 Monaten, die meisten Kinder mit 15 bis 24 Monaten, und bei manchen lassen die ersten Wörter bis ins Alter von 30 Monaten auf sich warten. Es gibt keine Fähigkeit und kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter aufträte und gleich ausgeprägt wäre.
Kinder unterscheiden sich nicht nur deutlich voneinander, das einzelne Kind ist auch in sich unterschiedlich weit entwickelt; die verschiedenen Entwicklungsbereiche wie Sprache oder Motorik sind ungleich fortgeschritten. So kann es vorkommen, dass ein Kind bereits mit 12 Monaten läuft, die ersten Wörter aber erst mit 24 Monaten spricht.
Wie Einheitlichkeit und Vielfalt zusammenwirken, ist in den Abbildungen am Beispiel des Erkundungsverhaltens dargestellt. Jedes Kind erkundet Gegenstände zuerst mit dem Mund, dann mit den Händen und schließlich mit den Augen. In welchem Alter ein Kind ein bestimmtes Erkundungsverhalten zeigt, in welcher Intensität und für welche Dauer ist von Kind zu Kind verschieden.
Erkunden von Gegenständen mit Mund, Händen und Augen. [16]
Jedes Kind will sich von sich aus entwickeln. Es hat einen enormen inneren Drang zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Wenn es einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, beginnt es von selbst, nach Gegenständen zu greifen, sich fortzubewegen und sich sprachlich auszudrücken. Diese Bereitschaft des Kindes, sich zu entwickeln, wird von vielen Eltern als Entlastung und sogar als Geschenk empfunden. Sie müssen sich nicht ständig darum bemühen, dass ihr Kind Fortschritte macht. Es braucht nicht besonders »gefördert« zu werden. Das Kind entwickelt sich aus sich heraus, solange es sich körperlich und psychisch wohlfühlt und die Erfahrungen machen kann, die es für seine Entwicklung benötigt. Die Herausforderung für die Eltern besteht also darin, einerseits die körperlichen und psychischen Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen und andererseits seine Umwelt so zu gestalten, dass es die notwendigen Erfahrungen machen kann. Keine leichte Aufgabe, treten doch alle Entwicklungsstadien und Verhaltensweisen bei jedem Kind in unterschiedlichem Alter auf und sind verschieden ausgeprägt. Wie können Eltern ihrem Kind möglichst gerecht werden?
Vieles, was Eltern tun, geschieht, ohne dass sie ihr Handeln bewusst planen. Sie erfassen das Verhalten ihres Kindes intuitiv richtig. Wenn eine Mutter ihr Kind vom Bettchen aufnimmt, es in den Armen hält und durch Wiegen beruhigt, passt sie sich diesem intuitiv an. Sie spürt, wann und wie das Kind aufgenommen werden will, in welcher Haltung es sich am wohlsten fühlt, und wie sie es am leichtesten beruhigen kann. Ohne diese angeborene Fähigkeit, das individuelle Verhalten eines Kindes zu deuten und angemessen darauf zu reagieren, könnten Eltern ihre Kinder gar nicht großziehen.
Neben der Intuition spielen die eigenen Kindheitserfahrungen eine wesentliche Rolle. Wie sich die Eltern als Kind gefühlt und wie sie ihre eigenen Eltern erlebt haben, beeinflusst ihren Umgang mit dem Kind. Ihre Erziehungshaltung wiederum wird mit dem Größerwerden des Kindes immer stärker von gesellschaftlichen Grundhaltungen und Normvorstellungen bestimmt, die die Eltern aus Gesprächen mit Verwandten und Bekannten, Erziehern und Lehrern sowie von den Medien übernehmen. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von 3 Monaten nachts durchschläft, dass es mit 1 Jahr die ersten Schritte macht und mit 2 Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, da sie sich sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Sie erwarten beispielsweise, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft. Es gibt Kinder, auf die diese Annahme tatsächlich zutrifft, für die Mehrheit der Kinder gilt sie aber nicht. Manche Kinder schlafen länger, einige bis zu 15 Stunden pro Nacht, andere Kinder schlafen lediglich 9 bis 10 Stunden. Was geschieht, wenn Eltern ihr Kind um 7 Uhr abends in der Erwartung zu Bett bringen, dass es bis 7 Uhr morgens schläft, das Kind aber nur 10 Stunden schlafen kann? Das Kind wird abends nicht einschlafen, nachts mehrmals aufwachen oder morgens vorzeitig wach sein. Im ungünstigsten Fall haben die Eltern und das Kind unter allen drei Verhaltensauffälligkeiten zu leiden. Ein Kind, das nur 10 Stunden Schlaf pro Nacht braucht, entwickelt sich nicht besser, wenn es 12 Stunden im Bett verbringen muss.
Wie können sich Eltern von überlieferten Grundhaltungen, Normvorstellungen und fest gefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, sich auf das kindliche Verhalten einzustellen und das Kind jederzeit ernst zu nehmen, helfen dabei. Eltern, die wissen, dass der Schlafbedarf bei Kindern unterschiedlich groß ist, richten sich nicht mehr nach irgendwelchen Ratgebern. Sie achten vielmehr darauf, wie viel Schlaf ihr Kind braucht. Benötigt ihr Kind lediglich 10 Stunden Schlaf pro Nacht, passen sie die Schlafenszeit und die Zeit, die das Kind im Bett verbringt, seinem Schlafbedürfnis an.
Welche Eigenschaften sind bei unserem Kind angeboren und welche erziehungsbedingt? Ist sein Verhalten Ausdruck der Veranlagung oder der Art und Weise, wie wir mit ihm umgehen? Diese Fragen stellen sich Eltern spätestens dann, wenn ihnen das Kind Schwierigkeiten bereitet und sie als Erzieher verunsichert sind.
Eltern nehmen eine unterschiedliche Erziehungshaltung ein, je nachdem, welche Bedeutung sie der Erbanlage oder ihrem erzieherischen Einfluss zumessen. Wenn sie davon ausgehen, dass alle Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Kindes vererbt sind, werden sie zu Fatalisten: Die Natur nimmt ihren Lauf; als Erzieher sind sie nur Statisten. Wenn die Eltern der Meinung sind, die Umgebung, in der das Kind aufwächst, sei allein entscheidend für seine Entwicklung und sein Verhalten, laden sie sich eine übergroße Verantwortung auf: Das Kind ist dann ausschließlich das Produkt ihrer Erziehung. Die meisten Eltern gehen richtigerweise davon aus, dass für die kindliche Entwicklung Erbanlage und Umwelt gleichermaßen von Bedeutung sind. Auf welche Weise aber wirken sie zusammen?
Anlage und Umwelt sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Was die Anlage zur Entwicklung beiträgt, kann die Umwelt nicht leisten – und umgekehrt. Das Erbgut, welches das Kind zu gleichen Teilen von Mutter und Vater bekommt, enthält einen Entwicklungsplan mit den Anlagen für körperliche und psychische Eigenschaften. Allerdings bestimmt dieser Plan nur wenige der späteren Merkmale des Kindes ganz allein – etwa die Augen- und Hautfarbe. Damit sich die körperlichen oder psychischen Eigenschaften überhaupt ausbilden können, muss die Umwelt einen wesentlichen Beitrag leisten, etwa als Nahrung oder in Form von sozialen Erfahrungen. So ist die Körpergröße zwar als Zielgröße in den Genen festgelegt, verwirklicht werden kann sie aber nur, wenn die Umwelt das Ihrige, etwa mit einer ausreichenden und ausgewogenen Ernährung dazu beiträgt. Für die Entwicklung von Fähigkeiten wie Sprache und Sozialverhalten spielen Erfahrungen eine entscheidende Rolle, denn sie ermöglichen erst die Umsetzung des Entwicklungsplanes und bestimmen dessen Inhalte, beispielsweise welche Sprache oder soziale Regeln sich ein Kind aneignet. Umgekehrt aber lässt sich das in den Genen festgelegte Entwicklungspotenzial auch nicht einfach durch besonders »günstige« Umweltbedingungen erweitern. Kein Kind kann über die in seinem Entwicklungsplan festgelegten Fähigkeiten hinauswachsen. So macht eine besonders reichhaltige Ernährung das Kind nicht größer, sondern dick. Diese Einschränkungen bestehen in allen Entwicklungsbereichen. So folgt jedes Kind in seiner Sprachentwicklung seinem eigenen, in seinen Genen verankerten Entwicklungsplan – für das eine Kind ist darin eine rasche, für ein anderes eine langsamere Sprachentwicklung festgelegt. Machen die beiden Kinder, jedes in seinem Tempo, ausreichende soziale und sprachliche Erfahrungen, können beide ihr Sprachpotenzial entfalten. Ein Kind aber, das beim Sprechen ständig korrigiert wird, damit es endlich so »gut« spricht wie das Nachbarskind, kommt nicht schneller voran. Im Gegenteil, es wird durch übertriebene Förderung nur verunsichert und entwickelt sich schlimmstenfalls gar verlangsamt.
»Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht« (afrikanisches Sprichwort). Jedes Kind will sich auf seine Weise und in seinem Tempo entwickeln, es sollte daher weder über- noch unterfordert werden. Die Aufgabe der Eltern ist es, das Umfeld des Kindes so gestalten, dass es möglichst selbstbestimmt seine Fähigkeiten entfalten und sich Wissen aneignen kann.
Kinder zeigen bereits im frühen Alter Verhaltensweisen, die für die Eltern unverständlich sind und sie deshalb verunsichern oder ihnen gar Angst machen können. Wenn beispielsweise der junge Säugling alle Gegenstände, deren er habhaft werden kann, in den Mund steckt, fragen sie sich, warum er das tut. Nimmt er an, sie seien essbar? Eltern wundern sich aber nicht nur über sein Verhalten. Sie stellen sich auch erzieherische Fragen: Ist das nicht unhygienisch? Könnte ihr Kind nicht daran ersticken? Müssen sie ihr Kind davon abhalten?
Ein junger Säugling steckt Gegenstände in den Mund, um sie kennenzulernen. Indem er sie mit den Lippen und der Zunge betastet, erspürt er ihre Form, Größe, Konsistenz und Oberfläche. Der Mund und nicht das Auge ist das erste Sinnesorgan im Umgang mit der dinglichen Umwelt. Es ist also geradezu eine Notwendigkeit, dass der Säugling Gegenstände in den Mund nehmen kann. Diese Einsicht in sein Verhalten hilft Eltern, ihr Kind gewähren zu lassen. Wenn sie verstehen, warum ein Säugling alles in den Mund nimmt, werden sie seinem Treiben nicht mehr mit unguten Gefühlen zuschauen oder gar versuchen, das Mundeln zu unterbinden. Sie überlegen sich vielmehr, welche Gegenstände geeignet und ungefährlich sind, um dem Kind diese Sinneserfahrung zu ermöglichen.
Für jeden Entwicklungsschritt gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem das Kind innerlich bereit ist, sich eine Fähigkeit anzueignen. Diesen Zeitpunkt gilt es zu erfassen. Wann es so weit ist, zeigt das Kind mit seinem Verhalten an. In welchem Alter Kinder geistig und motorisch so weit entwickelt sind, dass sie beispielsweise selbst mit dem Löffel essen wollen, ist von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Einige Kinder sind bereits mit 10 bis 12 Monaten am Hantieren mit dem Löffel interessiert, andere erst mit 18 bis 24 Monaten. Versuchen die Eltern, dem Kind den Umgang mit dem Löffel beizubringen, bevor es dazu bereit ist, überfordern sie es. Verweigern sie dem interessierten Kind das Hantieren mit dem Löffel, resigniert es. Es stellt sich darauf ein, dass es für alle Zeiten gefüttert wird – was die Eltern sicherlich nicht beabsichtigen. Spüren aber die Eltern, dass bei ihrem Kind das Interesse am Löffel erwacht, und lassen sie es die entsprechenden Erfahrungen mit dem Löffel selbstbestimmt machen, wird das Kind zwei wesentliche Dinge lernen: Es hat sich eine Kompetenz selber angeeignet und ist in einem weiteren Lebensbereich selbstständig geworden. Beides festigt sein Selbstwertgefühl.
»Alles, was wir einem Kind beibringen, kann das Kind nicht mehr lernen« (Jean Piaget). Eltern können ihrem Kind vormachen, was man mit einem Gegenstand alles anstellen kann; vielleicht ahmt das Kind sie nach. Sie sollten aber nicht darauf bestehen, dass es mit dem Gegenstand in einer bestimmten Weise umgehen soll. Das Kind will und kann das selbst herausfinden. Die Erfahrungen, die das Kind dabei macht, sind genauso wichtig wie die Fertigkeit und das Wissen, welche es daraus gewinnt. Echtes Lernen besteht aus selbstbestimmten Erfahrungen, die das Kind nicht zielgerichtet anstrebt, sondern bei denen es immer auch Umwege macht.
Erziehung heißt bei jeder Mutter und jedem Vater etwas anderes. Die einen Eltern verstehen darunter, das Kind zum Gehorsam zu erziehen. Andere, das Kind erzieherisch zu der Person zu formen, die sie sich vorstellen. Wieder andere wünschen sich, dass ihr Kind »Erfolg im Leben« hat. Nur, was bedeutet Erfolg und wie verträgt sich dieses Ziel mit einem weiteren, das wohl die meisten Eltern anstreben: Aus ihrem Kind soll ein glücklicher Mensch werden?
Es erstaunt nicht, dass Eltern je nach Erziehungshaltung mit ihren Kindern ganz unterschiedlich umgehen. So unterstützen die einen das Kind darin, seine Fähigkeiten zu entwickeln, und unterweisen es, damit es sich möglichst viel Fertigkeiten und Wissen aneignen kann. Andere legen großen Wert darauf, dem Kind Regeln und Werte des sozialen Umgangs beizubringen, um es zu einem sozialen Wesen zu machen, das von den Mitmenschen angenommen wird und das sich in der Gesellschaft durchsetzen kann. Unabhängig davon, für welchen Erziehungsstil sich Eltern entscheiden, sollten sie sich immer bewusst sein: Gerade die wichtigsten Fähigkeiten und Wesenszüge kann man einem Kind nicht einfach »anerziehen«. Auch die kompetentesten Eltern können ihr Kind nicht hoch intelligent oder sozial sehr kompetent machen oder zu einer starken Persönlichkeit formen. All dies sind letztlich Eigenleistungen des Kindes. Die Eltern können jedoch entscheidend dazu beitragen, dass ihr Kind zu dem Wesen werden kann, das in ihm angelegt ist. Eine kindgerechte Erziehung ist also kein »Ziehen« im klassischen Sinn. Es geht vielmehr darum, als Eltern zu gewährleisten, dass sich das Kind wohl- und geborgen fühlt und seine Neugier und Lernbereitschaft in einer kindgerechten Umwelt ausleben darf.
Was Eltern sich unter Erziehung vorstellen
Die Bedeutung, die Eltern dem Gehorsam in der Erziehung zuschreiben, wird von zahlreichen Faktoren bestimmt. Ganz wesentlich sind die Erfahrungen und Wertvorstellungen, die sie als Kind mit ihren Eltern gemacht und die sie – zumeist unbewusst – verinnerlicht haben. Neben den gesellschaftlichen Erwartungen spielen der Austausch mit anderen Eltern und Fachleuten wie Kinderärzten, aber auch Erziehungsratgeber und Medien eine wichtige Rolle. Erzieherische Vorstellungen sind zudem einem ständigen Wandel unterworfen. Noch die Generation der Großeltern interpretierte Schreien in den ersten Lebensmonaten als ungehörig. Es musste einem Kind schleunigst ausgetrieben werden, damit es zukünftig nicht immer seinen Willen durchsetzen will. Heute gehen die meisten Eltern mit dem Schreien verständnisvoller um, viele erwarten aber immer noch, dass bereits Kleinkinder einen Sinn für Ordnung und Unordnung haben. Solche Relikte veralteter Erziehungsvorstellungen überfordern die Kinder. Eltern können sich davor schützen, wenn sie sich immer wieder fragen, ob die Anforderungen, die sie an ihr Kind stellen, überhaupt entwicklungs- und kindgerecht sind (Renz-Polster 2016).
Und dann ist da noch ein mehr als 2000 Jahre altes Erbe jüdisch-christlicher Kultur, in der Gehorsam nicht nur Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst, das eigentliche Erziehungsziel, war: »Wer sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Rute, dass er hernach Freude an ihm erlebe« (Prophet Sirach, 30.1.). Und Mitte des 19. Jahrhunderts erteilte der deutsche Arzt und Hochschullehrer Daniel Schreber Eltern eine ganz ähnliche Anweisung: »Man muss schon im fünften Lebensmonat beginnen, das Kind vom schädlichen Unkraut zu befreien.« 1748 begründete der Schweizer Theologe und Philosoph Joachim Sulzer die gesellschaftliche Bedeutung erzieherischer Strenge folgendermaßen: »Für die Erziehung ist Gehorsam notwendig, weil er dem Gemüt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze gibt. Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem eigenen Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist als die Erlernung des Gehorsams.« Eine erzieherische Grundhaltung, die bis heute unterschwellig nachwirkt.
Nach Jahrzehnten einer eher freizügigen Erziehung erlebt die Disziplin heute eine Art Renaissance. Breite Kreise in der Bevölkerung wünschen sich wieder mehr Disziplin im Umgang mit Kindern. Dabei scheint es nicht um das Kindeswohl zu gehen, sondern vielmehr darum, die Erziehungsarbeit für Eltern und Lehrer klein zu halten und die Kinder mit möglichst wenig Aufwand zu kontrollieren. Doch erzieherische Maßnahmen wirken sich – wie Joachim Sulzer richtig anmerkt – nicht nur unmittelbar auf das kindliche Verhalten aus, sie haben immer auch langfristige Folgen. Werden Kinder allzu sehr bevormundet und diszipliniert, sind sie als Erwachsene autoritätsgläubig, wenig eigenständig, scheuen Verantwortung und ordnen sich, weil sie keine eigene Meinung haben, jeder Art von Obrigkeit in Gesellschaft und Wirtschaft unter. Sollte unser Erziehungsziel nicht vielmehr sein, die Kinder darin zu unterstützen, dass sie ihre Individualität entfalten können und zu einer Persönlichkeit mit einem guten Selbstwertgefühl und einer guten Selbstwirksamkeit heranwachsen?
Eltern kommen nicht darum herum, ihrem Kind Grenzen zu setzen, ganz besonders im Alter von 2 bis 7 Jahren. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass Kinder in diesem Alter sehr intensiv ihre eigenen Entwicklungsziele verfolgen, was den Eltern eigensinnig erscheint und was sie unterbinden wollen. So dreht ein Kind beispielsweise immer wieder den Wasserhahn auf und zu. Es will begreifen, wann und warum das Wasser herausschießt. Drei Viertel der Eltern bezeichnen ihre Kinder in dieser Altersperiode als ungehorsam (Schöbi, Perrez 2004). Sie beklagen sich über schlechte Tischmanieren, Unhöflichkeit im sozialen Umgang und vor allem über übermäßiges Schreien und ausgeprägte Trotzreaktionen, wenn sie ihre Kinder zum Gehorsam anhalten. Die Wahrnehmung der Eltern entspricht jedoch nur bedingt dem tatsächlichen Verhalten der Kinder. Im Erziehungsalltag tun die allermeisten Kinder überwiegend das, was von ihnen erwartet wird. Die Eltern nehmen das Einlenken der Kinder jedoch als etwas Selbstverständliches hin. Wenn sich die Kinder aber widersetzen, ärgern sie sich, und der Ärger bleibt in der Erinnerung haften.
Was bringt Kinder dazu zu gehorchen? Es ist weit weniger das Befolgen von elterlichen Anweisungen oder gar die Angst vor einer Strafe. Sie gehorchen, weil sie die Liebe und Zuwendung von Eltern und Bezugspersonen nicht verlieren wollen. Das Kind will Menschen, die es liebt, nicht enttäuschen. Es ist also die positive emotionale Abhängigkeit, die das Kind gehorsam macht, und weit weniger die »richtigen« erzieherischen Maßnahmen oder gar erzieherische Strenge. Oder wie es der Kinderpsychiater Horst Petri ausdrückt: »Beziehung kommt vor Erziehung.« Wenn der Vater mit seinem 4-jährigen Sohn den Samstagnachmittag verbracht hat und sie beide eine gute Zeit miteinander hatten, kann er seinem Sohn mit wenig Aufwand ausreden, den Fernseher einzuschalten. Kommt der Vater jedoch nach einem langen Arbeitstag abends nach Hause und verbietet beim ersten Kontakt dem Sohn das Fernsehen, wird dieser das als Ablehnung empfinden und den Vater vielleicht sogar in eine Auseinandersetzung verwickeln. Je besser die Beziehung zur Bezugsperson und die emotionale Verfassung des Kindes sind, desto größer ist seine Bereitschaft, in eine Anweisung einzuwilligen.
Das erzieherische Konfliktpotenzial wird wesentlich vermindert, wenn Eltern in ihren Forderungen dem kindlichen Bedürfnis nach Selbstbestimmung Rechnung tragen. Im Kleinkindesalter entwickelt das Kind ein großes Bedürfnis, über sich selbst bestimmen zu dürfen und selbstständig zu werden. Bereits der junge Säugling will – wenn auch in einer begrenzten Weise – selbstständig sein. Er möchte mitbestimmen, wann und wie viel er trinken, ob er schlafen oder wach sein soll. Sobald der Säugling greifen kann, hat er seine eigenen Vorstellungen, wie er mit den Gegenständen umgehen will. Beginnt das Kind sich fortzubewegen, hat es seine eigenen Ziele, wohin es krabbeln oder laufen will.
Dies bedeutet keineswegs, dass das Kind vom ersten Tag an allein bestimmend sein kann und sollte. Etwa im Sinne einer falsch verstandenen antiautoritären Erziehungshaltung: »Lassen wir das Kind ganz einfach machen. Das Kind weiß schon, was ihm guttut.« Es geht vielmehr darum, als Eltern herauszuspüren, in welchen Situationen und bei welchen Aktivitäten das Kind kompetent ist und selbstbestimmt handeln kann und in welchen die Eltern Verantwortung übernehmen müssen. Ist das Kind kompetent, sollte es auch bestimmen dürfen. Hindern es die Eltern daran, eine Tätigkeit auszuführen, zu der es fähig ist, entmutigen sie es und machen es unselbstständig. Ist das Kind jedoch nicht kompetent, müssen die Eltern bestimmen. Verlangen die Eltern vom Kind eine Tätigkeit, die es noch nicht ausführen kann, etwa sich die Schuhe selbst anzuziehen, überfordern sie es. Unter- wie auch Überforderung wirken sich nachteilig auf das Selbstwertgefühl des Kindes aus.
Wenn wir unsere Kinder nicht zu blindem Gehorsam erziehen wollen, müssen wir ein gewisses Maß an »Eigenwillen«, aus elterlicher Sicht: Ungehorsam, akzeptieren. Es gehört zum normalen Heranwachsen eines Kindes, dass es seinen eigenen Willen hat und manchen Anordnungen nur widerstrebend und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung nachkommt. Wenn man sich in die Situation des Kindes hineinversetzt, ist sein Unwille zumeist verständlich. Ein Kind ist beispielsweise in sein Spiel vertieft, wenn die Mutter es auffordert, ins Bett zu gehen. Das Kind braucht Zeit, sich von seinem Spiel zu lösen und sich auf das Zubettgehen einzustellen. Der Vater reagiert kaum anders, wenn er am Computer in seine Arbeit vertieft ist und die Mutter zum Essen ruft.
»Erziehung ist Beispiel und Liebe – sonst nichts« (Friedrich Fröbel). Viele Verhaltensweisen, die sich Eltern bei ihrem Kind wünschen, können sie mit wenig Aufwand herbeiführen. Sie müssen sich nur vorbildgerecht verhalten. Kinder haben eine ausgesprochen starke Neigung, das Verhalten von Bezugspersonen zu übernehmen. Wenn sich die Eltern vor jedem Essen in Anwesenheit des Kindes die Hände waschen, wird das Kind dieses Verhalten übernehmen. Sie müssen das Kind nicht dazu anweisen. Wenn die Eltern mehrere Stunden pro Tag am Handy und vor dem Fernseher verbringen, warum sollte das Kind akzeptieren, dass es selbst nicht mit dem Handy spielen und beliebig lange fernsehen darf?
Auch die erfahrensten Eltern kommen nicht darum herum, ihrem Kind Grenzen zu setzen. Und selbst den kompetentesten Eltern gehorcht das Kind unterschiedlich gut. Es gibt Kinder, die von ihrem Wesen her leichter zu lenken sind und Aufforderungen eher nachkommen als andere. Es gibt aber kein Kind, dem die Eltern nie Grenzen setzen müssen.
Erziehungsvorstellungen können noch so kindgerecht sein, sie bringen nichts, wenn sie im Alltag nicht auch umgesetzt werden können. Drohen und Schimpfen sind sehr häufige elterliche Verhaltensweisen. Sie sind fast immer die erste elterliche Reaktion auf ein unerwünschtes Kindesverhalten. Weitere häufige Maßnahmen sind Fernseh- oder Handyverbot, ins Kinderzimmer schicken oder den Nachtisch verbieten.
In der Schweiz und wahrscheinlich auch in anderen mitteleuropäischen Ländern bestrafen etwa ein Drittel aller Eltern ihre Kinder in den ersten Lebensjahren gelegentlich körperlich, vor allem mit Schlägen auf den Hintern und Ohrfeigen. Die große Mehrheit dieser Eltern tut das nicht aus einer inneren Überzeugung, sondern weil sie überfordert sind, nicht mehr weiterwissen und ihnen schließlich die Hand ausrutscht. Im Nachhinein trösten sie das Kind und entschuldigen sich bei ihm, machen sich Vorwürfe, haben ein schlechtes Gewissen und wollen zukünftig jede körperliche Züchtigung vermeiden. Überforderung lässt sich weitgehend mit einer umsichtigen kindgerechten Erziehung vermeiden, die sich durch Vorausblicken und -planen auszeichnet. Wenn sich Mutter und Vater absprechen, wie sie mit schwierigen Erziehungssituationen umgehen wollen, können sie Konflikte mit dem Kind entspannter angehen, was wesentlich zu deren Lösung beiträgt. Die Erziehungsmaßnahmen sollten der jeweiligen Erziehungssituation angepasst sein.
Ablenken. Je kleiner die Kinder sind, desto leichter lassen sie sich ablenken, etwa mit einem Lieblingsspielzeug.
Konfliktsituationen entspannen. Wenn das Kind immer wieder zum Blumentopf krabbelt und Erde herausschaufeln will: den Blumentopf außer Reichweite stellen.
Ignorieren. Auf ein unerwünschtes Verhalten des Kindes nicht reagieren. Ignorieren kann wirksamer sein als verbieten, etwa wenn ein Kleinkind Flüche aufgeschnappt hat und sie mit Genuss bei jeder Gelegenheit zum Besten gibt. Das Kind hat meist keine Ahnung, welche Bedeutung die Flüche haben, es hat aber sehr wohl begriffen, dass es damit eine große Wirkung in seiner sozialen Umgebung erzielen kann. Zeigen die Eltern keine emotionale Reaktion und lassen sich durch die Flüche nicht provozieren, hört das Kind von selbst damit auf.
Positives verstärken (loben). Das Kind wird für Verhaltensweisen gelobt, die die Eltern als erwünscht betrachten. Wenn ein 18 Monate altes Kind mit großem Eifer und Ausdauer versucht, eigenständig mit dem Löffel zu essen, und die Eltern es dafür loben, wird es in seinem Verhalten bestärkt. Dabei sollte nicht so sehr die Leistung an sich, sondern vor allem das Bemühen gelobt werden. Erwünschtes Verhalten sollten die Eltern nicht als etwas Selbstverständliches ansehen.
Negatives verstärken (verbieten). Das Kind soll ein unerwünschtes Verhalten aufgeben, indem es unangenehme Konsequenzen zu spüren bekommt. So bekommt das Kind keinen Nachtisch, wenn es Essen auf den Boden wirft.
Eine Maßnahme, die sich die Eltern im Voraus überlegt haben und die an das Kind und die Situation angepasst ist, wirkt immer deutlich besser als eine Maßnahme, die sie in einer Krisensituation überstürzt ergreifen. Zudem sollte die Maßnahme dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen und darf keine bloße Drohung bleiben, sondern auch durchführbar sein. Nur dann wird sie vom Kind als eine konsequente Erziehungshaltung der Eltern verstanden.
Eltern sollten sich auch Gedanken darüber machen, wie erzieherische Maßnahmen vom Kind erlebt werden. Häufig empfindet es Maßnahmen nicht nur als unangenehm, sondern fühlt sich auch abgelehnt, gekränkt oder entwertet. Die Bezugsperson, die mich straft, mag mich nicht. Dies trifft ganz besonders auf körperliche Strafen zu, aber nicht nur. Das Gefühl der Ablehnung ist umso größer, je weniger sich das Kind von der Bezugsperson angenommen fühlt. Abgelehnt fühlt sich das Kind zumeist weniger durch die Maßnahme selbst als vielmehr durch die Art und Weise, wie die Eltern sie ankündigen und durchführen. Es macht für das Kind einen großen Unterschied, ob die Eltern ihm deutlich machen, warum sie sein Verhalten nicht tolerieren, und mit fester Stimme »Nein« sagen oder aber es mit wütendem Gesicht anschreien. Ablehnung empfindet das Kind insbesondere dann, wenn die Bezugsperson nicht nur sein Verhalten missbilligt, sondern es als Person entwertet. Die Maßnahme sollte daher möglichst nie mit einer moralischen Verurteilung, »Du böses Kind«, einhergehen.
Wenn Eltern immer wieder in schwierige Erziehungssituationen geraten, sollten sie sich fragen:
Ist unsere Beziehung zum Kind aus dem Lot geraten? Bekommt unser Kind ausreichend Geborgenheit und Zuwendung, oder fühlt es sich von uns alleingelassen? Erlebt es unsere Aufforderungen als Ablehnung? Will es uns zeigen, dass es sich zu wenig geliebt fühlt? Ist ihm negative Aufmerksamkeit lieber als gar keine, und ärgert es uns daher vorsätzlich mit Boshaftigkeiten?Ist das Verhalten, das wir von unserem Kind erwarten, überhaupt entwicklungs- und kindgerecht? Fühlt es sich überfordert oder durch unsere Maßnahmen gar gedemütigt?Sind wir in unserer Erziehungshaltung konsequent? Kann das Kind voraussehen, ob wir unsere angekündigten Maßnahmen durchsetzen werden, oder nicht?Stellen wir genügend Anforderungen an das Kind, die es selbstständig und kompetent erfüllen kann? Oder wird es von uns zu sehr verwöhnt? Haben wir es für seinen Gehorsam zu sehr materiell belohnt, und versucht es nun mit seinem Ungehorsam, den »Preis« für sein Wohlverhalten in die Höhe zu treiben? Sind wir verführbar oder gar bestechlich geworden?Schaut sich das Kind Verhaltensweisen bei uns ab und versteht daher nicht, weshalb wir sie ihm verbieten? Wenn etwa der Vater kein Gemüse isst, das Kind aber dazu angehalten wird?Wie steht es mit unserer Partnerschaft und Lebenssituation? Geben wir dem Kind das Gefühl, dass wir einander gernhaben? Nehmen uns die Arbeit oder unsere Interessen so sehr in Anspruch, dass wir zu wenig Kraft und Zeit für das Kind aufbringen können?Ohne Gehorsam geht es nicht. Er darf aber immer nur ein Mittel sein, um das Kind zu einem sinnvollen Verhalten anzuhalten und das »Regelwerk« der Familie in Gang zu halten, ohne das der Alltag nicht funktionieren kann. Wird Gehorsam aber zum Zweck an sich, dient er nur noch der Durchsetzung von Macht und demütigt das Kind. Schließlich sollten Eltern immer auch bedenken, dass alle Maßnahmen langfristige Auswirkungen auf ihr Kind haben, unter anderem auch auf sein zukünftiges Erziehungsverhalten als Vater oder Mutter. Noch weiter gedacht: Wie möchten sie, dass ihre Enkel erzogen werden?
Der Umgang mit ihrem Kind besteht für Eltern in einem ständigen Abwägen zwischen Fürsorge, Grenzen setzen und Loslassen. Hierbei das richtige Maß zu finden, ist die hohe Kunst des Erziehens. Eltern sollten sich dabei weniger an ihren Wunschvorstellungen oder an den Vorgaben von Gesellschaft und Wirtschaft ausrichten. Sie sollten sich vielmehr an ihrem Kind und seinem Entwicklungsstand orientieren.
Das richtige Maß zu finden, ist eine Aufgabe, die sich den Eltern immer wieder aufs Neue stellt, und die sich oft nicht ideal lösen lässt. So gibt es Abende, an denen die Eltern schlicht zu müde sind, um auf ihr Kind so einzugehen, wie sie eigentlich möchten. Eltern können und wollen sich auch nicht nur ausschließlich um ihr Kind kümmern. Sie brauchen Zeit und Muße für ihre Partnerschaft und ihre eigenen Interessen. Fehlen ihnen dafür Kraft und Zeit, fühlen sie sich unzufrieden, was sich wiederum nachteilig auf das Kind auswirken kann. Manche Eltern haben berufliche und familiäre Verpflichtungen – etwa sich um betagte Großeltern zu kümmern –, die sie daran hindern, sich in der Weise ihren Kindern zuzuwenden, wie sie es sich vorgenommen haben. Zu ihrem Trost: Die Natur rechnet nicht mit perfekten Eltern. Sie hat die Kinder mit einer gewissen Anpassungsfähigkeit und Krisenfestigkeit ausgestattet. Die Natur rechnet auch nicht mit Eltern, die die Betreuung der Kinder ganz allein schaffen. Sie erwartet vielmehr, dass Gemeinschaft und Gesellschaft die Familie darin unterstützen.
Kinder sind eine große Bereicherung für Eltern, für die meisten wohl das Wichtigste überhaupt in ihrem Leben. Das Großziehen von Kindern war aber nie ein Zuckerschlecken. In der Vergangenheit machten es missliche Lebensbedingungen wie Armut, Hunger und Krankheiten den Eltern schwer. In der heutigen Zeit sind es die sozialen Strukturen, die die Kinderbetreuung für die Eltern zu einer echten Herausforderung werden lassen. Im 20. Jahrhundert hat sich die Gesellschaft durch eine rasante soziale, technologische und wirtschaftliche Entwicklung tiefgreifend verändert. Dabei sind Familie und Lebensgemeinschaft innerhalb von wenigen Generationen immer mehr in einer anonymen Massengesellschaft aufgegangen. Eine Vielzahl von Faktoren wie die getrennten Lebensräume von Familie und Arbeitsplatz und eine rasant zunehmende Mobilität haben zu einer Fragmentierung des Zusammenlebens geführt. So sind aus Großfamilien mit zahlreichen Kindern und Verwandten Kleinfamilien mit 1 oder 2 Kindern und nur noch lockeren verwandtschaftlichen Beziehungen geworden. Partnerschaft und Elternschaft werden immer häufiger getrennt gelebt, und die Kinder wachsen in unterschiedlichsten Beziehungskonstellationen wie Patchworkfamilien und Kleinfamilien mit alleinerziehenden Eltern auf.
Es haben sich aber nicht nur die sozialen Strukturen, sondern auch die Rollenbilder von Frau und Mann tiefgreifend gewandelt und damit auch diejenigen von Mutter und Vater. Erstmals in der gesamten Kulturgeschichte herrscht Chancengerechtigkeit im Bildungswesen. Die Frauen können ihre Begabungen genauso wie der Mann verwirklichen. Eine Gleichstellung in der beruflichen Arbeit steht noch aus, wird aber unausweichlich sein, denn die Wirtschaft wird zukünftig immer mehr auf die Frau als qualifizierte Arbeitskraft angewiesen sein. Die Emanzipation in Bildung, Beruf und Gesellschaft hat die Frauen selbstbewusster und existenziell unabhängiger gemacht. Ihnen ist die Wertschätzung, die sie durch ihre berufliche Tätigkeit erhalten, für ihr Selbstwertgefühl wichtig. Die Emanzipation hat sich auch auf das Rollenverständnis der Mütter und das Familienleben ausgewirkt.
Das Rollenbild der Väter ist ebenfalls in Veränderung begriffen. Die meisten Väter sind immer noch zu 100 Prozent berufstätig. Aber immer mehr Väter möchten mehr Zeit mit der Familie und den Kindern verbringen, was die Arbeitsbedingungen oft nicht zulassen. Väter, denen es dennoch gelingt, werden reich belohnt. Die Erfahrungen, die sie mit ihren Kindern in den ersten Lebensjahren machen, geben ihnen ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit, das ihre Beziehung zum Kind dauerhaft prägt. Der Beitrag, den sie zur Kinderbetreuung leisten, wird auch immer wichtiger für die Partnerschaft. Mütter haben heutzutage die berechtigte Erwartung, dass der Vater einen wesentlichen Anteil seiner Kraft und Zeit für die Familie und die Kinder aufbringt.
Mütter und Väter sind genauso vielfältig wie ihre Kinder. So gibt es Mütter, die sich ausschließlich um ihre Kinder kümmern und nicht erwerbstätig sein wollen. Andere haben neben der Fürsorge für ihre Kinder berufliche Interessen, denen sie nachgehen wollen. Sie brauchen die berufliche Tätigkeit für ihr Wohlbefinden und ihr Selbstwertgefühl. Wird ihnen dies verwehrt, sind sie in ihrem Wohlbefinden und Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Schließlich müssen viele Mütter, vor allem alleinstehende, aus finanziellen Gründen einer Arbeit nachgehen, auch wenn sie lieber zu Hause bei ihren Kindern sein möchten.
Genauso wie den Müttern ergeht es den Vätern. Die Befriedigung, die sie erhalten, wenn sie sich um die Kinder kümmern, ist von Vater zu Vater unterschiedlich groß. Die Leistungen, die sie bei der Arbeit erbringen, und die soziale Stellung, die sie dabei einnehmen, sind ihnen mehr oder weniger wichtig. Dasselbe gilt für ihre persönlichen Interessen wie etwa Musizieren oder Sport. Familie, Arbeit und eigene Interessensbereiche so miteinander zu verbinden, dass weder Mutter noch Vater überfordert sind und das Kind gut versorgt bleibt, ist für die meisten Eltern ein Balanceakt.
Das Familienmodell, das im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt weitverbreitet war, ist ein Sonderfall. Es gab wahrscheinlich keine andere Zeitperiode in der ganzen Menschheitsgeschichte, in der ausschließlich die Mutter für die Betreuung der Kinder zuständig war. Die Kinder wuchsen in Lebensgemeinschaften mit Verwandten und Nachbarn auf, welche die Mutter bei der Betreuung unterstützten. Zudem gab es zahlreiche Geschwister und Kinder in der Verwandtschaft und Nachbarschaft, die sich gegenseitig beschäftigt und auch erzogen haben.
Die Doppelbelastung von Familie und Beruf ist für Eltern heute, insbesondere für die Mütter, groß. Alleinerziehende Eltern leiden ganz besonders darunter. Unterstützung erhalten Eltern vor allem von den Großeltern, hauptsächlich den Großmüttern. So erbringen Großeltern in der Schweiz 100 Millionen Betreuungsstunden pro Jahr für ihre Enkelkinder (Bauer 2002); hochgerechnet für Deutschland entspricht dies etwa 1,4 Milliarden Betreuungsstunden pro Jahr. Verwandte wie Tanten und Onkel, Freunde und Nachbarn unterstützen die Eltern in der Kinderbetreuung ebenfalls, wenn auch weitaus weniger. Und doch fällt es vielen Eltern schwer, die emotionale und soziale Stabilität in der Familie aufrechtzuerhalten, die für Kinder so wichtig ist.
»Um ein Kind aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf« (afrikanisches Sprichwort). Das Dorf, die tragfähige Lebensgemeinschaft, gibt es leider kaum mehr. Die Eltern sind daher darauf angewiesen, dass Gesellschaft und Wirtschaft sie in der Kinderbetreuung unterstützen. Das Angebot an familienergänzender Betreuung wie Kitas, Spielgruppen und Frühkindergärten ist in vielen Ländern in den letzten Jahren stark ausgeweitet worden. Die Betreuungsqualität jedoch ist noch sehr verbesserungswürdig. Dafür müssen die Wertvorstellungen, die Gesellschaft und Wirtschaft Kind und Familie beimessen, gründlich überdacht werden. Die Eltern müssen bei der familienergänzenden Betreuung finanziell entlastet werden, so wie dies beispielsweise in den skandinavischen Ländern geschieht. Schließlich steht auch die Wirtschaft in der Pflicht. Damit Eltern ausreichend Kraft und Zeit für die Familie zur Verfügung haben, müssen die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Dazu gehören nicht nur ausreichende Elternzeiten und flexible Arbeitszeiten, sondern auch Teilzeitangebote, die Mütter und Väter bezüglich Einkommen und Berufskarriere nicht mehr diskriminieren. Das ist keine Utopie. Die skandinavischen Länder machen es vor – wohlverstanden ohne ökonomische Einbußen.
Liebe Eltern, Ihr macht nichts falsch. Es sind die Lebensumstände, die Euch die Betreuung Eurer Kinder so erschweren und Euch das Gefühl geben, ständig überfordert zu sein. Verschafft Euch Gehör! Verlangt von der Gesellschaft mehr Unterstützung, und setzt Euch in der Wirtschaft für bessere Arbeitsbedingungen ein. Macht den Politikern klar: Das Fundament der Gesellschaft ist die Familie. Zu einer lebenswerten Gemeinschaft gehören notwendigerweise Kinder. Werden zu wenige Kinder geboren, bekommt ihr ein riesiges demografisches Problem mit Überalterung und ungenügender Altersvorsorge. Und an die Wirtschaft müsst Ihr die folgende Forderung stellen: Ja, wir wollen arbeiten, dafür müssen aber die Arbeitsbedingungen frauen- und familienfreundlicher gestaltet werden. Und wenn Eure Kinder einmal erwachsen sind, solltet Ihr nicht aufatmen und Euch zurücklehnen. Ihr müsst Euch weiterhin dafür einsetzen, damit es Eure Enkel einmal besser haben werden!
Viele Eltern sind überglücklich, wenn sie endlich einen Betreuungsplatz in einer Kita oder bei einer Tagesmutter gefunden haben, und wagen nicht, nachzufragen und gar Forderungen zu stellen. Dies sollten sie aber tun, denn sie geben ihr Kind nicht zur Aufbewahrung, sondern in die Obhut anderer Menschen. Eltern erwarten eine kindgerechte Betreuung. Sie haben ein Anrecht darauf zu wissen, wie ihr Kind betreut wird und welche Entwicklungserfahrungen, vor allem auch sozialer Art, es machen kann. Sie sollten sich auch die räumlichen Gegebenheiten der Betreuungsstätte genau anschauen und ein ausführliches Gespräch mit den verantwortlichen Erziehern führen. Sehr hilfreich ist es, mit anderen Eltern zu sprechen, deren Kinder die Betreuungsstätte bereits besuchen. Checklisten, worauf zu achten ist, wenn Eltern nach einer guten familienergänzenden Betreuung suchen, finden sich im Anhang.
Die gute familienergänzende Betreuung sollte aber nicht nur die Eltern unterstützen und entlasten. Sie hat auch eine sehr wichtige pädagogische Aufgabe zu erfüllen. Studien haben gezeigt, dass Kinder in der Kleinfamilie oft nicht die notwendigen Erfahrungen machen können, die sie für ihre Entwicklung benötigen. Kinder, die eine qualitativ gut geführte Kita besuchten, sind im Kindergarten und in der Schule sozial kompetenter und in ihrer Entwicklung, insbesondere der sprachlichen, fortgeschrittener als diejenigen Kinder, welche die ersten Lebensjahre ausschließlich in einer Kleinfamilie verbracht haben (Howes 1992, NICHD 2000, 2001). Kinder brauchen zusätzlich zu den Eltern weitere Bezugspersonen, die ihnen als Vorbilder dienen und ihnen Erfahrungen ermöglichen, die sie zu Hause nicht machen können. Und sie brauchen für ihre Entwicklung enge und dauerhafte Beziehungen mit Kindern unterschiedlichen Alters. Sie wollen Freundschaften schließen und gemeinsame Erfahrungen machen. Stabile, langjährige Beziehungen mit Erwachsenen und Kindern sind für ihre Entwicklung unverzichtbar.
Wie alle frischgebackenen Eltern haben die Eltern von Sara hohe Erwartungen an ihr Kind und an sich selbst. Sie wollen in den kommenden Jahren das Beste für ihr Kind. Worauf sie achten sollten? Die Eckpfeiler einer umfassenden kindgerechten Betreuung sind:
Kontinuität und Stabilität in der Betreuung. Die Eltern sollten die Betreuung möglichst langfristig anlegen. Das erspart ihnen immer wiederkehrenden Stress und vermittelt dem Kind Geborgenheit.
Ausreichende Erfahrungen mit Bezugspersonen. Kinder brauchen Beziehungen mit vertrauten Erwachsenen, die ihnen als Vorbilder dienen und ihnen Erfahrungen ermöglichen.
Ausgedehnte und langjährige Beziehungen mit Kindern unterschiedlichen Alters. Vieles lernen Kinder sehr viel besser von anderen Kindern als von Erwachsenen. So tauschen sich Kinder ständig untereinander aus, was Sprache und Sozialverhalten, aber auch andere Entwicklungsbereiche weit mehr fördert als der zeitlich beschränkte Umgang mit Erwachsenen.
Entwicklungsgerechte Erfahrungen. Kinder wollen nicht irgendwelche Erfahrungen machen, sondern solche, die ihrem Entwicklungsalter entsprechen. Dafür brauchen sie ein vielfältiges Angebot an Erfahrungen, aus dem sie möglichst selbstbestimmt auswählen können.
All dies können die Eltern allein nicht gewährleisten. Dafür brauchen sie Unterstützung. Die familienergänzende Betreuung kann ganz wesentlich dazu beitragen.
Den modernen Menschen gibt es seit etwa 200 000 Jahren. Unsere Vorfahren haben voll und ganz in der Natur gelebt und in kleinen Lebensgemeinschaften von bis zu 300 Menschen, die alle miteinander vertraut waren. In den vergangenen 200 Jahren, ein Klacks im Vergleich mit der Vorzeit, haben wir uns weitgehend von der Natur abgewandt und leben in einer Massengesellschaft (Largo 2017). Wir haben uns eine überaus komplexe Umwelt geschaffen, die immer mehr Erwachsene überfordert. Und sie entspricht immer weniger den Kindern, denn ihre Bedürfnisse und ihre Entwicklung sind immer noch die gleichen wie vor 100 000 Jahren. Hier einige Unstimmigkeiten, die Kind und Eltern zu schaffen machen:
In der Vergangenheit sind die Kinder in der Natur großgeworden. Heute leben sie fast ausschließlich in Wohnräumen. Ihre Kinderzimmer quellen mit Spielsachen – immer mehr elektronischen – über. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob die Kinder noch ausreichend entwicklungsgerechte Erfahrungen machen können.In der freien Natur konnten die Kinder ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben. Heute klagen viele Eltern über die motorische Unruhe ihrer Kinder, und die Kinder leiden unter zu wenig Bewegungsmöglichkeiten. Sie müssen aber, um sich gut zu entwickeln, motorisch aktiv sein.Kinder lernten in der Vergangenheit aus Erfahrungen in der Natur und von Vorbildern wie Eltern und anderen vertrauten Erwachsenen. Heute dient ein hoch entwickeltes Bildungssystem dazu, die Kinder für Gesellschaft und Wirtschaft lebenstüchtig zu machen. Jedes Kind möchte aber zu dem Wesen werden, das in ihm angelegt ist.Früher sind Kinder immer mit Geschwistern und vielen anderen Kindern, die alle ihre Lehrmeister waren, aufgewachsen. Heute haben viele Kinder keine Geschwister mehr, und den meisten fehlen stabile Beziehungen mit anderen Kindern. Auch die kompetentesten Eltern können Erfahrungen mit anderen Kindern nicht ersetzen.Die zwischenmenschliche Kommunikation bestand in der Vergangenheit aus einem differenzierten Beziehungsverhalten und sprachlichem Austausch. Lesen lernte die Mehrheit der Menschen erst, seit es die Volksschule gibt. Heute dominieren die Medien die Kommunikation auf Kosten des zwischenmenschlichen Austausches.Babys und Kleinkinder schliefen in der Vergangenheit nie allein. Sie hatten engen Körperkontakt mit der Mutter und anderen Bezugspersonen. Heute werden manche Kinder in einem Bettchen abgelegt, und die Eltern hoffen, dass sie alleine so bald wie möglich durchschlafen.Kinder sind früher schicksalhaft auf die Welt gekommen. Heute sind die meisten Kinder Wunschkinder, die oftmals die sehr hohen Erwartungen der Eltern erfüllen sollen.Wir können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und zu den Lebensformen unserer Vorfahren zurückkehren. Andererseits können sich die Kinder auch nicht beliebig anpassen. Die Eltern sollten daher bedenken, dass die Bedürfnisse und Verhaltensweisen ihrer Kinder tief in der Vergangenheit verwurzelt sind, und sich immer wieder fragen: Wie will das Kind seine Bedürfnisse befriedigt haben? Was für eine Umwelt, vor allem auch was für eine soziale, braucht es, damit es sich zu dem Wesen entwickeln kann, das es werden möchte?
Den Kindern kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es den Eltern auch gut geht. Dafür brauchen die Eltern ausreichend Zeit, um ihre Partnerschaft zu pflegen, um regelmäßig gemeinsam etwas zu unternehmen und gelegentlich ein Wochenende ohne die Kinder zu verbringen. Aber auch Zeit, um ihren individuellen Interessen nachzugehen. So will der Vater seinen geliebten Sport betreiben und die Mutter mit ihren Freundinnen zum Yoga gehen. Es lohnt sich, gemeinsam sehr genau zu überlegen, wie man die kostbare Zeit einsetzen will. Wie organisieren wir die Kinderbetreuung? Wie teilen wir uns die Hausarbeit und Freizeit auf (eine Anleitung dazu findet sich im Anhang)?
Das Kostbarste, das Eltern ihrem Kind geben können, ist ihre Zeit. [5]
Eltern werden ständig aufs Neue herausgefordert, eine Balance zwischen den Bedürfnissen ihrer Kinder und den eigenen Bedürfnissen zu finden. Abschließend ein hilfreicher Tipp von unseren Vorfahren: Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte haben wir als Eltern unsere Kinder allein großgezogen. Die Lebensgemeinschaft hat uns immer dabei geholfen. Ein stabiles Beziehungsnetz von vertrauten Personen und Kindern kann Eltern nachhaltig entlasten und Kinder in ihrer Entwicklung enorm bereichern.
Die Eltern fahren mit ihrer 6 Monate alten Tochter im Bus. Laura sitzt auf dem Schoß des Vaters und plappert vor sich hin. Eine ältere Frau erwidert Lauras Geplapper mit einem Lächeln und aufmunternden Worten. Das Kind betrachtet sie aufmerksam. Die Frau erkundigt sich bei den Eltern nach Namen und Alter von Laura.
Wenn Menschen sich begegnen, kommt es immer zu irgendeiner Form von Kommunikation. Selbst wenn sie einander ignorieren, nehmen sie miteinander Beziehung auf (Watzlawick 1974). Beziehungen einzugehen und zu unterhalten, ist ein Grundbedürfnis des Menschen und deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil des menschlichen Lebens. Wir sind von Grund auf soziale Wesen: Für unser psychisches Wohlbefinden brauchen wir andere Menschen. Dies gilt ganz besonders für Kinder.