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Computersucht, Komasaufen, Schulmüdigkeit – selten gibt es positive Schlagzeilen über Jugendliche. Und das, obwohl die Mehrheit selbstbewusst, verantwortungsvoll und mit viel Eigeninitiative in die Welt startet. Mit ihrem Buch wollen Remo H. Largo und Monika Czernin Verständnis für die Jugendlichen und ihre schwierigen Entwicklungsaufgaben wecken und den Blick dafür schärfen, dass sie es sind, in deren Händen die Zukunft liegt. In bewährter Manier bietet das Buch Rat und Hilfe für verunsicherte Eltern, Lehrer und alle, die mit Jugendlichen zu tun haben – ein Buch, das zum Umdenken auffordert.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Von Remo H. Largo liegen im Piper Verlag vor:
Babyjahre
Kinderjahre
Glückliche Scheidungskinder (mit Monika Czernin)
Schülerjahre (mit Martin Beglinger)
Jugendjahre (mit Monika Czernin)
Lernen geht anders
ISBN 978-3-492-95298-9
März 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2011
Covergestaltung: semper smile, München
Coverabbildung: Augustus Butera/Getty Images
Konvertierung: bureau23, Mainz
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Wenn der Hummer den Panzer wechselt, verliert er zunächst seinen alten Panzer und ist dann so lange, bis ihm ein neuer gewachsen ist, ganz und gar schutzlos.
(Dolto 2005)
Neben der Geburt und den ersten Lebensjahren ist die Pubertät entwicklungsbiologisch gesehen die wichtigste Phase im Leben eines jeden Menschen. Hier kommt zum Abschluss, was mehr als 15 Jahre für seine Entfaltung gebraucht hat. Am Ende der Pubertät ist der Hummer dann ausgewachsen, er hat ein letztes Mal seinen Panzer gewechselt, um beim Bild der französischen Kinderpsychiaterin Françoise Dolto zu bleiben. Die Jugendjahre sind ein großer Einschnitt, für manche sogar die größte Herausforderung ihres Lebens. Aber auch die Erwachsenen, die Väter, Mütter und Lehrer tun sich mit dieser Lebensphase oft schwer.
»Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Menschen und schwatzt, wo sie arbeiten soll. Kinder widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen und tyrannisieren ihre Lehrer.« So klagte vor 2400 Jahren schon der Philosoph Sokrates, zumindest wird ihm das Zitat zugeschrieben.
In unserer Gesellschaft sind Kinder zu einem kostbaren Gut geworden, wer sich für Kinder entscheidet, investiert viel in ihre Entwicklung. Und dann, so plötzlich wie unabdingbar, machen sie sich innerlich wie äußerlich davon, grüßen kaum noch und wünschen sich ein Leben weit weg vom familiären Heim. Kein Wunder, dass Eltern nicht verstehen, was da eigentlich vor sich geht. Haben sie etwas falsch gemacht? Sind es die Hormone? Das Gehirn? Was kann man dagegen tun, und geht diese Phase einfach wieder vorbei, so plötzlich wie sie, einem Alptraum gleich, über die Familie gekommen ist? Auch sind die Erwachsenen verunsichert. Angesichts von Zukunftsängsten und realen Bedrohungen etwa durch eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, wachsen die Sorgen einer Elterngeneration, die sich fragen muss, ob sie die Welt, die sie ihren Kindern übergibt, gut genug bestellt hat.
Dieses Buch hat eine besondere Form. Wir, die Autoren, führen stellvertretend für die Leser und Leserinnen einen Dialog, Fragen und Antworten sollen die unterschiedlichen Positionen – vom besorgten Elternteil bis zum Experten – widerspiegeln. Ich, Monika Czernin, bin Mutter einer Teenagerin. Als meine Tochter in die Pubertät kam, erinnerte ich mich daran, wie meine Eltern unter meinen rebellischen Distanzierungsversuchen litten und bekam doch denselben Dackelblick, klagte und seufzte: »Ach, was warst du nur für ein süßes Mädchen, als du noch klein warst.« Meine Tochter brach zu Recht in Schreikrämpfe aus. »Und jetzt? Du magst mich wohl gar nicht mehr.« Gott sei Dank begannen Remo Largo und ich dann bald an diesem Buch zu schreiben. Die Gespräche, Debatten und Recherchen haben mir, der Mutter, Journalistin und Pädagogin neue Denkräume geöffnet und viele Irrwege erspart. Vor allem haben sie meine Ängste bekämpft und mir die Freude über das Großwerden meiner Tochter zurückgegeben. Ich habe durch das Schreiben gelernt, anerkennender und großzügiger auf ihre Welt zu schauen, hinter der Kratzbürstigkeit die Verletzlichkeit und Sensibilität wahrzunehmen, trotz aller Launen ihre Kreativität nicht aus den Augen zu verlieren, und bei aller nötigen und dennoch schmerzhaften Loslösung ihre Loyalität, Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit zu würdigen. Die Pubertät der Kinder ist immer auch eine Chance, noch einmal über Ge- und Misslingen des eigenen Starts ins erwachsene Leben nachzudenken. Ich möchte diese Konfrontation sowie den kritischen Blick meiner Tochter auf meinen Lebensentwurf nicht missen.
Ich, Remo Largo, habe drei erwachsene Töchter und vier Enkelkinder, zwei davon sind bereits wieder in der Pubertät. Mich beschäftigt die Pubertät als Vater und Wissenschaftler seit vielen Jahren. Die Erinnerungen an meine eigene Pubertät sind sehr verschwommen. An die Pubertät meiner Töchter erinnere ich mich noch sehr genau. Es gab gute Zeiten, geblieben sind mir jedoch vor allem die Episoden, die mit dem Gefühl einer umfassenden Ohnmacht und einer beängstigenden Einsicht verbunden waren: Als Eltern können wir unsere Kinder nicht mehr beschützen, sondern nur noch hoffen, dass wir ihnen das Rüstzeug mitgeben konnten, um sich »draußen in der Welt« zu bewähren. In meiner wissenschaftlichen Arbeit wurde mir in den Zürcher Längsschnittstudien die enorme Vielfalt in der Pubertätsentwicklung nachhaltig vor Augen geführt. DIE Pubertät gibt es nicht, sondern nur individuelle Schicksale. Mein bestimmter Eindruck ist, dass Jugendliche – auch Dank ihrer Eltern – in den vergangenen 40 Jahren erfreuliche Fortschritte gemacht haben. Sie sind selbstbewusster, verantwortungsvoller und initiativer geworden – auch wenn das manche Erwachsene anders sehen. Größere Problembereiche orte ich weniger bei den Jugendlichen, als bei den Eltern, den Lehrern, den Politikern und der Gesellschaft als Ganzes. Vorurteile in der Erziehung, Altlasten in den Schulen und offensichtliche gesellschaftliche Benachteiligung der jungen Menschen gilt es abzubauen.
Mit diesem Buch wollen wir darum Verständnis für die Jugendlichen wecken, für ihre Bedürfnisse, Wünsche und Probleme. Indem wir immer wieder durch die Brille der Heranwachsenden auf die Welt blicken, hoffen wir eine Brücke zu schaffen für Eltern, Lehrer und andere Erwachsene. Die Pubertät ist nicht umsonst eine prekäre Lebensphase, in der sich psychische Störungen häufen und die Selbstmordrate massiv ansteigt. Dem oft gegebenen Rat an die Eltern, die Sache doch einfach mal locker zu nehmen, können wir darum nicht zustimmen, müssen aber dennoch immer wieder betonen, dass es mit der herkömmlichen Erziehung in der Pubertät ein für alle mal vorbei ist. Dafür war in den Jahren davor genug Zeit.
Wir werden uns weniger mit Gefahren wie Alkohol, Gewaltvideos, Komasaufen und Cybermobbing auseinandersetzen und werden schon gar nicht Ratschläge erteilen, wie sie zu vermeiden und zu bekämpfen sind. Wir glauben nicht an ein weiteres Zehn-Punkte-was-soll-ich-mit-den-Jugendlichen-tun-Programm für Eltern und Lehrer, sondern wollen eine Veränderung des Denkens und Verstehens bewirken, aus der sich dann hoffentlich neue Verhaltensweisen – weniger für die Jugendlichen als vielmehr für die Erwachsenen – ergeben.
Unser Anliegen ist es, Eltern und anderen Erwachsenen zu zeigen, wie sie die Jugendlichen stärken können. Denn Jugendliche müssen möglichst stark sein, damit sie die Herausforderungen erfolgreich bestehen können, die ihnen in der Pubertät abverlangt werden. Kinder, aus denen allmählich Erwachsene werden, haben eine Vielfalt von Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Noch einmal läuft das Wachstumskraftwerk auf Hochtouren – körperlich, geistig und emotional –, um dann die Entwicklung zu beenden. Die Darstellung der jugendlichen Entwicklungsaufgaben in diesem Buch basiert auf dem Fit-Konzept, so wie es im Buch »Kinderjahre« (Largo 1999) entwickelt wurde. Danach müssen Jugendliche im Wesentlichen drei wichtige Herausforderungen meistern:
Geborgenheit: Jeder Jugendliche will sich geborgen fühlen. In der Kindheit befriedigen die Eltern seine körperlichen Grundbedürfnisse. Eine bedingungslose Bindung zwischen Kind, Eltern und anderen Bezugspersonen gewährleistet emotionale Sicherheit. Wenn sich der Jugendliche von den Eltern ablöst und die Familie verlässt, muss er die emotionale Sicherheit anderswo finden, was ein schwieriges Unterfangen ist und mit emotionalen Höhen und Tiefen einhergeht.
Soziale Anerkennung: Jeder Jugendliche braucht soziale Anerkennung und eine gesicherte Stellung in der Lebensgemeinschaft. Soziale Sicherheit gewährleistete bisher die Familie und die Schule. Nun muss der Jugendliche aus eigener Kraft seinen Platz in der Gesellschaft finden und sich soziale Anerkennung verschaffen.
Entwicklung und Leistung: Jeder Jugendliche will seine Fähigkeiten möglichst gut ausbilden. Als Kind hatte er zu einem wichtigen Teil für Eltern und Lehrer gelernt, jetzt muss er, ob in der Schule, der Berufsausbildung oder in der Universität für sich selbst lernen. Er muss seine Stärken entwickeln, um dann im konkreten Tun und Handeln in Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreich zu sein.
An diesen drei Aufgaben wächst der Jugendliche zum Erwachsenen heran und entwickelt seine Identität. Es erstaunt wohl kaum, dass dieser vielschichtige Prozess des Suchens, Findens und sich Bewährens nicht pannenfrei verlaufen kann, weder für die Jugendlichen, noch für die Eltern und die Schule. Das Fit-Konzept strebt eine möglichst gute Übereinstimmung zwischen den individuellen Bedürfnissen und Entwicklungseigenheiten des Jugendlichen und seinem Umfeld an. Wenn in diesen drei Bereichen eine gute Übereinstimmung zwischen dem Jugendlichen und seinem Umfeld besteht, fühlt er sich wohl, ist aktiv und kann ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Ist die Übereinstimmung ungenügend oder fehlt sie gar, werden Wohlbefinden und Selbstwertgefühl des Jugendlichen beeinträchtigt. Daraus können psychosomatische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten entstehen. Fehlt beispielsweise die Anerkennung von den Gleichaltrigen, kann ein Mädchen magersüchtig werden oder ein Junge besonders große Risiken eingehen.
Unser Buch ist folgendermaßen aufgebaut. In Teil I geht es darum, ein Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten zu wecken, welche die Entwicklung in der Pubertät bestimmen. Jugendlichen wird beispielsweise häufig von ihren Eltern vorgeworfen, sie würden zu spät zu Bett gehen und daher notorisch übermüdet sein. Nun hat sich herausgestellt, dass Jugendliche aus biologischen Gründen gar nicht früher einschlafen können. Das soziale Umfeld muss sich also anpassen, nicht die Jugendlichen. Besonderer Nachdruck wird in Teil I auf die Vielfalt gelegt, die unter Jugendlichen herrscht. Diese Vielfalt ist so groß, dass nur ein individueller Umgang dem einzelnen Jugendlichen gerecht werden kann. Denn eine erzieherische Haltung, die bei dem einen Jugendlichen auf fruchtbaren Boden fällt, kann bei einem anderen verfehlt sein. Je genauer es Eltern und Lehrern gelingt, sich auf die individuellen Bedürfnisse und Eigenheiten der Jugendlichen einzustellen, desto besser werden sich die Jugendlichen entwickeln und desto geringer wird der erzieherische Aufwand sein.
In Teil II wollen wir aufzeigen, weshalb die Pubertät für Jugendliche eine so schwierige Zeit ist. Auch wenn es Eltern und Lehrern unbegreiflich erscheint: Ein Konflikt in der Clique kann einen Jugendlichen so umtreiben, dass er die Schule total vernachlässigt. Je besser sich Eltern und Lehrer in die Nöte der Jugendlichen einfühlen und hineindenken können, desto tatkräftiger können sie ihnen beistehen.
In Teil III schließlich geht es um die Frage, wie Eltern, Schule und Gesellschaft Jugendliche besser unterstützen können, um ihre soziale und berufliche Integration sicherzustellen. Tun sie das nicht, werden die jungen Erwachsenen zu einer Belastung für die ganze Gesellschaft. Wir Erwachsene dürfen uns nicht mit Kritik und Ansprüchen an die Jugendlichen zufrieden geben, sondern müssen unsere eigenen Ängste und Vorurteile hinterfragen. Wenn die junge Generation die Pubertät gut bestehen soll, wird diese Zeit eine Herausforderung und Entwicklungschance auch für uns Erwachsene. Denn auch wir müssen uns weiterentwickeln.
Abschließend eine Anmerkung zu den Literaturhinweisen. Wo es notwendig ist, haben wir auf Originalarbeiten und Bücher verwiesen. Oft zitieren wir auch Studien, die schon einige Jahre alt sind – aus gutem Grund. Nicht immer sind nämlich die aktuellsten Untersuchungen auch die besten. Für weiterführende Informationen, beispielsweise über Begriffe wie Sexualhormone oder Transsexualität, empfehlen wir den Lesern und Leserinnen Wikipedia. Dieses Internetportal ist einschlägigen Enzyklopädien qualitativ mindestens ebenbürtig, meist sogar ausführlicher, reichhaltiger an Quellenangaben und immer am aktuellen Stand. Bleibt noch zu erwähnen, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit im Text darauf verzichtet haben, beispielsweise von Schülern und Schülerinnen zu sprechen, und uns jeweils für eine Form entschieden haben.
Monika Czernin und ich sind überzeugt: Die wirksamste Medizin gegen die Angst bei den Erwachsenen und die beste Unterstützung für das jugendliche Kind ist, darauf zu vertrauen, dass es sein Bestes geben wird, um zu dem Menschen zu werden, der in ihm angelegt ist. Dies zu ermöglichen ist unsere Aufgabe. Wir Erwachsene müssen die Jugend tatkräftig bei der Bewältigung ihrer schwierigen Entwicklungsaufgaben unterstützen. Aus diesem Anliegen heraus entstanden dieser Dialog zwischen uns Autoren und dieses Buch für alle, die sich für die jungen Menschen einsetzen wollen.
Remo H. Largo und Monika Czernin
»Seit einiger Zeit finde ich, dass alles immer komplizierter wird, alles ist kompliziert, ich bin auch kompliziert.«
(Nathalie, 14)
Hirnforscher haben Teenager mit bildgebenden Verfahren untersucht und dabei festgestellt, dass ihr Gehirn in der Pubertät einen letzten großen Umbau erfährt (Crone 2011). Wir Eltern und alle, die sich mit Jugendlichen beschäftigen, können also beruhigt sein: Das heillose Durcheinander in der Pubertät hat System und eine klare Ursache.
Die Hirnforschung bestimmt zunehmend unsere Vorstellungen über menschliches Verhalten. So ist beispielsweise die erhöhte Risikobereitschaft von Jugendlichen neurobiologisch erklärt worden. Sie werde nämlich dadurch verursacht, dass die Frontalhirnrinde, die Schaltstelle für besonnenes Handeln, als letztes umgebaut wird. Wer sich als Jugendlicher also außen an einen Zug hängt, Bungeejumping betreibt und sein erstes Auto als Rennsportgerät missversteht, dessen Frontalhirnrinde ist einfach noch unreif. Die Frage ist nur, ob solche Erkenntnisse auch hilfreich sind. Sollen wir als Eltern und Lehrer die Hände in den Schoß legen und das Risikoverhalten von Jugendlichen schicksalhaft erdulden? Wir schaffen es nicht, weil wir uns verantwortlich fühlen. Wir müssen handeln und entscheiden. Und dazu brauchen wir möglichst adäquate und hilfreiche Vorstellungen darüber, was bei Jugendlichen entwicklungsmäßig geschieht. Je besser wir ihre biologische Entwicklung und ihr Verhalten verstehen – und die Hirnforschung leistet dazu eben nur einen kleinen Beitrag –, desto kompetenter können wir mit ihnen umgehen und desto besser geht es den Jugendlichen und nicht zuletzt auch uns selbst. Befassen wir uns also zuerst mit den Entwicklungsprozessen, die in der Pubertät ablaufen und abgeschlossen werden, und dann mit der Vielfalt, die in der Pubertät besonders groß ist.
In der Pubertät kommen die Entwicklungsprozesse zum Abschluss. Das klingt endgültig. So, als ob danach keine Entwicklung mehr stattfinden würde.
Auch Erwachsene können sich noch entwickeln, aber nicht mehr so wie Kinder. Um zu verstehen, was mit Abschluss der Entwicklung gemeint ist, müssen wir uns klar machen, worin die kindliche Entwicklung eigentlich besteht. Sie lässt sich im Wesentlichen durch drei Prozesse charakterisieren: Wachstum, Differenzierung und Spezifizierung.
Wachstum: Jedes Kind wächst. Das Wachstum ist wohl das augenscheinlichste Merkmal der kindlichen Entwicklung. Zahlreiche Aspekte der Entwicklung wie etwa die Körpergröße nehmen im Verlauf der Kindheit zu und finden in der Pubertät ihren Abschluss. Natürlich gibt es gewisse Merkmale wie beispielsweise den Bart, der auch nach der Pubertät noch weiter wächst, oder die Weisheitszähne, die überhaupt erst im Alter von 30 Jahren zum Vorschein kommen. Aber im Wesentlichen ist das kindliche Wachstum am Ende der Pubertät abgeschlossen.
Differenzierung: Bei der Entfaltung von geistigen Fähigkeiten ist der Abschluss der Entwicklung weniger offensichtlich als beim Wachstum. Fähigkeiten wie die gesprochene Sprache, das Zahlenverständnis oder das zwischenmenschliche Verhalten nehmen während der ganzen Kindheit nicht nur quantitativ zu, sondern differenzieren sich auch qualitativ aus. So entwickelt das Kind seine kommunikativen Fähigkeiten, indem sein Sprachverständnis und sein sprachlicher Ausdruck, aber auch seine Körpersprache immer nuancierter werden. Dieser Prozess wird in der Pubertät ebenfalls weitgehend abgeschlossen.
Spezifizierung: Bei der Spezifizierung werden bestimmte Fähigkeiten in der Pubertät festgelegt. Je nach Umfeld, in dem das Kind aufwächst, werden Fähigkeiten wie etwa die Sprache unterschiedlich ausgebildet und schließlich auch festgeschrieben. Ein Erwachsener kann immer noch eine Fremdsprache lernen, aber nie mehr in der Weise und in der Perfektion wie als Kind die Muttersprache.
Die Entwicklung ist also ein Prozess, bei dem der kindliche Organismus und im Besonderen das Gehirn in einer ständigen Interaktion mit seinem Umfeld wächst, sich ausdifferenziert und in seinen Fähigkeiten festgelegt wird.
Use it or lose it – lautet eine weitere Erkenntnis der Hirnforscher. Zellen, die in der Kindheit nicht gebraucht oder angeregt wurden, werden in der Pubertät entsorgt. Heißt das, wir können nach der Pubertät nichts mehr dazulernen, unser Gehirn ist fertig verdrahtet?
In einer gewissen Weise stimmt das. Und dennoch ist Dazulernen bis ins Rentenalter möglich. Das klingt nach einem Widerspruch, ist es aber nicht. Es geht also um die Frage: Was können Erwachsene noch lernen und was nicht mehr? Der beste, wenn auch etwas unschöne Vergleich, der mir dazu einfällt, ist der Computer. Was der Jugendliche am Ende der Pubertät mitbekommt, ist ein Gehirn, vergleichbar einer Festplatte mit fertig entwickeltem Betriebssystem und zahlreichen Programmen. Genauso wenig wie wir als Normaluser das Betriebssystem oder das Word-Programm auf unserem PC verändern können, kann der junge Erwachsene Einfluss auf seine Hirnstrukturen nehmen. Was uns als PC-Benutzer jedoch möglich ist, ist, die Programme verschieden zu nutzen. Wir können Word, Excel, Power Point, Photoshop und alle anderen Programme, mit denen wir uns auskennen, auf ganz unterschiedliche Weise verwenden. Genauso kann der Erwachsene sein analytisches Denken, seine Motorik, seine Sprache oder seine sozialen Kompetenzen auf unterschiedlichste Weise einsetzen und durch neue Erfahrungen mit Wissen und spezifischen Fertigkeiten erweitern. Herauszufinden wie er seine Fähigkeiten – also die Festplatte samt aller Programme – möglichst wirkungsvoll und sinnvoll einsetzen kann, ist eine der großen Herausforderungen für jeden Jugendlichen in der Pubertät.
Wenn man sich in einer 7. Klasse umschaut, dann glaubt man oft nicht, dass es sich dabei um mehr oder weniger Gleichaltrige handelt. Manche Mädchen haben schon einen Busen und schminken sich, andere hingegen sehen wie deren jüngere Schwestern aus. Genauso ist es bei den Jungen. Während manche in die Höhe schießen und kräftige Schultern entwickeln, scheinen andere immer noch im Grundschulalter zu stecken. Wie groß sind die Unterschiede in der Pubertät?
Die Unterschiede zwischen den Kindern, die sogenannte interindividuelle Variabilität ist nie größer als in der Pubertät. Die Gründe dafür sind vielfältig. Erstens variiert das Alter, in dem Mädchen und Jungen in die Pubertät kommen, das heißt die Reifung verläuft von Jugendlichem zu Jugendlichem unterschiedlich rasch. Zweitens sind auch die individuellen Pubertätsverläufe verschieden. Die Pubertät kann ganz unterschiedlich lange dauern. Drittens gibt es Gruppenunterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen sind im Mittel in jedem Alter reifer als Jungen. Und viertens gibt es auch noch die sogenannte intraindividuelle Variabilität. Jeder Jugendliche entwickelt sein eigenes Profil an unterschiedlichen Kompetenzen und Begabungen.
Pablo 13, 15 und 17 Jahre [1]
Woher kommt diese Vielfalt. Was ist deren biologischer Sinn? Und wie groß ist sie tatsächlich?
Es ist ein grundlegendes Prinzip der Biologie, dass jedes Merkmal und jede Eigenschaft bei der Amöbe genauso wie beim Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Mir ist keine Eigenschaft und kein Merkmal bekannt, das bei allen Menschen gleich ausgeprägt wäre. Die Vielfalt bei Pflanzen, Tieren und auch beim Menschen garantiert, dass es immer Mitglieder innerhalb einer Art gibt, die sich auf Grund ihrer individuellen Eigenschaften an veränderte Umweltbedingungen besonders gut anpassen können. Die Vielfalt besteht bereits bei der Geburt und nimmt im Laufe der Kindheit immer mehr zu. In der 1. Klasse unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre. Es gibt Kinder, die mit 6 Jahren ein Entwicklungsalter von 7 bis 8 Jahren aufweisen und bereits lesen können. Andere mit einem Entwicklungsalter von 4 bis 5 Jahren sind noch weit davon entfernt. Bis zur Oberstufe nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern noch einmal deutlich zu. Mit 13 Jahren variiert das Entwicklungsalter um mindestens 6 Jahre zwischen den am weitesten entwickelten Jugendlichen und jenen, die sich am langsamsten entwickeln (Abbildung 1). Hinzu kommt, dass Mädchen, wie schon erwähnt, den Jungen im Mittel um eineinhalb Jahre voraus sind. Diese Vielfalt muss Jugendliche und Erwachsene verwirren, die von Normvorstellungen ausgehen.
1) Interindividuelle Variabilität anhand des Entwicklungsalters bei 20 Jungen und 20 Mädchen im chronologischen Alter von 13 Jahren. Je ein 13-jähriger Junge verfügt lediglich über die durchschnittliche Lesekompetenz eines 9-Jährigen und ein Mädchen bereits über die durchschnittliche Lesekompetenz einer 16-Jährigen (schematische Darstellung).
Eltern und auch Lehrer wundern sich immer wieder, wie unterschiedlich die Begabungen bei ein und demselben Kind ausgeprägt sein können. Selbst innerhalb der Familie kann es vorkommen, dass das eine Kind gut in Sprache, aber schwach in Mathematik ist; bei einem Geschwister ist es genau umgekehrt.
Jeder Jugendliche und auch jeder Erwachsene weist ein ihm eigenes Profil von Begabungen auf. Zwei solche Kompetenzprofile von 14-jährigen Jugendlichen sind in den Abbildungen 2 und 3 dargestellt. Bei Daniel und Sarah sind die Begabungen sehr unterschiedlich verteilt. Daniel hat seine Stärken im logisch-mathematischen Denken und in der Motorik, seine Schwächen liegen im sprachlichen Bereich. Bei Sarah ist es genau umgekehrt. Sie ist sprachlich besonders begabt, dafür weniger kompetent in logischem Denken und Rechnen. Die Stärken und Schwächen können unter Jugendlichen in unterschiedlichen Variationen vorkommen. Beim einzelnen Jugendlichen können ausgeprägte Unterschiede zwischen beispielsweise den körperlichen und den sozio-emotionalen Entwicklungsbereichen bestehen.Es kann zu schwierigen Situationen für den Jugendlichen, aber auch für seine Umgebung kommen, wenn er körperlich voll entwickelt ist, aber wegen seiner niedrigen sozialen Kompetenz rasch die Kontrolle über sich verliert. Weil Jugendliche in den verschiedenen Entwicklungsbereichen unterschiedlich weit entwickelt sein können, erstaunt es nicht, dass sie häufig ein Verhalten zeigen, das für Erwachsene schwer verständlich ist und von ihnen als chaotisch bezeichnet wird.
2) Kompetenzprofil von Sarah, 14 Jahre alt. Sarah ist sprachbegabt und sozial kompetent. Sie hat Schwächen im logischen Denken, Zahlenverständnis und in der räumlich-figuralen Vorstellung. Ihr Zahlenverständnis entspricht der durchschnittlichen Kompetenz einer 10-Jährigen.
3) Kompetenzprofil von Daniel, 14 Jahre alt. Daniel ist motorisch sehr geschickt, hat jedoch große Schwächen im sprachlichen Bereich. Sprache und Lesen/Schreiben entsprechen der durchschnittlichen Kompetenz eines 11-Jährigen. Die anderen Kompetenzen sind etwa altersentsprechend entwickelt.
Wenn ein Kind früh in die Pubertät kommt, gilt dies dann nicht nur für seine körperliche Entwicklung, sondern für alle Entwicklungsbereiche wie die Sprache oder die Kognition?
Es gibt Hinweise, dass dies tatsächlich der Fall ist. Das bedeutet, wenn die Pubertät früh einsetzt, schließt auch das Gehirn seine Entwicklung früh ab. Damit werden alle Entwicklungsprozesse, nicht nur die körperlichen, frühzeitig beendet. Tanner (1962) hat eine signifikante Beziehung zwischen dem Intelligenzquotienten und dem Knochenalter als Indikator für die Entwicklungsreife nachgewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein früher Abschluss der Entwicklung zwangsläufig mit einem niedrigen IQ einhergeht. Zur besseren Verständlichkeit möchte ich folgenden Vergleich machen: Es gibt große und kleine Kinder, die rasch oder langsam reifen. Reift ein großes Kind rasch, wird es vorübergehend sehr groß sein. Reift ein kleines Kind langsam, wird es vorübergehend sehr klein sein. Die Ausprägung der Körpergröße und die Reifungsgeschwindigkeit sind also voneinander unabhängig. Genauso verhält es auch mit den kognitiven Fähigkeiten. So können sich kluge Kinder rasch oder langsam entwickeln. Entwickeln sie sich rasch, sind sie in der Schule den anderen Kindern besonders weit voraus.
Immer wieder fragen sich Eltern und Lehrer: Was ist bei einem Jugendlichen an Begabung und Verhalten vererbt und was erworben?
Die Vielfalt unter Kindern wird durch ihr Umfeld mitbestimmt. Offensichtlich ist dies bei der Sprache oder beim Beziehungsverhalten. Jedes Kind erwirbt die Sprache und die Umgangsformen von dem sozialen Umfeld, in dem es aufwächst. Die sogenannte Heterogenität des sozialen, kulturellen und religiösen Umfeldes hat daher einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Die Vielfalt lässt sich aber mit der Heterogenität der Umwelt allein nicht erklären. Einen wesentlichen Anteil an der Vielfalt haben die individuellen Anlagen. Selbst wenn Kinder unter den gleichen sozialen, kulturellen und religiösen Bedingungen aufwachsen, bleiben sie immer noch sehr verschieden. Um nochmals den Vergleich mit dem Computer heranzuziehen: Die Anlage beim Kind entspricht dem Betriebssystem und den Programmen beim Computer. Sie ist von Kind zu Kind unterschiedlich gestaltet und weitgehend vorbestimmt. Wie weit das Kind die Anlage verwirklichen kann, hängt jedoch von den Erfahrungen ab, die es machen kann (Largo et al. 2007). Das Herausragende an dieser großen Vielfalt ist die Einmaligkeit des Individuums.
Der Evolutionsbiologe Ralph Dawirs sagt: »Pubertät ist der Bioreaktor für zukunftsweisende Innovationen.« Er vertritt in seinem Buch (Dawirs et al. 2008) die These, dass ohne Pubertät keine gesellschaftliche Innovation, kein kultureller Fortschritt möglich wäre, sondern lediglich überholte Vorstellungen weitergegeben würden. Damit es zu den wilden Jahren überhaupt kommen könne, würde das Gehirn umgebaut. Und das mache aus evolutionsbiologischer Sicht Sinn.
Die Pubertät ist für die Gesellschaft ein Jungbrunnen. Künstlerische Kreativität, Erneuerung von ethischen Vorstellungen wie auch technische und wissenschaftliche Innovationen würden ohne die Sturm-und-Drang-Periode weitgehend ausbleiben. Die Evolution hat mit einer Ausdehnung der Kindheit und einem Hinausschieben der Geschlechtsreife die Lern- und Entwicklungsperiode des Menschen massiv verlängert und damit dem Menschen zu in der Evolution völlig neuen Fähigkeiten verholfen. Die Umwälzungen in der Pubertät bewirken nicht nur bei dem Individuum einen Schub von neuen Eigenschaften. Die Umwälzungen erneuern auch die Gesellschaft – sofern die Gesellschaft sie zulässt. Deshalb ist es so wichtig, zu begreifen, was entwicklungsmäßig in der Pubertät geschieht. Diese Kenntnisse helfen uns zu verstehen, welche enormen Anforderungen Jugendliche zu bewältigen haben und weshalb Familie, Schule und Gesellschaft sie in ihrem Bemühen unterstützen müssen. Für den wichtigen Beitrag, den Jugendliche durch ihre Kreativität und ihr innovatives Potenzial für die Gesellschaft leisten, sollten wir Erwachsene dankbar sein und die Schattenseiten der Pubertät wie Chaos und Risikoverhalten in Kauf nehmen.
»Schrecklich, ich fühle mich ganz schrecklich, diese Pickel, furchtbar. Ich habe das Gefühl, dass alle Leute mich anschauen, ich weiß gar nicht mehr, was für einen Look ich mir noch ausdenken soll, um mich zu verstecken.«
(Antoine, 15)
»Ich finde mich weder hübsch noch hässlich, aber so, wie ich bin, habe ich meine eigene Schönheit, auch wenn sie nicht allen Leuten gefällt. Klar, wenn ich einem Jungen gegenüberstehe, der sich für mich interessiert, dann versuche ich natürlich, mich ein bisschen herauszustreichen, aber ich übertreibe das nicht.«
(Agnès, 17)
»Das ist halt gegen die Natur, und Brüste haben halt eigentlich nur Frauen. Bei Männern ist das nicht normal. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann denke ich ›Das gehört gar nicht zum Profil, das sieht total scheiße aus.‹ Körperkontakt mit Mädchen mag ich auch nicht, weil ich mich wegen der Brüste so schäme.«
(Daniel, 14)
»Seit Sophia einen Busen bekommen hat, zieht sie sich zurück. Ich darf nicht mehr ins Badezimmer, obwohl ich ihre Mutter bin. Auch zeigt sie sich nicht mehr nackt. Sie ist völlig anders. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie mich nicht mehr mag.« So klagen viele Mütter. Sie nehmen die körperlichen Veränderungen, die in der Pubertät auftreten, als Bruch in der Beziehung wahr.
Richtig ist, dass sich mit dem Eintritt in die Pubertät das ganze Kind körperlich, geistig und seelisch verändert. Für den Jugendlichen fängt ein neuer Lebensabschnitt an, der nicht mehr von seinen Eltern bestimmt sein wird. Ein wichtiges Merkmal dieser Entwicklung ist die zunehmende körperliche Distanz zu den Eltern. Die Eltern sollten diesen Wandel – und die damit einhergehenden körperlichen Veränderungen – aber nicht als Ablehnung und Kränkung empfinden, sondern als Aufforderung verstehen, die Beziehung zu ihrem Kind neu zu gestalten. Den Umbruch, den die Pubertät mit sich bringt, erleben Eltern bei den körperlichen Veränderungen und der erwachenden Sexualität besonders stark. Kenntnisse über die Pubertätsentwicklung können Eltern dabei helfen, sich auf die körperliche Entwicklung ihrer Tochter und ihres Sohnes einzustellen und deren Befindlichkeit besser zu verstehen.
Welche körperlichen Entwicklungsmerkmale sind denn die ersten Anzeichen für den Beginn der Pubertät?
Bei der Hälfte aller Mädchen ist das Erscheinen der Schamhaare das erste Anzeichen (53 Prozent), bei einem guten Viertel von ihnen treten die ersten Schamhaare und eine Vergrößerung der Brust gleichzeitig auf (29 Prozent) und bei etwa einem Fünftel kommt die Brustentwicklung zuerst (18 Prozent) (Abbildung 4). Dabei bildet sich zuerst unter der Brustwarze ein ziemlich hartes Plättchen, etwa so groß wie eine Centmünze; erst dann führt eine Zunahme des Fettgewebes zu einer Vergrößerung der Brust. Was nie als Erstes auftritt, sind Achselhaare oder Regelblutung (Largo et al. 1987). Weitgehend unbemerkt wachsen die primären Geschlechtsorgane, Gebärmutter und Eileiter, heran. Selten tritt die Schambehaarung oder eine Brustvergrößerung viele Jahre vor der eigentlichen Pubertät auf. Ich kann mich an ein Mädchen erinnern, bei dem erste Schamhaare bereits im Alter von 4 Jahren zu sehen waren. Diese sogenannte Pubarche oder Thelarche präcox sind zumeist harmlose Entwicklungsvarianten. Weil ihnen selten eine hormonelle Störung zugrunde liegen kann, sollten die Eltern einen Kinderarzt konsultieren.
4) Pubertätsentwicklung bei Mädchen. Für Schambehaarung und Brustentwicklung werden Beginn und Ende der Entwicklung angegeben. Die Mitte der Raute gibt das durchschnittliche Alter beim Auftreten eines Pubertätsmerkmals an. Die Endpunkte der Raute geben den frühest und spätest möglichen Zeitpunkt an. Beispiel: Der Gipfel des Wachstumsspurtes wird im durchschnittlichen Alter von 12,2 Jahren erreicht, frühestens mit 9,5 und spätestens mit 15 Jahren (Largo et al. 1983b).
Wie steht es mit den Jungen? Welches sind bei ihnen die ersten Anzeichen dafür, dass sie zu Männern werden?
Bei den Jungen sind die Anfänge der Pubertät sehr diskret. Bei der Mehrheit der Jungen ist das erste Anzeichen eine Vergrößerung des Genitals und der Hoden, die anfänglich nicht einmal der Junge selbst bemerkt (70 Prozent) (Abbildung 5). Bei einer Minderheit erscheinen als Erstes die Schamhaare (8 Prozent), bei allen anderen werden Genitalentwicklung und Auftreten der Schambehaarung gleichzeitig beobachtet (Largo et al. 1983a). Die Entwicklung zum Mann zeigt sich weniger durch die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale als vielmehr durch die Zunahme von Körpergröße und Muskelmasse. Breite Schultern, großer Biceps und ein Waschbrettbauch werden zum Inbegriff der Männlichkeit – übrigens nicht nur für die Jungen, sondern auch für viele Mädchen.
5) Pubertätsentwicklung bei Jungen. Für Schambehaarung und Genitalentwicklung werden Beginn und Ende der Entwicklung angegeben. Die Mitte der Raute gibt das durchschnittliche Alter beim Auftreten eines Pubertätsmerkmals an. Die Endpunkte der Raute geben den frühest und spätest möglichen Zeitpunkt an. Beispiel: Der Gipfel des Wachstumsspurtes wird im durchschnittlichen Alter von 13,9 Jahren erreicht, frühestens mit 11,5 und spätestens mit 16 Jahren (Largo et al. 1983a).
Sebastian stellte mit Befriedigung den ersten Flaum auf seiner Oberlippe fest. Vorsichtig probierte er den Rasierapparat seines Vaters aus. Er hoffte, dass der Flaum kräftiger sprießen würde, wenn er ihn öfter abschnitt. Als die Mutter die ersten Härchen in seinen Achselhöhlen bemerkte, stellte sie ihm diskret ein Deo ins Bad. »Für alle Fälle«, meinte sie beiläufig.
Eine verständnisvolle Mutter! Die Achselbehaarung tritt in der zweiten Hälfte der Pubertätsentwicklung auf und wird im Lauf der Jahre immer dichter. Für die Verhaltensbiologen ist die Achselbehaarung ein Anzeichen dafür, dass der Heranwachsende nun erste erotische Reize aussenden. Die Achselhaare dienen der besseren Verbreitung von Sexual-Lockstoffen (Pheromone), zudem natürlich der Schweißabgabe. Noch später als die Achselbehaarung setzt der Bartwuchs ein. Während der Pubertät erscheint oft nur ein Flaum auf der Oberlippe. Richtig zu wachsen beginnt der Bart erst nach der Pubertät und breitet sich bis ins dritte Dezennium immer stärker aus. Die eigentlichen Barthaare entwickeln sich zuerst vor den Ohren, dann an Kinn und Hals und zuletzt greift der Bartwuchs auch auf die Wangen über. Der Bart wurde zu allen Zeiten und wird bis heute als Zeichen von Kraft und als Zierde der Männlichkeit angesehen. In der Vergangenheit gab es je nach Kultur und Zeitperiode eine stattliche Menge an unterschiedlichen Barttrachten. Abweichungen von der aktuellen Barttracht, genauso wie übrigens auch der Kopffrisur, werden auch heute noch als Zeichen der Ungepflegtheit oder Fremdheit empfunden. Bis Mitte der 1980er Jahre war ein Dreitagebart ein solches Zeichen von Ungepflegtheit, heute ist genau dieser Bart Mode und wird von Schauspielern und selbst Politikern als besonderer Ausdruck von Männlichkeit zur Schau gestellt. In einigen Jahren dürfte der Dreitagebart wieder aus der Mode gekommen sein. Vielleicht ist als Nächstes der Vollbart angesagt.
Mit der ersten Menstruationsblutung beginnt für Mädchen ein neuer Lebenstakt, das Leben in Zyklen, das nur Frauen kennen. Für die Frau verläuft ab dann die Zeit anders als für den Mann, ihr Lebensrhythmus wird von ihrem Zyklus bestimmt, selbst wenn sie die Pille nimmt. Der Zyklus bestimmt ihre Körperwahrnehmung, die sich während der etwa 28 Tage verändert, und der Zyklus bestimmt, wann sie schwanger werden kann. Ein ganz schön einschneidendes Ereignis. Wann muss ein Mädchen mit der ersten Regelblutung rechnen? Gibt es da einen Hinweis?
Die erste Menstruationsblutung, die sogenannte Menarche, setzt zeitlich charakteristischerweise dann ein, wenn das Mädchen das Maximum des pubertären Wachstumsschubes überschritten hat. Wenn die Menstruationsblutung auftritt, kann das Mädchen davon ausgehen: Nun wird das Wachstum sich immer mehr verlangsamen. Durchschnittlich 2 Jahre nach der Menarche wird das Mädchen ausgewachsen sein. Im Mittel wachsen Mädchen nach der Menarche noch 7,8 Zentimeter. Das Ausmaß, in dem die Körpergröße bis zum Wachstumsabschluss noch zulegen kann, variiert jedoch stark. Sie kann nach der Menarche nur um 1,4 oder aber um ganze 18 Zentimeter zunehmen. Schambehaarung und Brustentwicklung sind zum Zeitpunkt der Menarche deutlich fortgeschritten (Largo et al. 1983b).
Mit der sogenannten Frisch-Formel wurde eine Beziehung zwischen Körpergewicht und Menarche postuliert (Frisch et al. 1970). Die Formel besagt, dass ein Mädchen mindestens 48 Kilogramm schwer sein muss, damit die Menarche auftreten kann. Wie sinnvoll ist diese Formel?
Auf diese Formel wird in populärwissenschaftlichen Schriften häufig hingewiesen. Sie besagt, dass eine kritische Menge weiblicher Hormone im Fettgewebe gespeichert werden muss, damit diese ausreichend aktiv sein können. In den Zürcher Studien haben wir festgestellt, dass die Formel im Einzelfall so nicht zutrifft. Das durchschnittliche Gewicht beim Auftreten der Menarche betrug zwar 45 Kilogramm, aber es variiert von Mädchen zu Mädchen zwischen 33 und 72 Kilogramm. Ein stärkerer Zusammenhang, der für das Menarchealter eine Rolle spielt und der statistisch hoch signifikant ist, aber dennoch nicht für alle Mädchen gilt, besteht zwischen Tochter und Mutter. Wenn die Menarche bei der Mutter früh oder spät auftrat, wird das mit einiger Wahrscheinlichkeit auch bei der Tochter der Fall sein.
Bei den Jungen verläuft wieder alles viel diskreter, wenn man einmal vom Stimmbruch absieht. Er setzt mehr oder weniger plötzlich ein und macht den meisten Jungen Probleme. Jungen im Stimmbruch haben es wirklich nicht leicht, entweder krächzen sie oder sie piepsen oder beides zur gleichen Zeit. Es ist fast schon ein Symbol für den permanenten Wandel in diesem Lebensalter.
Den Stimmbruch nimmt auch die Umgebung so wahr: nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Mann. Der Stimmbruch setzt wie die Menarche dann ein, wenn der Gipfel des pubertären Wachstumsspurtes überschritten ist. Der Stimmbruch kommt durch eine Vergrößerung und Absenkung des Kehlkopfes zustande. Beides findet bei Mädchen weit weniger ausgeprägt oder überhaupt nicht statt und damit verbleibt ihre Stimmlage auf einem höheren Niveau. Diskret wiederum ist bei den Jungen der erste Samenerguss, die sogenannte Ejakularche, welche die meisten Jungen nachts im Bett überrascht. Er kann aber auch tagsüber geschehen, zum Beispiel in der Schule, was einen Jungen – ähnlich einem Mädchen, das die erste Regelblutung bekommt – in eine unangenehme Situation bringen kann.
Jugendliche wachsen überall. Besonders deutlich ist das an den Extremitäten zu sehen: die Füße, die Hände und vor allem auch die Nase entwickeln sich manchmal schneller als der Rest. Jugendliche brauchen ständig neue Schuhe, manche – insbesondere die Jungen – sehen eine Weile lang wie tolpatschige Enten auf Landgang aus. Die Mädchen wiederum mutieren zu langbeinigen Wesen.
In den letzten Jahren vor der Pubertät wachsen Kinder nur noch wenig; manche nicht mehr als 4 Zentimeter innerhalb eines Jahres. Wenn der pubertäre Wachstumsspurt einsetzt, fällt deshalb die Größenzunahme um so mehr auf (Abbildung 6). Es gibt Kinder, vor allem Jungen, die legen in einem Jahr bis zu 12 Zentimeter an Größe zu und wachsen damit innerhalb weniger Monate aus ihren Kleidern und Schuhen heraus. Der Wachstumsspurt setzt dabei nicht am ganzen Körper gleichzeitig ein. Er beginnt bei den Extremitäten. Den Eltern fällt auf, dass ihr Junge plötzlich so große Füße hat. Mädchen wiederum wirken in diesem Alter wie Gazellen; sie sind ausgesprochen langbeinig. Ihre Beine werden in Relation zum Rumpf nie mehr so lang sein wie in diesem Alter. Schließlich legt der Rumpf ebenfalls an Länge zu und die Körperproportionen verändern sich erneut.
6) Individuelle Geschwindigkeitskurven der Körpergröße bei Jungen (blau) und Mädchen (rot). Jede Kurve beschreibt das Wachstum bei einem einzelnen Kind. Die individuellen Kurven weisen alle das gleiche Kurvenbild auf. Sie unterscheiden sich lediglich in der Intensität der Wachstumsgeschwindigkeit, in der Höhe des Wachstumsspurtes und in der Wachstumsdauer. Die dicken Kurven stellen die mittlere Wachstumsgeschwindigkeit für die beiden Geschlechter dar (Largo et al. 1978).
Es nimmt aber nicht nur die Körpergröße zu, das Gewicht auch! Es entstehen die weiblichen, runden Körperformen – zur Freude oder zum Verdruss der Mädchen.
In einer nächsten Entwicklungsphase, bereits während oder kurz nach dem Wachstumsspurt, legt auch das Körpergewicht sehr stark zu, weit mehr als die Körpergröße. Zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr nimmt die Körpergröße um 15 bis 25 Prozent zu, das Gewicht jedoch um 75 bis 100 Prozent! Bei den Mädchen vermehrt sich vor allem das Fettgewebe, insbesondere an den Hüften und Oberschenkeln, weniger im Bereich des Oberkörpers und der Schultern. Die Zunahme des Fettgewebes bei den jungen Frauen hat verschiedene biologische Gründe: Das Fettgewebe dient dem Hormonhaushalt als Speicher. Es stellt eine Energiereserve für die Schwangerschaft und – in früheren Zeiten – für Hungerperioden dar. Schließlich machen die weiblichen Körperformen die Frauen für Männer attraktiv, auch wenn die Modeindustrie und die Mädchen das oft anders sehen.
Und wie ist es bei den Jungen? Legen auch sie Fettreserven für schlechte Zeiten an oder hat die Natur für junge Männer andere Überlebensstrategien vorgesehen?
Bei den Jungen nimmt das Fettgewebe ebenfalls zu, aber deutlich weniger. Die Natur investiert weit mehr in die Muskelmasse, die insbesondere im Bereich der Schultern, Oberarme und Oberschenkel kräftig zulegt. Damit vergrößert sich auch die Muskelkraft in der Pubertät (Tanner 1962). Die Körpersilhouette wandelt sich in Richtung »Superman«. Kräftige Schultern und eine ausgeprägte Brustmuskulatur signalisieren dem anderen Geschlecht Männlichkeit, Kraft und Schutz. Das ist die körperliche Ausstattung, welche die Natur für den Mann vorgesehen hat.
Vieles, das in der Pubertät passiert, verursacht Scham, Unwohlsein, peinliche Situationen. Am liebsten würden sich viele Jugendliche in dieser Zeit einfach verstecken. Wie gehen sie damit um?
Auch wenn Jugendliche immer wieder zu hören bekommen, all das sei absolut natürlich – etwa die Ejakularche oder das Masturbieren – sind damit die peinigenden Gefühle nicht aus der Welt geschafft. Dafür sind einerseits nach wie vor kulturelle Vorbehalte, wie sie zum Beispiel die katholische Kirche vertritt, verantwortlich. Die Gesellschaft ist diesbezüglich zwar entspannter und verständnisvoller geworden, dennoch plagen die Jugendlichen Schamgefühle und Unwohlsein. Dies hat andererseits auch mit ihrer psychischen Entwicklung zu tun. Die Jugendlichen werden vom Tempo, mit dem sich ihr Körper verändert, immer wieder überrascht und in Verlegenheit gebracht. Sie müssen sich immer wieder aufs Neue mit ihrem Körper vertraut machen und ihr Verhalten anpassen. Wahrlich kein einfaches Unterfangen.
Es überrascht also nicht, dass pubertierende Jungen und Mädchen viel Zeit vor dem Spiegel verbringen. Sie brauchen morgens nun plötzlich eine Stunde länger im Bad. Bin ich schön oder hässlich? Attraktiv? Begehrenswert? Ein Eroberertyp oder ein Nerd, ein blasses Muttersöhnchen mit Brille? Dem Spiegelbild wird eine große Bedeutung beigemessen, dem unbelebten, das uns der Glasspiegel vorhält, aber auch der lebendigen Spiegelung in den Augen der anderen, in der die Jugendlichen ein Idealbild von sich selbst zu sehen hoffen.
Da sich Gesicht und Körper ständig verändern, muss sich der Jugendliche immer wieder aufs Neue mit seiner körperlichen Erscheinung auseinandersetzen. Damit wandelt sich auch seine Selbstwahrnehmung. Mit dem Eintritt in die Pubertät bekommt der eigene Körper auch in der Beziehung zu den Gleichaltrigen eine andere, weitaus größere Bedeutung. Jugendliche spüren intuitiv, welche Wirkung ihr Aussehen auf ihre Freunde hat. Sie achten auf ihr Blickverhalten, reagieren auf ihre bewundernden oder abfälligen Kommentare zu ihrem Aussehen auf das Empfindlichste.
Jede Generation fragt sich aufs Neue: Bin das noch ich? [2]
Wie in der gesamten Entwicklung sind die interindividuellen Unterschiede in der Pubertät groß. Es gibt einerseits Mädchen, die bereits in der Grundschule zu pubertieren beginnen, und andererseits Jungen, die erst Jahre später soweit sind.
Die Pubertätsentwicklung – ich muss es immer wieder betonen – weist in jeder Hinsicht eine besonders große Variabilität auf. Jedes ihrer Merkmale kann in seinem Auftreten bei Jugendlichen um 6 und mehr Jahre schwanken (Abbildung 4 und 5). Es kommt vor, dass ein Mädchen bereits in der Grundschule eine vergrößerte Brust und bald danach die Menarche bekommt. Bei anderen Mädchen beginnt die Pubertät nicht vor der 7. bis 9. Klasse und die Menarche stellt sich erst nach dem 16. Lebensjahr ein. Dasselbe gilt für Jungen. Die Genitalentwicklung kann bereits in der Grundschule einsetzen oder aber erst mit 15 Jahren. Der Stimmbruch kann einen Jugendlichen mit 12 Jahren in Verlegenheit bringen oder aber durch sein Ausbleiben bis zum 17. Lebensjahr zu einem Ärgernis werden. 82 Prozent der Jungen sind bei der ersten Ejakulation zwischen 11 und 14 Jahre alt; mit 17 Jahren geben mehr als 90 Prozent an, schon einmal ejakuliert zu haben (BzgA 2010). Sehr unterschiedlich ist nicht nur das zeitliche Auftreten der sekundären Geschlechtsmerkmale, sondern auch die Dauer der Pubertätsentwicklung, also wie rasch oder langsam ein Mädchen oder ein Junge die Pubertät durchläuft. Manche Jugendliche brauchen dazu lediglich 1 bis 2 Jahre, andere bis zu 5 und mehr Jahre.
Sie gehen in die gleiche Klasse. Der eine noch Kind, der andere schon erwachsen.
Deshalb können Normvorstellungen und Verallgemeinerungen dem einzelnen Jugendlichen nur zufällig gerecht werden. Jeder Jugendliche ist mit seiner Pubertätsentwicklung ein Unikat.
Die Pubertätsentwicklung ist nicht nur sehr variabel in ihrem Auftreten und ihrer Dauer, sondern auch in der Ausprägung der Geschlechtsmerkmale. Die weibliche Brust kann unterschiedlich groß werden und gelegentlich auch auf den beiden Seiten ungleich stark ausgebildet sein. Eine unterschiedliche Ausprägung findet sich auch bei den weiblichen und männlichen Genitalorganen. Schambehaarung, Achselbehaarung und Bartwuchs variieren in ihrer Ausbreitung und Dichte deutlich. Bei den meisten Jungen bleibt die Schambehaarung nicht auf ein Dreieck beschränkt, sondern zieht sich als Haarlinie bis zum Nabel hoch; bei einem Teil der Mädchen kann dies ebenfalls der Fall sein. Der pubertäre Wachstumsschub kann nicht nur in sehr unterschiedlichem Alter auftreten, er kann auch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Wie bereits erwähnt gibt es Jungen, die bis zu 12 Zentimeter in einem Jahr wachsen. Es gibt aber auch Mädchen, die nur einen geringen Wachstumsschub durchmachen. Abbildung 6 zeigt auf, wie unterschiedlich das individuelle Längenwachstum verlaufen kann. Die individuellen Kurven variieren in der Intensität der Wachstumsgeschwindigkeit, der Höhe des Wachstumsspurtes und der Wachstumsdauer. Die Kurven weisen jedoch für alle Kinder das gleiche Kurvenbild auf, das heißt, die Wachstumsdynamik ist bei allen Kindern die gleiche.
Was in Abbildung 6 ebenfalls gut zum Ausdruck kommt ist die »Verspätung« der Jungen. Sie haben ihren Wachstumsspurt deutlich nach den Mädchen.
Bei Jungen setzt die Pubertät und damit auch der Wachstumsspurt im Mittel eineinhalb Jahre später ein als bei Mädchen. Sie sind also im gleichen chronologischen Alter unreifer als Mädchen, was beim Wachstumsspurt besonders deutlich zu sehen ist. Jungen sind jedoch nicht erst in diesem Alter unreifer als Mädchen, sie sind es bereits bei der Geburt und bleiben im Verlauf der Entwicklung relativ immer mehr hinter den Mädchen zurück. Dafür dauern ihr Wachstum und ihre Entwicklung umso länger. Die meisten Mädchen sind mit 16 Jahren ausgewachsen und ausgereift, die Jungen sind es erst mit etwa 18 Jahren.
Und dann haben sie also die Mädchen wieder eingeholt. Schließlich gibt es auch noch den relativ großen Unterschied in der Körpergröße zwischen Jungen und Mädchen.
Dieser Unterschied stellt sich im Wesentlichen erst in der Pubertät ein (Prader et al. 1989). Bis zur Pubertät unterscheiden sich Jungen und Mädchen bezüglich mittlerer Körpergröße lediglich um 1 bis 2 Zentimeter (Abbildung 7). Weil Mädchen früher in die Pubertät kommen und damit auch ihr Wachstumsspurt früher einsetzt, sind sie mit 12 Jahren vorübergehend im Mittel etwas größer als Jungen. Dann aber setzt der Wachstumsschub auch bei Jungen ein und dies weitaus stärker. Im Erwachsenenalter besteht zwischen Frauen und Männern ein mittlerer Größenunterschied von 13 Zentimetern; diese Differenz findet sich bei allen Ethnien auf der ganzen Welt. Der Größenunterschied kommt zu 50 Prozent dadurch zustande, dass der Wachstumsspurt beim männlichen Geschlecht deutlich ausgeprägter ist, und zu 50 Prozent, weil Jungen im Mittel eineinhalb Jahre länger wachsen als Mädchen.
7) Entwicklung der Körpergröße bei Jungen und Mädchen. Die 50-Prozent-Linie entspricht dem Mittelwert. 3 Prozent der Kinder liegen über der 97-Prozent-Linie bzw. unter der 3-Prozent-Linie (Prader et al. 1989).
Die Daten, die wir für die Abbildungen 4 und 5 verwendet haben, stammen aus den 1960er und 70er Jahren. Sind sie heute überhaupt noch zutreffend? Es wird doch allgemein davon ausgegangen, dass die Pubertät heute deutlich früher einsetzt als noch vor zwei Generationen.
Das stimmt nur bedingt. Das durchschnittliche Alter der Menarche liegt heute bei 12,5 Jahren, sie tritt also etwas früher auf als in Abbildung 4 angegeben. Weitaus bedeutsamer als das durchschnittliche Menarchealter sind jedoch die großen interindividuellen Unterschiede. Daran hat sich nichts geändert. Wenn in den Medien von Mädchen berichtet wird, die bereits mit weniger als 10 Jahren die Regelblutung haben, hat das weniger mit einer Beschleunigung der Pubertätsentwicklung als vielmehr mit der großen Variabilität zu tun. Mädchen, die in der Grundschule die Menarche bekommen oder mit 12 Jahren schwanger werden, hat es bereits vor 50 Jahren gegeben. Andererseits gibt es auch heute noch Mädchen, die erst mit 16 Jahren ihre Regel bekommen.
Dann ist also die Vorverlegung der Pubertät ein Mythos?
Für die letzten beiden Generation weitgehend. Vieles spricht dafür, dass es auch in Zukunft keine weitere Beschleunigung der Pubertätsentwicklung mehr geben wird. Große Veränderungen haben tatsächlich stattgefunden, aber das ist schon lange her, nämlich etwa zwischen 1850 und 1960.
Dann hat die Vorverlegung der Pubertät nichts mit einer immer liberaleren, tabuloseren, durch Medien für jedes Alter erlebbaren Sexualität zu tun, sondern sie hat ganz andere Ursachen?
Das körperliche Wachstum und die Pubertätsentwicklung hängen in hohem Maß von den Lebensbedingungen ab, unter denen Kinder aufwachsen. Das Fernsehen führt es uns tagtäglich vor Augen, wenn aus Ländern berichtet wird, wo Kinder in ihrer Entwicklung und ihrem Wachstum beeinträchtigt werden, weil sie an Mangel- und Fehlernährung leiden und aufgrund schlechter hygienischer Bedingungen und wegen unzureichender oder gar fehlender Gesundheitsversorgung an schweren Krankheiten wie Tuberkulose erkranken (Galler et al. 1987). Solche Zustände herrschten im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch bei uns. Mit dem großen technischen und medizinischen Fortschritt, aber auch den stabileren politischen Verhältnissen und großen wirtschaftlichen Verbesserungen veränderten sich die Lebensbedingungen von Kindern, was sich positiv auf ihre körperliche Entwicklung ausgewirkt hat. Möglicherweise hatte auch die vermehrte Lichtexposition durch die elektrische Beleuchtung eine beschleunigende Wirkung. Der sogenannte säkulare Trend (Van Wieringen 1986) war in zweifacher Hinsicht positiv: Das Wachstum beschleunigte sich, was zu einer Verkürzung der Wachstumsdauer führte, und die Körpergröße nahm – trotz der verkürzten Wachstumsdauer – deutlich zu. Einer holländischen Untersuchung zufolge verkürzte sich die Dauer des körperlichen Wachstums bei Männern zwischen 1850 und 1960 von 24 auf 18 Jahre. Im gleichen Zeitraum ist die durchschnittliche Erwachsenengröße der Männer von 169 auf 178 Zentimeter angewachsen (Oppers 1963). In der Schweiz wurde eine Zunahme der mittleren Erwachsenengröße zwischen 1850 und 1970 von 164 auf 176 Zentimeter verzeichnet.
Dieser säkulare Wachstumstrend, der also auf den verbesserten Lebensbedingungen beruht, hat natürlich auch vor der Pubertät nicht halt gemacht. Aber wie genau sah ihr Einfluss aus?
Die Pubertätsentwicklung hat sich ebenfalls beschleunigt. In Bezug auf die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale wie die Brustentwicklung gibt es zwar keine verlässlichen Daten. Was aber frühzeitig festgehalten wurde ist das Menarchealter. Das mittlere Menarchealter sank in Finnland, Norwegen und den USA zwischen 1850 und 1980 von 17 auf 13 Jahre (Eveleth et al. 1976).
Warum sollte der säkulare Trend nicht weitergehen und die Pubertätsentwicklung weiter beschleunigen?
Weil in Mitteleuropa derzeit die Lebensbedingungen für alle sozialen Schichten gut sind. Das Wachstum und die Pubertätsentwicklung sind ohne Einschränkung für alle Kinder gewährleistet. Wir können nur hoffen, dass das so bleibt. Die Natur hat als Optimum kein beliebig rasches Wachstum vorgesehen, sondern eines, das sich unter guten Umweltbedingungen realisieren lässt. Wird dem Körper mehr Nahrung zugeführt, als er benötigt, nimmt die Körpergröße nicht mehr zu, sondern lediglich das Fettgewebe. Heutzutage leiden immer mehr Kinder an Übergewicht.
Wenn sich die »Plage« Pubertät der bis dato süßen Kinder bemächtigt, dann sind vor allem die Hormone, insbesondere die Sexualhormone schuld, glauben viele Erwachsene. Welche Rolle spielen die Hormone nun eigentlich?
Die primären Geschlechtsorgane, Uterus, Eierstöcke und Vagina bei den Mädchen sowie Hoden und Penis bei den Jungen, sind bereits bei der Geburt ausgebildet, verbleiben aber in einem infantilen Stadium. Sie sind wie auch die sekundären Geschlechtsmerkmale auf Auslöser, die Sexualhormone, angewiesen, damit bei ihnen die weitere Entwicklung in Gang kommt. Die Hormone regen die primären Geschlechtsorgane zum Wachsen und Differenzieren an und initiieren die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale. Die Hormone wirken zudem auf verschiedenste andere Gewebe und Organe wie Fettgewebe und Herz ein (Abbildung 8). Sie werden in den Nebennieren (Androgene), Eierstöcken (Östrogene) und Hoden (Testosteron) gebildet. Diese inneren Drüsen werden wiederum nur aktiv, wenn sie durch Hormone, die in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) erzeugt werden, dazu angeregt werden (Gonatotropine: Luteinisierendes Hormon (LH) und Follikelstimulierendes Hormon (FSH)). Die Hypophyse schließlich wird zur Ausschüttung dieser Hormone durch das Gonadoliberin (GnRH) aus dem Hypothalamus angeregt. Eine Kaskade von Botenstoffen führt also zur Pubertätsentwicklung. Entscheidend jedoch ist, was im Hypothalamus geschieht. Der Hypothalamus, der mitten im Gehirn liegt und eine Vielzahl von Verbindungen mit anderen Bereichen des Gehirns hat, ist die eigentliche Schaltstelle für zahlreiche Körperfunktionen. So reguliert er unter anderem das Appetit- und Sättigungsgefühl sowie die Körpertemperatur. Der Hypothalamus ist auch der Zeitgeber für die Schlaf- und Wachzyklen und bestimmt den biologischen Zeitplan von Wachstum und Entwicklung. Erst wenn die Zeituhr im Hypothalamus die Ausschüttung der Hormone auslöst, kommt es zu der Kaskade von Botenstoffen, welche die Zellen in der Gebärmutter oder im Hoden, aber auch in den Schweißdrüsen und Haarfollikeln zum Wachstum und zur Differenzierung anregen.
8) Regulation des Wachstums und Initiierung der Pubertätsentwicklung. Kaskade von Hormonen, die vom Hypothalamus über die Hypophyse und endokrine Organe das Wachstum und die Differenzierung der primären Geschlechtsorgane und sekundären Geschlechtsmerkmale bewirken.
Die Zeit der Pubertät wird oft auch als Alter der vielfachen Leiden beschrieben. Die großen körperlichen Veränderungen verunsichern die Jugendlichen und sind oft kaum zu bewältigen. Und dann kommen auch noch die verschiedenen Beschwerden dazu wie etwa Bauchschmerzen bei der Menstruation.
Die Menstruationsblutungen sind bei den meisten Mädchen anfänglich unregelmäßig bezüglich Zeitintervall zwischen den Blutungen wie auch Stärke der Blutung. Menstruationszyklen dauern im Mittel 28 Tage, die Schwankungsbreite beträgt 21 bis 35 Tage. Unmittelbar nach der Menarche können Zyklen kürzer als 21 Tage ausfallen, aber auch länger als 35 Tage dauern (Flug et al. 1984). Leichte Blutungen können nach kurzem oder langem Abstand von schweren, gelegentlich schmerzhaften Blutungen gefolgt sein. Die Gründe dafür sind Hormonzyklen, die sich noch nicht eingespielt haben, und das Gewebe der Gebärmutter, das sich erst entwickeln muss. Weil die Hormone noch unregelmäßig ausgeschüttet werden, sind die Menstruationszyklen anfänglich häufig anovulatorisch, das heißt ohne Eisprung und ohne Empfängnisbereitschaft (Apter et al. 1977). Die Regularisierung der Menstruationszyklen und das regelmäßige Auftreten ovulatorischer Zyklen stellen sich bei etwa 10 Prozent der Mädchen erst 5 Jahre nach der Menarche ein. Der Eisprung ist nur ausnahmsweise schmerzhaft. Jungen bleiben schmerzhafte Leiden in der Pubertät weitgehend erspart. Der nächtliche Samenerguss (Pollution), der häufig von Träumen sexuellen Inhalts begleitet wird, die deshalb auch als »feuchte Träume« bezeichnet werden, kann für die Jungen von unangenehmen Gefühlen begleitet sein, ist aber nie schmerzhaft.
Das klingt jetzt so, als wären die Jungen besser dran. Aber auch sie trifft die Hormonumstellung. Was die Akne betrifft, die Jugendliche besonders ängstigt, ergeht es ihnen nicht besser als den Mädchen, oder?
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