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Was ist Erziehung? Kinderarzt Remo H. Largo, Autor des Bestsellers »Babyjahre«, bietet Einsichten in die kindliche Entwicklung vom Kleinkindalter bis an die Schwelle des Erwachsenseins. Dabei berührt er fundamentale Fragen über Veranlagung und Umwelt, die kindlichen Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, die Bedeutung von Reifung und selbstbestimmten Erfahrungen: - Wie entsteht die Individualität des Kindes? - Wie bilden sich tragfähige Beziehungen? - Wie werden Kinder zu selbstbewußten und glücklichen Erwachsenen? Wie finden sie ihr passendes Leben? - Was können Eltern zur Entwicklung ihres Kindes beitragen?"Kinderjahre" bietet praktische Hilfestellung, wie Sie die speziellen Talente und Veranlagungen Ihres Kindes am besten fördern In klarer und verständlicher Sprache macht Remo H. Largo anhand vieler Beispiele deutlich: Erziehen bedeutet, das Kind in seiner Entwicklung so zu unterstützen, dass es zu dem Wesen werden kann, das in ihm angelegt ist. Der Bestseller des bekannten Entwicklungsforschers in vollständig überarbeiteter und aktualisierter Neuausgabe.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Eva und Peter, Jana und Remo, Kathrin und Carlos, Arón und Miguel und JohannaVollständig überarbeitete Neuausgabe© Piper Verlag GmbH, München 2000, 2019Redaktion der Neuausgabe: Margret Trebbe-PlathUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCoverabbildung: Erwin Auf der Maur
Cover & Impressum
Motto
Vorwort
Einleitung
Das Normale an der kindlichen Entwicklung ist Vielfalt
Über den Einfluss von Anlage und Umwelt
Was Kinder in ihrer Entwicklung antreibt
Die Grundelemente des Fit-Prinzips
Wenn Kinder sie selbst sein dürfen
Misfit-Konstellationen: In Schieflage geraten
Jedes Kind ist einzigartig
Einleitung
Vielfalt unter Kindern (interindividuelle Variabilität)
Vielfältige Ausprägung von Entwicklungsmerkmalen
Vielfalt im Auftreten der Fähigkeiten
Unterschiedliche Abfolgen der Entwicklungsstadien
Ungleiches Entwicklungstempo von Jungen und Mädchen
Vielfalt beim einzelnen Kind (intraindividuelle Variabilität)
Sich von Normen und Ängsten befreien
Was ist angeboren, was erworben und anerzogen?
Einleitung
Wie Anlage und Umwelt zusammenwirken
Gene und Masterplan
Wie organische und funktionelle Strukturen entstehen und kooperieren
Vom Einfluss der Lebensbedingungen auf die Entwicklung des Kindes
Warum die Menschen immer größer wurden, jetzt aber nicht mehr
Warum die Menschen immer klüger wurden, jetzt aber kaum mehr
Das Begabungspotenzial will realisiert, kann aber nicht überstiegen werden
Das Kind bestimmt mit
Das Kind ist aktiv und selektiv
Wie die Eltern oder deutlich verschieden
Was Eltern an ihre Kinder weitergeben
Warum nicht nur Aufstieg, sondern auch Abstieg sinnvoll sein kann
Wie Kinder sich entwickeln
Einleitung
Warum Kinder nur lernen können, wenn sie sich wohlfühlen
Ungeliebt und vernachlässigt
Über das Zusammenspiel von Reifung und Erfahrung
Wie Kinder Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben
Wie Kinder lernen
Genuin neugierig
Warum Neugierde das Lernen befördert
Was nachhaltiges Lernen auszeichnet
Von der Bedeutung frühester Lernerfahrungen
Wie wir das Kind in seiner Entwicklung unterstützen können
Die Grundbedürfnisse von Kindern
Einleitung
Körperliche Integrität
Ernährung
Schlaf
Sexualität
Geborgenheit und Zuwendung
Was ist Geborgenheit, was ist Zuwendung?
Warum die Bindung zwischen Kind, Eltern und Bezugspersonen so wichtig ist
Merkmale des kindlichen Bindungsverhaltens
Entwicklung des kindlichen Bindungsverhaltens
Warum sich Eltern binden und für ihr Kind sorgen
Entwicklung der elterlichen Bindung
Wie sich Bezugspersonen an Kinder binden und für sie sorgen
Soziale Anerkennung und sozialer Status
Erste Lebensjahre
Schulalter
Jugendalter
Freiräume für Kinder und Jugendliche
Selbstentfaltung
Alle Kinder wollen aus sich heraus lernen
Streben nach Leistung
Erste Lebensjahre
Schulalter
Jugendalter
Existenzielle Sicherheit
Warum gesicherte Verhältnisse so wichtig sind
Wie die Grundbedürfnisse die Individualität eines Kindes prägen
Jedes Kind kann nur sein eigenes Leben führen
Kinder wollen ihre Kompetenzen entfalten
Einleitung
Soziale Kompetenzen
Körpersprache (Nonverbale Kommunikation)
Fürsorgliche Kompetenzen
Imitatives und soziales Lernen
Soziale Kognition
Sprachliche Kompetenzen
Was Sprache einmalig macht
Die formalen Strukturen der Sprache
Wie das Kind seine Vorstellungen in die Sprache einbringt
Wie das Kind zur Sprache kommt
Sprachliche Vielfalt in einer Kommunikationsgesellschaft
Musikalische Kompetenzen
Was die musikalischen Kompetenzen ausmacht
Kinder lieben Musik
Figural-räumliche Kompetenzen
Wie sich die figural-räumlichen Kompetenzen entwickeln
Vielfalt unter Kindern
Logisch-mathematische Kompetenzen
Wie sich Kinder logisch-mathematisches Denken aneignen
Von Rechenschwäche bis zu mathematischer Hochbegabung
Zeitlich-planerische Kompetenzen
Subjektives Zeitempfinden und moderne Zeitgeber
Wie das Kind ein Zeitverständnis und planerische Fähigkeiten entwickelt
Motorische Kompetenzen
Der Werdegang der motorischen Entwicklung
Wie wir der Vielfalt unter den Kindern gerecht werden können
Körperliche Kompetenzen
Was Kinder attraktiv macht
Wie die Kompetenzen die Individualität eines Kindes prägen
Vom Umgang mit Stärken und Schwächen
Wie Kinder zu ihren Vorstellungen kommen
Einleitung
Warum Vorstellungen so mächtig sind
Wie Kinder Vorstellungen erwerben
Warum Vorstellungen von Kind zu Kind so unterschiedlich sind
Das Fit-Prinzip: Wenn Kinder sie selbst sein dürfen
Einleitung
Das Fit-Prinzip im Erziehungsalltag
Von einer autoritären zu einer kindorientierten Erziehung
Was ist bestimmend: Reifung und/oder Training?
Eigeninitiative: Das Kind ist bereit
Die Eltern als Vorbild und Gehilfen
Warum Selbstbestimmung so wichtig ist
Das Kind in seiner Einzigartigkeit begreifen
Wie sind die Grundbedürfnisse beim Kind angelegt?
Welche Kompetenzen sind besonders ausgeprägt, welche weniger?
Über welche Vorstellungen verfügt das Kind?
Was uns das Kind mit seinen Emotionen mitteilen will
Ein Profil erstellen
Was eine kindorientierte Erziehungshaltung ausmacht
Das Kind richtig lesen
Bestimmen lassen und Grenzen setzen
Mit dem Kind einfühlsam umgehen
Dem Kind und sich selbst vertrauen
Misfit: Wenn Kinder in Schieflage geraten
Einleitung
Guter Stress, schlechter Stress
Wie Kinder auf Stress reagieren
Wie Unverständnis für die individuellen Eigenheiten der Kinder zu Misfit-Situationen führt
Wenn Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden
Wenn Kompetenzen den Erwartungen und Anforderungen nicht genügen
Die Eigenheiten des Kindes erkennen und sich darauf einstellen
Das Kind verstehen
Was trägt die Umwelt zu Misfit-Situationen bei?
Früher Misfit mit langfristigen Folgen
Der Medienkonsum – ein gigantischer Misfit?
Unser Bild vom Kind und unsere Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit
Unsere Erwartungen an das Kind
Warum es uns schwer fällt, auf alle Kinder gleichermaßen einzugehen
Nicht nur beim Kind, auch bei uns selbst ankommen
Nur gemeinsam können wir Kinder großziehen
Anhang
Praktische Anleitung zur Anwendung des Fit-Prinzips bei Kindern
Wie sind die Grundbedürfnisse beim Kind angelegt?
Wie sind die Kompetenzen beim Kind ausgebildet?
Über welche Vorstellungen verfügt das Kind?
Wie reagiert das Kind auf/in Fit- und Misfit-Situationen?
Die Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt erfassen und fördern/unterstützen
Zürcher Longitudinalstudien
Dank
Literatur
Vorwort
Jedes Kind ist einzigartig
Was ist angeboren, was erworben und anerzogen?
Wie Kinder sich entwickeln
Die Grundbedürfnisse von Kindern
Kinder wollen ihre Kompetenzen entfalten
Wie Kinder zu ihren Vorstellungen kommen
Das Fit-Prinzip: Wenn Kinder sie selbst sein dürfen
Misfit: Wenn Kinder Schieflage geraten
Bildnachweis
Der Mensch, wenn er werden soll, was er sein muß, muß als Kind sein und als Kind tun, was ihn als Kind glücklich macht.
Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827)
Das Kind hat ein Recht, so zu sein, wie es ist.
Janusz Korczak (1878–1942)
Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengung zu, denn daraus kann ich lernen.
Maria Montessori (1870–1952)
Boarding für den Flug Hamburg – Zürich. Vor mir steht eine Mutter, die ihr Kind auf dem Arm hat, das mich neugierig anschaut. Ich frage sie, wie alt ihre Tochter ist. Marisa sei 12 Monate und mache bereits die ersten Schritte. Marisa wird unruhig, sie will runter. Die Mutter stellt sie auf die Füße. Marisa macht vorsichtig einige Schritte. Weil die Gangway etwas abfällt, wird Marisa immer schneller, bis sie am Hosenbein eines Mannes zum Halten kommt. Der Mann blickt erstaunt nach unten und lächelt Marisa an. Die Mutter nimmt ihre Tochter hoch. Im Flugzeug angekommen, stellt sie Marisa wieder auf den Boden. Das Mädchen läuft stolz den Gang entlang und schaut sich aufmerksam die Menschen in den Sitzreihen links und rechts an. Da Passagiere hinter uns nachdrängen, nimmt die Mutter ihre Tochter erneut hoch und geht mit ihr zu ihren Plätzen. Sie kommen neben dem Mann von vorhin zu sitzen. Marisa lächelt ihn an. Den kenne ich doch.
Wenn Kinder auf die Welt kommen, erwarten sie nur Gutes. Sie wollen mit Freude empfangen, geliebt und umsorgt werden. Die nächsten 15 Jahre lang sind sie unablässig damit beschäftigt, sich Fähigkeiten wie das Laufen und Sprechen anzueignen; sie sind unendlich stolz, wenn sie wieder einen Entwicklungsschritt geschafft haben. Und sie wollen alles um sich herum kennenlernen und verstehen. Das unbändige Streben von Kindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten und die Welt zu begreifen, fasziniert mich auch noch als alter Großvater. Ich habe meine helle Freude daran, Kindern wie Marisa zuzuschauen. Jedes Kind ist für mich immer noch eine neue Erfahrung, etwas Einzigartiges.
Wie unterschiedlich Kinder sein können, war eine der nachhaltigsten Erfahrungen, die ich in meiner Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater in mehr als 30 Jahren gemacht habe. In den Zürcher Longitudinalstudien durfte ich mit meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mehr als 700 Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter begleiten. Wir haben die Entwicklung jedes einzelnen Kindes Jahr für Jahr in Bereichen wie Motorik und Sprache detailliert aufgezeichnet und analysiert. Bei der Auswertung der Daten stellte sich heraus, dass es keine Fähigkeit, kein Verhalten und keine körperliche und psychische Eigenschaft gibt, die bei allen Kindern gleich ausgebildet ist. In jedem Alter sind Kinder unterschiedlich groß und schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte im Alter von 10, andere erst mit 20 Monaten. Es gibt Kinder, die sich bereits mit 3 bis 4 Jahren für Buchstaben interessieren, die meisten erst mit 6 bis 8 Jahren, und nicht wenigen bereitet das Lesen selbst im Erwachsenenalter noch Mühe.
Kenntnisse über die Vielfalt unter Kindern und die Gesetzmäßigkeiten der normalen Entwicklung sind im Umgang mit Kindern eine unschätzbare Hilfe, insbesondere wenn sie nicht mehr unseren Erwartungen entsprechen. Beispielsweise bei Bernhard, der von seinen Eltern in die entwicklungspädiatrische Poliklinik gebracht wurde, weil er mit 10 Jahren immer noch nicht rechnen konnte. Er fühlte sich als Versager, da er hinter den anderen Kindern zurückblieb und die Erwartungen der Eltern und der Lehrerin nicht zu erfüllen vermochte. Bernhard war in seinem Wohlbefinden so sehr beeinträchtigt, dass er mehrmals den Schulbesuch verweigerte.
Ich habe im Laufe meiner klinischen Tätigkeit Tausende von Kindern wie Bernhard erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der »Norm« abwichen und den Erwartungen der Erwachsenen nicht entsprachen. Sie litten an den unterschiedlichsten Entwicklungsstörungen wie einer Rechenschwäche und reagierten darauf mit Verhaltensauffälligkeiten wie Ess- und Schlafstörungen oder wie Bernhard mit sozialem Rückzug. Der oftmals unausgesprochene Auftrag der Eltern und Lehrer an uns bestand darin, die Kinder durch Förderung in die »Norm« zu bringen, was – wie uns die langjährige Erfahrung gelehrt hat – nicht gelingen kann. Für uns war das eigentliche Problem dieser Kinder, dass sie nicht »sie selbst« sein durften. So versuchten wir den Kindern zu helfen, indem wir uns ein Bild von ihren individuellen Fähigkeiten machten und dann gemeinsam mit den Eltern und Bezugspersonen überlegten, wie das jeweilige Kind mit seinen Stärken und Schwächen am besten unterstützt werden konnte. Das war häufig nicht leicht, hatten doch viele Eltern und Lehrer bestimmte Erwartungen an das Kind, ganz eigene Vorstellungen von seinen Fähigkeiten und vor allem von den Leistungen, die es erbringen sollte. Wenn es uns jedoch gelang, die Erwachsenen auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes einzustellen, verbesserte sich sein körperliches und psychisches Wohlbefinden und seine Lernbereitschaft nahm zu.
Nina, 12 Monate alt, sucht nach dem Spiegelbild. [1]
Die wichtigsten Erkenntnisse aus meiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit habe ich in einer Reihe von Büchern wie »Babyjahre« (2017b), »Schülerjahre« (2009) und »Jugendjahre« (2011) für Eltern und Fachleute dargelegt. Seit dem erstmaligen Erscheinen der »Babyjahre« vor 25 Jahren durfte ich die wunderbare Erfahrung machen, dass Eltern viel gelassener und umsichtiger mit ihren Kindern umgehen, wenn sie sich an ihren individuellen Grundbedürfnissen und Fähigkeiten orientieren. Ein Verständnis für die kindliche Entwicklung ist eine weitaus bessere Erziehungshilfe als jeder wohlmeinende Ratgeber.
Dieses Buch hat eine andere Zielsetzung als meine früheren Bücher, in denen ich die Vielfalt unter den Kindern und den Verlauf der kindlichen Entwicklung beschrieben habe. Dieses Buch befasst sich mit dem Wesen des Kindes und den Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung. Das Herzstück dabei ist das Fit-Prinzip (siehe auch mein Buch »Das passende Leben« (Largo 2017a)). Es besagt: Jedes Kind will mit seinen Grundbedürfnissen, Fähigkeiten und Vorstellungen in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben. In »Kinderjahre« geht es also um das Zusammenwirken von Kind und Umwelt. Das Fit-Prinzip bekommt in der heutigen Gesellschaft, die zunehmend von sozialer Isolation, Förderwahn und Leistungsstreben geprägt ist, eine besonders große Bedeutung. Kinder wollen alle ihre Fähigkeiten entfalten und nicht nur diejenigen, die Eltern, Schule und Gesellschaft von ihnen erwarten. Doch das ist für sie immer schwieriger geworden.
In der Erstausgabe der »Kinderjahre« (1999) habe ich das Fit-Prinzip erstmals beschrieben. In den vergangenen 20 Jahren hat sich mein Verständnis für das Fit-Prinzip so sehr vertieft, dass ich mich entschlossen habe, das Buch vollständig zu überarbeiten. Ich hoffe, dass das überarbeitete Fit-Prinzip bei Eltern und Fachleuten auf Interesse und Zustimmung stoßen und ihnen beim Umgang mit Kindern eine Hilfe sein wird.
Remo H. Largo
Juni 2019
Der 11-jährige Ben setzt sich verunsichert auf seinen Platz. Die Lehrerin hat ihn bei der Begrüßung kaum angeschaut und nur flüchtig Guten Morgen gesagt. Ben grübelt: Warum ist die Lehrerin bloß unzufrieden mit mir? Ist meine Mathearbeit schlecht ausgefallen?
Als die Lehrerin Bens Verunsicherung und auch die der anderen Kinder bemerkt, erklärt sie der Klasse, dass sie müde und besorgt ist, weil ihr Kind in der vergangenen Nacht krank wurde und sie es ins Krankenhaus bringen musste. Dann teilt die Lehrerin die Mathearbeit aus. Ben ist Zweitbester. Er ist sehr zufrieden. Er spürt auch die Anerkennung von der Lehrerin und den anderen Kindern; manche schauen sogar ein bisschen neidisch zu ihm herüber.
Menschen jeden Alters wollen sich angenommen fühlen. Wie Ben reagiert auch ein gestandener Bankbeamter auf ein distanziertes Verhalten seines Vorgesetzten. Besonders Kinder aber brauchen für ihr Wohlbefinden ein Gefühl von Angenommensein. Ihr Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, ob sie die notwendige Anerkennung von den Erwachsenen und den anderen Kindern bekommen. Schließlich wollen sie mit ihren Leistungen sich selbst und den Erwartungen anderer wie der Lehrerin genügen können. Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit machen Kinder stark. Sie geben ihnen das Gefühl, ein gutes Leben zu führen, sich selbst zu mögen und ihren Alltag im Griff zu haben.
Wie sich ein Kind fühlt, etwa wenn es in der Schule überfordert wird, bestimmt sein Verhalten – und oft, wie erfolgreich es ist. Ist es in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt und verfügt über ein geringes Selbstwertgefühl, schwächt das seine Beziehungsfähigkeit. Seine Lernmotivation und sein Leistungsvermögen werden durch die innere Unsicherheit ebenfalls herabgesetzt. Kinder können ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie ihr Wissen nur ungenügend einsetzen, wenn sie sich unwohl fühlen und verunsichert sind. Schlimmstenfalls leiden ihr Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und ihre Selbstwirksamkeit derart, dass sie überzeugt sind: Mich mag niemand, ich kann nichts, ich bin nichts wert. Eine solch tiefe emotionale Verunsicherung erleben Kinder als Stress, der zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen führen kann.
Ein Kind fühlt sich dann wohl, wenn es seine körperlichen und psychischen Bedürfnisse befriedigen und seine Fähigkeiten entfalten kann. Dafür sollte es möglichst in Übereinstimmung mit seiner Umwelt leben dürfen. Wenn wir es als Eltern, Erzieherinnen und Lehrer darin ausreichend unterstützen, wird aus dem Kind ein junger Erwachsener mit einer positiven Grundstimmung, einem guten Selbstwertgefühl und einer guten Selbstwirksamkeit. Dies zu gewährleisten ist das Hauptanliegen des Fit-Prinzips.
Die nachfolgende kurze Übersicht über die verschiedenen Kapitel des Buches soll der Leserin und dem Leser aufzeigen, von welch großer Bedeutung so unterschiedliche Themen wie Vielfalt der Grundbedürfnisse und Fähigkeiten, das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt und die Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung für das Verständnis des Fit-Prinzips sind, aber auch von Misfit-Konstellationen, einer fehlenden Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt.
Wären alle Kinder gleich, wäre Erziehung nicht gerade ein Kinderspiel, aber doch sehr viel einfacher. Wenn gleichaltrige Kinder gleich viel essen würden, im selben Alter zu sprechen anfingen und in der Schule gleich gut lesen könnten, gäbe es weit weniger Erziehungsprobleme. Was den ganzen Mehraufwand jedoch bei Weitem aufwiegt und Kinder so kostbar macht: Jedes Kind ist als Person und in seinem Werdegang einzigartig.
Kinder sind bereits bei der Geburt sehr verschieden und werden es im Verlauf ihrer Entwicklung immer mehr. So gibt es unter gleichaltrigen Kindern solche, die doppelt so viel essen wie andere. Während das eine Kind mit 12 Monaten die ersten Wörter spricht, ist ein anderes erst mit 30 Monaten so weit. Die meisten Kinder lernen im Alter von etwa 7 Jahren Rechnen. Einige bringen sich das Rechnen bereits mit 4 bis 5 Jahren selbst bei, anderen gelingt dies erst Jahre später. Früh entwickelte Mädchen bekommen mit 10 Jahren ihre Regel, spät entwickelte erst mit 16 Jahren. Das Normale an der kindlichen Entwicklung ist Vielfalt.
Es ist offensichtlich und niemand wird bestreiten, dass gleichaltrige Kinder verschieden groß und schwer sind. Zu akzeptieren, dass geistige Fähigkeiten wie Sprache und Zahlenverständnis ebenfalls unterschiedlich angelegt sind, fällt – insbesondere bei den eigenen Kindern – weitaus schwerer. Dabei entwickeln sich diese Fähigkeiten von Kind zu Kind noch sehr viel unterschiedlicher als Körpergröße und Gewicht.
Gleichaltrige Kinder können so verschieden sein, dass eine erzieherische Haltung, die dem einen Kind entspricht, bei einem anderen verfehlt sein kann. Je mehr es uns gelingt, uns auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder einzustellen, desto besser werden sie sich entwickeln und desto geringer wird der erzieherische Aufwand sein. Viele erzieherische Schwierigkeiten treten gar nicht erst auf, wenn wir uns an der Individualität des Kindes orientieren.
Von den Normvorstellungen Abschied zu nehmen ist nicht einfach, und der Individualität eines Kindes gerecht zu werden ist anspruchsvoll. Dafür müssen wir als Eltern, Bezugspersonen und Fachleute unsere Erziehungshaltung immer wieder hinterfragen und uns immer wieder neu auf das Kind einstellen.
Roger Federer ist einer der erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten. Er ist bei 20 Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervorgegangen und hat die Weltrangliste mehr als 300 Wochen lang angeführt. War er so erfolgreich, weil er mit einem außerordentlichen Talent gesegnet ist, weil er sehr viel trainiert hat oder weil sich Begabung und Trainingseifer ideal ergänzt haben? Wenn Jugendliche einen dicken Harry-Potter-Band in einer Woche verschlingen, während einige ihrer Schulkameraden selbst eine kurze Notiz in einer Boulevardzeitung nur mit Mühe entziffern können – ist das so, weil ihre Lesekompetenzen so verschieden angelegt sind, oder liegt es daran, dass Elternhaus und Schule sie unterschiedlich unterstützt haben, oder trifft beides zu?
Die Frage, was an der Entwicklung und am Verhalten eines Kindes Ausdruck seiner Veranlagung und was erziehungsbedingt ist, treibt Eltern und Pädagogen gleichermaßen um. Sich darüber Klarheit zu verschaffen ist überaus wichtig, denn je nachdem, ob wir annehmen, dass ein bestimmtes Verhalten angeboren ist oder durch die Erziehung bestimmt wird, verhalten wir uns unterschiedlich. Fakt ist: Es ist immer sowohl Anlage als auch Erziehung beziehungsweise Erfahrung. So ist der tägliche Schlafbedarf biologisch vorgegeben. Die Eltern können die Schlafdauer ihres Kindes nicht bestimmen, sondern müssen sich darauf einstellen, dass es ein Kurz- oder Langschläfer sein kann. Hingegen können sie bestimmen, wann das Kind ins Bett geht, und können dafür sorgen, dass das abendliche Zubettbringen zu einer innigen Viertelstunde wird, die das Kind entspannt einschlafen lässt.
Was die Anlage zur Entwicklung beiträgt, kann die Umwelt nicht leisten. Was die Umwelt dazu beträgt, kann die Anlage nicht leisten. Es geht also darum zu verstehen, wie Anlage und Umwelt zusammenwirken.
Jedes Kind wird mit einem riesigen Entwicklungspotenzial geboren, das im Verlauf von Jahrmillionen entstanden ist und sich bewährt hat. Dieses ihm eigene Potenzial will das Kind verwirklichen. In den ersten Lebensmonaten beginnt es nach Gegenständen zu greifen und sie kennenzulernen. Mit einem Jahr kann es laufen und einige Worte verstehen. Mit 3 Jahren beginnt es zu zeichnen und mit dem Dreirad herumzufahren. Mit 5 Jahren spricht das Kind einigermaßen fehlerfrei und verfügt über ein einfaches Zahlenverständnis. Nun kommt es in die Schule, und die Entwicklung seiner Fähigkeiten macht bis zum Abschluss der Pubertät noch einmal einen Quantensprung. Das Kind rekapituliert innerhalb von etwa 20 Jahren eine immense Wegstrecke der Evolution – gewissermaßen im Schnelldurchlauf.
In jedem Lebensabschnitt reifen bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen heran, die das Kind durch Erfahrungen zur Entfaltung bringen will. So interessiert sich jedes Kind für Buchstaben, aber erst wenn die Fähigkeit zum Lesen herangereift ist. Dieser Auffassung vom Kind und von seiner Entwicklung werden Eltern und Lehrer kaum zustimmen, wenn sie davon ausgehen, dass ein Kind umso größere Fortschritte macht, je mehr Fertigkeiten mit ihm eingeübt werden und je mehr Wissen ihm angeboten wird. Das Kind ist aber keine Knetmasse, die man beliebig formen und an das man willkürliche Anforderungen stellen kann. So vermag sich ein Kind frühestens mit 4 Jahren in andere Menschen einzufühlen und hineinzudenken. Zuvor ein empathisches Verhalten vom Kind zu verlangen, etwa im Umgang mit einem jüngeren Geschwister, überfordert es.
Es ist ein Anliegen dieses Buches aufzuzeigen, dass jedes Kind lernen will, aber auf seine Weise und in seinem Entwicklungstempo. Wenn wir uns als Eltern und Erzieher an der individuellen Entwicklung eines Kindes und den Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Entwicklung orientieren wollen, müssen wir unsere Erwartungen und unseren Umgang mit dem Kind immer wieder hinterfragen.
Kinder entwickeln sich dann gut, wenn sie ihre körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse ausreichend befriedigen können. Das Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuwendung ist dabei genauso elementar wie körperliche Bedürfnisse, etwa ausreichende Ernährung und Pflege. Kinder wollen sich von den anderen Kindern angenommen fühlen und eine feste Stellung in einer Gruppe, zum Beispiel in der Kita, einnehmen. Und sie haben einen unwiderstehlichen Drang, ihre Begabungen zu entfalten und Leistungen zu erbringen, etwa auf einen Baum klettern oder ein Buch lesen.
Das Fit-Prinzip geht von 6 Grundbedürfnissen aus, die von Kind zu Kind verschieden angelegt sind. Das eine Kind hat ein großes Bedürfnis nach Geborgenheit, ein anderes weit weniger, aber dafür ist bei ihm das Bedürfnis, seine Fähigkeiten zu entwickeln, umso mächtiger. Die Grundbedürfnisse sind auch beim einzelnen Kind unterschiedlich angelegt. So hat ein Kind ein großes Verlangen nach sozialer Anerkennung und sozialer Stellung unter Gleichaltrigen. Sein Bedürfnis, Leistungen zu erbringen, aber ist weitaus kleiner.
Das zweite Grundelement des Fit-Prinzips sind 8 Fähigkeiten, die sogenannten Kompetenzen. Während der ganzen Kindheit ist das Kind ständig am Lernen. Es begreift bereits als Säugling einfache kausale Zusammenhänge; zieht es an der Schnur, erklingt die Spieluhr. Bald beginnt es, sich aufzurichten und fortzubewegen. Es entwickelt ein hoch differenziertes Sozialverhalten, kann Mimik lesen und sich in andere Menschen einfühlen. Im Schulalter eignet es sich Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben sowie Wissen an.
Wie die Grundbedürfnisse sind auch die Kompetenzen unter den Kindern wie auch beim einzelnen Kind unterschiedlich angelegt. So können sich bei einem Kind die sprachlichen und musikalischen Kompetenzen früh entfalten, während die motorischen Kompetenzen sich nur langsam entwickeln. Jedes Kind hat seine Stärken und Schwächen und sein ihm eigenes Entwicklungstempo.
Schließlich entwickelt das Kind seine eigenen Vorstellungen, etwa über Raum und Zeit. Es eignet sich soziale Regeln und Moralvorstellungen im Zusammenleben mit Eltern und Bezugspersonen an, die ihm als Vorbilder dienen. Welche Vorstellungen, etwa über Natur und Gesellschaft, es erwirbt, hängt wesentlich von seinen Schulerfahrungen ab.
Wie wichtig den Kindern ihre Grundbedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen sind, bringen sie mit ihren Emotionen zum Ausdruck. Säuglinge schreien, wenn sie hungrig und durstig sind. Kleinkinder kreischen vor Freude, wenn sie es geschafft haben, eine Treppe hinaufzugehen. Und Schulkinder machen ein zutiefst zufriedenes Gesicht, wenn sie die Rechenaufgaben selbstständig lösen konnten.
Unsere Aufgabe als Eltern und Bezugspersonen wie Erzieherinnen und Lehrer ist es, dafür zu sorgen, dass das Kind seine Grundbedürfnisse ausreichend befriedigen kann. Seine Umwelt gestalten wir so, dass es all die entwicklungsspezifischen Erfahrungen machen kann, die es benötigt, um seine Kompetenzen zu entfalten und sich Vorstellungen aller Art anzueignen.
Das Fit-Prinzip ist keine abstrakte Theorie oder gar Ideologie, sondern ein Grundprinzip der Evolution. So wie alle Lebewesen, von den Bakterien bis zu den Pflanzen und Tieren, ist auch der Mensch im Verlauf der Evolution aus einem unablässigen Zusammenwirken von Anlage und Umwelt hervorgegangen. Dieses Prinzip gilt nicht nur für den Menschen als Art, sondern auch für den einzelnen Menschen. Jeder Mensch bemüht sich von der Kindheit bis ins hohe Alter, seine Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Er vollzieht gewissermaßen im Kleinen ein Grundprinzip der Evolution nach. Genauso wie jedes Kind in seinem Wesen einzigartig ist, ist auch sein Lebensweg einzigartig. Es kann nicht irgendein Leben führen, sondern nur sein eigenes.
Über Jahrhunderte hinweg sind Philosophen wie Blaise Pascal und Jean-Jacques Rousseau, Dichter wie Johann Wolfgang Goethe und Oscar Wilde sowie Pädagogen, Psychologen und Ärztinnen wie Johann Heinrich Pestalozzi, Jean Piaget und Maria Montessori immer wieder zu der Einsicht gekommen: Eine kindgerechte Erziehung orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen und den Eigenheiten des Kindes. Das Anliegen des Fit-Prinzips ist es, diese humanistische Erziehungshaltung im Alltag konkret umzusetzen. Wenn wir als Eltern beispielsweise wissen, dass unsere Kinder ein unterschiedlich großes Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuwendung haben und sich als Jugendliche in der Pubertät auf ihre eigene Weise und in ihrem Tempo emotional von uns ablösen werden, können wir sie dabei mitfühlend begleiten. Das Fit-Prinzip strebt eine Erziehungshaltung an, die sich nicht mehr wie in der Vergangenheit hauptsächlich an der Autorität der Eltern und Bezugspersonen oder wie heutzutage an den Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft orientiert, sondern an der Einzigartigkeit des Kindes.
Ein Kind muss nicht ununterbrochen in einer Fit-Situation leben, damit es sich gut entwickeln kann. Schieflagen, die das Kind selbst oder mithilfe der Eltern und Bezugspersonen wie Lehrern bewältigen kann, gehören zum Alltag. Sie bringen das Kind dazu, sich immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen, konfliktfähig zu werden und sich dabei weiterzuentwickeln.
Erzieherisch schwierige Misfit-Situationen entstehen oftmals dadurch, dass die Erziehungsvorstellungen der Erwachsenen nicht mit den Bedürfnissen und Eigenheiten des Kindes übereinstimmen. So ist eine Schlafstörung nur ausnahmsweise darauf zurückzuführen, dass das Kind körperlich oder psychisch krank ist oder seine Eltern erzieherisch versagt haben. Die meisten Kinder sind gesund, und die Eltern geben in der Erziehung ihr Bestes. Der häufigste Grund für nächtliches Aufwachen sind falsche Erwartungen der Eltern. Sie nehmen beispielsweise an, dass ein 1-jähriges Kind nachts 12 Stunden schläft, was für viele, aber nicht alle Kinder auch zutrifft. Manche Kinder schlafen sogar 13 bis 14 Stunden, was ihre Eltern als angenehm empfinden. Andere Kinder kommen dagegen mit 9 bis 10 Stunden Schlaf pro Nacht aus. Wenn sich die Eltern nicht darauf einstellen, kann sich eine Misfit-Situation einstellen. Weil sie ihr Kind länger im Bett behalten, als es schlafen kann, hat es Schwierigkeiten einzuschlafen, wacht nachts auf und/oder ist am Morgen in aller Frühe wach.
Der erzieherische Alltag besteht hauptsächlich darin, das Kind und seine Umwelt immer wieder in Übereinstimmung zu bringen. Gerät ein Kind in eine schwerwiegende Misfit-Situation, gilt es auf die individuelle Ausprägung der Grundbedürfnisse, etwa bei fehlender sozialer Anerkennung in der Kita, oder der Fähigkeiten, wie beim Vorliegen einer Leseschwäche, einzugehen und die Lebenssituation, in der sich das Kind befindet, anzupassen.
Es sind hohe Anforderungen, die eine kindgerechte Erziehung an uns stellt. Die Natur erwartet aber nicht, dass wir als Eltern, Erzieherin und Lehrer perfekt sind. Doch wir sollten alles daransetzen, dass sich das Kind in Übereinstimmung mit der Umwelt entwickeln kann.
Der Leserin und dem Leser empfehle ich, die 8 Teile des Buches nacheinander zu lesen. Das Buch ist aber so angelegt, dass jeder Teil auch für sich gelesen werden kann.
Lars kann seit dem 4. Lebensjahr lesen. Jetzt, bei Schuleintritt, hat er bereits mehrere Kinderbücher verschlungen. Die anderen Kinder in seiner Klasse lernen die Buchstaben gerade erst kennen. Drei Schüler können mit ihnen noch nichts anfangen; sie werden sich erst in 1 bis 2 Jahren ernsthaft dafür interessieren. Wie kann die Lehrerin allen Kindern gerecht werden?
Manche Eltern und Lehrer, ja, das ganze Schulsystem gehen grundsätzlich davon aus, dass Kinder sich in etwa gleich entwickeln und daher an alle die gleichen schulischen Anforderungen gestellt werden können. Diese Einstellung verursacht bei Kindern, die über- oder unterfordert werden, großes Leid. Zudem schwächt es ihre Lernmotivation, wenn zu hohe oder zu niedrige Anforderungen an sie gestellt werden, was bei Kindern wie Eltern und Lehrern wiederum oftmals über Jahre hinweg einen enormen Stress auslösen kann.
Jedes Kind ist einzigartig. [2}
Es ist ja nicht so, dass wir die Vielfalt unter den Kindern nicht zur Kenntnis nehmen würden, etwa wenn es um Körpergröße und Gewicht geht. In den meisten Entwicklungsbereichen ist die Variabilität aber weniger offensichtlich als beim Wachstum, und so sind wir auch weniger bereit, die ganze Variationsbreite bei den geistigen Fähigkeiten oder beim Sozialverhalten zu akzeptieren. Dabei sind hier die Unterschiede – wie wir sehen werden – noch wesentlich ausgeprägter als bei physischen Merkmalen wie der Körpergröße. Hinzu kommt, dass Entwicklungsmerkmale nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch bei jedem einzelnen Kind unterschiedlich angelegt sind. So ist ein Kind beim Lesen weit vorne, nicht aber beim Rechnen; bei seinem Geschwister kann es genau umgekehrt sein.
Vielfalt ist ein Charakteristikum der gesamten kindlichen Entwicklung, und zwar in einem Ausmaß, das von den meisten Eltern und selbst Fachleuten immer wieder unterschätzt wird. Dabei ist sie ein Grundgesetz der Evolution: Ausnahmslos jede Form von Leben geht mit Vielfalt einher, vom Bakterium bis zum Menschen.
Die Vielfalt unter Kindern äußert sich auf unterschiedliche Weise. So ist die Ausprägung bestimmter Merkmale wie der Körpergröße oder der Lesekompetenz von Kind zu Kind verschieden. Die Meilensteine der Entwicklung wie das Laufen oder das Sprechen treten bei gleichaltrigen Kindern in jeweils anderem Alter auf. Es durchlaufen auch nicht alle Kinder die Entwicklungsstufen – etwa in der Motorik – in der gleichen Abfolge. So gibt es Kinder, die in ihrer frühen motorischen Entwicklung auf allen vieren krabbeln, andere lassen diese Stufe aus. Darüber hinaus hat jedes Kind sein eigenes Entwicklungstempo. Und schlussendlich gibt es Geschlechtsunterschiede bezüglich Ausprägung und Entwicklungstempo. Es kann also nicht erstaunen, dass jedes Kind auf seine Weise einzigartig ist.
Kinder sind bereits bei der Geburt unterschiedlich groß und schwer. Einige sind weniger als 48, andere bis zu 53 Zentimeter lang; leichte Säuglinge haben ein Körpergewicht von weniger als 3000 Gramm, andere bringen mehr als 4000 Gramm auf die Waage. In den folgenden 18 Jahren werden die Unterschiede von Körpergröße, Gewicht und Kopfumfang von Kind zu Kind immer größer.
Wachstumskurve der Körpergröße bei Jungen und Mädchen von der Geburt bis zur Pubertät (Prader et al. 1989). 50 Prozent gibt die mittlere Körpergröße, 3 und 97 Prozent deren Streubreite in der Bevölkerung an (Zürcher Longitudinalstudien).
Wie groß und schwer ein Kind ist, hängt auch von seinem individuellen Entwicklungstempo ab. So gibt es Kinder, die sich langsam entwickeln, und andere, die sich rasch entwickeln. Welch großen Einfluss das Entwicklungstempo auf die Körpergröße in einem bestimmten Alter haben kann, zeigt die nachfolgende Grafik.
Eva und Maria sind in den ersten Lebensjahren und später als Erwachsene gleich groß. Da sich Eva rascher entwickelt und die Pubertät früher erreicht als Maria, kommt es vorübergehend zu einem erheblichen Unterschied in der Körpergröße. Eva ist im Alter von 12 Jahren 14 Zentimeter größer als Maria.
Unterschiedliches Entwicklungstempo. Eva (Frühentwicklerin) und Maria (Spätentwicklerin) entwickeln sich unterschiedlich rasch und sind deshalb im Alter zwischen 7 und 15 Jahren verschieden groß. 50 Prozent gibt die mittlere Körpergröße, 3 und 97 Prozent die Streubreite in der Bevölkerung an (Zürcher Longitudinalstudien).
Kinder sind aber nicht nur unterschiedlich groß und schwer, sie essen auch unterschiedlich viel, wie die folgende Grafik zeigt. So nimmt im Alter von 6 Monaten ein Kind wie Ulrich 900 Gramm Nahrung pro Tag zu sich, was einer durchschnittlichen Tagesmenge entspricht. Es gibt aber auch Kinder wie Sonja, die im gleichen Alter mit 600 bis 700 Gramm auskommen. Heidi wiederum isst die doppelte Menge, nämlich bis zu 1200 Gramm pro Tag.
Nun mögen mancher Leser und manche Leserin einwenden, dass große und schwere Kinder mehr essen als kleine und leichte. Wird das Gewicht der Kinder berücksichtigt, indem man die Nahrungsmenge auf das Körpergewicht bezieht, bleiben die großen Unterschiede jedoch bestehen. Schwere und große Kinder essen und trinken nicht notwendigerweise mehr als leichte und kleine Kinder.
Wie viel isst ein Kind pro Tag? Die Fläche gibt an, wie viel Nahrung Kinder in verschiedenem Alter pro Tag zu sich nehmen (nach Stolley et al. 1982; Wachtel 1990). Im Alter von 6 Monaten nimmt Sonja 600 Gramm Nahrung pro Tag zu sich, Ulrich 900 Gramm und Heidi 1200 Gramm. Heidi isst also doppelt so viel wie Sonja.
Die Unterschiede von Kind zu Kind sind nicht in allen Entwicklungsbereichen gleich groß. So können 2 Kinder bezüglich Körpergröße sehr verschieden sein, bezüglich Gewicht sind sie es weit weniger.
Fähigkeiten und Verhaltensweisen sind nicht nur bei jedem Kind verschieden ausgeprägt, sie können auch in unterschiedlichem Alter auftreten.
So variiert das Alter, in dem Kinder krabbeln, aufstehen und laufen, erheblich. Die nachfolgende Grafik gibt in Prozent an, in welchem Alter Kinder zu laufen beginnen. Etwa ein Drittel der Kinder macht die ersten Schritte mit 13 Monaten. Einige schaffen es bereits mit 10 Monaten, andere erst mit 18 bis 20 Monaten. So kann das eine Kind schon mehr als 6 Monate laufen, wenn ein anderes gleichaltriges gerade mal die ersten Gehversuche unternimmt.
Alter, in dem Kinder die ersten Schritte machen (Largo 1985).
Ausgesprochen groß sind die Unterschiede unter Kindern in der Sprachentwicklung. Frühestens sprechen Kinder – vor allem Mädchen – mit 10 bis 12 Monaten die ersten Wörter. Die meisten Kinder sind dazu im Alter von 12 bis 18 Monaten in der Lage. Einige Kinder – meist Jungen – schaffen es nicht vor einem Alter von 21 bis 33 Monaten. Die Zeitspanne zwischen Frühentwicklern und Spätentwicklern beträgt also mehr als 20 Monate.
Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede nicht nur von Kind zu Kind, sondern auch zwischen den Geschlechtern, etwa bei der Verwendung der »Ich«-Form. So sprechen Mädchen, aber kaum Jungen in der Ichform bereits mit 24 Monaten und vor allem Jungen erst mit 54 Monaten. Diese großen Unterschiede kommen dadurch zustande, dass es dabei nicht nur um die Sprache geht, sondern auch um die Selbstwahrnehmung, das heißt, den Zeitpunkt, an dem das Kind sich selbst als Person wahrnimmt und von den anderen Menschen abgrenzen kann. Sie stellt sich von Kind zu Kind ebenfalls unterschiedlich rasch ein. Was die Kinder bei der Verwendung der »Ich«-Form ebenfalls herausfordert ist, dass Eltern und Geschwister von sich in der Ichform sprechen, das Kind aber mit »du« anreden. Das Kind muss sich die folgende Regel selbstständig herleiten: Wenn eine Person von sich spricht, sagt sie »ich«, wenn sie zu einer anderen Person spricht, sagt sie »du«. Und wenn sie beide meint, sagt sie »wir«.
Alter, in dem die Kinder die Ichform benutzen (Largo et al. 1986).
Wie unterschiedlich weit entwickelt Kinder im Schulalter sein können, wird von Eltern und Lehrern immer wieder unterschätzt. Welches Ausmaß die Variabilität bei Schulanfängern aufweist, veranschaulicht die schematische Darstellung in der nächsten Grafik. Stellen wir uns eine 1. Klasse mit 20 Kindern vor, die alle genau 7 Jahre alt sind. Damit wir so unterschiedliche Entwicklungsparameter wie Körpergröße und Lesefähigkeit miteinander vergleichen können, sind die Werte – zum Beispiel die Körpergröße – nicht in Maßeinheiten wie Zentimetern, sondern als Entwicklungsalter dargestellt. Das heißt, ein 7-jähriges Kind mit der durchschnittlichen Körpergröße eines 7-Jährigen wird bei 7 Jahren, ein anderes 7-jähriges Kind mit der durchschnittlichen Körpergröße eines 6-Jährigen bei 6 Jahren eingetragen.
Verteilung des Entwicklungsalters von körperlichen und psychischen Merkmalen in einer Gruppe von 20 Kindern im Alter von 7 Jahren.
Die Verteilung der Kinder zeigt, dass nur 6 dieser 20 Kinder die durchschnittliche Körpergröße 7-jähriger Kinder aufweisen. Je 4 Kinder sind so groß wie 6,5- beziehungsweise 7,5-Jährige. 2 Kinder sind lediglich so groß wie 6-Jährige, 2 weitere jedoch so groß wie 8-Jährige; und je 1 Kind hat die Größe eines Kindes von 5,5 beziehungsweise 8,5 Jahren. Wir haben also eine Variabilität der Körpergröße bei diesen 7-jährigen Kindern, die von einem Entwicklungsalter von 5,5 bis 8,5 Jahren reicht.
Vergleichbare Überlegungen wie für die Körpergröße lassen sich auch für die geistigen Fähigkeiten anstellen. So gibt es in einer 1. Klasse Kinder, deren Zahlenverständnis einem Entwicklungsstand von 5,5 bis 6,5 Jahren entspricht, während andere Kinder bereits ein Verständnis von 8- bis 8,5-Jährigen aufweisen. Die Lesefähigkeit ist ähnlich unterschiedlich entwickelt, was sich beim Schuleintritt folgendermaßen auswirkt: 1 bis 3 Kinder können bereits lesen, andere sind erst im Verlauf des 2. Schuljahres so weit. Und dann gibt es noch die Frühentwickler wie Lars, die mit dem Lesen schon im Alter von 3 bis 4 Jahren beginnen, und die Spätentwickler, die erst mit 9 Jahren oder noch später dazu bereit sind.
Im Schulalltag sind noch größere Unterschiede unter den Kindern zu erwarten, da wir in unseren Beispielen nicht berücksichtigt haben, dass die Kinder einer 1. Klasse verschieden alt und die Mädchen als Gruppe etwas weiter entwickelt sind als die Jungen.
Wie sehr die interindividuelle Variationsbreite bis zur Pubertät angewachsen ist, zeigt sich bei der Menarche, dem Alter, in dem die erste Monatsblutung einsetzt (Flug et al. 1984). Sie tritt bei den meisten Mädchen mit 12 bis 14 Jahren auf. Frühestens kann dies mit 10 Jahren und spätestens mit 16 Jahren der Fall sein. In der Pubertät kann der Entwicklungsstand unter Gleichaltrigen also über 6 Jahre variieren. Die folgende Grafik zeigt das Ausmaß und die Auswirkungen dieser Streuung anhand einer Gruppe von je 20 Mädchen und Jungen im Alter von 13 Jahren. Einige Mädchen stehen erst am Beginn der Pubertät. Ihr Entwicklungsalter beträgt 10 bis 11 Jahre. Andere, die bereits einen Entwicklungsstand von 15 bis 16 Jahren aufweisen, sind körperlich vollständig entwickelt.
Verteilung des Entwicklungsalters von körperlichen und psychischen Merkmalen bei 20 Jungen und 20 Mädchen im Alter von 13 Jahren.
Im Alter von 13 Jahren sind die Mädchen in ihrer körperlichen, kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung den Jungen im Durchschnitt 1,5 Jahre voraus. Interindividuelle Variabilität und Reifungsunterschiede können dazu führen, dass in derselben Klasse ein Mädchen körperlich voll entwickelt ist, während bei einem Jungen die Pubertät noch nicht eingesetzt hat. Eine noch größere interindividuelle Variabilität wie für das Wachstum lässt sich wiederum bei der kognitiven und der sozioemotionalen Entwicklung beobachten. Es erstaunt daher nicht, dass in der Schweiz 60 Prozent der Mädchen, aber lediglich 40 Prozent der Jungen im Alter von 13 Jahren die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestehen (es gibt noch weitere Faktoren wie etwa Fleiß, die ebenfalls dazu beitragen).
Die meisten Eltern und Fachleute gehen davon aus, dass die Abfolge von Entwicklungsstadien bei allen Kindern die gleiche ist. Dies trifft für die meisten, aber nicht für alle Entwicklungsbereiche zu. So kann die Abfolge der Entwicklungsstadien je nach Kind unterschiedlich verlaufen, was zu falschen Erwartungen und zu unnötigen erzieherischen und sogar therapeutischen Maßnahmen führen kann. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die motorische Entwicklung. In der Vergangenheit nahmen die Fachleute an, dass die motorische Entwicklung in den ersten 2 Lebensjahren bei allen Kindern gleich verlaufen müsse. Studien, in denen die Abfolge der Entwicklungsstadien untersucht wurde (Largo et al. 1985; Pikler 1988), zeigen jedoch, dass die frühe Fortbewegung vielfältiger verläuft. Die Mehrheit der Kinder entwickelt sich folgendermaßen: Mit 5 bis 7 Monaten drehen sich die Kinder vom Bauch auf den Rücken und etwas später vom Rücken auf den Bauch. Etwa im gleichen Alter drehen sie sich an Ort und Stelle (Kreisrutschen). Mit 7 bis 10 Monaten robben sie auf dem Bauch und krabbeln auf Händen und Knien. Mit 10 bis 13 Monaten gehen sie in den Vierfüßlergang über, stehen auf und laufen.
Unterschiedliche Abfolge der Entwicklungsstadien in der frühen Fortbewegung (Lokomotion).
13 Prozent der Kinder entwickeln sich aber anders: Manche lassen bestimmte Stadien der Lokomotion wie das Robben oder das Krabbeln gänzlich aus. Andere bewegen sich nie auf allen vieren fort, stattdessen ziehen sie sich aus der Bauchlage in den Stand auf und laufen. Es gibt auch Kinder, die weder robben noch krabbeln, sich dafür aufsetzen und auf dem Hosenboden herumrutschen. Diese Kinder neigen dazu, erst mit 18 bis 20 Monaten zu laufen. Nachforschungen haben ergeben, dass bei 40 Prozent dieser Kinder ein Elternteil als Kind ebenfalls ein »Shuffler« war. Es handelt sich also um ein vererbtes Bewegungsmuster. Weitere, eher ungewöhnliche, aber nur kurzzeitig auftretende Fortbewegungsarten sind das Rollen, das Schlängeln und die »Brücke«, bei der sich das Kind in Rückenlage überstreckt und ruckartig fortbewegt.
In der frühen Sprachentwicklung weisen die Entwicklungsstadien bei den meisten Kindern im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung als Erstes verschiedene Phasen der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken. Beim Lesen und Rechnen jedoch hat sich gezeigt, dass die Abfolge der Lernstadien nicht bei allen Kindern gleich ist. Ob bei anderen geistigen und sozialen Fähigkeiten weitere bedeutsame Unterschiede in den Entwicklungsabläufen vorkommen, ist noch kaum untersucht.
Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt es sowohl in Bezug auf die Ausprägung bestimmter Merkmale als auch auf das Entwicklungstempo. Die Größenunterschiede zwischen den beiden Geschlechtern werden in der Pubertät mit einem mittleren Größenunterschied von 13 Zentimetern offensichtlich (siehe Grafik auf Seite 28; Largo, Prader 1983a,1983b). Mädchen sind also etwas kleiner, entwickeln sich aber rascher als Jungen. Dieser Reifungsunterschied ist darauf zurückzuführen, dass Mädchen auf der biologischen Zeitskala in jedem Alter etwas weiter fortgeschritten sind als Jungen. So sind Mädchen bereits bei der Geburt etwas reifer und damit etwas weiter entwickelt als Jungen. Der Reifungsunterschied vergrößert sich ständig im Verlauf der Kindheit, was dazu führt, dass Mädchen im Durchschnitt 1,5 Jahre früher in die Pubertät eintreten als Jungen und ihre Entwicklung dementsprechend früher abschließen.
Der Geschlechtsunterschied darf nicht überbewertet werden. Die mittleren Differenzen zwischen Mädchen und Jungen als Gruppe sind weitaus kleiner als die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts. So können Jungen durchaus eine raschere Sprachentwicklung als gleichaltrige Mädchen aufweisen. Genauso kann das logisch-mathematische Denken, etwa bei Algebra, bei einem Jungen deutlich weiter entwickelt sein als bei einem gleichaltrigen Mädchen. Schließlich kann ein Junge bereits mit 10 bis 11 Jahren in die Pubertät eintreten, während dies bei einem Mädchen erst mit 13 bis 14 Jahren der Fall ist.
Vielfalt besteht nicht nur zwischen den Kindern, sondern auch beim einzelnen Kind. Fähigkeiten wie Sprache, logisches Denken und Motorik sind bei jedem Kind verschieden angelegt, entwickeln sich unterschiedlich und sind somit in jedem Alter auch verschieden weit ausgebildet. So kann ein Kind beispielsweise bereits mit 12 Monaten die ersten Worte sprechen, laufen kann es aber erst mit 20 Monaten.
Welch bedeutsame Rolle die intraindividuelle Variabilität im Schulalter spielt, zeigt die folgende Grafik, in der das Profil der schulischen Leistungen bei 3 Kindern im Alter von 8 Jahren dargestellt ist. Für jedes Kind sind die schulischen Leistungen als Entwicklungsalter aufgezeigt, das heißt beispielsweise, wenn die Lesekompetenz erst derjenigen eines 7-jährigen Kindes entspricht, wird diese mit einem Entwicklungsalter von 7 Jahren vermerkt.
Intraindividuelle Variabilität der schulischen Leistungen bei 3 Kindern im Alter von 8 Jahren.
Anna zeigt für ihr Alter durchschnittliche bis gute Leistungen. Kurt weist ein heterogeneres Entwicklungsprofil auf: Er erbringt altersentsprechende Leistungen im Lesen, Schreiben sowie Singen und kann sehr gut rechnen und zeichnen. Im Turnen sind seine motorischen Leistungen schwach. Eva schließlich liest ausgezeichnet und kann gut schreiben. Im Rechnen ist sie leistungsmäßig schwach. Ihre Fähigkeiten im Zeichnen und im Turnen wiederum sind alterssprechend.
Wenn wir uns vorstellen, dass in einer Schulklasse jedes der 25 und oftmals mehr Kinder ein anderes Leistungsprofil aufweist, können wir erahnen, welche hohe Anforderungen an die Lehrer und Lehrerinnen gestellt werden, wenn sie auf die individuellen Eigenheiten eines jeden Kindes eingehen wollen und sollen.
Viele Eltern unterschätzen, wie unterschiedlich sich Kinder entwickeln können. Und sie neigen dazu, sich an »Normen« zu orientieren. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind mit einem Jahr die ersten Schritte macht, mit 2 Jahren spricht und mit 7 Jahren lesen kann. Zusätzlich wird ihre Erziehungshaltung durch die Wertvorstellungen geprägt, die die Eltern aus Gesprächen mit Verwandten und Bekannten, Erziehern und Lehrern sowie von den Medien übernehmen.
Normvorstellungen entsprechen den Kindern nur ausnahmsweise. Sie wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Wenn sie beispielsweise davon ausgehen, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft, kann diese Annahme zufälligerweise auf ihr Kind zutreffen. Für die Mehrheit der Kinder gilt sie allerdings nicht (Iglowstein et al. 2003). Was geschieht, wenn Eltern ihr Kind um 7 Uhr abends in der Erwartung zu Bett bringen, dass es bis 7 Uhr morgens schläft, das Kind aber nur 10 Stunden schlafen kann? Das Kind wird abends nicht einschlafen oder nachts mehrmals aufwachen oder morgens vorzeitig wach sein. Im ungünstigsten Fall haben die Eltern und das Kind unter allen 3 Verhaltensauffälligkeiten zu leiden. Ein Kind, das nur 10 Stunden Schlaf pro Nacht braucht, entwickelt sich nicht besser, wenn es 12 Stunden im Bett verbringen muss (Largo, Hunziker 1984).
Interindividuelle Unterschiede kommen in allen Entwicklungsbereichen vor, so auch in der sozial-emotionalen Entwicklung. Kinder können bereits im Alter von 2 bis 3 Jahren emotional so selbstständig sein, dass sie sich in einer Spielgruppe ohne ihre Mutter rasch wohlfühlen. Andere Kinder sind selbst im Alter von 5 Jahren nur widerstrebend und nach vielem Zureden bereit, einen Vormittag allein im Kindergarten zu verbringen. Kinder, die früh oder spät in die Pubertät kommen, drohen in psychosozialer Hinsicht leicht zu Außenseitern in Familie und Gesellschaft zu werden. Das Mädchen, das bereits mit 10 Jahren erste Anzeichen einer Brustbildung zeigt, kann in seiner psychischen Entwicklung genauso verunsichert werden wie der Junge, bei dem die Pubertät mit 14 Jahren immer noch aussteht.
Wie können sich Eltern und Fachleute von überlieferten Grundhaltungen, Normvorstellungen und fest gefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, sich auf das kindliche Verhalten einzustellen und das Kind jederzeit ernst zu nehmen, sind dabei sehr hilfreich. Eltern, die wissen, dass der Schlafbedarf bei Kindern unterschiedlich groß ist, richten sich nicht mehr nach irgendwelchen Ratgebern. Sie achten vielmehr darauf, wie viel Schlaf ihr Kind braucht. Benötigt ihr Kind lediglich 10 Stunden Schlaf pro Nacht, passen sie die Schlafenszeit und die Zeit, die das Kind im Bett verbringt, seinem Schlafbedürfnis an. Eltern, die wissen, wie unterschiedlich die Lesekompetenz bei Kindern entwickelt sein kann, sind bereit abzuwarten, wenn ihr Kind mit 7 Jahren noch kein Interesse an Buchstaben zeigt. Es bleibt zu hoffen, dass auch immer mehr Lehrer Verständnis für diese Unterschiede bei ihren Schülern aufbringen und das Schulsystem in seinen Lehrplänen endlich der Vielfalt unter den Kindern gerecht wird. Wenn sich alle, Eltern, Erzieherinnen und Lehrer am individuellen Entwicklungsstand und den Bedürfnissen der Kinder orientieren, können die Kinder ihre Stärken entfalten und lernen, ihre Schwächen zu akzeptieren und damit umzugehen.
Das Wichtigste in Kürze
Der 10-jährige Bernhard würde an sich gern zur Schule gehen – wäre da nicht das verflixte Rechnen. Er müht sich immer noch mit den Zahlen von 1 bis 10 ab, während der Junge, der neben ihm sitzt, bereits bis 100 rechnen kann. Die Eltern von Bernhard fragen sich: Liegt es an der Lehrerin? Sollten sie mit ihrem Sohn mehr üben? Oder hat Andreas etwa die Rechenschwäche von der Mutter geerbt?
Die Frage, welchen Beitrag Anlage und Umwelt zur kindlichen Entwicklung leisten, interessiert nicht nur Wissenschaftler. Spätestens wenn sich ein Kind nicht mehr so verhält, wie es die Eltern und Bezugspersonen wie Lehrer von ihm erwarten, fragen sie sich: Was an seinem Verhalten ist vererbt, und was tragen wir dazu bei?
Wenn wir uns Gedanken über eine kindgerechte Erziehung machen, sollten wir immer auch unsere Vorstellungen über das Zusammenwirken von Erbgut und Umwelt hinterfragen. Denn sie prägen die Art und Weise mit, wie wir als Eltern und Erzieher mit Kindern umgehen, und schlagen sich auch in den Erwartungen nieder, die wir in die Entwicklung unserer Kinder setzen. Sie bestimmen, ob wir unterschiedliche Verhaltensweisen bei Geschwistern akzeptieren und bis zu welchem Grad wir die Persönlichkeitsbildung eines Kindes als etwas Vorbestimmtes betrachten oder aber als Resultat des Milieus, der Familie und Schule, in dem das Kind aufwächst.
Wir behandeln ein Kind unterschiedlich, je nachdem, ob wir in der Erbanlage oder in unseren erzieherischen Bemühungen die treibende Kraft für seine Entwicklung sehen. Die Überzeugung, dass alle Eigenschaften und Fähigkeiten des Kindes vererbt werden, macht uns zu Fatalisten: Die Natur nimmt ihren Lauf; wir als Eltern und Lehrer sind nur Statisten. Nehmen wir aber an, dass das Milieu, in dem das Kind aufwächst, allein maßgebend für seine Entwicklung und sein Verhalten ist, laden wir uns eine übergroße Verantwortung auf: Das Kind ist ausschließlich ein Produkt unserer Erziehung. Die meisten Eltern und Fachleute, die sich mit Kindern beschäftigen, sind wohl der Ansicht, dass sowohl Veranlagung als auch Umwelt zur kindlichen Entwicklung beitragen. Wie aber sollen wir uns das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt vorstellen?
Wie wir sehen werden, leisten Anlage und Umwelt ihren jeweils eigenen Beitrag zu Entwicklung und Verhalten des Kindes. Die Anlage kann die Umwelt nicht ersetzen und die Umwelt nicht die Anlage.
In diesem Kapitel wollen wir auf die folgenden Fragen Antworten finden:
Wie bestimmt die Anlage die Entwicklung eines Kindes?
Welchen Beitrag leistet die Umwelt?
Wie wirken Anlage und Umwelt zusammen? Und inwieweit tragen sie zur Vielfalt unter den Kindern bei?
Welche Rolle spielen die Eltern mit ihrer Erbanlage und der Gestaltung der Umgebung des Kindes?
Welche Bedeutung haben die Erfahrungen, die das Kind in Familie und Schule macht, für seine Entwicklung?
Die Eltern machen sich große Sorgen um die Sprachentwicklung ihrer Zwillinge Jakob und Robert. Maja, die älteste Tochter, hat mit 12 Monaten die ersten Wörter gesprochen und mit 19 Monaten einfache Sätze gebildet. Die Eltern waren stolz auf ihr aufgewecktes Kind. Bei Laura, der zweitältesten Tochter, setzte das Sprechen mit 18 Monaten ein, was noch einer durchschnittlichen Entwicklung entspricht. Bei Jakob und Robert jedoch mussten sich die Eltern bis zum Alter von 27 Monaten gedulden, bis die Zwillinge endlich die ersten Wörter gebrauchten.
Es gibt zahlreiche Erklärungsversuche zu der Bedeutung von Anlage und Umwelt. Die Vorstellungen reichen von Modellen, in denen die Entwicklung ausschließlich von der Anlage bestimmt wird, bis zu solchen, welche die Entwicklung in einem hohen Grad von der Umwelt abhängig machen. Dazwischen liegen Erklärungsansätze, die von einem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt ausgehen (Schneider, Lindenberger 2012). Sie beschreiben die Entwicklung als einen Prozess der wechselseitigen Einflussnahme von Anlage und Umwelt, eine Art unendliches Pingpongspiel (Sameroff, Chandler 1975). Unbefriedigend an den bisherigen Modellen ist, dass sie keine Vorhersage darüber machen, wie sich ein Kind entwickeln wird. So scheint jede Form von Entwicklung möglich zu sein, eine Vorstellung, die wohl kaum der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht.
Aus der Sicht des Fit-Prinzips sind Anlage und Umwelt gleichermaßen wichtig für die Entwicklung, erfüllen aber unterschiedliche Aufgaben.
Die Gene werden als der magische Schlüssel zum Leben betrachtet. So war 2001 die Begeisterung riesig, als 99,9 Prozent des menschlichen Erbgutes (Genoms) entschlüsselt waren (Human Genom 2001). Das menschliche Genom umfasst 3,3 Milliarden Basenpaare; die Basenpaare sind die Grundelemente der Gene. Allerdings mussten die Forscher ernüchtert feststellen, dass unser Genom lediglich um etwa einen Faktor 5 bis 10 größer ist als beim Wasserfloh und beim Kohlgemüse (Kegel 2015). Es besteht also kein direkter Zusammenhang zwischen der Größe des Erbgutes und dem Differenzierungsgrad der Lebewesen. Seit Längerem weiß man, dass auch die Anzahl Chromosomen die Weiterentwicklung der Lebewesen nicht widerspiegelt. Der Zellkern enthält beim Menschen 46 Chromosomen, beim Schimpansen 48 und bei der Amsel 80, beim Alpenveilchen 48 und bei Schachtelhalmen gar 216 Chromosomen.
Das Geheimnis der Menschwerdung können wir also weder aus der Größe des Genoms noch aus der Anzahl Chromosomen heraus verstehen. Es ist vielmehr der Masterplan, der den Organismus überhaupt entstehen lässt. Der Masterplan ist eine Art Protokoll, wie die Evolution des Menschen bis heute verlaufen ist. Er besteht einerseits aus einem Bau- und Funktionsplan und andererseits aus Regieanweisungen, wie die Entwicklung zu verlaufen hat. Es ist wie beim Hausbau. Man benötigt nicht nur unterschiedliche Baumaterialien sowie Maschinen und Energie, sondern auch einen Bau- und Zeitplan, in dem festgehalten ist, welche Arbeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeführt werden müssen.
Ähnlich verläuft auch die kindliche Entwicklung. Dafür werden Baustoffe wie Kohlenhydrate, Eiweiße, Spurenelemente, die aus der Nahrung bezogen werden, und Energieproduzenten benötigt. Am wichtigsten aber ist ein detaillierter Masterplan, der genauestens festlegt, wann wo welche Gene und Botenstoffe wie Enzyme und Hormone in den Körperzellen aktiviert werden müssen, damit die Baustoffe auch richtig eingesetzt werden. Es ist ein äußerst komplexer und noch kaum verstandener Entwicklungsprozess, bei dem die Gene unzählige Male an- und abgeschaltet werden. So entsteht im Verlauf von Monaten aus einem kleinen Häufchen omnipotenter Stammzellen eine Vielzahl von Zellen mit unterschiedlichsten Strukturen und Funktionen und schließlich Organe wie Augen und Gehör.
In der Schwangerschaft durchläuft der Embryo 3 Entwicklungsphasen. Die Zellen differenzieren sich; es entstehen Organe wie das Herz oder die Leber. Die Zellen spezifizieren sich; sie werden auf bestimmte Funktionen festgelegt, etwa die Produktion eines Enzyms. Und die Zellen teilen sich, das Organ wächst. Die Umwelt leistet dazu einen essenziellen Beitrag, vor allem durch die Zufuhr von Nährstoffen und Sauerstoff. Bei der Geburt sind alle wichtigen Organe wie Herz, Darm und Nieren ausgebildet. Sie gewährleisten das Überleben des Kindes: Atmung, Verdauung und Transport von Nährstoffen, die Ausscheidung von Schadstoffen.
Im Folgenden wollen wir auf das Organ näher eingehen, das uns Menschen ausmacht: das Gehirn. Es bringt eine Vielzahl von Funktionen wie Atmung, Schlaf und Temperaturregulierung hervor. Was uns aber besonders interessiert, sind die hoch differenzierten Fähigkeiten wie Sprache und Sozialverhalten, logisches Denken und Zahlenverständnis. Wie Anlage und Umwelt bei der Hirnentwicklung zusammenwirken, wollen wir verstehen.
Die Organentwicklung beim Ungeborenen.
Das Grundelement, welches das Gehirn zu seinen äußerst komplexen Leistungen befähigt, ist die immer gleiche Zelle in milliardenfacher Ausführung, die fähig ist zu kommunizieren: die Nervenzelle oder das Neuron.
Was das Neuron so besonders macht, sind seine Gestalt, Ausdehnung und Funktion. Es besteht wie alle Körperzellen aus einem Zellkörper mit Zellkern und besitzt einen – oftmals sehr langen – Ausläufer, die Nervenfaser oder das Axon. Ein Axon kann vom Rückenmark bis in die kleine Zehe reichen. Seine Aufgabe ist es, elektrische Signale weiterzuleiten. Neben dem Axon weist das Neuron weitere Ausstülpungen auf, die Dendriten. Sie empfangen die Signale, die dem Neuron von den Axonen anderer Neuronen zugeleitet werden. Die Verbindungen zwischen Axon und Dendriten werden durch Kontaktpunkte, sogenannte Synapsen, hergestellt. Die Übertragung der elektrischen Signale zwischen den Synapsen erfolgt durch chemische Botenstoffe, die als Neurotransmitter bezeichnet werden. Neurone können also miteinander kommunizieren, indem sie elektrische Signale über Axone aussenden und über Dendriten empfangen.
Aufbau des Neurons. Schwarz: Zellkörper; blau: Axone; grün: Dendriten; rot: Synapsen von Axon und Dendrit Vergrößerter Ausschnitt:Austausch von Neurotransmittern im synaptischen Spalt.
Bei der Geburt ist das Gehirn keineswegs ein wilder Haufen von Milliarden Nervenzellen, sondern bereits ein hoch differenziertes Organ – wenngleich noch ein weitgehend schlafender Riese –, das aber zum Überleben des Neugeborenen einen wichtigen Beitrag leistet. Das vegetative Nervensystem reguliert wichtige Körperfunktionen wie Atmung, Verdauung, Körpertemperatur und die sogenannten circadianen Rhythmen wie Schlaf- und Wachzyklen. Lebenserhaltende Reflexe, die im Mutterleib herangereift und eingeübt worden sind, tragen ebenfalls zum Überleben in den ersten Wochen und Monaten bei. Wenn das Kind mit der Wange die mütterliche Brustwarze berührt, wird der Suchreflex ausgelöst: Es dreht den Mund zur Brustwarze. Wenn sein Mund die Brustwarze berührt, wird der Saugreflex ausgelöst: Das Kind dockt an und beginnt zu saugen. Wenn die Milch in den Rachen rinnt, wird der Schluckreflex ausgelöst: Das Kind macht Schluckbewegungen. Trägt die Mutter das Kind herum, helfen der Greif- und der Umklammerungsreflex (Moro-Reflex) dem Kind, sich an der Mutter festzuhalten.
Wie hochgradig die organischen und funktionellen Hirnstrukturen bei der Geburt bereits ausgebildet sind und welch bedeutsamen Beitrag die Umwelt in den folgenden Monaten und Jahren zu ihrer Funktionstüchtigkeit leistet, kommt beim Spracherwerb besonders deutlich zum Ausdruck. Es geht dabei um die folgenden Entwicklungsprozesse: Wachstum, Differenzierung und Spezifizierung. Der Wortschatz nimmt von Jahr zu Jahr zu (Wachstum). Die Sprachkompetenz erweitert sich ständig im Verlauf der Entwicklung (Differenzierung). So eignet sich das Kind die Grundelemente der Sprache wie Grammatik, Satzbau (Syntax) und Wortsinn (Semantik) an. Und seine Sprache wird gleichzeitig immer mehr auf die Sprache der Umwelt festgelegt (Spezifizierung). Welch essenziellen Beitrag dabei Erfahrungen zur Ausbildung der Sprache leisten, zeigt sich bei Kindern, die gehörlos auf die Welt kommen. Ihre Sprachzentren sind durchaus intakt, können aber durch Hörerfahrungen nicht aktiviert werden. Die Kinder entwickeln keine orale Sprache und müssen lernen, mit Gebärden und Lippenlesen zu kommunizieren.
Erfahrungen sind nicht nur für die Entwicklung der Sprache, sondern von allen Fähigkeiten unentbehrlich. Sie festigen die Verbindungen zwischen den Neuronen, indem sie ähnliche Aktivitätsmuster auslösen. Es gilt die sogenannte Hebb’sche Regel: »Neurons wire together if they fire together.« (Hebb 1949) Verbindungen zwischen Neuronen, die gemeinsam aktiv sind, bleiben erhalten und werden gefestigt; Verbindungen, die nicht aktiviert werden, verschwinden. Welche Synapsen erhalten bleiben und welche verschwinden, ist ebenfalls von den Erfahrungen abhängig, die das Kind machen kann. Dieser Vorgang verläuft nach der Maxime »Use it or lose it«. Synapsen, die benutzt, das heißt, aktiviert werden, bleiben erhalten und verstärken sich; Synapsen, die nicht benutzt werden, also inaktiv bleiben, werden abgebaut.
In den ersten Lebensjahren steigt die Anzahl synaptischer Kontakte, die jede einzelne Nervenzelle mit anderen Zellen eingeht, von 2500 auf 20000, bei bestimmten Nervenzellen sogar bis auf 100000 Verbindungen an. Dieser Vorgang findet je nach Hirnfunktion und Hirnregion in unterschiedlichem Alter statt, was wiederum erklärt, weshalb es in der kindlichen Entwicklung sogenannte sensitive oder sensible Phasen gibt. In diesen Altersabschnitten sind Lernerfahrungen besonders prägend und das Kind dafür hochgradig empfänglich.