Das passende Leben - Remo H. Largo - E-Book
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Das passende Leben E-Book

Remo H. Largo

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Beschreibung

Ein optimistisches, lebenspraktisches Buch, die Quintessenz des bekannten Entwicklungsforschers und Autors Remo H. Largo. Über 1 Mio. verkaufte Exemplare von ›Babyjahre‹ Jetzt das Lebenswerk des Entwicklungsforschers Remo H. Largo Basierend auf vierzig Jahren Forschung, u.a. den einzigartigen Zürcher Langzeitstudien

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Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Remo H. Largo

Das passende Leben

Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Entschiedener als der Schweizer Entwicklungsforscher und Kinderarzt Remo H. Largo in seinem neuen Buch kann man kaum gegen den Strom schwimmen.« Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Klug, gelassen und aufschlussreich.« Myself

 

((Lebe ich wirklich das Leben, das zu mir passt?

Das Lebenswerk des bekannten Entwicklungsforschers und Bestsellerautors (»Babyjahre«) Remo H. Largo – das befreiende Buch gegen Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Wachstumswahn.

Jeder wünscht sich ein erfülltes Leben. Doch so simpel es scheint, so schwer ist es, im Einklang mit sich und anderen zu leben. Meist gilt es, fremdbestimmt Erwartungen zu erfüllen. Remo H. Largo zieht die Summe seiner jahrzehntelangen Forschungen und Erkenntnisse und zeigt uns, welche Bedürfnisse und Kompetenzen unsere Individualität formen, wie wir unsere Stärken, Begabungen, aber auch unsere Schwächen leben können und was das »passende Leben« ausmacht.))

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

Motto

Einleitung Unsere Individualität solidarisch leben

Teil I Der biologische und soziokulturelle Werdegang des Menschen

Teil II Über das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt

Teil III Entwicklung zur Individualität

Teil IV Grundbedürfnisse bestimmen unser Leben

Teil V Kompetenzen, die wir entfalten wollen

Teil VI Unsere Vorstellungen und Überzeugungen

Teil VII Von der Natur zur menschengemachten Umwelt

Teil VIII Das passende Leben – Das Fit-Prinzip

Teil IX Misfit-Konstellationen

Teil X Zeitenwende

Teil I Der biologische und soziokulturelle Werdegang des Menschen

Sämtliche Lebewesen sind auseinander hervorgegangen

Fossile Spuren

Entwicklungsbiologische Gemeinsamkeiten

Gemeinsamer Lebensfaden

Anpassung und Wandel als Lebensprinzip

Langfristige Anpassungen im Verlauf der Evolution

Wandel von Generation zu Generation

Ein Masterplan für die Entwicklung

Verwandt und dennoch verschieden

Warum die Evolution des Menschen so ungewöhnlich verlaufen ist

Die Evolution des Menschen

Eine außergewöhnliche Entwicklung

Meister der Anpassung

Die soziokulturelle Evolution

Auftakt zur kulturellen Evolution

Exponentielle Beschleunigung

Die soziale Evolution

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Jeder Mensch ist ein Unikat

Unser Drang, die Welt zu verstehen

Unser Drang, die Umwelt zu beherrschen

Unser Streben nach emotionaler und sozialer Sicherheit

Unser Bemühen, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben

Teil II Über das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt

Wie Anlage und Umwelt zusammenwirken

Gleich, aber auch anders als die Eltern

Wie die Menschen immer größer wurden

Wie die Menschen intellektuell immer leistungsfähiger wurden

Wie unterschiedlich begabt die Menschen sind

Das Kind entwickelt sich aus sich heraus

Das Kind bestimmt mit, wie es sich entwickelt

Das Kind ist aktiv und selektiv

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Weshalb nicht nur Aufstieg, sondern auch Abstieg sinnvoll ist

Eine Gesellschaft für alle Begabungen

Teil III entwicklung zur individualität

Unser Gehirn

Wie das Gehirn heranreift

Was Reifung und Erfahrung zur Hirnentwicklung beitragen

Aktivieren und vernetzen durch Erfahrungen

Genuine Neugierde und nachhaltiges Lernen

Ein Leben lang neugierig bleiben

Jedes Kind will lernen, aber auf seine Weise

Nur selbstbestimmtes Lernen ist nachhaltig

Ein Mangel an Geborgenheit beeinträchtigt die Entwicklung

Grundlegendes zum Fit-Prinzip

Seinem Entwicklungspfad folgen

Wie Erfahrungen uns prägen

Das genuine Bedürfnis, seine Begabungen zu entfalten

Auf verschiedenen Wegen klüger werden

Teil IV Grundbedürfnisse bestimmen unser Leben

Unsere Grundbedürfnisse

Körperliche Integrität

Geborgenheit und Zuwendung

Soziale Anerkennung und soziale Stellung

Selbstentfaltung

Streben nach Leistung

Existentielle Sicherheit

Individuelles Profil der Grundbedürfnisse

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Wie wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen

Eine Gesellschaft, die sich an den Grundbedürfnissen orientiert

Teil V Kompetenzen, die wir entfalten wollen

Was wir unter Intelligenz verstehen

Die Welt hinterfragen

Intelligenz ist weit mehr, als der IQ messen kann

Soziale Kompetenzen

Nonverbale Kommunikation

Bindungsverhalten und Fürsorge

Imitatives und soziales Lernen

Soziale Kognition

Intro- und Extrospektion

Wie sich Moral entwickelt

Sprachliche Kompetenzen

Die Elemente der Sprache

Wie das Kind zur Sprache kommt

Die Vielfalt der Sprachkompetenzen

Musikalische Kompetenzen

Figural-räumliche Kompetenzen

Logisch-mathematische Kompetenzen

Zeitlich-planerische Kompetenzen

Motorisch-kinästhetische Kompetenzen

Körperliche Kompetenzen

Einzigartiges Zusammenspiel der Kompetenzen

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Jeder Mensch hat ein einmaliges Puzzle von Kompetenzen

Eine Welt, in der wir unsere Kompetenzen entfalten und nutzen können

Teil VI Unsere Vorstellungen und Überzeugungen

Über das Wesen unserer Vorstellungen

Vorstellungen im Wandel der Zeiten

Wie Kinder zu ihren Vorstellungen kommen

Wie Erfahrungen Vorstellungen prägen

Warum unsere inneren Bilder vieldeutig sind

Bewusste und unbewusste Vorstellungen

Mysterium Bewusstsein

Über das Zusammenspiel von Unbewusstem und Bewusstsein

Wie Vorstellungen bewusst werden

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen

Was Vorstellungen im Kollektiv so mächtig macht

Teil VII Von der Natur zur menschengemachten Umwelt

Der Natur entfremdet

Eine Gesellschaft mit großartigen Errungenschaften, aber sinnentleerter Kultur

Der Wandel in der sozialen Umwelt

Von der Großfamilie zur Klein- und Patchworkfamilie

Von der Lebensgemeinschaft zur Massengesellschaft

Grundlegendes für das Fit-Prinzip

Beziehungen mit vertrauten Menschen sind unverzichtbar

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung

Teil VIII Das passende Leben – Das Fit-Prinzip

Wie das Fit-Prinzip entstanden ist

Die Puzzlesteine

Die Elemente des Fit-Prinzips

Individuum

Umwelt

Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt leben

Freier Wille und Lebenssinn

Jeder Mensch verfügt über einen freien Willen

Die Suche nach dem Lebenssinn

Teil IX Misfit-Konstellationen

Misfit-Konstellationen sind so vielfältig wie die Menschen

Vom Eustress zum Disstress

Wie sich Kinder in Misfit-Situationen bewähren

Wie Erwachsene in Misfit-Konstellationen geraten

Misfit-Situationen bewältigen

Misfit-Situationen verstehen

Sich und andere besser begreifen

Menschen unterstützen und Umwelt überdenken

Aufeinander zugehen

Warum wir uns mit Misfit-Situationen so schwertun

Teil X Zeitenwende

Allgemeine Verunsicherung

Fit und Misfit in Gesellschaft und Wirtschaft

Vertrauen und Mitbestimmung in Staat und Gesellschaft

Gelebte Kultur

Existenzsichernde Wirtschaft und sinnvolle Tätigkeit

Familie und Lebensgemeinschaft für ein passendes Leben

Fragmentierung des Zusammenlebens

Warum Familie und Lebensgemeinschaft unverzichtbar sind

Familie und Lebensgemeinschaft neu denken

Der Staat unterstützt die Lebensgemeinschaft und profitiert davon

Ein passendes Leben zu führen ist ein Menschenrecht

Anhang

Die Zürcher Longitudinalstudien

Praktische Anleitung zur Anwendung des Fit-Prinzips

Wie sind meine Grundbedürfnisse ausgebildet?

Wie steht es um meine Kompetenzen?

Wie sehen meine Vorstellungen aus?

Wie reagiere ich auf Misfit-Situationen?

Dank

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Für

Eva, Johanna und Kathrin

Jana und Remo

Aròn und Miguel

Brigitt

»Es ist nicht eine blinde Macht von außen, deren Spielball wir sind, sondern es ist die Summe der Gaben, Schwächen und anderen Erbschaften, die ein Mensch mitgebracht hat. Ziel eines sinnvollen Lebens ist, den Ruf dieser inneren Stimme zu hören und ihm möglichst zu folgen. Der Weg wäre also: sich selbst erkennen, aber nicht über sich richten und sich ändern wollen, sondern das Leben möglichst der Gestalt anzunähern, die als Ahnung in uns vorgezeichnet ist.«

Hermann Hesse, 1928

EinleitungUnsere Individualität solidarisch leben

»Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Individualität zu leben macht den Sinn des Lebens aus«

»Entwickle dich zu dem einmaligen, unverwechselbaren, unaustauschbaren Menschen, der in dir angelegt ist.«

 

Pindar, 518–442 vor Christus

Ich liebe es, Menschen jeden Alters zu beobachten, beispielsweise im Sommer auf dem Münsterplatz in der Zürcher Altstadt. Da herrscht ein ständiges Gewusel von flanierenden Touristen, eiligen Geschäftsleuten, Einheimischen, die Neuigkeiten austauschen, und spielenden Kindern. Mich fasziniert die Vielfalt der Gesichter und Gestalten, die unterschiedliche Art, wie Kinder, junge und ältere Erwachsene miteinander umgehen. Wie mannigfaltig ist doch ihre Körpersprache, etwa wenn die Großen einander begrüßen und die Kleinen hintereinander herjagen. Und wie verschieden ist das Interesse bei den Touristen an der altehrwürdigen Fraumünster-Kirche und den Auslagen der Geschäfte. Es wird mir nie langweilig zuzuschauen. Ich kann mir sicher sein, dass niemals zwei Menschen über den Platz gehen, die sich in Gestalt und Verhalten vollkommen gleichen. Denn ich weiß, dass jeder der fast acht Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Erde leben, ein einzigartiges Wesen ist. Und diese Vielfalt ist keinesfalls außergewöhnlich; Pflanzen und Tiere sind innerhalb der eigenen Art genauso vielfältig. Was uns Menschen jedoch besonders und mich erst zum Beobachter macht: Nur wir sind uns – dank unserer hochentwickelten geistigen Fähigkeiten – der eigenen Individualität und der Vielfalt unter den Menschen bewusst.

Bereits im Alter von zwei Jahren beginnen wir, uns als eigenständiges Wesen zu begreifen. In den folgenden Jahren werden wir fähig, uns in die Emotionen, Gedanken und Handlungsweisen anderer Menschen einzufühlen und hineinzudenken. Dabei machen wir die Erfahrung: Jeder Mensch hat seine individuellen Eigenschaften, Begabungen und Vorstellungen. Spätestens im frühen Schulalter fangen wir an, uns mit anderen Menschen zu vergleichen, und bleiben ein Leben lang bei diesem Verhalten. Als Erwachsene messen wir uns mit unseren Mitmenschen, etwa bezüglich Aussehen, beruflicher und sozialer Stellung oder Leistung und Einkommen. Wir freuen uns an unseren Stärken und leiden an unseren Schwächen. Wir fragen uns, wie wir von den anderen Menschen wahrgenommen werden. Und wir werden immer wieder aufs Neue auf uns selbst zurückgeworfen: Was müssen wir an uns als »gegeben« akzeptieren, und was können wir verändern, wenn wir uns noch etwas mehr anstrengen? Mit den Jahren müssen wir dann einsehen: Es gibt keinen Königsweg, der uns aufzuzeigen vermag, wie wir das Leben am besten bewältigen können, obwohl uns unzählige Ratgeber genau das vollmundig versprechen. So kann auch dieses Buch keinen »Königsweg« anbieten. Es versucht vielmehr, die Individualität des Menschen und sein vielfältiges Bemühen, in dieser Welt zu bestehen, dem Leser und der Leserin näherzubringen. Denn wir tun uns immer noch schwer mit der Individualität. Wir denken und handeln, als ob wir alle gleich wären, alle die gleichen Bedürfnisse hätten und alle das Gleiche leisten könnten. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Sein Wesen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, dafür gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Es ist eine Herausforderung, die jeder Mensch nur auf seine Weise bewältigen kann.

Nicht nur die eigene Individualität zu leben ist eine Herausforderung, sondern auch mit der Vielfalt und Andersartigkeit der Mitmenschen umzugehen. Stellen wir uns vor, wir wären alle gleich, gleich groß und schwer, gleich in unserem Aussehen, wären mit den gleichen Gefühlen und Begabungen geboren und hätten die gleichen Bedürfnisse. Das Leben wäre ziemlich eintönig, aber wir hätten einige Probleme nicht, die uns die Vielfalt in Familie, Schule und Gesellschaft bereitet. Doch ohne Vielfalt gäbe es weder den Menschen noch alle anderen Lebewesen. Vielfalt und Individualität sind Grundvoraussetzungen alles Lebens.

Wie vielfältig die Menschen sind und welche Schwierigkeiten uns diese Vielfalt bereitet, war die nachhaltigste Erfahrung, die ich in meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater gemacht habe. Ich hatte das Privileg, ein großangelegtes Forschungsprojekt, das 1954 am Kinderspital Zürich begonnen wurde, von 1974 bis 2005 fortzuführen. In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir mehr als 700 normal entwickelte Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter in zwei aufeinanderfolgenden Generationen begleitet und den Entwicklungsverlauf jedes einzelnen Kindes in Bereichen wie Motorik und Sprache dokumentiert. Unsere Motivation, solche äußerst aufwendigen Studien durchzuführen, war die Überzeugung: Nur wenn wir die Vielfalt und die Gesetzmäßigkeiten der normalen Entwicklung ausreichend gut kennen, können wir den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder gerecht werden und sie in ihrer Entwicklung als Eltern, Therapeuten und Lehrkräfte wirksam unterstützen. Und es stellte sich bei der Auswertung der Daten aus den verschiedenen Entwicklungsbereichen tatsächlich heraus, dass es keine Fähigkeit, kein Verhalten und keine körperliche und psychische Eigenschaft gibt, die bei allen Kindern gleich ausgebildet ist. In jedem Alter herrschen große Unterschiede bei Gewicht und Größe, Kinder benötigen unterschiedlich viel Schlaf und nehmen verschieden viel Nahrung zu sich. Manche Kinder machen die ersten Schritte mit zehn, andere erst mit 20 Monaten. Es kommt vor, dass sich Kinder bereits mit drei bis vier Jahren für Buchstaben interessieren, die meisten lernen mit sechs bis acht Jahren lesen, und einigen Menschen bereitet das Lesen selbst im Erwachsenenalter noch Mühe. Die Vielfalt nimmt in jeder Hinsicht während der Kindheit ständig zu, und dies – bis zu einem gewissen Grad – auch noch im Erwachsenenalter. So gibt es Erwachsene, die in ihrem Zahlenverständnis nie über das Niveau der Grundschule hinausgekommen sind, während andere über logisch-mathematische Fähigkeiten verfügen, die sie komplexe Aufgaben im IT-Bereich lösen lassen.

Wir Menschen haben also alle ganz unterschiedliche Voraussetzungen, um die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Beispielsweise Luca, der mit seinen Eltern in meine Sprechstunde kam. Er fühlte sich als Versager, weil er im Alter von neun Jahren immer noch nicht lesen konnte. Er spürte schmerzlich, dass er die Erwartungen der Eltern und der Lehrerin nicht zu erfüllen vermochte. Luca war in seinem Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt und reagierte darauf mit Unkonzentriertheit und motorischer Unruhe. Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit Tausende von Kindern wie Luca erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der »Norm« abwichen. Sie litten an unterschiedlichsten Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten wie nächtlichem Erwachen, motorischer Ungeschicklichkeit oder sozialem Rückzug. Der oftmals unausgesprochene Auftrag der Eltern und Lehrer an uns bestand darin, die Kinder durch Förderung in die »Norm« zu bringen, was – wie uns die langjährige Erfahrung gelehrt hat – nicht gelingen kann. Wir sahen das eigentliche Problem der Kinder darin, dass sie, weil sie den Normvorstellungen nicht entsprachen, nicht »sie selbst« sein durften. So versuchten wir, den Kindern zu helfen, indem wir ihre individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten erfassten und dann gemeinsam mit den Eltern und anderen Bezugspersonen überlegten, wie das jeweilige Kind mit seinen Stärken und Schwächen am besten unterstützt werden konnte. Das war häufig nicht leicht, schließlich hatten die Erwachsenen ihre bestimmten Erwartungen an das Kind, ihre eigenen Vorstellungen von seinen Fähigkeiten und vor allem von den Leistungen, die es erbringen sollte. Wenn es uns jedoch gelang, die Erwachsenen auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes einzustellen, verbesserten sich sein körperlicher und psychischer Zustand und seine Lernbereitschaft wuchs.

Die eigene Individualität zu leben bleibt auch im Erwachsenenalter eine ständige Herausforderung. So ist beispielsweise eine Bankangestellte ebenso wie der Schüler Luca in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt, wenn sie die Leistungen am Arbeitsplatz nicht erbringen kann, die sie von sich selbst erwartet und die ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter von ihr verlangen. Sie fühlt sich überfordert, gerät in einen Erschöpfungszustand und leidet schlimmstenfalls irgendwann an einem Burn-out-Syndrom. Eine Verbesserung ihres Wohlbefindens kann zumeist nicht dadurch erreicht werden, dass man ihre Leistung, wie es häufig geschieht, etwa durch eine Fortbildung zu steigern versucht. Es gilt vielmehr, ihre individuellen Begabungen zu respektieren und die Arbeitsanforderungen mit ihrer Leistungsfähigkeit möglichst in Einklang zu bringen. Dasselbe Passungsproblem stellt sich bei Unterforderung ein, kann doch das Gefühl, die erbrachten Leistungen seien unbefriedigend, ja sinnlos, das Wohlbefinden eines Menschen ebenfalls erheblich beeinträchtigen.

Mehrmals pro Tag standen wir in der Forschung und klinischen Arbeit vor der Frage: Warum fühlt sich das eine Kind wohl und entwickelt sich gut, während ein anderes in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt ist und Auffälligkeiten in seiner Entwicklung aufweist? Antworten darauf fanden wir fast immer im Grad der Übereinstimmung zwischen dem Kind und seiner Umwelt. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Schlafstörungen häufig entstehen, weil die Eltern falsche Vorstellungen davon haben, wie viel Schlaf ihr Kind benötigt. Es gibt Kinder, die brauchen im Alter von zwölf Monaten 14 Stunden Schlaf, anderen genügen schon neun Stunden. Gelingt es den Eltern, sich auf den individuellen Schlafbedarf ihres Kindes einzustellen, dann verschwindet die Schlafstörung. Solche Beobachtungen lehrten uns im Laufe der Jahre, in allen Entwicklungsbereichen zu klären, ob eine Übereinstimmung zwischen dem Kind und seiner Umwelt besteht, und, falls nicht, herauszufinden, wie sich die mangelnde Übereinstimmung auf das Kind auswirkt und wie sie behoben werden kann.

Fragen zur Einzigartigkeit des Menschen und dem Zusammenwirken von Mensch und Umwelt haben mich seit der Pubertät beschäftigt. Im Alter von 13 Jahren musste ich acht Wochen lang das Bett hüten und verschlang in dieser Zeit Leo Tolstois »Krieg und Frieden« und Fjodor Dostojewskijs »Schuld und Sühne«. Die einfühlsame und lebensnahe Darstellung unterschiedlichster menschlicher Charaktere und der Dramen, die sich zwischen ihnen abspielten, faszinierte mich derart, dass ich mich – wieder genesen – durch die ganze auf Deutsch erhältliche russische Literatur las. Seither haben mich Fragen danach, warum die Menschen so verschieden sind, was ihr Leben bestimmt und was das Wesen des Menschen ausmacht, nie mehr losgelassen. Von meinem Medizinstudium an der Universität Zürich, das ich 1963 begann, erhoffte ich mir ein vertieftes Verständnis vom Menschen. Doch ich machte eine merkwürdige Erfahrung: Ich lernte eine immense Anzahl körperlicher und psychischer Phänomene aller Art kennen, aber mein Fragenkatalog nahm nicht ab, sondern zu, und eine tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen wollte sich nicht einstellen. Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Menschenbild setzte ich mich in den Jahrzehnten darauf mit den unterschiedlichsten Fachgebieten auseinander, insbesondere mit der Evolutionsbiologie, der Philosophie, der Pädagogik und der Psychologie. Ich las begeistert die Schriften genialer Denker und Forscher wie des Philosophen Immanuel Kant und des Evolutionsbiologen Charles Darwin, der Pädagogin Maria Montessori und des Psychologen Jean Piaget. Doch immer wieder machte sich Enttäuschung breit. Die Schriften beleuchteten wichtige Teilaspekte des menschlichen Wesens, was ich aber nach wie vor vermisste, war eine umfassende Sichtweise.

Im Verlauf von 40 Jahren fügten sich meine Erfahrungen in Klinik und Forschung und die Erkenntnisse aus verschiedenen Fachgebieten, etwa der Genetik und der Soziologie, nach und nach wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen. Ich nannte es das Fit-Prinzip. Es besagt: Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Das Fit-Prinzip beruht auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die die Vielfalt unter den Menschen, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und das Zusammenwirken von Individuum und Umwelt als Grundlage der menschlichen Existenz versteht.

Wie gut gelingt es den Menschen, ihre Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben? Das Ringen um ein passendes Leben überfordert immer mehr Menschen. Die Kinder sollen die oftmals übertriebenen Erwartungen der Eltern erfüllen und leiden in der Schule unter einem unerträglichen Leistungsdruck. Den Erwachsenen machen der Spagat zwischen Familie und Arbeit und die wachsenden Anforderungen der Wirtschaft zu schaffen. Alte Menschen, insbesondere wenn sie in Alters- und Pflegeheimen leben, leiden unter fehlender Geborgenheit und sozialer Vereinsamung. Menschen jeden Alters fühlen sich immer mehr fremdbestimmt und können immer weniger ein Leben führen, das ihren individuellen Bedürfnissen und Begabungen entspricht. Im Kleinen kann das Fit-Prinzip den Menschen helfen, zu ihrer Individualität zurückzufinden. Im Großen kann das Prinzip dazu beitragen, Gesellschaft und Wirtschaft so umzugestalten, dass die Menschen ein möglichst gelingendes Leben führen können.

 

Da in diesem Buch ein großer Bogen von den Anfängen der Evolution bis in unsere Zeit geschlagen wird, soll die nachfolgende kurze Übersicht über seine zehn Teile den Leser und die Leserin an den inneren Zusammenhang heranführen, der zwischen so unterschiedlichen Themen wie Evolutionsbiologie, Anlage und Umwelt, Entwicklung des Menschen und dem Fit-Prinzip besteht.

Teil IDer biologische und soziokulturelle Werdegang des Menschen

»Der Mensch ist mit allen Lebewesen dieser Erde verwandt«

Vieles in unserem eigenen Leben können wir nur begreifen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was in der Vergangenheit mit uns geschehen ist. So hilft uns auch der Blick zurück auf die ferne Herkunft der Menschheit, unser (heutiges) Wesen besser zu verstehen.

Im Alten Testament, im Ersten Buch Mose, erfahren wir in der Schöpfungsgeschichte, wie der Mensch an einem einzigen Tag erschaffen wurde. Die neuesten Erkenntnisse der Anthropologie, Evolutionsbiologie und der Genetik haben zu einer anderen, aber nicht weniger wunderbaren Einsicht geführt. Wir Menschen sind im Verlauf von 450 Millionen Jahren aus dem unablässigen Zusammenwirken unzähliger Lebewesen und deren Umwelt hervorgegangen. Wir teilen mit allen Lebewesen dieser Erde einen gemeinsamen Ursprung und sind demnach – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – mit Insekten, Reptilien und Säugetieren, ja selbst mit Algen, Palmen und Obstbäumen genetisch verwandt. Die Verantwortung für die Umwelt ist uns gewissermaßen ins Erbgut hineingeschrieben.

Seit 450 Millionen Jahren streben sämtliche Lebewesen danach, sich so gut wie möglich an die jeweiligen Lebensbedingungen anzupassen, um zu überleben und sich fortzupflanzen. Damit dieser Prozess gelingen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen muss eine große Vielfalt innerhalb einer Art bestehen, und zum anderen muss die Erbanlage einem ständigen Wandel unterworfen sein.

Der Wandel des Erbgutes, die Vielfalt unter den Menschen und das Streben nach Übereinstimmung mit der Umwelt sind nicht nur Grundelemente der Evolution, sondern auch der menschlichen Existenz. Das Erbgut wird bei jeder Zeugung eines Kindes neu zusammengestellt. Jeder der fast acht Milliarden Menschen ist daher ein Unikat. Und jeder Mensch versucht sein Leben lang, sich auf die vielfältigen Anforderungen der Umwelt so einzustellen, dass er seine Bedürfnisse möglichst gut befriedigen kann. Dieses Bemühen, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, ist das Herzstück des Fit-Prinzips.

Der moderne Mensch hat als einziges Lebewesen einen unwiderstehlichen Drang entwickelt, seine Fähigkeiten und sein Wissen immer mehr auszuweiten und damit die Umwelt nicht nur bestmöglich zu verstehen, sondern auch immer stärker zu nutzen und schließlich zu beherrschen. Das Bemühen um eine Übereinstimmung mit der Umwelt ist in eine Dominanz über die Umwelt umgeschlagen. Der wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Fortschritt hat sich in den vergangenen 200 Jahren exponentiell beschleunigt. In den letzten Jahrzehnten hat es weitaus mehr Innovationen gegeben als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor – mit erfreulichen Errungenschaften, aber zunehmend auch mit bedrohlichen Folgen für die Umwelt und für uns selbst. So leben wir nicht mehr – wie unsere Vorfahren während 200000 Jahren – in kleinräumigen Lebensgemeinschaften, sondern in einer anonymen Massengesellschaft.

Fragen, die uns beschäftigen werden, sind:

Wie lässt sich die große Vielfalt unter den Menschen erklären? Und warum haben alle Menschen dennoch ein gemeinsames Erbgut?

Wie stark verändert sich die Erbanlage von einer Generation zur nächsten?

Wie haben sich unsere kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten entwickelt? Woher stammt unser unstillbarer Drang nach Erkenntnis?

Woher kommt unser unbändiges Bedürfnis, die Umwelt beherrschen zu wollen? Und wie verhindern wir, dass wir das Leben auf der Erde und damit uns selbst zerstören?

Teil IIÜber das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt

»Was die Anlage zustande bringt, vermag die Umwelt nicht zu leisten – und umgekehrt«

Was für die Evolution im Großen gilt, trifft im Kleinen auch auf unsere eigene Entwicklung zu. Unser Leben besteht von der Geburt bis ins hohe Alter aus einem ständigen Zusammenwirken von Anlage und Umwelt. Und so fragen wir uns: Was also ist in unserem Wesen angelegt beziehungsweise angeboren und was erworben? Diese Frage treibt nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Laien um. Roger Federer ist einer der erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten. Warum ist er bei 20 Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervorgegangen? Weil er mit einem außerordentlichen Talent gesegnet ist, weil er sehr viel trainiert hat oder weil sich Begabung und Trainingseifer ideal ergänzt haben? Wenn Eltern besonders empathisch und fürsorglich mit ihren Kindern umgehen, liegt ihrem Verhalten dann eine hohe angeborene soziale Kompetenz zugrunde, oder sind sie als Kinder zu einem fürsorglichen Verhalten erzogen worden? Wenn Jugendliche einen dicken Harry-Potter-Band in einer Woche verschlingen, während manche ihrer Schulkameraden selbst eine kurze Notiz in einer Boulevardzeitung nur mit Mühe entziffern können – ist das so, weil ihre Lesekompetenzen so verschieden angelegt sind, oder liegt es daran, dass Elternhaus und Schule sie unterschiedlich unterstützt haben, oder trifft beides zu?

Welche Bedeutung wir jeweils Anlage und Umwelt zuschreiben, ist auch für die Gesellschaft von Belang. Wie halten wir es beispielsweise mit der Chancengerechtigkeit in der Bildung? Fällt der Lernerfolg bei Schülern so unterschiedlich aus, weil ihre Begabungen so verschieden sind oder weil sie in der Schule ungleich gefördert werden? Wie schaffen wir Gerechtigkeit in der Wirtschaft, wenn die Menschen über so unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, aber den gleichen Anforderungen genügen sollen? Schreiben wir eine große Leistungsfähigkeit einer hohen Begabung, einer guten Ausbildung oder einer vorbildlichen Arbeitshaltung zu? Was soll honoriert werden: Talent, Arbeitseinsatz oder Erfolg? Je nachdem, welche Bedeutung wir Anlage und Umwelt zuschreiben, verhalten wir uns als Eltern, Lehrer, Mitarbeiter und Bürger unterschiedlich.

Wichtige Fragen, die es zu beantworten gilt, sind:

Welcher Anteil unserer Eigenschaften und Fähigkeiten ist angeboren? Was verstehen wir unter Anlage?

Welcher Anteil unserer Eigenschaften und Fähigkeiten ist erworben? Was verstehen wir unter Umwelt?

Worin bestehen die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen, und wo liegen seine Grenzen?

Wie müssen Gesellschaft und Wirtschaft gestaltet sein, damit sie der Vielfalt der Bedürfnisse und Begabungen unter den Menschen möglichst gerecht werden?

Teil IIIEntwicklung zur Individualität

»Neugierde ist die treibende Kraft in der Entwicklung«

Jedes Kind rekapituliert in seiner Entwicklung eine Wegstrecke der Evolution – gewissermaßen im Schnelldurchlauf. Es wird mit einem riesigen Entwicklungspotential geboren, das in vielen hunderttausend Jahren entstanden ist und sich bewährt hat. Dieses Potential will das Kind verwirklichen. Schon wenige Monate nach der Geburt beginnt es, nach Gegenständen zu greifen und einfache kausale Zusammenhänge zu begreifen. Mit einem Jahr kann es frei gehen und einige Worte verstehen. Mit drei Jahren beginnt es, zu zeichnen und mit Lego-Bausteinen Häuser nachzubauen. Mit fünf Jahren spricht das Kind einigermaßen fehlerfrei und verfügt über ein einfaches Zahlenverständnis. Nun kommt es in die Schule, und die Entwicklung seiner Fähigkeiten macht bis zum Abschluss der Pubertät noch einmal einen Quantensprung.

Wenn ein Kind zu greifen und zu sprechen, zu lesen und zu rechnen beginnt, läuft im Gehirn ein überaus komplexer Reifungsprozess ab, der nur gelingen kann, wenn das Kind die notwendigen Erfahrungen machen darf. Dafür ist es mit einer unbändigen Neugierde und einer genuinen Lernbereitschaft ausgestattet. Es kann gar nicht anders, als sich für seine Umwelt in jeder Hinsicht zu interessieren. Es will die Welt kennenlernen, um sie möglichst gut zu verstehen und sich darin zu bewähren.

Einsichten in die kindliche Entwicklung helfen nicht nur dabei, das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen, sie bieten auch einen wunderbaren Zugang dazu, unser eigenes Wesen besser zu begreifen: Wie wir so geworden sind, wie wir nun einmal sind. Warum einige unserer Fähigkeiten so gut ausgebildet sind und andere weit weniger. Warum wir für bestimmte Lebensbereiche ein großes Interesse und eine erstaunliche Lernbereitschaft aufbringen und für andere Bereiche kaum.

Wichtige Fragen sind:

Was trägt die Hirnreifung zur Entwicklung bei? Wie bedeutsam sind Erfahrungen mit der sozialen und gegenständlichen Umwelt?

Was verstehen wir unter Neugierde und Lernmotivation? Wie eignet sich das Kind Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen an?

Welche Formen des Lernens gibt es? Worin besteht kindgerechtes, nachhaltiges Lernen?

Was können Erwachsene noch lernen und was nicht? Worin unterscheidet sich ihr Lernverhalten von demjenigen der Kinder?

Teil IVGrundbedürfnisse bestimmen unser Leben

»Jeder Mensch hat sein ihm eigenes Bedürfnisprofil«

Alle elementaren Bedürfnisse wie z.B. dasjenige nach Nahrung teilt der Mensch seit jeher mit höher entwickelten Tieren. Er hat in der letzten Etappe seiner evolutionären Entwicklung die Befriedigung seiner Bedürfnisse jedoch so stark weiterentwickelt, dass sie eine ganz neue Bedeutung erhalten haben. So beschaffen sich die Menschen nicht nur Nahrung, sondern kochen und würzen ihre Speisen seit vielen Jahrtausenden und zelebrieren bei Feierlichkeiten die Mahlzeiten als ein soziales Ereignis mit Gedeck, Wein und Kerzen.

Sechs Grundbedürfnisse bestimmen aus der Sicht des Fit-Prinzips unser Leben. Wir haben neben der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse ein großes Verlangen nach Geborgenheit sowie nach sozialer Anerkennung und einer festen sozialen Stellung in der Familie, im Freundeskreis, in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Erhalten wir ausreichend Geborgenheit und Anerkennung, fühlen wir uns wohl und angenommen. Werden wir jedoch ausgegrenzt, fühlen wir uns abgelehnt und sind emotional verunsichert. Zwei weitere Grundbedürfnisse bestehen darin, dass wir unsere Begabungen entfalten wollen und die Leistungen erbringen möchten, die unseren Fähigkeiten entsprechen. Dabei haben Kinder einen besonders ausgeprägten Drang, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sich Fertigkeiten anzueignen. Ein letztes Grundbedürfnis, das uns besonders antreibt, ist dasjenige nach existentieller Sicherheit. Ein geregeltes Einkommen und Sicherheit von Person und Eigentum sind uns sehr wichtig. Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen oder gar der Verlust von Hab und Gut wie auch Bedrohung von Leib und Leben können unser Wohlbefinden extrem beeinträchtigen.

Unsere psychische und körperliche Befindlichkeit hängt davon ab, ob es uns gelingt, unsere Grundbedürfnisse ausreichend zu stillen. Dafür wenden wir all unsere Kraft und Zeit auf.

Es stellen sich uns die folgenden Fragen:

Was verstehen wir unter Grundbedürfnissen? Wie sind sie entstanden? Woraus bestehen sie?

Wie entwickeln sich die Grundbedürfnisse im Verlauf des Lebens, und wie bedeutungsvoll sind sie in den verschiedenen Altersperioden?

Welche Gefühle und Vorstellungen sind mit den Grundbedürfnissen verbunden? Was wollen wir damit ausdrücken?

Wie unterschiedlich ausgeprägt können die Grundbedürfnisse unter den Menschen sein?

Teil VKompetenzen, die wir entfalten wollen

»Menschen erbringen zahllose Leistungen, zu denen kein anderes Lebewesen fähig ist«

Intelligenz wird häufig mit intellektueller Leistungsfähigkeit und dem Intelligenzquotienten gleichgesetzt. Unsere geistigen Fähigkeiten gehen jedoch weit über jene intellektuellen Leistungen hinaus, die in gängigen Testverfahren erfasst werden. So gibt es motorische Begabungen, die für eine handwerkliche Tätigkeit wie das Schreinern oder für das Spielen eines Musikinstrumentes sehr wesentlich sind. Das Sozialverhalten besteht nicht nur aus zwischenmenschlichen Umgangsformen, sondern auch aus der geistigen Fähigkeit, sich in das Verhalten anderer Menschen hineindenken und -fühlen zu können.

Begriffe wie Intelligenz und Intelligenzquotient legen zudem eine einheitliche Leistung des Gehirns nahe. Heute kennen wir jedoch eine Vielzahl von geistigen Fähigkeiten, die nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch bei jedem Einzelnen unterschiedlich ausgebildet sind. So gibt es Menschen, die sprachlich sehr begabt sind, jedoch weit weniger im Umgang mit Zahlen. Bei anderen ist es genau umgekehrt. Dem individuellen Begabungsprofil eines Menschen kann daher eine einzelne Zahl wie der Intelligenzquotient nicht gerecht werden. In diesem Kapitel werden acht Begabungen, sogenannte Kompetenzen, vorgestellt. Jede dieser Kompetenzen geht aus Fähigkeiten wie etwa der visuellen Wahrnehmung hervor, die wir mit höher entwickelten Tieren gemeinsam haben. So entstehen aus den visuellen Erfahrungen eine erste Vorstellung vom Raum, dann sprachliche Begriffe wie räumliche Präpositionen und schließlich Tätigkeiten wie das Zeichnen oder Erbauen von Häusern.

Die folgenden Fragen werden uns beschäftigen:

Was sollen wir unter Kompetenzen verstehen? Woraus bestehen sie?

Wie entwickeln sich Kompetenzen zu Fähigkeiten, Fertigkeiten und Vorstellungen?

Wie unterschiedlich sind die Kompetenzen von Mensch zu Mensch ausgebildet?

Wie verschieden können die Kompetenzen beim einzelnen Menschen ausgeprägt sein?

Teil VIUnsere Vorstellungen und Überzeugungen

»Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich die Welt erklären muss, um das Leben zu bewältigen«

Vorstellungen befähigen uns zum Denken sowie zum Verstehen und Anwenden von Sprache. Beispielsweise denke ich gerade darüber nach, was für mich Vorstellungen sind, und halte meine Gedanken in diesen Zeilen fest. Von klein auf versuchen wir, die Welt zu verstehen. Wir erschaffen uns eine Welt aus den Vorstellungen, die wir uns aufgrund der Erfahrungen mit der Umwelt machen. Wir müssen uns die Welt – nahezu zwanghaft – erklären. Wir können gar nicht anders. Ein Leben ohne Vorstellungen ist für uns schlicht unvorstellbar. Durch den Erwerb von Vorstellungen werden wir zu menschlichen Wesen.

Unsere Gedanken und Überzeugungen tauschen wir mit unseren Mitmenschen aus und teilen gemeinsame Vorstellungen, beispielsweise religiöser Art. Manche Wertvorstellungen übernehmen wir im Lauf des Lebens von unserer sozialen Umwelt. Sie können eine ungeheure Macht auf uns ausüben und unser Leben im hohen Maß bestimmen. So legte die katholische Kirche jahrhundertelang mit ihren Dogmen die Moral und das Beziehungsverhalten der Menschen fest. Sie verfügte über eine absolute Deutungshoheit, etwa bezüglich der Stellung von Mann und Frau und Ehe und Scheidung. Doch auch mächtige Werke verlieren ihre Bedeutung oder werden gar aufgegeben, wenn sich die Lebensbedingungen tiefgreifend verändern. Heute, nach über 200 Jahren Aufklärung, orientieren sich die Menschen immer weniger an religiösen und umso mehr an säkularen Vorstellungen, beispielsweise bei der Gleichstellung von Frau und Mann oder dem Umgang mit Homosexualität.

Wir lassen uns von unseren Vorstellungen leiten und rechtfertigen mit ihnen unser Tun im Alltag genauso wie in der Weltpolitik. Es lohnt sich daher, den Inhalt und den Einfluss unserer Vorstellungen zu hinterfragen:

Was verstehen wir unter Vorstellungen? Was zeichnet Gedanken, Erinnerungen, Worte und mathematische Formeln aus?

Wie entstehen Vorstellungen in der kindlichen Entwicklung? Wie beeinflussen die Erfahrungen in Familie und Bildungsinstitutionen unsere Vorstellungswelt?

Welche Bedeutung haben Vorstellungen wie Chancengerechtigkeit für die Gesellschaft? Wie entstehen sie? Wie setzen sie sich durch?

Welche Bedeutung hat das Bewusstsein für die Verfügbarkeit von Vorstellungen? Was ist überhaupt Bewusstsein? Gibt es auch Vorstellungen im Unbewussten?

Teil VIIVon der Natur zur menschengemachten Umwelt

»Zum Überleben brauchen alle Lebewesen nicht irgendeine, sondern eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Umwelt«

Wir machen uns seit einigen Jahrzehnten zu Recht große Sorgen um unsere Umwelt. Die CO2-Emissionen erreichten 2013 einen neuen Rekordwert von 36 Milliarden Tonnen, was schlimmstenfalls zu einer Erderwärmung um mehrere Grad noch in diesem Jahrhundert führen könnte. Die Wälder werden abgeholzt – allein zwischen 2000 und 2012 verschwand eine 1100 mal 1100 Kilometer große Waldfläche, und der Lebensraum von zahllosen Tieren und Pflanzen wurde zerstört. Die Städte und Siedlungsgebiete der Menschen werden in wenigen Jahrzehnten zusammengenommen die Größe Australiens erreicht haben. Wir plündern die Bodenschätze, verseuchen die Gewässer mit Chemikalien und belasten unsere Umwelt mit Abfall. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Verantwortung der Natur gegenüber endlich wahrnehmen. Wir sollten uns aber nicht nur fragen, was wir der Natur antun, sondern auch, wie sehr wir uns selbst damit schaden. Wie viel Natur braucht der Mensch für seine körperliche und psychische Gesundheit? Immerhin haben unsere Vorfahren die letzten 200000 Jahre nicht in sterilen Räumen, sondern in der freien Natur zugebracht. Wir sind ursprünglich für ein Leben in der Natur gemacht.

Innerhalb von lediglich 200 Jahren haben wir uns von der Natur weitgehend verabschiedet und uns in einer von wissenschaftlichem Fortschritt, Technik und Ökonomie geprägten Umwelt eingerichtet. Diese Umstellung hat auch die uralten Strukturen des Zusammenlebens grundlegend verändert. Mit der Industrialisierung begannen sich die ursprünglichen Lebensgemeinschaften aufzulösen. Die Großfamilien mit zahlreichen Kindern und Verwandten sind zu Kleinfamilien mit ein bis zwei Kindern und wenigen Verwandten zusammengeschrumpft. Partnerschaft und Elternschaft werden immer häufiger getrennt gelebt. Aus den überschaubaren, mit der Natur verbundenen Lebensgemeinschaften sind anonyme Massengesellschaften in Großstädten geworden.

Fühlen wir uns, und fühlen sich insbesondere unsere Kinder, unter den herrschenden Lebensbedingungen noch geborgen? Bekommen wir Erwachsene noch die notwendige Anerkennung und Zuwendung? Können wir wirklich ohne ein stabiles soziales Netz von vertrauten Menschen auskommen? Führen ein Mangel an Geborgenheit und fehlende soziale Anerkennung zu psychischen Störungen wie ADHS bei Kindern und Depressionen bei Erwachsenen?

Wir müssen also nicht nur unseren Umgang mit der Natur hinterfragen, sondern auch den Einfluss, den die von uns geschaffene Umwelt auf unser Leben hat:

Welche Bedeutung hat die Natur für unser Wohlbefinden?

Wie wirkt sich der Wandel von der ursprünglichen Lebensgemeinschaft in eine anonyme Massengesellschaft auf unser Wohlbefinden aus?

Welche Folgen haben die reduzierten familiären Strukturen für die Entwicklung der Kinder? Inwieweit sind Erwachsene auf eine verlässliche Partnerschaft und ein stabiles soziales Netz angewiesen?

Was geschieht, wenn wir in der modernen Gesellschaft unsere emotionalen und sozialen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können? Welche Auswirkungen hat es auf unsere körperliche und psychische Gesundheit?

Teil VIIIDas passende Leben – Das Fit-Prinzip

»Unsere Individualität zu leben ist eine Herausforderung, die uns ein Leben lang auf Trab hält«

Seit Jahrtausenden versuchen die Menschen mit religiösen und spirituellen, geisteswissenschaftlichen und neuerdings auch neurobiologischen Vorstellungen, dem Leben einen Sinn zu geben. Jede Religion, Ideologie und Theorie entwickelte dabei ihr eigenes Wunschbild vom Menschen, und diese Vorstellungen waren häufig mit einem hohen Anspruch verbunden, beispielsweise die Menschen zu besseren Wesen zu machen oder die Welt in ein Paradies zu verwandeln.

Mit dem Fit-Prinzip soll keine weitere Wunschvorstellung präsentiert werden. Es will vielmehr dem Menschen – ohne metaphysischen oder theoretischen Überbau – in seiner Einzigartigkeit und in seinem Bemühen, ein passendes Leben zu führen, möglichst nahe kommen. Dem Prinzip liegt die folgende Grundannahme zugrunde, die sich aus der evolutionsbiologischen Entwicklung des Menschen ergibt und die den Alltag jedes Individuums bestimmt:

Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Je besser ihm dies gelingt, desto größer sind sein Wohlbefinden, sein Selbstwertgefühl und seine Selbstwirksamkeit.

Selbstverständlich gelingt es uns längst nicht immer, ein passendes Leben zu führen, auch wenn wir uns Tag für Tag darum bemühen. Der Grund dafür sind einerseits wir selbst, weil wir unrealistische Erwartungen hegen, unsere Grundbedürfnisse nicht richtig einschätzen und unsere Kompetenz falsch einsetzen, und andererseits die äußeren Lebensumstände und oftmals beides zusammen. Wir rappeln uns immer wieder auf und stellen uns neuen Herausforderungen, die unserem Leben wieder eine Richtung, einen Sinn geben sollen. Im Laufe des Lebens gelingt es uns immer besser, unsere Stärken zu nutzen und unsere Schwächen zu akzeptieren. Wir lernen unsere Bedürfnisse und Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch unsere Grenzen immer besser kennen und kommen so unserem Wesen immer näher.

Im Fit-Prinzip geht es nicht darum, eine möglichst große Leistung zu erbringen, einen möglichst hohen sozialen Status zu erreichen oder möglichst viel Reichtum anzuhäufen. Würde nur das maximal Erreichbare die Menschen zufriedenstellen, müsste die überwältigende Mehrheit im Unglück versinken. Das ist jedoch in keiner Weise der Fall. Die meisten Menschen sind nämlich dann zufrieden, wenn sie ihre individuellen Grundbedürfnisse ausreichend befriedigen und ihre Kompetenzen weitgehend verwirklichen können.

Fragen, die sich uns beim Fit-Prinzip stellen werden, sind:

Wodurch zeichnet sich eine Fit-Konstellation aus? Und wie wirkt sie sich auf unser Wohlbefinden aus?

Wie können wir eine Übereinstimmung mit der Umwelt herstellen? Was müssen wir und was muss die Umwelt dazu beitragen?

Wie können wir unsere Grundbedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen so gut erfassen, dass wir unsere Entfaltungsmöglichkeiten kennen, aber auch unsere Grenzen akzeptieren?

Wie können wir unsere Mitmenschen darin unterstützen, in Übereinstimmung mit ihrer Umwelt zu leben?

Teil IXMisfit-Konstellationen

»Beim Fit-Prinzip geht es darum, die Misfit-Situation anzugehen, indem die aktuelle Lebenssituation umfassend hinterfragt wird«

Kein Mensch schafft es auf Dauer, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Kleinere Misfit-Situationen, die das Individuum ohne größeren Aufwand erfolgreich bewältigen kann, gehören zum Alltag. Sie beeinträchtigen weder das körperliche noch das psychische Wohlbefinden. Sie sind vielmehr ein ständiger Ansporn, gewohnte Verhaltensweisen, Vorstellungen und Zielsetzungen auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen und sich veränderten Gegebenheiten anzupassen. Überschreiten die Anforderungen, beispielsweise bei der Arbeit, jedoch ein bestimmtes Maß, das von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein kann, stellt sich eine Misfit-Konstellation mit Folgen ein. Betroffene Menschen fühlen sich hilflos und ohnmächtig, wirken angespannt und verunsichert. Sie neigen zu aggressivem Verhalten oder sozialem Rückzug. Sie leiden an psychosomatischen Störungen wie Darmbeschwerden und konsumieren vermehrt Suchtmittel wie Alkohol oder Medikamente.

Misfit-Situationen wirken sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark aus, je nachdem, welche Grundbedürfnisse, Kompetenzen und Vorstellungen betroffen sind, welche Erfahrungen mit Misfit-Situationen bisher gemacht wurden und welche Belastungen in der jeweiligen Lebenssituation bestehen. So kann Arbeitslosigkeit bei einem älteren Erwachsenen eine Lebenskrise mit existentieller Verunsicherung und einem Gefühl der Entwertung auslösen, während ein junger Erwachsener eine solche Situation als weniger belastend empfindet, da ihm alternative Stellenangebote zur Verfügung stehen.

Das Angebot an medizinischen, psychologischen und esoterischen Behandlungsmethoden für Menschen, die unter einem Misfit gleich welcher Art leiden, ist riesig. Beim Fit-Prinzip geht es nicht nur darum, Symptome wie Kopfschmerzen zu lindern oder Schlafstörungen zu beheben, sondern sich mit der Misfit-Situation selbst auseinanderzusetzen. Was habe ich zur aktuellen Misfit-Situation beigetragen, etwa weil ich meine Kompetenzen bei der Arbeit nicht richtig eingeschätzt habe? Was hat die Umwelt dazu beigetragen, beispielsweise indem sie mir Arbeiten aufgebürdet hat, die mich überfordert haben? Welche Misfit-Konstellationen habe ich in der Vergangenheit erlebt, wodurch sind sie entstanden, und wie konnte ich sie beheben?

Fragen, die sich in Teil IX stellen werden, sind:

Was verstehen wir unter einem Misfit? Wie kann ein Misfit entstehen? Welche Ursachen liegen ihm zugrunde?

Woran lässt sich eine Misfit-Situation erkennen? Wie beeinträchtigt sie unser Wohlbefinden? Welche Krankheitssymptome löst sie aus?

Wie können wir eine Misfit-Situation angehen? Welche Grundbedürfnisse sind betroffen? Welche Erwartungen haben wir an uns und die Umwelt?

Wie schätzen wir die aktuelle Lebenssituation ein? Was trägt die Umwelt zur Misfit-Situation bei?

Wie können wir anderen Menschen helfen, die sich in einer Misfit-Situation befinden?

Teil XZeitenwende

»Wir müssen das Unmögliche denken«

In einer idealen Gesellschaft, gewissermaßen dem Paradies auf Erden, könnten alle Menschen ein passendes Leben führen. Aus Sicht des Fit-Prinzips wäre sie so beschaffen, dass alle Menschen ihre Individualität leben dürften. Sie könnten ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigen, fühlten sich geborgen und in der Gemeinschaft aufgehoben. Sie könnten ihre Begabungen entfalten und Leistungen erbringen, die sie befriedigen. Sie fühlten sich existentiell sicher und in keiner Weise bedroht. Und sie könnten in jeder Hinsicht ein selbstbestimmtes Leben führen.

Sind wir im Paradies angekommen? In einer gewissen Weise schon. Der wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Fortschritt hat in den vergangenen 100 Jahren enorm zum körperlichen und psychischen Wohlbefinden der Menschen beigetragen, wenn auch noch nicht überall auf der Welt. So ist in den hochentwickelten Ländern der Gesundheitszustand der Bevölkerung so gut wie nie zuvor, und die Lebenserwartung hat sich verdoppelt. Die Menschen haben Zugang zu einem gut entwickelten Bildungswesen. In Europa herrschen seit 70 Jahren materieller Wohlstand und Frieden, was es zuvor nie gegeben hat. Und dennoch will sich eine allgemeine Zufriedenheit nicht einstellen. Es besteht ein diffuses Unbehagen, dessen Ursachen den Menschen allmählich bewusst werden.

Eine der Ursachen besteht in der Missachtung der emotionalen und sozialen Bedürfnisse der Menschen. Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen, das für sein Wohlbefinden auf eine Form des Zusammenlebens angewiesen ist, wie sie in der Lebensgemeinschaft früherer Zeiten bestanden hat: stabile Beziehungen mit vertrauten Menschen und eine Kultur, die Identität und Gemeinschaftssinn vermittelt. Nun ist im Zuge des modernen Fortschritts innerhalb von wenigen Generationen aus einer kleinräumigen Lebensgemeinschaft eine riesige anonyme Gesellschaft entstanden, für die wir eigentlich nicht geschaffen sind. Wir stehen untereinander in einem ständigen Wettbewerb. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue als Partner und Arbeitskraft bewähren und laufen ständig Gefahr, aus allen Beziehungsnetzen herauszufallen und sozial zu vereinsamen. Emotionale Sicherheit gibt es für die meisten Menschen nur noch auf Zeit. Wir leben so, als ob wir auf beständige und tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen verzichten könnten, für unser psychisches Wohlbefinden nicht darauf angewiesen wären. Doch diese Einstellung erweist sich immer mehr als Trugschluss. Eine anonyme, hochkomplexe Gesellschaft und Wirtschaft kann keine vertrauensvollen Beziehungen schaffen und unsere sozialen und emotionalen Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Dazu braucht es eine Gemeinschaft vertrauter Menschen, die ein verlässliches und tragfähiges Beziehungsnetz bilden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen, aber auch wie wir mit anderen Ursachen der allgemeinen Verunsicherung umgehen, wie drohender Massenarbeitslosigkeit, Sinnentleerung der Arbeit und Verlust kultureller Werte. Dazu müssen wir das vermeintlich Unmögliche denken. Denn nur so sind wir bereit, Gesellschaft und Wirtschaft so gründlich umzubauen, dass die Menschen selbstbestimmt ihre Grundbedürfnisse befriedigen und so ihre Individualität leben können.

Fragen, mit denen wir uns in Teil X beschäftigen werden, sind:

In welchem Ausmaß prägt den heutigen Menschen das Erbe der Vergangenheit – im Guten wie im Schlechten? Sind wir beliebig anpassungsfähig, also für jede Art von Umwelt gemacht?

Wie sind Vielfalt und Individualität mit Werten wie Gleichheit und Gerechtigkeit zu vereinbaren? Ist eine gerechte Gesellschaft in Anbetracht der großen Vielfalt unter den Menschen überhaupt möglich?

Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, in der die Menschen ihre Individualität leben können und der soziale Zusammenhalt dennoch gewährleistet ist?

Wie kann die Lebensqualität erhalten bleiben, wenn durch Automatisierung, Roboter und Digitalisierung der Wirtschaft immer mehr Menschen arbeitslos werden?

Wer trägt in den staatlichen und wirtschaftlichen Institutionen für das körperliche und psychische Wohlbefinden von Milliarden von Menschen die Verantwortung?

Und das Wichtigste: Wie können wir die Familie so stärken, dass es den Menschen wieder mehr Freunde macht, Kinder großziehen? Und wie können wir neue Formen der Lebensgemeinschaft schaffen, in denen die Menschen ihre Grundbedürfnisse besser befriedigen können als in der anonymen Massengesellschaft?

Die Vielfalt unter den Lebewesen, die Einzigartigkeit jedes Lebewesens und sein ständiges Ringen mit der Umwelt gehören zu den Grundprinzipien der Evolution und damit auch zum Menschsein und zur menschlichen Natur. Sie sind Teil der Conditio humana, die seit Jahrtausenden in Religion, Philosophie und Kunst ihren Ausdruck gefunden hat. In meiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit und selbstverständlich auch in meinem eigenen Leben hat mich das Bemühen der Menschen, die eigene Individualität in Einklang mit der Umwelt zu leben, immer wieder sehr berührt. Aus diesen Erfahrungen ist dieses Buch entstanden.

Teil IDer biologische und soziokulturelle Werdegang des Menschen

»Der Mensch ist mit allen Lebewesen dieser Erde verwandt«

»Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreis geschwungen, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und immer noch entwickelt.«

 

Charles Darwin, »Die Entstehung der Arten« (1859)

Es ist eines der größten Rätsel, das die Menschen seit jeher umtreibt: Warum gibt es uns, die Welt und das Universum überhaupt? Der herausragende Naturforscher Charles Darwin fand keine bessere Antwort als diejenige, die bereits im ersten Buch Moses festgehalten ist: Gott erschuf die Welt. Er schreibt 1863 in einem Brief an den berühmten Botaniker Joseph Hooker: »It is mere rubbish, thinking at present of the origin of life; one might as well think of the origin of matter.«[1] Die Naturwissenschaften haben bis heute keine überzeugendere Erklärung dafür gefunden. Wie es aber nach der Schöpfung oder – in der modernen Terminologie – nach dem Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren weiterging, davon haben wir zumindest eine Ahnung. Astronomen und Physiker entwickeln laufend verfeinerte Theorien darüber, wie sich das Universum seitdem ausgebreitet und in Materie und Energie ausdifferenziert hat. Nach ihren Erkenntnissen ist die Erde vor 4,6 Milliarden Jahren aus der Verdichtung eines Sonnennebels entstanden. Vor etwa 3,8 Milliarden Jahren sind erstmals einfachste Lebewesen nachweisbar. Sie lebten im sogenannten Urmeer, ihre Spuren sind bis heute in Fossilienfunden erhalten geblieben. Wie sich das Leben auf der Erde von diesem Zeitpunkt an vervielfältigt und weiterentwickelt hat, hat schon Charles Darwin in der Mitte des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich dargelegt. Seine Evolutionslehre prägt das Verständnis von der Entwicklung des Lebens bis heute. Sie bildet den Grundstein für alle Erkenntnisse, die in den vergangenen 150 Jahren in zahlreichen Forschungsbereichen wie der Embryologie, Evolutionären Entwicklungsbiologie, Paläontologie und vor allem der Molekulargenetik gewonnen wurden. Darwins Lehre wurde von ihnen weitgehend bestätigt, und sie haben unsere Kenntnisse über die Entstehung von unterschiedlichsten Lebensformen wie Bakterien und Pilzen, Pflanzen und Tieren sowie dem Menschen tiefgreifend erweitert.[2] Der gängig verwendete Begriff Stammbaum ist insofern irreführend, als die Abstammungslinien nicht wie Zweige von einem Stamm abgehen, sondern vielmehr wie in einem Busch sprießen.

Abb. 1.1:

Links: Unter der Notiz »I think« skizzierte Darwin 1837 in seinem Notizbuch B eine erste Vorstellung vom Stammbaum des Lebens. Rechts: Aktueller Stammbaum.

Die Evolutionslehre hilft uns nicht nur zu verstehen, woher wir kommen, sondern auch, wie wir zu den Lebewesen geworden sind, die wir heute sind. Sie bietet eine Erklärung dafür, warum der Mensch mit sämtlichen Lebewesen wie Bakterien und Pilzen, Pflanzen und Tieren verwandt ist, wie sich körperliche und psychische Merkmale wie die Hand oder das Sozialverhalten entwickelt haben und weshalb sich der Mensch in einer aus evolutionärer Sicht äußerst kurzen Zeit derart rasch weiterentwickeln konnte. Die Evolutionslehre hilft uns auch Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Wodurch ist die enorme Vielfalt unter den Menschen entstanden, und warum ist jeder Mensch einzigartig? Woher kommt der unbändige Drang des Menschen, die Welt immer besser verstehen und beherrschen zu wollen? Und warum hat sich der Mensch zu einem überaus sozialen Wesen entwickelt und ist zudem ein Leben lang bemüht, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben? Erste Antworten auf diese Fragen finden sich in der biologischen Evolution. Sie stellt das Fundament dar, auf dem sich die soziokulturelle Evolution, die das Wesen Mensch ausmacht, überhaupt erst entwickeln konnte.

Sämtliche Lebewesen sind auseinander hervorgegangen

Als der britische Biologe Thomas Huxley 1863 in seiner Schrift »Man’s Place in Nature« die Evolutionstheorie von Charles Darwin der Öffentlichkeit bekanntmachte, löste die Vorstellung, dass der Mensch von den Affen abstammen könnte, einen Sturm der Entrüstung aus. Dabei war Darwin aufgrund seiner vielfältigen Beobachtungen von Pflanzen und Tieren zu Einsichten über die Herkunft des Menschen gekommen, die noch weit darüber hinausgingen. Diese Gedanken behielt er vorsichtigerweise für sich, befürchtete er doch zu Recht, dass sie einen noch viel größeren Wirbel und eine noch entschiedenere Ablehnung auslösen würden als Huxleys Offenbarung. Schließlich war Darwin zu der Überzeugung gelangt, dass sämtliche Lebewesen, Pflanzen und Tiere und so auch der Mensch, auf gemeinsame Vorfahren zurückgehen.

Fossile Spuren

Das Alter von Fossilienfunden gibt Aufschluss darüber, wann in der Erdgeschichte welche Arten von Pflanzen und Tieren auftraten, wie lange sie existierten und wann sie wieder verschwanden. Die ältesten bakterienartigen Lebewesen wurden im fossilen Meeresgestein entdeckt. Sie lebten vor 3,8 Milliarden Jahren. Vor etwa 600 Millionen Jahren sind erstmals einzellige Lebewesen mit einem Zellkern nachweisbar (Bakterien haben keinen Zellkern). Aus diesen sogenannten Eukaryonten sind mehrzellige Lebewesen hervorgegangen; bemerkenswerterweise zu der Zeit, als der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre von 3 auf den heutigen Wert von 20 Volumenprozent anzusteigen begann. Ab diesem Zeitpunkt können Paläontologen die Entstehung immer neuer Pflanzen- und Tierarten anhand von Fossilienfunden nachverfolgen. So haben sie herausgefunden, dass die skeletttragenden Tiere ihren Ursprung im frühen bis mittleren Kambrium (vor 540 bis 500 Millionen Jahren) haben. Besonders bedeutsame Funde stellen Übergangsformen dar, wie etwa der gefiederte Dinosaurier Archaeopteryx, eine Zwischenstufe vom Reptil zum Vogel, sowie der Tiktaalik, ein Bindeglied zwischen Knochenfischen und Landwirbeltieren.[1] Gut dokumentierte Fossilienfunde von pferdeartigen Säugetieren veranschaulichen, wie im Verlauf von 65 Millionen Jahren aus mehrzehigen, fuchsgroßen, laubfressenden Tieren über viele Zwischenstufen die heutigen Pferde hervorgegangen sind.

Doch die Paläontologen konnten mit ihren Untersuchungen nicht nur die evolutionäre Differenzierung von Pflanzen und Tieren aufzeigen. Sie sind auch auf Zeitperioden gestoßen, in denen Lebewesen massenhaft ausstarben. In geologisch gesehen kurzen Zeiträumen wurden zahlreiche Pflanzen- und Tiergruppen in ihrer Häufigkeit stark dezimiert oder verschwanden sogar vollständig von der Erde. Im Perm etwa vor 250 Millionen Jahren wurden geschätzte 90 Prozent aller Tierarten ausgelöscht. Am Ende der Kreidezeit, vor 65 Millionen Jahren, kam es zu einem weiteren Massensterben, wahrscheinlich als Folge einer Klimakatastrophe, die durch einen mächtigen Meteoriteneinschlag, einen gewaltigen Vulkanausbruch oder ein anderes, unbekanntes Ereignis ausgelöst worden war. Diese Katastrophe führte zum Aussterben der Dinosaurier und zahlreicher anderer Tierarten. Im Zuge solcher Massensterben, von denen es im Lauf der Evolution mehrere gab, wurde jedoch nicht nur Leben vernichtet, es entstand immer auch neues Leben. So entwickelten sich nach dem letzten Massenaussterben vor 65 Millionen Jahren ganz neue Pflanzen- und Tierarten, zu denen auch die Vorfahren von Säugetieren und Vögeln gehörten, wie wir sie heute kennen. Schon Lukrez (etwa 97–55 vor Christus) hat, obwohl er von Massensterben keinerlei Kenntnis hatte, diesen Grundzug der Natur erfasst: »Nichts wird gänzlich zerstört, was wir heute lebendig um uns seh’n, Neues aus Altem erzeugt die Natur, und das Leben der Zukunft blüht in unendlichem Wechsel empor aus dem Grab des Vergangenen.«

Entwicklungsbiologische Gemeinsamkeiten

Bereits vor vielen Jahrhunderten haben die Menschen erkannt, dass Merkmale von Lebewesen nicht in beliebigen Kombinationen auftreten. Pflanzen und Tiere lassen sich vielmehr ihren Erscheinungsformen nach in Gruppen zusammenfassen und anhand bestimmter Merkmale in Hierarchien einordnen. Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) schuf mit einer binären Klassifikation die Grundlagen für eine moderne botanische und zoologische Taxonomie. Charles Darwin wertete die morphologischen Ähnlichkeiten und die Verwandtschaft in den Bauplänen als ein starkes Indiz für eine gemeinsame Abstammung aller Lebewesen.

Der Zoologe Ernst Haeckel, ein Zeitgenosse von Charles Darwin, machte die folgende Beobachtung: Organismen wie Fisch, Schildkröte und Mensch sind, einmal ausgewachsen, sehr verschieden. In den frühen Embryonalstadien jedoch weisen sie einige Ähnlichkeiten auf. Daraus leitete er die sogenannte Rekapitulationsregel ab: Jedes Lebewesen rekapituliert in seiner individuellen Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen Lebewesen (Ontogenese) die Stammesgeschichte (Phylogenese). Diese Regel ist so in ihrer Aussage nachweislich falsch, trifft aber auf frühe Embryonalstadien verwandter Art, etwa der Säugetiere, zu – ein weiterer Hinweis darauf, dass jede Pflanzen- und Tierart auf früheren Arten und damit auf bewährten Organsystemen aufbaut.

Bestimmte morphologische Strukturen von verwandten Tierarten verweisen in ihrer stammesgeschichtlichen Herkunft auf gemeinsame Vorfahren. Solche sogenannten homologen Merkmale haben sich in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, je nachdem welche Funktionen sie in ihrer Umwelt zu erfüllen hatten. So zeigt die Abbildung aus der Zeit Darwins, wie sich homologe Knochen bei Säugetieren den funktionellen Anforderungen gemäß, die an die jeweilige Tierart gestellt wurden, unterschiedlich ausgebildet haben. Nützliche Strukturen haben sich verstärkt, und überflüssige haben sich zurückgebildet oder sind ganz verschwunden.

Abb. 1.2:

Homologie der Handknochen bei verschiedenen Säugetieren. I Mensch, II Hund, III Schwein, IV Kuh, V Tapir, VI Pferd (Gegenbaur 1870)

Vor sechs Millionen Jahren haben sich unsere Vorfahren von den anderen Menschenaffen abgespalten. Seitdem haben sich die Hände der Primaten zu unterschiedlich ausgebildeten, multifunktionalen Organen weiterentwickelt. Der Orang-Utan lebt auf Bäumen, Hände und Füße dienen ihm hauptsächlich dazu, sich an Ästen festzuhalten und sich weiterzuhangeln. Der Daumen ist darum kaum entwickelt. Gorillas hingegen leben fast ausschließlich auf dem Boden, können aber durchaus auf hohe Bäume klettern. Beim sogenannten Knöchelgang stützen sie sich auf die zweiten und dritten Finger, die daher sehr kräftig entwickelt sind. Beim Schimpansen, der sich sowohl auf Bäumen als auch am Boden aufhält, ist der Daumen etwas stärker ausgebildet, ein Hinweis darauf, dass er Gegenstände manipulieren kann, beispielsweise mit einem Stein oder Holzstück Nüsse aufschlägt.

Abb. 1.3:

Entwicklung der Hand bei Primaten im Verlauf der letzten sechs Millionen Jahren.

Das wichtigste Merkmal der menschlichen Hand ist der große Daumen. Er kann allen übrigen Fingern, insbesondere dem Zeigefinger, gegenübergestellt werden (Oppositionsstellung). Der Pinzettengriff befähigt uns, kleinste Gegenstände zu ergreifen. Mit der ganzen Hand können wir schwere Gegenstände aufheben und herumtragen sowie große Werkzeuge wie einen Hammer benutzen. Aber wir gebrauchen unsere Hände nicht nur bei einer Vielzahl von körperlichen Tätigkeiten, sondern auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation und bei geistigen Aktivitäten. Wir zeigen in eine bestimmte Richtung, um auf etwas hinzudeuten, oder winken beim Abschied. Schulkinder nehmen beim Zählen ihre Finger zu Hilfe. Gehörlose verwenden Gebärden, Bewegungen und Stellungen von Fingern und Händen als Ersatz für die Elemente der gesprochenen Sprache. Eine beeindruckende Gebärde, die auch hörende Menschen verwenden, ist das Falten der Hände beim Beten. Sie verweist auf eine enge Beziehung zwischen Geist und Hand.

Gemeinsamer Lebensfaden

Als Charles Darwin 1859 sein bahnbrechendes Buch »Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich« und 1871 dann »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl« veröffentlichte, waren die Strukturen und Funktionen der Körperzellen oder gar des Zellkerns noch weitgehend unbekannt und die Chromosomen noch lange nicht entdeckt. Der Augustinermönch Gregor Johann Mendel berichtete etwa zur gleichen Zeit (1865) von seinen bahnbrechenden Kreuzungsexperimenten mit Erbsenpflanzen und seine daraus abgeleiteten Mendel’schen Vererbungsregeln.[2] Aber seine Schriften wurden erst 40 Jahre später zur Kenntnis genommen, lange nach seinem Tod. Darwin verfügte also über kein Wissen im Sinne der modernen Genetik. Er erforschte jedoch aufmerksam die Vielfalt und Ähnlichkeiten bei Pflanzen und Tieren und interessierte sich für die Zuchtergebnisse bei Vieh und Haustieren, denen er auf Bauernhöfen und Tiermärkten nachging, und nahm selbst Kreuzungsexperimente mit Tauben vor. Aus den raschen Zuchterfolgen, bei denen sich innerhalb weniger Generationen die Merkmale einer Tierart deutlich verändern ließen, schloss er auf vergleichbare Selektionsprozesse in der Natur. Allein mit Hilfe seiner außergewöhnlichen Beobachtungsgabe und seinem hochentwickelten analytischen Denken begriff Darwin, wie die Natur durch Vererbung Eigenschaften sicherstellt, verändert und an die Umwelt anpasst.

Es dauerte noch viele Jahrzehnte, bis der Zellkern, die darin eingeschlossenen Chromosomen und schließlich der Lebensfaden in den Chromosomen, die DNS-Doppelhelix, entdeckt und in ihrer Bedeutung verstanden wurden. 1944 wiesen Oswald Avery und seine Mitarbeiter nach, dass die Desoxyribonukleinsäure (DNS oder englisch DNA) der eigentliche Speicher von Erbinformationen ist. Die DNS besitzt die unglaubliche Eigenschaft, die gesamte Information über den Bauplan, die Entwicklung und alle Funktionen eines Organismus zu speichern und äußerst zuverlässig an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben – und dies seit Hunderten Millionen von Jahren, von den ersten Lebewesen über alle Pflanzen- und Tierarten bis zum Menschen.

Die Molekulargenetik bestätigte Darwins Vermutung: Sämtliche Lebewesen, und so auch der Mensch, gehen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. So unglaublich es klingen mag: Bestimmte Anteile unserer DNS stammen von der DNS der ersten Lebewesen ab, welche die Erde bevölkert haben. Wir sind nicht nur mit den Primaten verwandt, sondern – wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß – auch mit allen anderen Lebewesen wie den Fischen, dem Schnabeltier und dem Huhn. Wir haben gemeinsames Erbgut mit Bienen, Würmern und selbst mit der Weinrebe und dem Schimmelpilz.

Abb. 1.4:

Gemeinsames Erbe. Prozentualer Anteil von proteinkodierenden Genen, die der Mensch mit anderen Lebewesen teilt (Datenquelle Herrero).

Wie die Abbildung zeigt, lässt sich anhand der proteinkodierenden Gene eine genetische Übereinstimmung zwischen dem Menschen und unterschiedlichsten Tier- und Pflanzenarten nachweisen. Unter den proteinkodierenden Genen werden Gene verstanden, die die Produktion bestimmter Eiweiße auslösen. Letztere gehören zu den Bausteinen, die zum Aufbau und zur Regulation der Körperzellen verwendet werden. Die Übereinstimmung ist umso höher, je näher sich der Mensch und eine Art im evolutionären Stammbaum sind. Die Übereinstimmung für das gesamte Erbgut von Mensch und Schimpanse, unserem nächsten Verwandten, wird je nach Untersuchungsmethode auf 90 bis 99 Prozent geschätzt. was eigentlich nicht erstaunt, wenn man bedenkt, dass sich die Abstammungslinien von Mensch und Schimpanse erst vor sechs Millionen Jahren getrennt haben.

Der Mensch unterscheidet sich somit nicht grundsätzlich von den höherentwickelten Tierarten, er hat lediglich seine Bedürfnisse und Fähigkeiten weiterentwickelt und stärker ausdifferenziert als jedes andere Lebewesen (Teil IV, V). Wir sind mit allen Lebewesen genetisch verwandt. Diese Einsicht macht uns als einzige Lebewesen, die sich dessen bewusst sind, für alles Leben auf diesem Planeten verantwortlich. Dies umso mehr, als wir einsehen müssen, dass wir so stark mit anderen Lebewesen und diese wiederum untereinander vernetzt sind, dass unser Überleben von ihnen abhängt. So sind wir auf Pflanzen angewiesen, die Sauerstoff produzieren, und diese wiederum auf Bakterien, Insekten und Vögel für den Stoffwechsel, die Befruchtung und die Verbreitung ihrer Samen.

Anpassung und Wandel als Lebensprinzip

Seit mehr als 450 Millionen Jahren sind unzählige Pflanzen- und Tierarten auseinander hervorgegangen und haben unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen überlebt. Was hat die Evolution so erfolgreich gemacht? Auch dafür hat Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie eine Antwort gefunden, die mit einigen Ergänzungen selbst 150 Jahre später noch überzeugt.

Langfristige Anpassungen im Verlauf der Evolution

Im Zentrum der Evolution steht das Bestreben jedes Lebewesens, sich so gut wie möglich an die jeweiligen Lebensbedingungen anzupassen, um zu überleben und sich fortzupflanzen.[1] Verfügen Individuen einer Pflanzen- oder Tierart über Merkmale, die ihnen größere Chancen aufs Überleben gewährleisten und bei der Fortpflanzung Vorteile bringen, haben sie mehr Nachwuchs als solche ohne diese Merkmale. Die so entstehende Auslese, die sogenannte natürliche Selektion, wirkt nicht auf die Gene ein, sondern auf die ausgebildeten Merkmale eines Organismus, und sie betrifft nicht nur die einzelnen Individuen, sondern ganze Gruppen, beispielsweise Pflanzen wie Weizen oder Herdentiere wie Büffel. So werden durch die natürliche Selektion vorteilhafte Merkmale im Verlauf von Generationen häufiger und unvorteilhafte seltener. Dabei kommt es zu einer immer spezifischeren Anpassung an die bestehenden Umweltbedingungen und zu einer Häufigkeitsverteilung der Gene, die sich nach und nach verändert. Werden die genetischen Differenzen innerhalb oder zwischen Populationen einer Art immer größer und zahlreicher, entsteht schließlich eine neue Art, deren Individuen sich nur noch untereinander fortpflanzen können. Eine erzwungene, zielgerichtete Form von Selektion betreibt der Mensch bei der Zucht von Pflanzen und Tieren. So hat etwa die gezielte Paarung von Hunden – aus evolutionsbiologischer Sicht – in sehr kurzer Zeit zu unterschiedlichsten »Rassen« geführt; vom Schoßhündchen Chihuahua bis zum riesigen Neufundländer und zum pfeilgeschwinden afghanischen Windhund. Wie unterschiedlich Hunde in ihrer Gestaltung und Größe jedoch auch sind, sie gehören alle immer noch einer Tierart an.

Ein Schlüsselbegriff der Evolutionstheorie ist »Fitness«. Doch dieser Begriff hat, so wie er in der Evolutionsbiologie verwendet wird, nichts mit Sportlichkeit oder ausgezeichneter körperlicher Verfassung zu tun. Auch das berühmte Zitat von Herbert Spencer »Survival of the fittest« wird als sozialdarwinistische Metapher immer wieder falsch mit »Überleben des Stärksten« übersetzt und als einen ständigen Wettbewerb zwischen den Individuen einer Art missverstanden. Charles Darwin verstand darunter »das Überleben derjenigen, die am besten an die Umwelt angepasst sind«. Wobei sich unterschiedlichste Tierarten an die gleiche Umwelt anpassen können.