Bädersterben - Kurt Geisler - E-Book

Bädersterben E-Book

Kurt Geisler

4,1

Beschreibung

Eigentlich wollte sich Frühpensionär Helge Stuhr aus Kiel nur eine Woche in St. Peter-Ording an der Nordsee erholen. Doch gleich bei seinem ersten Strandbesuch gerät er in die Ermittlungen in einem rätselhaften Mordfall. Unter einem Pfahlbau wurde eine furchtbar zugerichtete Leiche gefunden. Und das mitten in der Hochsaison! Panik unter den Urlaubsgästen scheint vorprogrammiert, wäre da nicht Stuhr, der Kommissar Hansen als „verdeckter Ermittler“ zur Verfügung steht. Eine heiße Spur führt ihn auf die Hochseeinsel Helgoland …

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Kurt Geisler

Bädersterben

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Susanne Tachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von Kurt Geisler

(www.kunst-sh.de)

1 Gift

Eine unheimliche Nacht wie diese hatte Hein Timm lange nicht mehr erlebt. Dabei hatte er in seinem Leben mehr als einmal das unbändige Wüten von Naturgewalten kennengelernt. Nicht nur auf der Arche Noah, einem dieser mächtigen hölzernen Pfahlbauten vor St. Peter-Ording, auf der er seit einigen Jahren Nachtwache schob und auf der er auch schon so manchen Sturm abgewettert hatte. Einmal musste er sogar mit einem Rettungshubschrauber der Marine herausgeholt werden, als die Wellenkämme bereits an die Fensterfront schlugen. In Eiseskälte hatte er damals auf das Dach krabbeln und dort der Kälte trotzen müssen, bis der Hubschrauber ihn endlich aufgenommen hatte. Unter ihm hatte es die ganze Zeit gewackelt und gekracht, und es war lange Zeit nicht sicher gewesen, ob der Pilot den Wettkampf gegen die Naturgewalten für sich entscheiden würde.

Die Pfahlbauten waren bei den Touristen äußerst beliebt. Schon als kleiner Junge hatte Hein zwischen dem mächtigen Pfahlgerüst gespielt und dort nach Krebsen und Muscheln gesucht. Sein Vater hatte ihm von der Errichtung des ersten Pfahlbaus vor dem Ersten Weltkrieg berichtet, den die Einheimischen schnell Giftbude nannten, weil es dort etwas ›givt‹, also gibt, nämlich Hochprozentiges. Hein hatte in seinem Leben immer wieder gestaunt, dass die Menschheit stets bei allem, was sie anstellte, erst einmal zusah, dass es etwas Alkoholisches zu trinken gab. An Bord seines Fischkutters war das früher nicht anders gewesen. Wie oft hatte er als Stift für seine Kollegen eine Buddel Köm, wie man den Weizenkorn hier nannte, holen gehen müssen?

Inzwischen gab es in Sankt Peter fünf Ensembles mit drei Pfahlbauten, jeweils ein Restaurant, ein Toilettenbau und eine Strandaufsicht. Davor waren kleine Holzpodeste errichtet, auf die nachts die Strandkörbe gestellt wurden, damit sie vor der Flut geschützt waren. Das reichte im Sommer meistens völlig aus, denn richtige Sturmfluten liefen hier erst im Herbst und im Winter auf. Dann waren die Strandkörbe aber längst abtransportiert. Spätestens im November gingen auch auf den Pfahlbauten die Schotten herunter. Sie wurden ausgeräumt, verriegelt und verrammelt. Dann bestand keine Notwendigkeit mehr, hier Wache zu schieben. Jetzt im Sommer trieben sich jedoch nachts zu viele Menschen am Strand herum, und Achim Pahl, der Pächter des Restaurants, war ein misstrauischer Zeitgenosse. Das war gut für Hein, denn so konnte er sich im Sommer an seinem Lieblingsplatz ein kleines Zubrot zu seiner kargen Rente verdienen.

Er liebte die See und insbesondere das Wattenmeer. Durch den ständigen Sandflug konnte nie ein Hafen in St. Peter-Ording angelegt werden. So hatte er nach den wenigen Schuljahren als Kriegskind in Büsum das Handwerk des Fischers auf einem Krabbenkutter erlernen müssen. Wenn er auf dem Kutter arbeiten konnte, war er stets zufrieden gewesen, selbst wenn seine Kameraden und er manchmal bei Unwetter auf hohen Wellenbergen wie auf einer hin und her geschüttelten Nussschale durch die nasse Hölle geritten waren. Wollte er nach Hause zurück, hatte er sich 40 Kilometer auf dem Rad abstrampeln müssen, und auch das bei Wind und Wetter. Das war hart gewesen, aber darüber hatte er nie geklagt. Er hatte schlicht keine andere Wahl gehabt. In Sankt Peter hatte es keine Arbeit für ihn gegeben, denn auch die Landwirtschaft um den Ort herum herum warf nicht genug ab, da die Ländereien häufig versandeten und durch Überflutungen versalzten.

Doch mit den Jahren war ihm die Arbeit immer schwerer gefallen, und er war froh, dass jetzt als Rentner für ihn die Plackerei ein Ende gefunden hatte. Wenn er schon nicht mehr auf einem Schiff arbeiten konnte, genoss er wenigstens hier oben auf der Arche trotz des Sturmes den nächtlichen Blick auf die weite See. Dann fühlte er sich auf dem Pfahlbau wie ein Kapitän auf großer Fahrt. Dabei hatte die gesamte letzte Woche über allerfeinstes Strandwetter geherrscht, und noch gestern in der Nacht zum Sonntag hatte sich ein wunderbarer runder Vollmond auf der glitzernden Wasseroberfläche der Nordsee präsentiert, der den endlos langen Strand in ein wunderbares fahles Licht getaucht hatte. Doch heute Mittag türmten sich im Westen urplötzlich und unerwartet Wolkenberge auf, und schon wenig später fegte ein heftiges Gewitter die aufgeschreckten Urlauber vom Wattenmeer über die Seebrücke nach Sankt Peter zurück. Seitdem regnete es ununterbrochen.

Aus diesem Grund schloss Achim Pahl die Arche schon früh am Nachmittag, und Hein musste seinen Wachdienst eher als sonst antreten. Gegen Abend begannen die Regenwolken immer schneller über den Strand zu jagen. Hein nahm das sorgenvoll zur Kenntnis, denn er wusste, dass nach Vollmond die Flut höher auflaufen würde. Diese Springflut konnte zusammen mit dem starken Wind, der immer mehr Wasser in die Deutsche Bucht hineindrückte, für die hölzernen Pfahlbauten durchaus gefährlich werden. Folgerichtig ächzte und krächzte der Pfahlbau, und von mancher Welle wurde er bereits merklich geschüttelt.

Normalerweise war das jetzt genau der richtige Zeitpunkt, eine Mütze voll Schlaf zu nehmen. Doch Hein beunruhigte zunehmend ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Da war es schon wieder! Er lauschte angestrengt, und wieder hörte er dieses unregelmäßige, heftige Schlagen von unten gegen den Holzboden, als wenn der Klabautermann ihn leibhaftig aufsuchen wollte. Bisweilen konnte er ein entferntes Wimmern ausmachen, das kaum nur vom Wind herrühren konnte.

Er untersuchte den Gastraum noch einmal sorgfältig. Sogar die Stühle zog er unter den Tischen hervor, denn es war nicht auszuschließen, dass sich ein kleines Kätzchen hier vor dem Unwetter versteckt hatte. Hein fand aber nichts. Dann meinte er, unter dem Holzboden ein heftiges Stöhnen vernommen zu haben. Er lief mehrfach zu den Fenstern. Weit konnte er zwar in der Dunkelheit nicht sehen, doch er musste feststellen, dass die Nordsee bereits jetzt die Holztreppe weitgehend verschluckt hatte und Gischt über den Terrassenboden stob. Nein, unter ihm konnte sich niemand mehr aufhalten, so viel war sicher. Sorgenvoll beäugte Hein den Gastraum der von der Nordsee gequälten Arche. Immer wieder spritzte Gischt an die Scheiben, und aus einigen Fußleisten quoll bisweilen etwas Seewasser in die Gaststube. Der Sturm tobte jetzt so laut, dass die anderen Geräusche im Getöse untergingen. Angst hatte er immer noch nicht, die Pfahlbauten konnten so einiges ab. Gut einen Meter würde die Flut schon noch steigen müssen, bevor er wieder auf das Dach klettern müsste. Hein Timm schielte auf seine Uhr. Sollte er nicht vorsichtshalber Achim anrufen?

Nein, er wurde schließlich dafür bezahlt, hier aufzupassen. Und Achim brauchte seinen Schlaf – wozu sollte er ihn mitten in der Nacht wecken? Hein wurde nachdenklich. Ob der Achim gut klarkam? Er redete nie über Geld. Eigentlich konnte er hier draußen auf dem größten Sandstrand an der deutschen Nordseeküste fast jeden Preis verlangen, denn die nächste Restauration war kilometerweit entfernt. Andererseits wechselte das Personal recht häufig und schien auch nicht besonders gut ausgebildet zu sein. Im Ort wurde hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass ein Kellner einem kippelnden Bengel einfach den Stuhl unter dem Hintern weggezogen haben soll, mit der Bemerkung, dass der Stuhl schließlich voll bezahlt sei. Hein fand das nicht so schlimm, denn aus seiner eigenen Jugend wusste er, dass zappelnde Bengel durchaus eine Plage sein konnten. Vielleicht hatten ihn seine Eltern gerade deswegen an das harte Brot der Fischerei vermittelt.

Seine Eltern waren allerdings seit Langem verstorben, doch ab und zu besuchte er natürlich noch ihr Grab. Wer außer dem lieben Gott konnte schon wissen, aus welchen Gründen seine Eltern ihn letztendlich zum Fischereigewerbe gebracht hatten? Hatten sie seine ständige Unruhe durch harte Arbeit dämpfen wollen, hatten sie nichts Besseres gewusst oder ihn einfach nur aus dem Haus haben wollen?

Die Ehe seiner Eltern war für ihn sowieso ein einziges Rätsel. So ganz freiwillig schienen sie nicht zusammengekommen zu sein, aber irgendwie hatten sie sich bis zum Ende auch nicht mehr losgelassen, obwohl sie sich häufig gestritten hatten. Vater hatte ganz gern mal einen genommen, und Mutter fand das selten lustig. Seine Mutter war eine gebürtige Assmussen gewesen. Den Namen fand er schon früh besser als seinen eigenen Nachnamen. Assmussen konnte auf Piratenherkunft schließen lassen oder auch eine Flensburger Rummarke sein. Timm, das klang dagegen irgendwie mehr hamburgisch. Jetzt lagen beide notgedrungen friedlich nebeneinander im Grab und hüteten ihre Geheimnisse für alle Ewigkeit. Aber Hein wusste natürlich, dass auch die meisten anderen Familien, nicht nur an der Westküste, ihre wohlbehüteten Geheimnisse hatten, die nie offengelegt wurden, damit daraus nicht irgendwann bei Bier und Korn am Tresen Dreck am Stecken wurde. In Sankt Peter wusste er vermutlich mit am besten über die Verhältnisse der Nachbarn Bescheid, aber darüber redete er natürlich nicht.

Obwohl er mit seinen Gedanken ganz woanders war, blieb ihm nicht verborgen, dass das Getöse um ihn herum merklich nachließ. Genauso plötzlich, wie der Sturm aufgekommen war, ebbte er jetzt wieder ab, und so langsam kehrte auf dem Pfahlbau wieder Ruhe ein. Vergeblich versuchte Hein, die seltsamen Geräusche wieder auszumachen, die er vorhin nicht hatte einordnen können, aber sie waren allesamt verstummt. Er konnte sich das nicht erklären. Wenn die Flut morgen früh abgelaufen war, würde er den Pfahlbau gründlich von unten in Augenschein nehmen. Vermutlich hatte sich lediglich vom Wellenschlag irgendwo eine Planke gelöst.

Hein Timm grübelte weiter, allerdings mehr über seine Eltern als über die Ursache der Geräusche. Krieg. Das schien auch ein Kapitel für sich zu sein. Er konnte sich lebhaft erinnern, wie sein Vater ihm einmal eindrucksvoll geschildert hatte, dass die Hauptwaffe im letzten Weltkrieg weder die Maschinenpistole noch das Sturmgewehr war, sondern der kleine Klappspaten, mit dem man im Nahkampf am schnellsten die Gegner abmurksen konnte. Dabei hatte ihn sein Vater in einer Art und Weise angesehen, die ihn vermuten ließ, dass da noch weitaus schlimmere Dinge gelaufen waren. Wie schwarz letztendlich die Uniform seines Vaters in der Nazizeit gewesen war, darüber wurde in der Familie nie gesprochen. Auch dieses Wissen barg das Grab seiner Eltern.

2 Zebras und Störche

Mit der Pranke seines kräftigen rechten Arms schlug Torge unerbittlich vor ihm auf den Tresen. »Komm ans Brett, Stuhr!« Die andere Hand des muskulösen Kneipenwirts des kleinen Sportheims wies auf den letzten freien Barhocker, der vor dem ihm zugewiesenen Tresenplatz stand. Stuhr schüttelte den Regen von der Jacke und bestieg den Hocker gern, denn nur von dort aus hatte er eine reelle Chance, in der vollgerammelten Bude an diesem heiß ersehnten ersten Spielwochenende der neuen Fußball-Bundesligasaison auf zwei Bildflächen gleichzeitig live die Sonntagsspiele verfolgen zu können. Er dankte Torge dafür und bestellte ein Nucki Nuss Schoko. Diese Sprache verstand nur Torge, denn während die Aushilfen in der Folge die Eistruhe durchstöberten, kredenzte der ihm zum Erstaunen seines Sitznachbarn ein eiskaltes dunkles Hefeweizenbier, fachgerecht mit dem Etikett nach vorn aufgestellt.

Es gibt viele überfüllte Plätze auf der Welt, auf denen man sich dennoch allein fühlen kann. Hier war es anders. Torge kannte jeden Vornamen seiner Gäste und bediente ihre Vorlieben, ohne sich zu verbiegen. Das zeichnete ihn aus, und deswegen war heute das Vereinsheim auch wieder proppevoll mit Fußballfans. Natürlich ergab dies manchen unerwarteten Moment, und so versuchte Torge auch schon, einen Speiseteller vor seinen Nachbarn an der Bar herunterzusenken.

»Patriotenteller für dich, Kai.« Sein Stuhlnachbar blickte skeptisch nach oben.

»Auch mit Schranke, Torge?« Torge behielt zunächst den Teller oben.

»Klar, Kai, das ist hier inzwischen absolut definiert, und meine Küchenschlampe hat das nach langem Üben jetzt auch drauf.«

Aus den Augenwinkeln bemerkte Stuhr, dass seine männliche Küchenhilfe mitgehört haben musste, denn der Mann nahm mit dem Rücken zur Gaststube trotzig einen tiefen Schluck aus seinem Rotweinglas. Der Patriotenteller senkte sich nun unbarmherzig auf den Tresen. Er offenbarte eine appetitlich aussehende, schräg in Scheiben geschnippelte Currywurst, die halbseitig einen Scheiterhaufen ähnlichen Berg Pommes frites umrahmte, der ein wenig unkonventionell von Zwiebelschnipseln gekrönt wurde. Die gewaltigen beiden Kleckse von Ketchup und Mayo auf der anderen Seite des Frittenberges lösten zumindest das Rätsel der Schranke.

Mit Frittengeruch an der Bar hatte Stuhr immer schon seine Schwierigkeiten gehabt, für ihn gehörte zum Fußball schlicht nur Bier. Er nahm noch einen kleinen Schluck von seinem Weizenbier, bevor er sich zur Toilette begab. Es konnte eigentlich nicht verkehrt sein, sich vor dem Anpfiff noch einmal zu erleichtern. Auf diesen Gedanken schienen allerdings viele andere auch gekommen zu sein, und so musste er sich in eine lange Schlange von Pinkelwilligen einreihen. Es gab nur ein Pissoir, das wusste er, und so schaute er sich gelangweilt den etwas angestaubten Glaskasten seines Tennisvereins an. Da wurde zunächst der Vorsitzende mit Bild und Text vorgestellt, und auf beiden Seiten klebten aktuelle Fotos der aufgestiegenen Jugendmannschaften, während unten rechts in der Ecke nur noch ein verblichenes Mannschaftsfoto der Damenmannschaft vor der Jahrtausendwende mit den Gönnern des Aufstiegs in die Landesliga stand. Der stolze Hauptsponsor war ein älterer Herr, ein Richard Heidenreich aus Hamburg, der auf dem Ravensberg zur Schule gegangen war. Der feine Herr wirkte ein wenig wie ein Fossil, wogegen die Tennisdamen recht knackig aussahen, obwohl ihre Frisuren deutlich auf das letzte Jahrhundert zurückwiesen.

In der linken Ecke des Glaskastens steckte an einem Pin ein kleiner Ausschnitt der Kieler Rundschau, der berichtete, dass am letzten Spieltag der vergangenen Saison die 60-Jährigen des Tennisvereins im Beisein von immerhin 200 Zuschauern nach hartem Kampf zum ersten Mal in die Bezirksliga aufgestiegen waren. Das war Geschichtsklitterung, befand Stuhr, denn es blieb unerwähnt, dass seinerzeit 190 dieser Zuschauer ausschließlich das spannende Saisonfinale der Bundesliga bei Torge im Vereinsheim verfolgten. Aber davon lebt schließlich der Lokalteil jeder Zeitung, von dem Hervorheben oder dem Niedermachen von Ereignissen, die sich vor der eigenen Haustür abspielen, obwohl sie landesweit gesehen völlig unspektakulär waren.

Die Schlange vorm Pinkelbecken verkürzte sich erstaunlich schnell. Erst als er in die Toilette eintrat, bemerkte Stuhr, dass neben dem Pissoir sowohl die Kloschüssel als auch das Handwaschbecken zum Pinkeln benutzt wurden. Sein Ding war das nicht, und so wartete er trotz des hinter ihm aufkommenden Unmuts brav, bis er am Pissoir an der Reihe war.

Obwohl die unbelehrbaren Stehpinkler krass im Gegensatz zu den ungeschriebenen Regeln des Vereinslebens standen, liebte Stuhr die spannungsgeladene Atmosphäre bei Fußballevents mehr als das Tennisgeschehen rund um das Vereinsheim. Viele Fußballfreunde saßen im Fan-Outfit hier, und wenn sich der eine freute, stöhnte der andere auf. Wie im echten Leben eben, in der Ehe sowieso und vermutlich früher auch im Krieg. Die neue Saison der Bundesliga schien Stuhr sowieso das weitaus beste Schlachtfeld für Kriege aller Art zu sein.

Seine Gedanken wurden kurzfristig von dem wütenden Sommersturm abgelenkt, der den Regen immer heftiger gegen die breite Fensterfront des Vereinsheims peitschte. Viele Pfützen hatten sich vor allem an den Grundlinien der Tennisgrandplätze gebildet, was nicht nur Pflichtspiele unmöglich machte. Von Zeit zu Zeit wurden diese ungeliebten Wasseroberflächen zwar von heftigen Böen zerfegt, doch wenig später füllten die daraufprasselnden Wassermassen sie in Windeseile wieder neu auf. Die den Platz schützenden Pappeln wurden immer wieder vom Sturm gebeutelt und schüttelten ihre grünen Blätter auf die Anlage herunter.

Helge Stuhr freute sich darüber. Es würde zwar länger dauern, bis der Platz für seine Vereinskollegen wieder einigermaßen bespielbar wäre, aber er selbst hatte wenigstens alles richtig gemacht, denn ursprünglich wollte er bereits am Samstag zu einem Kurzurlaub an die Nordsee nach St. Peter-Ording aufbrechen. Als er jedoch im Fernsehen mitbekam, dass diese störende Sturmfront angekündigt wurde, war er entgegen seinen Planungen schön zu Hause in Kiel geblieben und hatte ein wunderbares Sportwochenende eingelegt. Vor dem Fernseher natürlich, denn selbst in der sturmerprobten Landeshauptstadt wurden bei solchen Unwettern viele Ziegel von den Dächern heruntergefegt und unzählige Keller überflutet.

Bei dem angekündigten Wetter verspürte er keinerlei Lust, sich an die Nordsee zu begeben. Stuhr konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich die von Sturm und Regenschauern frustrierten Touristenscharen in Plastikregenhäuten fluchend mit ihren quengelnden Kindern in die vielen ungeheizten Gaststätten und Imbisse des Strandbades hineinflüchteten. Nein, das mochte er nicht. Da zog er es vor, hier in Kiel in der sachlich gehaltenen Ausstattung des Sportheims gemeinsam mit seinen Kumpels die Sonntagsspiele der Bundesliga zu verfolgen. Die schlechte Wetterlage bot zudem den Vorteil, dass das nervige Ploppen von mehr oder weniger halbwegs getroffenen Bällen der Dilettanten entfiel, die bei schönem Wetter auf der Anlage den Tennissport immer wieder neu erprobten. Das war positiv zu werten, denn dieses Ploppen hatte in der Vergangenheit den Fußballgenuss der Bundesliga-Fangemeinde an manchen Spieltagen durchaus schon getrübt. Zudem hatte bei dem Schietwetter keiner seiner jüngeren Kumpel ein Problem damit, sich dem Frischluftwahn ihrer gerade neu gegründeten Familien zu entziehen, um sich in diesem weiß getünchten Zweckbau aus den Fünfzigern zu verdrücken, in dem sie ihren alten Tugenden nachgehen konnten. Fußballgucken, Biertrinken und Fachsimpeln. Je nach Stimmungslage zu Hause und Sympathie für einen Verein schlugen die Wogen unterschiedlich hoch, und die Interviews im Fernsehen wurden von den Kumpanen meist zynisch kommentiert. Stuhr liebte das, und das Bier aus dem Zapfhahn war auch nicht das Schlechteste. Er mochte nicht noch ein dunkles Bier trinken, und so bestellte er schnell ein Nucki Nuss Vanille.

Bei Torge am Tresen gab es ständig genügend Gesprächsstoff, der durchaus nicht immer nur sportlicher Art war. Zumeist wurde Klage geführt wegen der mangelnden Dankbarkeit der angetrauten Frauen, bevor die hohen Spritpreise thematisiert wurden. Danach kam natürlich die anhaltende Finanzkrise an die Reihe, auch wenn die Auswirkungen in Kiel weitaus weniger zu spüren waren als auf den großen Finanzplätzen der Welt, an denen die Yuppies vor laufenden Kameras ihre Habseligkeiten in Kartons aus den Büros schleppen mussten. Wenn eine Stadt wie Kiel nicht allzu viel Industrie und Handel aufzuweisen hatte, dann konnten auch nicht besonders viel Arbeitnehmer von Entlassungen betroffen sein. Insofern bot die Regionalität der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt durchaus einen gewissen Schutz vor den Kapitalhengsten, wenngleich es die eine Werft oder den anderen privatisierten Kommunalbetrieb bereits erwischt hatte. Natürlich war der Kieler Sport ebenfalls ein Dauerthema, wenngleich die Finanzkrise dort offensichtlich außer Kraft gesetzt zu sein schien. Der Handballverein THW Kiel, die Zebras, holte schon seit Jahren alle möglichen Titel in die Landeshauptstadt. Die Fußballmannschaft von Holstein Kiel, die Störche, trainierte wieder einmal ein ehemaliger Bundesligaspieler gegen ein gewaltiges Gehalt, und die hochkarätigen Assistenten mussten auch noch mit durchgefüttert werden. Alle wunderten sich, wie das in dieser strukturschwachen Ecke bewerkstelligt wurde. Wo kam das viele Geld nur her? An dieser kontroversen Diskussion, ob der Geldfluss gut oder schlecht für die Vereine war, beteiligte Stuhr sich nicht. In der letzten Zeit waren Gerüchte über Schiebereien beim THW Kiel aufgetaucht, aber immer wieder wurden sie dementiert. Das war nicht untypisch für die Landeshauptstadt, die trotz ihrer Größe etwas angenehm Provinzielles hatte, denn die Wege zwischen den Zentren der Handballmacht waren kurz. Vom geduckten Bau des Hauptsponsors bis zur Geschäftsstelle des Handballvereins unterhalb des VIP-Bereichs der Ostseehalle benötigte man zu Fuß keine Viertelstunde. ›Wer, wenn nicht wir?‹, stand auf den schwarz-weißen Fanschals geschrieben, die dort zum Verkauf auslagen.

Laut zu spekulieren war nicht Stuhrs Art. Kiel hatte schließlich die besten Handballer der Welt, bessere sogar noch als Flensburg, was in Schleswig-Holstein fast wichtiger war. Was das Betuliche der Stadt überstrahlte, waren die Erfolge im Handball. Bei den Störchen zog das neue Trainerteam inzwischen viele junge hochkarätige Talente an, und nach der letzten erfolgreichen Saison, in der sie aufsteigen konnten, schienen sie auch in der neuen Spielzeit alle Möglichkeiten zu besitzen, sich hoch oben in der Tabellenspitze einnisten zu können. Was wollte sein Sportlerherz mehr?

Natürlich grübelten alle genau wie er, woher plötzlich die komfortable Finanzausstattung bei den Vereinen stammte, bis er von einem seiner Kumpel angeraunzt wurde.

»He, Stuhr! Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen oder bist du etwa zu den Bayern konvertiert? Sonst weißt du doch alles!«

Stuhr musste lächeln. Auch hier duzten ihn die Jungs, obwohl er schon Frühpensionär war. Natürlich mit dem Nachnamen, denn seinen Vornamen Helge fand er nicht so prickelnd. Stuhr wusste, dass man es hier liebte, auszuteilen.

»Richtig, Klugscheißer. Ich weiß alles, aber nicht alles besser. Immer schön Musikantenstadl schauen und Bild-Zeitung lesen.«

Stuhrs bissiger Kommentar rief Gejohle im Vereinsheim hervor. Er drehte sich um und bestellte ein Bier für den Einrufer, dabei zwinkerte er ihm zu. Dann besann er sich wieder auf den Sport am Bildschirm.

Irgendwann knallte Torge, der Vereinswirt, genervt eine edle Flasche Whisky auf den Tresen, drehte den Verschluss auf und goss sich ein Wasserglas halb voll. Ihm schienen die Ergebnisse nicht zu schmecken, aber ein erster Spieltag konnte wie jedes Jahr nicht alle Gäste zufriedenstellen. Vielleicht hatte er auch nur Stress zu Hause.

Dann folgte die Tagesschau, und es wurde still im Vereinsheim, obwohl nichts Unerwartetes berichtet wurde. Eine Bank musste wieder einmal vom Staat gerettet werden, ein Autokonzern sehnte sich nach kapitalkräftigen Investoren, und die Milchbauern forderten wie jedes Jahr höhere, künstlich hochgehaltene Preise. Im Westen nichts Neues also. Dann folgte endlich die Wettervorhersage. Das Tief über der Nordsee, das mit den einhergehenden stürmischen Regenschauern nach wie vor die Scheiben des Vereinsheims malträtierte, sollte sich in der Nacht endgültig über der Nordsee austoben, und am Montagmorgen sollte der aufkommende Ostwind die Luft aufklaren. Für Dienstagmorgen war zwar noch ein wenig Dunst angesagt, aber spätestens ab dem Mittag sollte sich wieder eine stabile sommerliche Wetterlage einstellen.

Das war genau das, was Stuhr hören wollte. Er trank sein Bier aus und rief Torge, um zu zahlen. Er wollte morgen früh fit sein, denn er freute sich auf St. Peter-Ording. Er stand auf und grüßte zum Abschied kurz in die Runde, aber die war schon eifrig mit der Spieltaganalyse beschäftigt, was Stuhr nicht unrecht war. Unbemerkt schlich er sich aus der Tür. Der Sturm hatte zum Glück ein wenig nachgelassen, er würde sicher nach Hause kommen. Ein wenig schwankend umkreiste er das Gebäude, bis ihm zum ersten Mal die Leuchtschrift über der Eingangstür auffiel. Das Vereinslokal hieß ›Aufschlag‹.

Das war es. Mit einem Aufschlag beginnt beim Tennis ein neuer Spielabschnitt. Morgen würde endlich sein Urlaub beginnen. Freudig beschwingt legte er den kurzen Weg zu seiner Haustür zurück.

3 Strandgut

Gegen 6 Uhr wachte Hein Timm am Montagmorgen vom Klingeln des Mobiltelefons auf, das ihm Achim Pahl, der Pächter der Arche, für Notfälle überlassen hatte. Erschrocken nahm er das Gespräch an.

Es war Achim, der sich angespannt nach dem Zustand seiner Gaststätte erkundigte. »Moin, Hein. Sind die Ohren noch dran? Alles im Lot bei dir?«

Hein überlegte kurz. Das mit den Geräuschen würde er für sich behalten, er wollte schließlich nicht als Angsthase gelten. »Alles im Lot, Achim. Keine Schäden hier drinnen, soweit zu sehen. Draußen war ich allerdings noch nicht, da werde ich erst einmal klar Schiff machen müssen.«

Achims Stimme entspannte sich. »Na, dann ist ja gut. Kannst du anschließend vielleicht die Stühle und Tische auf der Terrasse aufbauen? Blauer Himmel ist ja schon. Gegen 8 Uhr bin ich da, dann gibt es einen ordentlichen Kaffee.« Damit verabschiedete er sich und legte auf.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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