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Auf einer Kieler Marinewerft wird ein U-Boot am Ausrüstungskai gekapert, welches zunächst spurlos verschwindet und später kurzzeitig einem Ostseefischer ins Netz gerät. Schließlich taucht es ab und verfolgt ein Kreuzfahrtschiff. Während in Kiel die Ermittlungen wegen Kompetenzgerangel immer mehr ins Stocken geraten, überschlagen sich auf der stürmischen Ostsee im Öresund die Ereignisse, als die Entführer das Kreuzfahrtschiff bedrohen.
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Seitenzahl: 321
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Kurt Geisler
Endstation Öresund
Kriminalroman
Showdown auf der Ostsee Auf einer Kieler Marinewerft entführt eine brutale Spezialtruppe ein am Ausrüstungskai zur Übergabe liegendes U-Boot, welches zunächst spurlos verschwindet. Kommissar Hansen beginnt zu ermitteln, gerät aber schnell in ein Kompetenzgerangel zwischen Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt. Später gerät das U-Boot einem Eckernförder Fischer ins Netz, dieser kann sich und seinen Kutter in letzter Sekunde nur noch durch das Kappen der Leinen vor dem Untergang bewahren. Zeitgleich bittet Kommissar Hansen den hilfreichen Frühpensionär Stuhr um die Beschattung einer »Schwarzen Witwe« auf dem Kreuzfahrtschiff »Norwegian Sunrise«. Während in Kiel die Ermittlungen immer mehr ins Stocken geraten, begibt sich Stuhr erwartungsvoll auf seine Traumreise zu den Hauptstädten Skandinaviens über die herbstliche Ostsee. Aber dann überschlagen sich plötzlich die Ereignisse …
Kurt Geisler, geboren 1952 in Kiel, ist eingefleischter Schleswig-Holsteiner. Seit seinem Studium der deutschen, englischen und dänischen Sprache arbeitet er im Land zwischen den Meeren. Die Menschen zwischen Nord- und Ostsee hält er nicht nur im Wort, sondern auch im Bild fest, was seinen Blickwinkel für das literarische Schaffen geschärft hat. Er ist Mitbegründer des verschworenen Kieler Krimi Kartells.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Küstengold (2012)
Friesensterben (2011)
Bädersterben (2010)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Marco2811 / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6262-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Skeptisch beäugte Klaus Tychsen von seiner hohen Warte aus den nächtlichen Himmel. Der Wind wurde stärker, und aufziehende dünne Wolkenbänder verdeckten immer wieder die blass schimmernde Sichel des Mondes. Es war nicht mehr zu übersehen, dass der Herbst im nördlichsten Bundesland Einzug hielt. Das Schwimmdock der Kieler Marine Yards bot nur wenig Schutz gegen die Unbill des Wetters. Mürrisch schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch. Dennoch genoss er den Blick auf die Landeshauptstadt, weil sich die vielen farbigen Lichter der Innenstadt auf den unruhig tanzenden Wellen im Hafen spiegelten. Hinter dem Lichterglanz stach der hell erleuchtete Campanile des Kieler Rathauses majestätisch in den Nachthimmel.
Nein, seinen Posten an der Spitze des Gaardener Schwimmdocks auf dem Ostufer, das wie eine gestreckte Zunge weit in den Kieler Hafen ragte, wollte er noch nicht verlassen, auch wenn seine Wachrunde eng getaktet war.
Ein unbeleuchtetes Boot, das unweit von ihm durch die Nacht glitt, störte den friedlichen Anblick. Vermutlich war es auf dem Weg zu einem der vielen Sportbootshäfen an der Kieler Förde, was ohne Positionslichter nicht ungefährlich war. Vermutlich war irgendeinem Schipper der Saft ausgegangen. Nicht, dass Gefahr von der Werft drohte, denn Nachtschichten mit den früher damit verbundenen unzähligen Barkassenüberfahrten zwischen West- und Ostufer, die gab es schon lange nicht mehr. Aber die Innenförde wird zumindest im Sommerhalbjahr bei Tag und Nacht von unzähligen Booten und Schiffen durchkreuzt. Klaus Tychsen richtete seinen Blick auf die weit entfernt liegende Einfahrt zum Nord-Ostsee-Kanal, vor der selbst zu dieser späten Stunde mehrere hell erleuchtete Frachter in einer langen Warteschlange auf die Öffnung der Schleusentore warteten.
Schön war es am Hafen. Eigentlich müsste er für seinen Job als Wachmann auf den Lohn verzichten, befand er. Er war an der frischen Luft und bekam ständig neue atemberaubende Sichten auf die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt. Zudem musste er sich nur mäßig bewegen, was ihm wenige Jahre vor der Rente entgegenkam. Nervig war lediglich, dass er alle zehn Minuten ein leises Piepsignal bestätigen musste, um der Sicherungszentrale anzuzeigen, dass er nicht eingeschlafen war. Er stand unter ständiger Kontrolle.
Früher war alles anders auf dieser traditionsreichen Gaardener Werft. In den Nachkriegsjahren hallte der Lärm von Hämmern und Schweißgeräten der 13.000 Beschäftigten unüberhörbar über die gesamte Stadt, denn große Schiffe entstanden hier. Ende der 1950er-Jahre säumten Zehntausende von Schaulustigen den Seegarten vor dem Kieler Schloss beim Stapellauf der »Olympic Challenger« des Reeders Aristoteles Onassis, und Klaus Tychsen stand als stolzer kleiner Buttjer in kurzen Hosen mittendrin im Getümmel.
Als Lehrling legte er in den 1960ern auf den damaligen Howaldtswerken selbst Hand mit an. Zuerst auf dem Atomschiff »Otto Hahn«, welches seinerzeit als Weltsensation galt. Überall auf dem Gaardener Werftgelände roch es nach Stahl, Schweiß und Teer, überlagert vom Dröhnen der Motoren. Von diesem Zeitpunkt an hatte er im Betrieb auch eine bessere Sicht auf die vielen Stapelläufe, die noch folgen sollten. Bei den Schiffstaufen floss bei der Belegschaft Köm und Bier in Strömen. Hinterher ging es zum Abfeiern zu Minna Runge in ihr Tanzetablissement, keine Hundert Meter vom Werfttor entfernt. Mancher Kollege kroch von dort aus frühmorgens gleich wieder zur Arbeit, ohne sein Bett gesehen zu haben. Dafür war mitunter der gesamte Wochenlohn weg.
Es war sowieso eine völlig andere Zeit. Überall auf der Werft standen Bierautomaten, und jedermann hatte einen Zampel bei sich. So wurden die Beutel auf der Werft genannt, in denen das Bier transportiert wurde, das wie selbstverständlich tagsüber neben der Arbeit konsumiert wurde. Als nützlich erwiesen sich die Zampel aber auch, wenn man etwas Material mitgehen ließ: hier ein paar Nägel, dort etwas Farbe. Das war seinerzeit durchaus üblich. Klaus konnte sich gut erinnern, dass neu gestrichene Gartenlauben auf dem Ostufer fast immer in den Farben der Schiffe gestrichen wurden, die gerade in den Docks lagen.
Ihnen ging es gut, bis Werftkrisen und Restrukturierungsmaßnahmen dafür sorgten, dass immer mehr Arbeitsplätze verloren gingen. Klaus nutzte die Chance und bewarb sich bei der Werkssicherheit. Gut, er verdiente nun deutlich weniger, aber dafür schob er im Gegensatz zu seinen Kollegen an der Schweißerfront eine ruhige Kugel.
Das herüberwehende Glockengeläut vom Kieler Rathausturm riss ihn aus seinen Erinnerungen. Nun war es Mitternacht, und wie immer erloschen in der Folge viele der bunten Lichter der Innenstadt. Seufzend wendete er sich vom Postkartenblick ab und begab sich wieder auf seine stündliche Runde. Zunächst durchschritt er das riesige Dock, das viel größere Schiffe aufnehmen konnte als das kleine U-Boot, welches gerade zur Reparatur aufgelegt war. Danach steuerte er die große Halle an, auf der vor Spionage gesichert militärische Neubauten entstanden. Früher musste er immer ein großes Schlüsselbund mitführen und an den Kontrollgeräten stempeln. Inzwischen brauchte er nur noch seinen Chip an die Lesegeräte halten, damit sich die Türen öffneten. Alle Bewegungen wurden von der Sicherungstechnik sorgsam aufgezeichnet.
Die Tür zur Halle öffnete sich aber nicht. Das war seltsam. Wollte sich sein Kollege Frank einen Scherz erlauben? In den letzten Tagen wurde Tychsen mehrfach von ihm gehänselt, weil die Halle leer stand, denn das allerneueste fertiggestellte U-Boot wurde gerade am Ausrüstungskai für die Übergabe in zwei Tagen vorbereitet. So gab es in der Halle außer Stahl und Beton nichts zu bewachen, und Bierautomaten gab es schon seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Werftgelände. Kopfschüttelnd umrundete Klaus die Halle zum Eingang auf der anderen Seite. Dort wurde sein Erstaunen noch größer, denn diese Tür stand sperrangelweit offen, was den Sicherheitsvorschriften zufolge streng untersagt war. Vorsichtig lugte er hinein, aber die Halle war gähnend leer. Wenn der Kollege eine Schnitzeljagd mit ihm veranstaltete, dann konnte sie das den Job kosten.
Fluchend begab sich Klaus Tychsen zu dem kleinen Wachhäuschen auf der anderen Seite des Docks unweit vom Ausrüstungskai, in dem Michael Wache schob. Aber auch hier ergab sich das gleiche Bild. Die gläserne Hütte war verlassen, und die Tür stand weit offen. Hatten sich seine Kollegen verbündet, um ihn ins Bockshorn zu jagen?
Den Sicherheitsvorschriften nach musste er spätestens jetzt der Zentrale Meldung erstatten. Aber sollte er seine Kollegen wegen eines Juxes anschwärzen? So entschied er sich, sie lauthals zu warnen. »Kollegen, hört mit dem Scheiß endlich auf. Das ist kein Spaß mehr. Wo steckt ihr?«
Eine Antwort bekam er nicht, aber vom Ausrüstungskai drangen ungewöhnliche Geräusche zum Wachhäuschen hoch. Klaus wurde schnell klar, dass sich seine Kollegen dort verschanzt haben mussten. Er würde ihnen gehörig die Leviten lesen.
Verärgert machte er kehrt und hastete zu der schmalen Treppe, die zum Kai hinabführte, an dem das neugebaute U-Boot lag. Vor den Treppenstufen hielt er inne, denn auf dem Boden waren frische dunkle Schleifspuren zu erkennen. Klaus versuchte mit der Schuhsohle, die Konsistenz zu erspüren. Öl war es glücklicherweise nicht. Das war gut, so konnte zumindest niemand ausrutschen.
Als Klaus die ersten Stufen zum Ausrüstungskai nahm, bemerkte er, dass sich einige schwarz gekleidete Gestalten flink auf dem U-Boot herumtrieben. Seine Kollegen konnten es nicht sein. Die Schleifspuren endeten abrupt am Fuße der Treppe bei einer auf dem Boden liegenden reglosen Gestalt. War es Michael?
In dem Moment, als Klaus zum Handy greifen wollte, um Meldung zu erstatten, wurde er fest von hinten in den Würgegriff genommen. Trotz heftiger Atemnot bekam Klaus noch mit, wie eine der Gestalten am Bug des U-Boots verächtlich mit der Hand quer über den Hals strich.
Dann explodierte es in seinem Schädel. Dass er nach dem Kopfschuss brutal kopfüber die Treppe hinuntergestoßen wurde, das bekam Klaus Tychsen schon nicht mehr mit.
Seltsam aggressiv musterte ihn die kleine Katze von Jenny Muschelfang. Eigentlich wollte Helge Stuhr kein Viehzeug mehr in seiner Wohnung haben. Zumal anzunehmen war, dass zukünftig jede Streicheleinheit von seiner Lebensgefährtin eher bei der Miezekatze als bei ihm landen würde.
Aber zum Glück gab es ja noch Kommissar Hansen. Nicht, dass der ihn streicheln würde, aber der hielt immer wieder prickelnde Aufträge für ihn parat, die ihn vom tristen Alltag ablenkten.
Die leichte Sommergrippe war überstanden, und heute Abend durfte er endlich einmal wieder unauffällig für ihn gegen Hintermänner in der Kieler Heavy-Metal-Szene ermitteln.
Als Jenny von seinem anstehenden abendlichen Ausflug zu den Hartmetallern erfuhr, musterte sie ihn nicht weniger aggressiv als ihre Katze. Sie geriet in Rage und streckte ihm sogar den Mittelfinger entgegen.
»Du machst dich für einen Idioten zum Oberidioten, Helge. ›Hot Shots‹ – ich lache mich tot. Ich kenne keinen Deppen, der freiwillig in diese Metaller-Spelunke hineingehen würde.«
Ihr designierter Idiot winkte genervt ab. »Du, es geht hier um Staatsräson, und beileibe nicht um das Abhängen in irgendeiner wilden Kneipe. Kommissar Hansen hat mich inständig darum gebeten …«
Jenny würgte ihn schluchzend ab. »Gut, wenn du es mit mir nicht aushalten kannst, dann ziehe das Ding für deinen verehrten Herrn Kommissar durch. Aber bitte nicht mit mir.«
Stuhr lächelte milde, bis sich Jenny ins Schlafzimmer verzogen hatte. Wie so oft hatte sie alles falsch verstanden, denn natürlich war der Kieler Kommissar kein Idiot, sondern die Amtsperson, die ihn lediglich um eine klitzekleine Gefälligkeit an diesem Abend gebeten hatte. In der Höhle des Löwen sollte er illegale Machenschaften der Besitzer aufspüren: möglicherweise Glücksspiel, Drogenhandel, vielleicht auch Prostitution.
Das musste er Jenny aber nicht alles auf die Nase binden. Natürlich war es immer mit Vorsicht zu genießen, wenn sie laut fluchend ins Schlafzimmer flüchtete. Manchmal klarte sie in ihrer Wut einfach nur auf, obwohl es nichts aufzuräumen gab. Ihre Koffer hatte sie auch schon mehrfach gepackt. Dieses Mal stelzte sie unerwartet nach längerem lautem Rumoren aufgedonnert ohne Umschweife zur Wohnungstür.
»Gut, Helge. Du hast dich also gegen uns entschieden. Dann werde ich mit meiner besten Freundin in die Kieler Museumsnacht ziehen. Mit der Steffi. Kein versiffter Pressluftschuppen, sondern Hochkultur. Sauf nicht so viel.«
Dann knallte die Tür schon zu. Aber erst, als Stuhr ihre Stöckelschuhe die Stufen hinuntertrippeln hörte, wagte er es, endlich ins Schlafzimmer zu schleichen, um ihre schwarze Vollhaarperücke zu erbeuten. Die harschen Worte von Jenny dröhnten immer noch in seinen Ohren, als er das Buschwerk über seinen Schädel zog.
Dafür entschädigte ihn der Blick in den Spiegel: Im Prinzip sah er aus wie ein Heavy-Metal-Fan. Gut, etwas gealtert. Aber das waren vermutlich viele andere in dem Milieu auch. Eine mit Aufnähern bestickte Kutte hatte er nicht, so musste seine alte Jeansjacke herhalten. Dann machte er sich auf den Weg.
Selbstverständlich würde er sich die Worte von Jenny zu Herzen nehmen: kein Schnaps heute Abend. Aber es war noch viel zu früh an diesem leicht verregneten Abend, und so bog er kurz vor dem Eingang zum Metalltempel ab und suchte zunächst die ihm vertraute Tanke am Königsweg auf. Mit einem eiskalten Dosenbier in der Hand begann er, in aller Ruhe an diesem lauen Spätsommerabend für seine Recherche im »Hot Shots« vorzuglühen.
Wenig später verharrte er unschlüssig vor dem Eingang der Spelunke. Auf dem Kneipenschild über der Tür war in knappen Worten das Programm manifestiert: »Hard Rock – Metal – Punk«. Auf den zugeklebten milchblassen Fenstern des Etablissements klebten wilde Poster. »THE METAL INVASION« und »HOT ROCK FALL«. Dann aber auch die unerwartete Ankündigung für ein Skatturnier mit dem Gewinn einer Mettwurst. Was würde ihn dort erwarten?
Er kippte den Rest des Biers auf dem Bürgersteig aus und stellte die Dose auf einem mit unzähligen Stickern beklebten Schaltkasten neben dem Schaufenster ab. Irgendeine bedürftige Pfandratte würde sie schon abräumen. Entschlossen stieß er die Tür zum »Hot Shots« auf. Erschreckend war aber nur, dass ihm eine unerwartet verräucherte Kälte entgegenschlug. Obwohl es schon weit nach neun war, lag die Musikkneipe völlig verwaist vor ihm. Es gab nur einen Weg für ihn, den zum Tresen. Während er sich noch über das vergossene Bier auf dem Bürgersteig ärgerte, näherte sich ihm in gebückter Haltung eine kleine männliche dunkle Gestalt. Offenbar die Tresenschlampe.
»Kaltgetränk, oder?«
Stuhr witterte Morgenluft. Oder Glücksspiel, Drogenhandel, Prostitution? So hielt er dagegen. »Oder?«
Die Antwort fiel nüchtern aus. »Oder wieder raus.«
Schnell ergab sich Stuhr. »Nee, einfach nur kalt hier. Frierst du nicht?«
Der Wichtel hatte verstanden. »Zwei Absinth für uns beide. Sind aber harte Hunde. Einverstanden?«
Stuhr nickte, zumal sich das mit Jenny vermutlich sowieso bald erledigen würde. Ihre Freundin Steffi, die immer schon hart drauf war, die würde sicher wieder verbal mit Giftpfeilen nach ihm werfen und sich mit Jenny auf dem Zug durch die Museumsnacht von irgendwelchen Kulturfuzzis vollquasseln lassen.
Dann kamen schon die beiden harten Hunde. Das weiße Absinth-Zeug sah gar nicht so gefährlich aus, aber als Stuhr es sich einverleibt hatte, wirkte der kleine schmierige Hirtenhund hinter dem Tresen nicht mehr ganz so unsympathisch. Zumal er von sich aus nachschenkte.
»Gehirnschrauben, geht diesmal aufs Haus. Hau weg, die Scheiße!«
Das tat Stuhr, aber nur für Kommissar Hansen. Und gegen die Kälte, damit beruhigte er sich. Aber ableugnen konnte er nicht, dass er sich in der leeren Spelunke langsam wohlfühlte. Zumindest wohler als vorher mit Jenny.
Langsam betraten wenige Gäste die Lokalität, und die Tresenschlampe reichte ihm unverhofft die Hand. »Ich bin Tom. Heiße aber eigentlich Hinnerk. Wenn du noch einen ausgibst, darfst du mich mit meinem richtigen Namen ansprechen.«
Es war an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. »Dann stell mal ein paar Gehirnschrauben auf den Tresen, damit endlich Leben in diese Bude kommt.«
Sichtlich erfreut über den früh erzielten Umsatz drehte dieser selbst ernannte Tom zunächst ab und stellte mit bemerkenswerter Geschwindigkeit wenig später zehn eisgekühlte Gläser mit Absinth auf dem Tresen ab. »50 Euro. Cash.«
Lässig zog Stuhr einen Fünfziger aus der Hosentasche und legte ihn neben die Gehirnschrauben. Millisekunden später war der Geldschein wie von Geisterhand verschwunden. Inzwischen hatte ein langhaariger Discjockey in Kutte seinen Platz am Mischpult neben dem Eingang eingenommen, aber zunächst legte er nur Musik mit verhaltener Lautstärke auf. Das war gut, so konnte Stuhr den Unterhaltungen lauschen.
Die Eingangstür öffnete sich erneut, und interessiert wandte er sich den neuen Gästen zu: eine jüngere blonde Frau mit Nasenring und ein alter Sack mit Zopf. Der verzog sich aber gleich in den hinteren Bereich der Spelunke. Die junge Frau dagegen steuerte den Tresen an und baute sich hinter Stuhr auf, ohne einen Laut von sich zu geben.
Hinnerk sprach sie ziemlich hart direkt an: »Meike, Bestellung?«
Die Antwort klang verbittert. »Keine Kohle. Das weißt du doch.«
Erstaunt drehte sich Stuhr um. Vermutlich war die junge Frau nicht mit Reichtum gesegnet, und so bot er ihr einen der Drinks an. Sie wollte dankbar zugreifen, aber Hinnerks schützende Hand verhinderte das.
»Ist noch nicht alles ganz bezahlt.«
Erstaunt drehte sich Stuhr zur Tresenschlampe um, die ihm schlicht die geöffnete Hand entgegenhielt.
»Wir leben nicht in Beverly Hills. Kein Trinkgeld für mich?«
Offenbar mussten für nähere Informationen Schmiergelder gezahlt werden. Stuhr zupfte noch einen Zwanziger aus der Tasche, und die mit Narben übersäte Hand der Tresenschlampe zog sich mit unerwarteter Eleganz von den Gehirnschrauben zurück.
Meike nutzte die Situation und ergriff gleich zwei Gläser. »Scheißtag heute. Prost.«
Stuhr prostete verhalten zurück, ohne weiter zu trinken. Schließlich war er hier, um für Kommissar Hansen zu ermitteln. Unfroh war er aber auch nicht, als sich Meike heimlich davonschlich und den hinteren Bereich der Musikkneipe anstrebte. Irgendetwas musste dort abgehen, was man vom Tresenbereich aus nicht einsehen konnte. Aber kaum war die Frau weg, da wurde er von einem neuen Sitznachbarn unerwartet angestupst.
»Was treibt dich denn in dieses Rattenloch?«
Das Gesicht kannte Stuhr nicht, und seine Tarnung mit der Perücke schien auch noch nicht aufgeflogen zu sein. »Einen Drink nehmen. Du nicht?«
Sein Sitznachbar winkte ab. »Nö. Auf Hartgas stehe ich nicht so. Auf Metall sowieso nicht. Wenn meine Ohren kotzen könnten, dann …«
Verwundert fragte Stuhr nach. »Was spült dich denn hierher?«
»Entspanntes Publikum. Ganz anders als bei mir zu Hause in Kronshagen. Ich bin übrigens Pelz, so nennen mich hier alle.«
Pelz. Was für ein Name? »Mich nennen sie Stuhr, freut mich. Der Absinth ist auch zu heftig für mich. Wie kommen wir schnell zu einem gepflegten Bier?«
Pelz pochte laut rufend auf den Tresen. »Helferlein. Notfall. Zwei Tulpen.«
Hinnerk fegte wie ein geölter Blitz um die Ecke und stellte zwei geöffnete Bierflaschen auf den Tresen. Pelz schien kreditwürdig zu sein, denn er musste nicht sofort bezahlen. In der Folge klappte in regelmäßigen Abständen die Eingangstür auf, und so langsam füllte sich der Raum. Auffällig war, dass sich die härteren Typen allesamt in den hinteren Bereich verzogen. Auf einmal bekam er einen Stoß von der anderen Seite.
»Stuhr, altes Haus. Lange nicht gesehen. Was treibt dich denn hierher?«
Spöttelnd antwortete er. »Die Liebe zur Musik.«
Sein ehemaliger Schulkamerad Björn setzte sich ungefragt neben ihn. »Du siehst scheiße aus, Alter. Hast du Ärger?«
Stuhr dachte an die Katze von Jenny. »Hier nicht.«
Björn ließ nicht locker. »Zu Hause?«
Stuhr nickte und leerte mit besorgter Miene seine Bierflasche. »Was ist, Pelz, auch noch eins?«
Als der nickte, gab Björn lautstark die Order aus. »Hinnerk, drei Tulpen. Aber dalli.«
Man kannte sich offenbar, denn wieder tauchten in Windeseile drei geöffnete Biere auf. Björn griff sich eins und rülpste voller Vorfreude.
»Wohlsein.«
Dann widmete er sich einfühlsam Stuhr. »Kopf hoch, Alter. Du musst dir deinen ganzen Mist einfach einmal von der Seele schreiben. Mache ich auch gerade. Hab schon fast 20 Seiten fertig.«
»Wie, 20 Seiten?«
»Ganz einfach. Ich schreibe ein Buch, Stuhr. Alles, was dir auf der Seele liegt, kannst du darin aufbauschen oder einsargen. Weltliteratur.«
Björn und ein Buch schreiben, wie konnte das zusammenpassen bei diesem vierschrötigen Kerl? Stuhr bohrte nach.
»So, 20 Seiten schon. Welche Schriftgröße denn?«
»Handgeschrieben natürlich.«
Das diabolische Grinsen von Björn stimmte Stuhr nachdenklich. »Meinst du denn, dass irgendein Verlag auf der Welt deine handgeschriebenen Krakeleien annehmen wird?«
Björn wurde vertraulich. »Pah. Ich brauche keinen Verlag. Die großen Verlage brauchen mich, sonst gehen sie alle mit der großen E-Book-Schwemme in die Grütze. Die Bibel, Faust I und II, die Bücher von Karl May. Alles handgeschrieben. Millionenfach verkaufte Buchkunst, als noch kein Schwein wusste, was ein E-Book ist. Ich würde mir so einen Scheiß auch nicht kaufen. Ich bin voll retro, weißt du? Schließlich klingt die Musik von jedem Plattenspieler besser als diese plärrende MP3-Grütze.«
Nun hatte Stuhr nicht besonders viel Ahnung von dieser Materie, aber von Büchern noch weniger. Gut, wegen Jenny hatte er letzten Sommer einige Frauenromane gelesen. Aber nachhaltig geholfen hatte es nicht. Neugierig bohrte er nach.
»Sag mal, Björn. Wie fängt man an, ein Buch zu schreiben?«
Ohne Nachfrage fingerte Björn eine Zigarette aus der Schachtel von Pelz und zündete sie genüsslich an. Man kannte sich anscheinend gut. Dann kam er aber schnell zur Sache.
»Das ist ganz einfach. Stell dir einen Baum vor. Der Stamm ist das Gerüst, die Äste die verschiedenen Handlungsstränge, die Zweige die unterschiedlichen Handlungspersonen, und die gefärbten Blätter bilden die Stimmungen der Akteure ab. Die ja gerade bei Frauen ständig wechseln können.«
Jetzt ahnte Stuhr zumindest, warum Björn sich zu ihm gesetzt hatte. Er legte aber nach.
»Am wichtigsten ist aber, dass du einen griffigen Titel findest, Helge. Der muss schon einiges hergeben, damit das Buch später millionenfach gekauft wird.«
Stuhr musste an Jenny denken. Welchen Titel könnte er wählen, wenn er über die Beziehung schreiben würde? »Wechselbad«? Nein, das war viel zu dicht an Wechseljahre. Sie würde ihm das sofort um die Ohren hauen. Schwierig.
»Welchen Titel hast du denn gewählt, Björn?«
»Noch keinen endgültigen, nur einen Arbeitstitel. ›Buch 1‹. Aber ich habe immerhin die Überschrift meines ersten Kapitels schon in Tinte gegossen.«
Stuhr war skeptisch. »Das erste Kapitel heißt aber nicht ›Erstes Kapitel‹, oder?«
Björn musste lachen. »Nein, natürlich nicht. Es soll gerade für verlassene und enttäuschte Männer ein bisschen lyrisch klingen: ›Herbstspiel‹, klingt das nicht megageil?«
»Ah, ich verstehe. Die Leser denken, du machst dir Gedanken über den nahenden Herbst, wenn die Blüten verblühen.«
»Richtig. Schau dir den Typ mit den langen grauen Haaren da hinten an. Das ist der Robert. Er ist nicht mehr der Jüngste, aber er stemmt noch so einiges. Nicht nur am Tresen, wenn du verstehst. Für den passt die Überschrift wie die Faust aufs Auge.«
»Und wie beginnt dein Buch?«
Björns Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »›Hart nahm der Fremde die unnahbare Frau des Architekten an dessen Zeichentisch.‹ Gut, oder?«
Fast verschluckte sich Stuhr an seinem Bier. »Aber das ist Hardcore und passt überhaupt nicht zur Überschrift.«
»Falsches Denken, Stuhr. Das nennt man Multi-Channel-Strategie. Mit der Überschrift kriegst du die sentimentalen Romantiker und mit dem ersten Satz die Verkappten. Das ist markttechnisch mehr als genial. Jetzt muss ich nur noch ein Cover auftreiben, auf dem ein rosa Schwan vor untergehender Sonne auf einem Schlossturm landet. Dann kriege ich auch noch die Verträumten.«
Stuhr war skeptisch. »Ein Schwan auf einem Schlossturm? Das habe ich noch nie gesehen. Warum nimmst du nicht einen Drachen?«
»Einen Drachen? Spinnst du? Dann habe ich die gesamte Fantasy-Gilde an den Hacken, die allesamt keine Kohle haben. Nein, das geht überhaupt nicht. Ich bin schließlich ein seriöser Literat.«
So richtig überzeugte das Stuhr allerdings nicht. »Was sagt denn deine Frau dazu, Björn?«
»Nichts.«
»Und warum nicht?«
»Was sie von mir nicht weiß, das lässt sie besser schlafen. Und das kann gerne so bleiben, du verstehst?«
Stuhr verstand ihn nur zu gut und orderte eine neue Runde. Dann nestelte er eine Visitenkarte aus seiner Jeansjacke. »Hier, Björn. Wenn dein Buch auf dem Markt ist, dann rufe mal durch. Ich werde einige Exemplare im örtlichen Buchhandel erwerben. Die wirst du aber alle signieren müssen.«
Sein ehemaliger Schulkamerad nahm die Visitenkarte dankbar an.
Währenddessen hatten sich vor dem Discjockey drei Gesellen der härteren Lebensweise eingefunden, die ihn lautstark provozierten. »Lauter, härter, schneller. Lauter, härter, schneller.«
Nur kurz schoss dem Discjockey die Zornesröte ins Gesicht. Dann erschütterte ein lauter Gitarrenriff die Bude, gefolgt von einem Stakkato wildester Gitarrensoli. Der Discjockey hatte alle Regler hochgerissen und schaute von seinem Platz gebannt auf die Reaktion der Gäste. Mit Begeisterung nahm es aber niemand auf, und die drei Gesellen verdrückten sich schnell in den hinteren Bereich der Kneipe. Offenbar war es nicht ihr Musikgeschmack. Aber selbst Hinnerk drückte sich laut klagend kurzerhand Wattestöpsel in die Ohren.
»Warum muss ich immer den beschissensten DJ-Sidekick in meiner Schicht haben?«
In der Folge blieben wegen der Lärmorgie des Discjockeys weitere Gespräche aus, bis auf einmal die musikalischen Einlagen von noch lauterem Lärm am Eingang übertönt wurden. Eine Gruppe hartgesottener Rocker in Lederklamotten versuchte sich gewaltsam Zugang zum Etablissement zu verschaffen. Das gelang ohne große Gegenwehr, und schnell drängelten sie sich durch die harmlosen Metaller in den hinteren Bereich der Kneipe. Hinnerk mit seinen Ohrstöpseln hatte davon nichts mitbekommen. Pelz machte ihn aber lauthals darauf aufmerksam.
»Leder, Hinnerk!«
Erschrocken drückte die Tresenschlampe einen Klingelknopf und zog eine Schublade auf. Bewaffnet mit einem fiesen glänzenden Metallknüppel eilte Hinnerk zum hinteren Bereich des Pressluftschuppens. Der Sidekick-DJ flüchtete sofort, und in die wenig später eintretende Stille hörte sich die Prügelei im hinteren Bereich recht martialisch an.
Pelz und Björn schien das herzlich wenig zu stören, bis auf einmal die Eingangstür aufgerissen wurde und eine schwarz gekleidete Einsatztruppe der Polizei in die Spelunke stürmte. Wenig später war für Stuhr nicht zu übersehen, dass dieser Hinnerk blutüberströmt von der Staatsgewalt auf einer Trage von seiner heutigen Schicht befreit wurde. Björn zog sich unerwartet elegant aus der Affäre, indem er besorgt eine Hand an die Trage legte und Hinnerk auf dem Weg nach draußen begleitete. Pelz dagegen schlich sich hinter den Tresen und verschwand in Windeseile durch die Hintertür von der Bildfläche.
Erst gute fünf Minuten später betrat ein unscheinbarer älterer Mann mit Hut und Trenchcoat das »Hot Shot« und gab laut Anweisungen an seine begleitenden Polizisten. »Festnehmen, alle!«
Endlich, Kommissar Hansen war in Aktion getreten. Entspannt wandte sich Stuhr wieder dem verbliebenen Absinth-Zeug zu. Das könnte ohne laute Musik noch ein entspannter Abend werden. Plötzlich wurde ihm aber die Perücke abgezogen und Handschellen angelegt. Verärgert ließ er die erniedrigende Prozedur über sich ergehen.
Ein schlechtes Gewissen hatte Kommissar Hansen schon, als er frühmorgens aus einer Ecke der U-Boot-Halle seinen Polizeidirektor Magnussen anrief. »Unangenehme Sache, Chef. Bin gerade auf der Werft der Kiel Marine Yards.«
Sein Chef klang ein wenig übernächtigt. »Nicht im Büro, Hansen?«
»Nein, ausnahmsweise heute Morgen einmal nicht. In der Nacht sind mindestens drei Wachleute des Werkschutzes abgemurkst worden. Wir grasen schon seit mehr als sieben Stunden den Tatort ab.«
Sein Chef war nicht sonderlich erfreut. »Drei ermordete Wachleute? Scheiße, Hansen. Das schraubt in der nächsten Jahresstatistik die Mordquote für Kiel hoch. Mit Sicherheit lande ich wieder einmal unberechtigt in allen möglichen Gazetten samt Konterfei.«
Das Gejammer seines Chefs interessierte den Kommissar wenig. »Gazetten? Ach, Chef, bei uns gibt es zum Glück nur die Kieler Rundschau. Wenn Sie dort allerdings positiv erwähnt werden wollen, dann sollten Sie schnellstens zu uns an den Tatort kommen.«
Polizeidirektor Magnussens Stimme klang deutlich entspannter. »Eine positive Erwähnung in der Rundschau? Dagegen hätte ich absolut nichts einzuwenden. Aber wie soll das bei den vielen Morden gelingen?«
Endlich hatte Kommissar Hansen seinen Chef an der Angel. »Ganz einfach. Heute Nacht ist am Ausrüstungskai von den Mördern der Werkschutzmänner ein U-Boot gestohlen worden. Meiner ersten Einschätzung nach von richtigen Profis, und noch hängt nichts an der großen Glocke. Sie müssten sich allerdings beeilen.«
»Mein Gott. Ich habe hier zu tun. Sie hätten mich eher anrufen können. Und warum überhaupt …?«
Hansen beendete das Gespräch, bevor er auf weitergehende Nachfragen von Polizeidirektor Magnussen am Telefon antworten musste. Zumal gerade der vertraute Kollege Klüver vom Wiesbadener Bundeskriminalamt die U-Boot-Halle betreten hatte und ihn ansteuerte.
»Ah, der verehrte Kollege Hansen. Schön, Sie endlich einmal wiederzusehen.«
Der Kieler Kommissar nickte. »Ja, auch wenn der Anlass alles andere als erfreulich ist. Moinsen, Klüver.« Der Mann aus Wiesbaden stimmte ihm bei. »Das ist richtig. Meine Leute von der Spurensicherung sind bereits unterwegs und werden gleich von Ihren Einsatzkräften übernehmen. Dann können Sie ein wenig entspannen, muss ja eine harte Nacht für Sie gewesen sein.«
Übernehmen, das klang für Hansen zunächst gut. Aber wenn Polizeidirektor Magnussen noch einen Vorteil gegenüber der Presse erzielen wollte, dann müsste der Kieler Kommissar wohl oder übel länger auf dem Werftgelände verweilen.
Der Kollege aus Wiesbaden riss ihn aus seinen Gedanken. »Wie ist denn Ihre erste Einschätzung?«
Hansen machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. »Nun, dass ein U-Boot gestohlen wird, kommt bei uns nicht gerade häufig vor. Die Wachleute wurden zudem regelrecht abgeschlachtet. Meiner Einschätzung nach waren das eiskalte Profis, bestens ausgebildet.«
Klüver verfolgte interessiert, wie sein Kieler Kollege jetzt einen großen Plan der Werft auf dem Boden ausbreitete, bevor er ihm den Stand der Dinge näher darlegte.
»Schauen Sie bitte einmal hier. Vermutlich sind die Eindringlinge über den Ausrüstungskai auf das Werftgelände gelangt. Wir haben natürlich sofort von unseren örtlichen Polizeikräften das Gelände weiträumig sperren lassen, damit Ihre Spurensicherung ungestört mit der Arbeit beginnen kann.«
Der BKA-Mann fragte nach: »Über den Ausrüstungskai? War der nicht gesichert?«
»Das war er, zumindest vom zentralen Werfttor her. Aber die Eindringlinge werden vermutlich unauffällig von einem kleinen Boot in einer dunklen Ecke des Ausrüstungskais abgesetzt worden sein, um die Wachen zu eliminieren. Taucherausrüstungen haben wir allerdings nicht gefunden.«
Klüver wurde hellhörig. »Von einem Boot aus? Fällt das nicht auf?«
»Nein. Irgendein Boot ist auf der Förde immer unterwegs, auch nachts. Keine Positionslichter, schwarze Anzüge, ein leiser Elektromotor. Dann bekommt niemand etwas mit, selbst die geschulten Wachposten nicht.«
Der BKA-Mann nickte. »Gibt es weitere Hinweise, dass die Infiltration vom Ausrüstungskai her begonnen wurde?«
»Ja, ich habe mit dem Leiter der Sicherungszentrale der Werft gesprochen. Von dem Wachposten am Ausrüstungskai blieben zuerst die Routinemeldungen aus. Vermutlich sind die Eindringlinge von dort nach seinem Tod ausgeschwärmt, um die anderen Wachposten zu eliminieren. Zunächst den Wachmann oberhalb der Treppe zum Ausrüstungskai, dann den in der U-Boot-Halle. Am längsten kamen Routinemeldungen noch von dem Wachmann am Ende des Schwimmdocks zum Hafen hin. Vielleicht hatten sie ihn zunächst auch nur übersehen, aber das müssen Ihre Leute herausfinden, Klüver.«
»Zunächst übersehen? Hat er überlebt?«
»Nein. Letztendlich hat es auch ihn erwischt. Ein Kopfschuss aus einer Schalldämpferpistole und schwere Sturzspuren im Gesicht. Wahrscheinlich auch in dieser Abfolge. Vermutlich lag eine Zeitspanne von etwa zehn Minuten zwischen allen Exekutionen.«
Klüver sah ihn gespannt an. »Exekutionen, sagen Sie. Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, angefasst haben wir natürlich nichts, aber bei den Messerschnitten durch die Halsschlagadern der anderen arglosen Wachposten ist von lautloser und gezielter schneller Tötung auszugehen. Das Blut kann nicht mehr ins Gehirn vordringen, um es zu versorgen. Dem Augenschein nach also Hirnschlag, das behauptet nach telefonischer Rückfrage jedenfalls mein Kollege Fingerloos von unserer Spurensicherung. Aber das müssen Sie mit Ihren Leuten genauer analysieren.«
Der Wiesbadener Kommissar blickte skeptisch. »Sind vier Wachleute nicht ein wenig eng bemessen, um ein U-Boot zu bewachen?«
Auch das hatte Hansen inzwischen in Erfahrung gebracht. »Genau genommen haben die vier Wachmänner sogar zwei U-Boote bewacht. Ein kleineres liegt nämlich im Schwimmdock, weil es gerade überholt wird. Insgesamt sind auf der gesamten Werft aber mehr als 30 Wachleute im Einsatz. Zehn allerdings allein bei der neuesten Motorjacht eines kuwaitischen Ölmilliardärs. Das restliche Personal bewacht zwei andere militärische Neubauten und sichert das weitläufige Werftgelände zur Landseite hin ab.«
Klüver runzelte die Stirn. »Warum hat die Sicherungszentrale der Werft nicht sofort eingegriffen?«
Auch dafür hatte der Kieler Kommissar eine plausible Erklärung. »Weil beim Werkschutzserver eine neue Software installiert wurde, die zwar die ausbleibenden Routinemeldungen aller Wachleute sauber protokolliert hat, aber bei Fehlern nicht automatisch Alarm ausgelöst hat. Dafür war zwar bis zur Behebung des Fehlers ein Mitarbeiter der Sicherungszentrale manuell zuständig, der aber erst nach einer guten Viertelstunde seinen Chef über das Ausbleiben informiert hat.«
»Erst nach einer Viertelstunde?«
»Der Leiter der Sicherungszentrale hat mir versichert, dass immer mal einer der Wachleute einen Knopf zu drücken vergisst oder den zur Meldung auffordernden Piepton überhört, wenn es zu laut ist. Dass einer der Wachmänner eingeschlafen ist, soll auch schon einmal vorgekommen sein.«
Klüver setzte einen nachdenklichen Blick auf. »Vielleicht ist es ja auch besser so, sonst wäre die Verstärkung ebenfalls umgelegt worden.«
Dem pflichtete der Kieler Kommissar mit leiser Stimme bei. »Davon ist auszugehen.«
»Kollege Hansen, wie lange hat es gedauert, bis sich jemand vom Sicherheitspersonal wegen des Ausbleibens der Routinemeldungen einen Überblick über die Lage am Ausrüstungskai verschafft hat?«
Der Kieler Kommissar übergab seinem Wiesbadener Kollegen das Protokoll, welches ihm vom Chef der Sicherungszentrale ausgehändigt wurde. »Das ist hier alles exakt aufgezeichnet. Einer der Wachleute war etwa 25 Minuten nach dem Überfall am Ausrüstungskai. Er hat sofort nach dem Fund des ermordeten Kollegen Bericht erstattet und wegen der unklaren Lage abgewartet, bis Verstärkung eingetroffen war. Erst dann wurde das gesamte Ausmaß des Überfalls erkannt und schließlich auch das Fehlen des U-Boots. Die Entführer hatten insgesamt mindestens eine gute halbe Stunde Zeit, um unerkannt zu entkommen.«
Der Mann vom BKA studierte gründlich die beiden Seiten mit den minutiösen Aufzeichnungen. »Was ich als schiffstechnischer Laie nicht verstehe: Kann jedermann einfach so ein U-Boot entführen?«
»Nein. Der Leiter der Sicherungszentrale hat mir versichert, dass es schon hochspezialisierter Experten bedarf, um ein solch komplexes militärisches Fahrzeug in Betrieb zu nehmen. Sie müssten sämtliche Sicherungsmechanismen ausschalten und die elektronische Verschlüsselung knacken, und dabei auch noch eiskalt töten können. Wie bereits gesagt, absolute Profis. Mindestens eine Nummer zu groß für unsere beschränkten Möglichkeiten vor Ort.«
Klüver wurde formell. »Erst einmal möchte ich Ihnen meinen Dank für Ihre Diensthilfe aussprechen, Kollege Hansen. Sie haben wertvolle Vorarbeit geleistet.«
Der Kieler Kommissar winkte ab. »Irgendwelche Hinweise auf die Täter haben wir nicht gefunden. Sie haben nichts zurückgelassen außer den toten Wachmännern. Vielleicht haben Sie ja mehr Glück, Klüver.«
Der BKA-Mann sah ihn vielsagend an. »Mal sehen. Aber ich schätze, mein Glück wird nur von kurzer Dauer sein.«
Die Einlassung seines Wiesbadener Kollegen verstand Hansen nicht. Der blieb die Antwort aber nicht schuldig.
»Nun, nach ersten Recherchen meiner Kollegen soll es sich bei dem entführten U-Boot um ein Modell der Dolphin-II-Klasse handeln, eine Modifizierung der Baureihe 209, die ursprünglich für die Bundeswehr entwickelt wurde. Abnehmer ist Israel, mitfinanziert wird es durch die Bundesregierung aus historischer Verantwortung, was aus Wettbewerbsgründen in den USA und Großbritannien stets sauer aufstößt.«
Als Kieler wusste Hansen natürlich noch ein wenig mehr. »Richtig. Von der Europäischen Gemeinschaft wird die Mitfinanzierung des Bundes als verdeckte Subvention für die deutsche Werftindustrie eingestuft, das konnte man bereits mehrfach in der Kieler Rundschau lesen. Aber das ist jetzt Ihre Baustelle, Klüver.«
Der nickte. »Ich weiß. Die Araber finden das übrigens auch nicht besonders lustig. Da gibt es also einen größeren Kreis von Verdächtigen, welche die Finger im Spiel haben könnten.«
Kommissar Hansen war nun endgültig froh, nichts mehr mit diesem Fall zu tun zu haben. Eines beschäftigte ihn aber noch. »Was ich nicht verstehe, Klüver: Ein U-Boot entführen ist ja eine Sache. Aber wie kann so ein Riesending spurlos von der Bildfläche verschwinden? Das sollten Sie einmal bei den zuständigen Stellen in Berlin erfragen.«
Klüver lächelte geheimnisvoll. »Fragen kann ich ja, nur Antworten werde ich kaum bekommen.«
Der Kieler Kommissar bohrte vorsichtig nach. »Wer bekommt denn Antworten?«
»Nun, mit Sicherheit der Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, das Verteidigungsministerium und der Militärische Abschirmdienst. Der Verfassungsschutz wird wie die NATO eingeschaltet werden müssen, und der Bundesnachrichtendienst vermutlich auch. Vielleicht sogar wir vom BKA.«
Hansen bohrte nach. »Nur vielleicht?«
Der Wiesbadener Kollege wirkte entschlossen. »Das ist mir egal. Wir werden jetzt erst einmal sauber die Spurensicherung durchziehen.«
Hansen nickte zufrieden. »Dann werde ich meine Leute abziehen und meinem Vorgesetzten ausführlich Bericht erstatten. Gut, dass Sie jetzt zuständig sind.«
Klüver setzte eine skeptische Miene auf. »Mal abwarten, wie lange wir noch zuständig sind. Wie gesagt, ich befürchte, dass mein dienstliches Glück nur von kurzer Dauer sein wird.«
Hansen platzte fast vor Lachen. »Zweifel an der Zuständigkeit, dass ich nicht lache. Aus meiner Erfahrung wird jede andere Behörde erst einmal versuchen, sich für nicht zuständig zu erklären.«
Sein Wiesbadener Kollege schmunzelte nur kurz, dann wurde seine Miene wieder ernst. »Die Kollegen von den deutschen Nachrichtendiensten ticken anders, Kollege Hansen. Bei denen herrscht eine regelrechte Wagenburgmentalität, denn viele von ihnen stehen auf der Streichliste der Bundesregierung. Beim MAD wird man sich die Finger nach einem solchen Fall lecken. Sie werden schon sehen.«
Das konnte sich der Kieler Kommissar zwar kaum vorstellen, aber der Kollege vom BKA hatte vermutlich wie immer recht. Zunächst galt es jedoch, in eigener Sache seinem Chef Zeit zu verschaffen, damit er vor der Presse auftrumpfen konnte. Wo blieb Magnussen nur?
Wie immer waren sie frühmorgens mit ihrem Fischkutter von ihrem Liegeplatz im Eckernförder Hafen in die Ostsee ausgelaufen, hinter deren Horizont strahlend die Morgensonne aufging. Die Bucht vor dem Hafen ist seit Jahrzehnten als militärisches Übungsgebiet für U-Boote ausgewiesen, und deren Tauchfahrten hatten seit Generationen Fischschwärme jeglicher Art verscheucht. Deswegen steuerte Siemsen normalerweise die benachbarte Kieler Bucht an, die wesentlich flacher war. Die goldenen Sonnenstrahlen spiegelten sich zunehmend in den Fenstern unzähliger Wohnwagen wider, die auf den zahlreichen Campingplätzen auf der Nordseite der Eckernförder Bucht einsam und verlassen auf den Winterschlaf warteten.
Heute ritt ihn der Teufel, und so gab er bereits kurz nach dem Auslaufen auf der Höhe des großen Kreuzes des Altenhofer Begräbniswaldes seinem Bootsmann ein knappes Kommando. »Jonas, lass das Netz mal runter. Ich habe da so ein Gefühl.«
Sein Bootsmann setzte umgehend ein Fangnetz an den Ausleger der Motorwinde, und dann scholl dessen raue Stimme über den Fischkutter. »Achtung, Netz kommt!«
Jonas betätigte nun den Einschaltknopf, und das Fangnetz wurde langsam in die Fluten herabgelassen. Es dauerte aber nicht lange, da begann sich der kleine Dieselmotor des Kutters unter einer ständig zunehmenden Last hinter dem Heck immer lauter zu quälen. Kapitän Siemsens Instinkt hatte wieder einmal nicht getrogen, und so musste er schon nach kurzer Zeit das Kommando geben, das Netz einzuholen. Jetzt quälte sich die Motorwinde ebenfalls, und Siemsen hatte die ernsthafte Befürchtung, das prall gefüllte Schleppnetz nicht ohne Beschädigungen an Bord zu bekommen.
Sein Decksmann war zum Glück das Gegenteil von einem Angsthasen, und nach wenigen Handgriffen ergoss sich eine gewaltige Menge zappelnder Seefische auf den großen Sortiertisch: Hering, Dorsch, Makrele, sogar Butt und einige dicke Meerforellen. Grund zur Klage hatte der Kapitän zu dieser frühen Morgenstunde nicht, denn eine solche Fangausbeute gab es ansonsten nur in den Wintermonaten. Erneut gab er Kommando, das Netz auszulegen. Das würde ein guter Fang heute werden. Einzig die langsam in großer Höhe aufgekommenen Federwolken bereiteten ihm Sorge, denn in der Regel leiten die einen grundlegenden Wechsel der Wetterlage ein. Sein Decksmann bemerkte den skeptischen Blick und blieb einen Spruch nicht schuldig.
»Zirruswolken und Frauen, beiden kannst du nicht trauen.«