Endstation St. Peter-Ording - Kurt Geisler - E-Book

Endstation St. Peter-Ording E-Book

Kurt Geisler

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Beschreibung

Ein Kieler Makler wird mit einem Betonklotz am Bein tot in der Fischtreppe an der Schwentine aufgefunden. Viele Hinweise und Ereignisse an der Ostsee führen Kommissar Hansen zu einem Pfahlbau nach St. Peter-Ording, wo am Abend ein heftiger Sturm aufkommt. Während ausgelassener Feierlichkeiten wird einem der Mordverdächtigen die Kehle durchgeschnitten. Danach beginnt für die Kieler Kripo die Suche nach den Tätern - welche furios endet.

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Kurt Geisler

Endstation St. Peter Ording

Kriminalroman

Zum Buch

Stürmische See Ein Kieler Immobilienmakler wird mit einem Betonklotz am Bein tot in der Fischtreppe an der Schwentine aufgefunden. Erste Hinweise führen Kommissar Hansen zum Kieler Seefischmarkt und zu einer dubiosen Immobilienfirma unweit vom Tatort. Schnell gerät ein Schiffsmakler in Verdacht, der mit dem Hamburger Rainhard Engel eine Firma betreibt. Bei einer Befragung verliert er jedoch die Nerven, bedroht Kommissar Hansen mit einer Waffe und wird prompt von dessen Kollegen erschossen. Daraufhin gerät Rainhard Engel ins Visier der Ermittler. Ein schöner Zufall, dass Privatier Helge Stuhr, den Kommissar Hansen wieder einmal für Ermittlungen unter der Hand um Hilfe bittet, und seine Freundin Jenny Muschelfang Engel auf dem Pfahlbau »Treibgut« treffen, wo der Hamburger Makler beide zu einer Feier einlädt. Im Laufe des feuchtfröhlichen Abends kommt ein heftiger Sturm auf – und die Ereignisse überschlagen sich.

Der Kieler Autor Kurt Geisler ist eingefleischter Schleswig-Holsteiner. Nach seinem Studium der deutschen, englischen und dänischen Sprache im Land zwischen den Meeren arbeitete er lange Zeit im Landesdienst, bevor er sich mit vielen Facetten aus Berufs- und Privatleben literarisch verwirklichen konnte.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © derProjektor / photocase.de

ISBN 978-3-8392-7556-6

Raubfische

Nachdenklich betrachtete Kommissar Hansen die vor wenigen Jahren neu angelegte Fischtreppe, die es Lebewesen jeglicher Art ermöglichte, das gleich daneben liegende mächtige Stauwehr unterhalb der alten Schwentinebrücke zu umgehen. Der gefesselten männlichen Leiche, die heute Morgen in den mäandrierenden Betonschleifen der Fischtreppe aufgefunden wurde, war das allerdings nicht gelungen. Ein massiver Betonklotz an den Füßen hatte verhindert, dass die Leiche von der Schwentine in die Mündung zur Kieler Förde gespült wurde.

Nachdenklich schloss Hansen die Augen. Ein Selbstmord mit einem Betonklotz am Bein war kaum zu vermuten. Aber warum hatten die Mörder die Leiche ausgerechnet auf einer Fischtreppe unterhalb einer frequentierten Brücke entsorgt? Unterhalb des Stauwehrs wäre die Leiche in der breiten Mündung der Schwentine vermutlich niemals entdeckt worden. Das bereitete dem Kieler Kriminalkommissar Missmut.

Schlecht gelaunt schlug er die Augen wieder auf. Die hoch am Himmel stehende Mittagssonne schickte ihre Strahlen über golden aufblitzende Wellen ins Gesicht des Kommissars. Wie jeden Tag würde sie sich weiter auf die Reise nach Westen begeben, um am Abend hinter den historischen Bauten der Landesregierung auf der anderen Seite der Kieler Förde unterzugehen. Auch wenn es eigentlich die Erde war, die sich um die Sonne drehte. Die kleine historische Steinbrücke, von der aus er den gut einsehbaren Tatort musterte, war in den letzten Jahren aufwendig restauriert worden. Sie stand seit mehr als einem Jahrhundert felsenfest auf ihrem angestammten Platz und verband die Kieler Stadtteile Neumühlen und Wellingdorf. Auf der nördlichen Seite der Schwentinemündung war inzwischen eine schicke Uferpromenade angelegt worden, und dahinter dominierten die modernisierten Bauten der ehemaligen Kieler Howaldtswerke, in der jetzt die Kieler Fachhochschule residierte.

Auf der anderen Seite der Schwentinemündung in Wellingdorf, wo früher unzählige Fischkutter mit kräftiger Rauchentwicklung aus mächtigen Schornsteinen an- und ablegten, wurde gerade der Kieler Seefischmarkt von Investoren kräftig aufgepäppelt. Das danebenliegende Zentrum für Meeresforschung Geomar erstrahlte dagegen schon längere Zeit in neuem Glanz, während auf dem kleinen Bootshafen davor die gleiche gewohnte Unordnung wie früher herrschte.

Eine elegante Erscheinung soll die Leiche gewesen sein: Maßanzug, teure Designerschuhe, braun gebrannter Teint und ein tadelloses Gebiss, dem ersten Augenschein der Kollegen von der Spurensicherung nach. Aber warum diese Ablage der Leiche auf der Fischtreppe? Wurde hier ein Signal gesetzt oder gar eine Warnung gesendet? Wer konnte der Absender sein?

In diesem Moment des Nachdenkens holte den Kommissar seine Vergangenheit unerwartet heftig ein, denn vor mehr als 40 Jahren war er zur Ausbildung in die Polizeiwache in Kiel-Dietrichsdorf am Langen Rehm abgeordnet worden. In diesem oberhalb von Wellingdorf und Neumühlen liegenden Kieler Stadtteil war seinerzeit die Stimmung durchgängig rau, weil die florierende Werft mit den vielen umliegenden Spelunken jede Menge Gesindel anlockte. Aber nicht nur aus diesem Grund fuhr ihn sein Vater öfter mit dem Auto zum Dienst. Stets sagte er das Gleiche, wenn sie mit seinem VW-Käfer in Dietrichsdorf die Tiefe Allee hochfuhren.

»Guck mal, Konrad, da habe ich gelernt. Bei der Firma Stelting. Ich musste damals immer zu Fuß über die kleine Steinbrücke laufen und dann diesen Berg hoch bis zur Lehrstelle. Das war auch bei gutem Wetter nicht immer nur lustig.«

Hansen wusste, dass die Straßenbahn damals in einer Wendeschleife in Wellingdorf kurz vor der kleinen Steinbrücke endete und sein Vater den Rest des Weges zu Fuß erledigen musste. Aber gut einen halben Kilometer bergan zum alten Ortskern von Dietrichsdorf, das konnte für seinen Vater kaum ein ernstes Problem gewesen sein. Zumindest im Gegensatz zu manchen Berichten, welche er später von seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg preisgegeben hatte.

Kommissar Hansen zwang sich, die Erinnerung hinter sich zu lassen, denn er hatte sich um den Todesfall an der Fischtreppe zu kümmern. Das Klingeln des Handys schreckte ihn auf, es war der Kollege Fingerloos von der Spurensicherung.

»Die Identität des Toten ist geklärt, Konrad. Taucher haben Brieftasche und Smartphone unterhalb des Stauwehrs gefunden. Seinem Ausweis nach handelt es sich um einen Kieler Investor mit Wohnsitz in Düsternbrook: Gernot Wille, Jahrgang 1969.«

Kommissar Hansen zuckte bei der Nennung seines ungeliebten Vornamens immer wieder aufs Neue zusammen. Pferdi Fingerloos und er duzten sich zwar, aber sein Kollege hätte es auch beim Nachnamen belassen können.

»Todesursache, Pferdi?«

»Ertrunken ist der Gernot Wille vermutlich nicht, denn das ist eine Form des Erstickens in einer Flüssigkeit und dauert maximal fünf Minuten. Es wird Wasser eingeatmet, die Atmung sistiert, und es kommt zum Herzstillstand. Wasserleichen unterliegen im Gegensatz zu anderen Leichen vielen Faktoren, die der Identifikation und auch der Todeszeitbestimmung erschwerend entgegenwirken, egal, ob die Leiche ertrunken ist oder postmortal ins Wasser gelangte.«

Das war Hansen nicht neu. »Hat der Polizeiarzt den Todeszeitpunkt feststellen können, Pferdi?«

»Ja, die Leiche hatte noch keine Waschhaut, sondern eine Gänsehaut. Das spricht für einen relativ kurzen Aufenthalt im Wasser, so um die zwei Stunden. Gegen 6 Uhr trudelte die Meldung ein, und keine halbe Stunde später wurde die ärztliche Leichenschau durchgeführt.«

Hansen pfiff durch die Zähne. »Also vermutlich zwischen 4 und 5 Uhr.«

»Richtig. Es wird den armen Kerl allerdings mit ziemlicher Sicherheit woanders erwischt haben, nicht an der Fischtreppe.«

»Wie kommst du denn darauf, Pferdi?«

Der Leiter der Spurensicherung lachte. »Petechien. Einblutungen in den Bindehäuten und deutliche Strangulationsfurchen. Sein Tod ist aller Wahrscheinlichkeit nach durch Erwürgen mit einem Draht oder einer Schnur eingetreten, bevor er im kalten Nass entsorgt wurde. Die Gerichtsmedizin wird nach der Obduktion mehr dazu sagen können.«

Wieder pfiff Kommissar Hansen pfiff leise durch die Zähne. »Aber warum hat man ihm einen Betonklotz ans Bein gebunden?«

»Weil er genau dort gefunden werden und nicht in die Schwentine gespült werden sollte wie die Brieftasche und das Smartphone.«

Das war gut möglich, aber Fingerloos legte noch einmal nach. »Raubmord war es vermutlich nicht, immerhin schlummerten noch 800 Euro in seiner Brieftasche. Wir werden seiner Wohnung an der Kiellinie gleich einmal einen kleinen Besuch abstatten.«

Endlich kam die Spusi einmal von selbst in die Hufe. »Dann viel Erfolg, Pferdi.«

Hansen beendete das Gespräch, denn jetzt galt es, die unmittelbare Nachbarschaft der Fischtreppe abzuklopfen. Seine Schritte führten ihn über das neu gesetzte Großsteinpflaster auf die andere Seite der alten Steinbrücke. Auf diesem holperigen Untergrund wünschte er sich den glatten Blaubasalt von der Tiefen Allee, obwohl Vater mit seinem VW-Käfer dort mehr als einmal bergab bei nasser Fahrbahn heftig ins Schlingern geraten war.

Auf dem Anlegeplatz der Schwentineschifffahrt, die ebenfalls in neuem Glanz erstrahlte, lag an diesem freundlichen Sommertag lediglich eines der flachen, orange-weißen hölzernen Ausflugsboote am Steg. Die anderen Boote warteten, abdeckt mit blauen Stoffplanen, auf einem Seitenarm geduldig auf ihren Einsatz am Wochenende. Der beschauliche Blick auf den begrünten Anlegeplatz wurde von einer prächtigen Bewaldung der Schwentine zu beiden Seiten eingerahmt, wobei der Fluss wenige 100 Meter weiter von der überwuchernden Natur verschluckt wurde. Im Volksmund wurde die Schwentine daher Holstein-Amazonas genannt. Die in den 1970ern gnadenlos über das Panorama gespannte hässliche Schnellstraßenbrücke aus Beton blendete der Kommissar einfach aus.

Sein Vater hatte vermutlich auch so manches in seinem Leben ausblenden müssen: Wehrdienst, Krieg, Gefangenschaft. Vermutlich Schleiferei in der Ausbildung, Schiss an der Front und Sorge um die weitgehend schutzlose Familie in der Heimat, denn Kiel mit den vielen Werften und Rüstungsbetrieben war ein beliebtes Angriffsziel der Alliierten. Die vielen weißen Kreuze der abgeschossenen alliierten Flugzeugbesatzungen auf dem Kieler Nordfriedhof zeugen heute noch davon, wobei die Gedenksteine der gemeinsam gefallenen Kameraden dicht nebeneinander gesetzt wurden. Er hatte aber auch Berichte gelesen, dass mancher Flugzeugkommandeur der alliierten Bomber bisweilen eine Handgranate in der Hand hielt, um sich und seinen Kameraden bei einem Abschuss seitens der deutschen Artillerie Leid oder Gefangenschaft bei den Nazis zu ersparen. Auf der anderen Seite war Hansens Vater vor der Kriegsgefangenschaft lange Jahre in Norwegen stationiert, und vermutlich hatten die deutschen Soldaten als Besatzer dort nicht nur Rentiere gefüttert.

Aber nein, Schnitt. Er musste die Gedanken an die Vergangenheit verdrängen und sich auf den kaltblütig verübten Mord konzentrieren. So schritt Kommissar Hansen auf den kleinen Kiosk auf dem Anlegeplatz der Schwentineschifffahrt zu, der nicht nur dem Kartenverkauf diente, sondern auch Speisen und Getränke feilbot. Die Fensterläden waren zwar heruntergezogen, im Inneren wurde jedoch heftig geräumt. Auf Hansens Klopfen hin knurrte ihn aus dem Inneren des Kiosks eine sonore Stimme an.

»Die nächste Fahrt ist erst um 14 Uhr. Steht vorne auf dem Schild. Ich bin damit beschäftigt, alles für die ordnungsgemäße Abfahrt vorzubereiten. Karten können Sie auch an Bord nachlösen.«

Der Kieler Kommissar hatte Verständnis für den Schipper, der seinem Gewerbe nachgehen musste, aber es gab andere Prioritäten.

»Hauptkommissar Hansen von der Kieler Kripo, und ich hätte einige Fragen. Sie müssten sich schon einmal herausbequemen.«

Die Laune der knurrigen Stimme wurde nicht besser. »Passt jetzt schlecht.«

Hansen zog den Joker. »Dann muss ich Sie leider in die Kieler Polizeidirektion zur Vernehmung vorladen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Schlagartig hörte das Gerumpel auf, und durch die Seitentür trat ein kräftiger Mann mit Kapitänsmütze hervor, der ihn jetzt freundlich anlächelte. »Moin, ich bin Käpten Holm. Das konnte ich nicht ahnen. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Mit sachdienlichen Informationen. Gegenüber Ihrem Anleger auf der Fischtreppe ist heute Morgen eine männliche Leiche gefunden worden. Ist Ihnen in der Nacht etwas Besonderes aufgefallen?«

Entgeistert musterte ihn der Kapitän. »Glauben Sie ernsthaft, ich hause mit meiner Familie in einem Kiosk? Nein, wir wohnen ein gutes Stück weg im Scharweg mit schönem Blick auf die Schwentine, aber nicht auf die Steinbrücke. Ich habe allerdings heute Vormittag von einem Nachbarn von der Sache gehört. Kein besonders schöner Tod, wie man so hört.«

Ob es einen schönen Tod gab, das bezweifelte Hansen seit jeher. Vielleicht war schnelles Sterben der schönste Tod. Wieder schlich sich die Stimme seines Vaters ins Ohr.

»Kein noch so ausgeklügelter Kriegsplan überlebt die erste Feindberührung, Konrad. Wenn man wie ich im Zweiten Weltkrieg als Kanonenfutter an die Front geschickt wird, bist du im Kampf Mann gegen Mann nur eine einzige Sekunde grün hinter den Ohren. Entweder bist du dann ein erfahrener Kämpfer oder tot.«

Die Ansage von seinem Vater klang für den jungen Polizisten seinerzeit martialisch, jedoch wurde ihm im Laufe der Ausbildung schnell klar, dass es im Leben schlimmere Dinge als die Polizeiarbeit in Dietrichsdorf geben musste. Hansen versuchte, sich wieder auf die Befragung des Kapitäns zu konzentrieren.

»Gernot Wille. Den Namen schon einmal gehört?«

Der Kapitän stutzte. »Ungefähr so groß wie ich, ein Meter 80? Schlank, elegante Kleidung, immer braun gebrannt?«

»Ja, gebräunt allerdings jetzt nicht mehr, nachdem er auf der Fischtreppe entsorgt wurde. Woher kennen Sie ihn?«

»Nun, als mein Anleger neu gestaltet wurde, tauchte der Typ hier zum ersten Mal auf. Er zeigte großes Interesse an meinem Grundstück.«

War das die ersehnte erste heiße Spur? »Ja, und?«

Der Kapitän seufzte. »Da muss ich etwas weiter ausholen. Früher sah es an diesem Schnittpunkt von Neumühlen, Dietrichsdorf und Wellingdorf noch ein wenig anders aus.«

Der Kommissar nickte. »Ich weiß genau, wie es vor 40 Jahren hier aussah. Ich bin am Langen Rehm als Polizist ausgebildet worden.«

Die Miene von Kapitän Holm verfinsterte sich. »Ja, aber bis vor einem guten Jahrzehnt sah es hier immer noch so aus. Dann erst wurde die Gegend saniert.«

Hansen verstand den Unmut nicht. »Das ist alles recht schön geworden.«

Die Stimme vom Kapitäns verdunkelte sich. »Ja, es hat aber auch Raubfische angelockt.«

Der Kommissar zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Hier, in die Schwentinemündung? Wohl kaum.«

Der Kapitän wies auf verschiedene Immobilien in der Umgebung. »Schauen Sie mal, der Neubau dort. Alles exklusive Eigentumswohnungen. Hinten, im historischen Anschütz-Gebäude, in dem der Kreiselkompass erfunden wurde, hat eine Reha-Klinik Einzug gehalten.«

Der Kommissar hielt dagegen. »Sieht aber alles sehr gepflegt aus. Wie meinen Sie das mit den Raubfischen?«

Die Miene des Kapitäns verfinsterte sich. »Immobilienhaie. Dieser Gernot Wille wollte mir vor ein paar Monaten meine Idylle abquatschen. Er wollte auf meinem sanierten begrünten Anleger vermutlich einen Mehrfamilienblock mit Eigentumswohnungen hochziehen.«

Der Schiffer wirkte verbittert, aber das konnte ihm der Kieler Kommissar kaum abnehmen. »Gegen gutes Geld vermutlich.«

Die Miene des Seebärs hellte sich nicht auf. »Mag sein. Aber wenn man sein ganzes Leben am Fluss verbracht hat, dann stellt man sich die letzten Jahre bis zur Rente nicht mehr von 7 bis 15.30 Uhr an einen Schraubstock.«

Das konnte der Kommissar nachvollziehen. »Aber andere werden profitiert haben.«

»Nur wenige. Dafür hat sich das Preisgefüge in unseren Stadtteilen auf dem Ostufer deutlich erhöht. Bezahlbarer Wohnraum ist hier knapp geworden. Gerade jetzt wird zudem der Kieler Seefischmarkt aufwendig umstrukturiert, das wird die Preise noch einmal kräftig in die Höhe treiben. Kein Wunder, dass dieser Immobilienmakler hier ständig herumgeierte.«

Ob das gut oder schlecht war, konnte Hansen schlecht beurteilen. Immerhin wurde der Schwentinemündung neues Leben eingehaucht. »Handel schafft Wandel«, sagte sein Vater immer.

Allerdings lobte er auch ständig die Kameradschaft im Krieg. Seltsam war nur, dass viele seiner Kriegskameraden den Freitod wählten. Einer warf sich bei Flintbek vor den Zug nach Hamburg, ein anderer schluckte Unkrautvernichtungsmittel, und ein dritter ging ins Wasser. Wobei das mit der Eisenbahn vermutlich am schnellsten ging.

Die Stimme des Kapitäns störte seine Erinnerung. »Entschuldigung. Brauchen Sie mich noch? Ich muss noch ein wenig aufklaren. Die Zeit drängt.«

»Die Zeit drängt.« Hansen schüttelte abwesend den Kopf. Ja, sein Vater hatte eigentlich viel zu wenig vom Krieg erzählt, bevor es ihn im frühen Rentenalter dahingerafft hatte. Auf diesen kleinen quadratischen Schwarz-weiß-Fotos von ihm mit den gewellten Rändern waren immer nur qualmende und schlanke braun gebrannte Soldaten vor einer Artilleriestellung zu sehen, die vermutlich sein Vater als Oberfeldwebel leitete. War er es nicht, der die Befehle gab, auf was zu schießen war?

Ein seltsamer Tag heute für den Kieler Kommissar auf dem Kieler Ostufer, an dem ihn seine Vergangenheit so richtig eingeholt hatte.

Aber der Kieler Seefischmarkt – vielleicht war das von dem sympathischen Käpten Holm der Wink mit dem Zaunpfahl von der Fischtreppe. Kaum einen Kilometer entfernt. Kommissar Hansen machte sich unverzüglich auf den Weg.

Aufschlag

Kawumm. Dieses Mal tat Helge Stuhr der Aufschlag richtig weh, trotz des Fahrradhelms. Hilflos schaute er mit starrem Blick, bäuchlings auf der Haube eines Kleinwagens liegend, auf eine gesplitterte Windschutzscheibe, hinter der ihn ein Frauengesicht in den 50ern argwöhnisch musterte. Während er hilflos, auf der Kühlerhaube wie eine Schmeißfliege klebend, am Grübeln war, wie der Unfall überhaupt geschehen konnte, bequemte sich die Fahrerin erst nach einer gefühlten halben Ewigkeit aus dem Wagen. Eine Zierde ihres Geschlechts war sie allerdings nicht, und Barmherzigkeit war auch nicht ihre erste Tugend.

»Sind Sie eigentlich versichert, junger Mann? Das kann Sie recht teuer zu stehen kommen.«

Helge Stuhr verstand die Ansprache nicht. Nach einer schweißtreibenden Tour durch den Dänischen Wohld nach Eckernförde und zurück an der Ostsee bei viel Gegenwind hatte er, schwungvoll mit seinem Rennrad von der Holtenauer Hochbrücke herunterkommend, vor der Wirtschaftsakademie erfolgreich den kleinen abzweigenden Radweg anvisiert, der in die ruhigeren Straßen der Kieler-Wik führte. Deswegen hatte er noch einen Zahn auf seinem Drahtesel zugelegt, zumal er in der ruhigen Flensburger Straße freie Bahn hatte und lediglich die gegenüberliegende Straßenseite durch parkende Autos zugestellt war. Nur schwach konnte er sich erinnern, dass urplötzlich ein Kleinwagen wie ein wildgewordener Stier hinter einem der parkenden Fahrzeuge auf seine Fahrbahnseite gezogen war und ihn auf die Hörner genommen hatte.

Kraftlos hielt er mit schwachen Worten dagegen. »Eigentlich hatte ich auf meiner Straßenseite freie Bahn und damit Vorfahrt. Außerdem ist das hier eine Fahrradstraße.«

Die Fahrerin zeigte allerdings keinerlei Anzeichen von Reue. »Das mag ja sein. Aber durch Kampfradler wie Sie ist in unserem beschaulichen Wohnviertel inzwischen die blanke Anarchie ausgebrochen.«

Wenn Stuhr nur halbwegs fit gewesen wäre, dann hätte er der Frau jetzt ordentlich den Marsch geblasen. Aber in diesem Moment galten seine letzten halbwegs klaren Gedanken der Unfallursache.

»Warum sind Sie überhaupt auf meine Fahrbahn geschwenkt? Radler sind schließlich gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer und kein Freiwild.«

Einsicht zeigte die Frau nicht. »Nun hören Sie mal, Sie fahren mir eine dicke Beule in mein Fahrzeug und zerschmettern mit Ihrem schnittigen Carbonhelm meine Windschutzscheibe. Jetzt werden Sie auch noch frech. Haben Sie denn nie eine Fahrschule besucht?«

Das hatte Stuhr natürlich, er besaß sogar einen Motoradführerschein, wenngleich er sich auf einem Fahrrad und auf getrennten Radwegen sicherer fühlte. »Ich schon. Warum haben Sie mich frontal auf die Haube genommen? Waren Sie nie in einer Fahrschule?«

Die ältere Dame lächelte ihn belustigt an. »Selbstverständlich war ich das. Dort habe ich gelernt, dass man beim Ausscheren auf eine andere Straßenseite zunächst vorschriftsgemäß in den Rückspiegel schaut, um den Straßenverkehr hinter sich nicht zu gefährden.«

Stuhr musterte sie ungläubig aus seiner Schräglage. »Es gab aber keinerlei Straßenverkehr außer uns beiden bis auf einige parkende Fahrzeuge auf Ihrer Straßenseite. Sie haben mich wirklich nicht gesehen?«

Die Stimme der Frau wurde energischer. »Doch, sicher habe ich Sie gesehen. Wie ein Verrückter sind Sie auf Ihrem Rad durch unser beschauliches Wohnviertel gerast, obwohl hier oft unschuldige Katzen und Hunde über die Straßen streunen und bisweilen sogar Kinder auf der Straße spielen.«

Jetzt verstand Stuhr nichts mehr. »Sie haben mich also gesehen und nicht gebremst?«

Die Frau ließ sich nicht beirren. »Warum sollte ich? Schließlich hatten Sie genug Zeit, um abzubremsen oder mit Ihrem Rad auf den Bürgersteig auszuweichen. Sie müssen schon etwas besser auf sich aufpassen, wenn Sie meinen Ratschlag annehmen möchten.«

Stuhr stöhnte auf. »Aber ich hatte keine Chance. Wie kann man nur so unbarmherzig sein?«

»Ach, junger Mann. Glauben Sie mir, normalerweise bin ich als Krankenschwester vom alten Schlag die Barmherzigkeit in Person. Aber dreimal musste ich heute vor Ihnen schon andere Kampfradler durchlassen. Irgendwann war ich auch einmal dran. Schließlich kann ich schlecht unpünktlich zu meiner Schicht ins Krankenhaus kommen.«

Aufkommende Wut verdrängte immer mehr die Vernunft bei Stuhr, und wie ein verletztes Tier schrie er die rücksichtslose Autofahrerin an. »Aber das ist ungerecht. Ich hatte Vorfahrt.«

Die Stimme der Frau wurde spitzer. »Wer schreit, ist sowie nie im Recht. Das sollten Sie in der Schule schon gelernt haben. Zudem, merken Sie sich ein für alle Mal: Das ganze Leben ist ungerecht. Davon ganz abgesehen: Haben Sie keinerlei Respekt vor Frauen am Steuer?«

Den hatte Stuhr in diesem Moment herzlich wenig, zumal er immer noch bewegungsunfähig auf der Motorhaube des Kleinwagens klebte. Aus der Ferne erklang allerdings bereits göttliche Musik in seinen Ohren, die sich beim Näherkommen aber lediglich als schnöde Sirene eines Rettungswagens entpuppte. Wenig später bekam er noch mit, wie die gnadenlose Fahrerin den Rettungskräften erste Hinweise gab.

»Der verletzte Raser liegt auf meiner Motorhaube. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Arbeit ohne weitere Lackbeschädigungen hinbekämen. Die Windschutzscheibe ist wohl nicht mehr reparabel.«

Stuhr bemerkte gerade noch, wie ihn die Hilfskräfte sanft von der Motorhaube hoben und behutsam auf eine Trage legten. Dann wurde er auf einer metallenen Schiene in einen Rettungswagen hineingeschoben. Die vielen auf ihn einprasselnden Fragen verstand er zunehmend weniger: Krankenkasse? Unfallursache? Welches Klinikum?

Dann bekam er eine Infusion. In diesem Moment des Loslassens trieb Stuhr allerdings mehr die Sorge um sein demoliertes Rennrad an, bis bei ihm die Lichter ausgingen. Später drangen nur noch Satzfetzen unterschiedlicher Stimmen in sein Hirn, und es roch fies nach Äther.

»Herr Stuhr, bitte bleiben Sie bei uns …«

Bei uns bleiben? Quatsch, er war schließlich noch bei vollem Verstand.

»Herr Stuhr, können Sie mich hören?

Ja, natürlich konnte er das. Aber eigentlich wollte er nach diesem heftigen Aufprall und der unangenehmen Begegnung mit der resoluten Frau nur noch schlafen. Immer weiter entfernte aufgeregte Stimmen hinderten ihn daran.

»Das wird nicht gut enden. Schauen Sie nur aufs EEG.«

EEG. Maß da etwa jemand seine Gehirnströme? Wo, um Himmels willen, war Stuhr gelandet?

»Mein Gott! Schauen Sie nur. Die Werte werden immer schlechter.«

Wenn es einen Gott gab, dann würde der schon helfen, da war sich Stuhr ganz sicher. Aber zunächst wollte er einfach nur schlafen.

»Sollen wir nicht besser die Maschinen abschalten?«

Den letzten Satz hörte Stuhr zum Glück schon nicht mehr.

Krieg im Frieden

Wieder klingelte das Handy von Kommissar Hansen. Dieses Mal meldete sich der ihm zugeordnete Oberkommissar Stüber.

»Moin, Chef. Es gibt erste Erkenntnisse: Auf diesen Gernot Wille von der Fischtreppe ist erst vor wenigen Monaten ein schwarzer Jaguar F-Type mit Kieler Kennzeichen zugelassen worden: KI-GW 1969. Als Cabrio-Version, soll so um die 100.000 Euro kosten, wie unser Büroleiter Zeise schnell ermittelt hat. Vermutlich wird das Fahrzeug irgendwo in der Nähe der Fischtreppe abgestellt sein, denn mit einem Betonklotz am Bein ist es sicherlich schwer, zwischen Gas und Bremse zu wechseln. Ich habe schon eine Fahndung einleiten lassen.«

Hansen dankte Stüber nur kurz, weil er diese menschenverachtende, gefühllose Sicht der Dinge nicht gerne hörte. Natürlich wird man immer abgebrühter nach jahrzehntelangen kriminalpolizeilichen Ermittlungen, aber aus freiem Willen wird dieser Gernot Wille sich seine Todesursache kaum ausgesucht haben. Zumal die Worte des ihm zugeordneten Oberkommissars Stüber ihn wieder an seinen Vater erinnerten, der ihn in den späten 1950ern für Auslieferungen bisweilen zum Kieler Seefischmarkt in seinem VW-Käfer mitgenommen hatte.

»Schau nur, Konrad. Im Krieg wurden hier noch Torpedos gefertigt. Jetzt ist es schon wieder der größte Handelsplatz für Süßwasserfisch in Deutschland. So schnell kann es wieder bergauf gehen, auch wenn alles andere am Boden liegt. Das darfst du niemals vergessen.«

Der kleine Konrad nickte zwar, aber auf die vielen Trümmerflächen und zerstörten Bunker hätte er gerne verzichtet, die in Kindheit und Jugend seine Spielwiesen waren.

Die vertrauten »FISCHMARKT«-Buchstaben am Eingang auf einem Metallgatter über dem Pförtnerpavillon erkannte Hansen sofort wieder. Nach Fisch roch heute allerdings nichts mehr, denn inzwischen hatten sich alle denkbaren Formen von Kultur und Gewerbe in den weitgehend renovierten Gebäuden eingenistet. Erstaunt war er über die kunstvoll in die Ecken einiger Industriebauten eingelassenen Skulpturen, die er seinerzeit nicht bemerkt hatte. Mehr interessierte ihn heute allerdings das Schild eines Immobilienmaklers: Fürst & Co. Da war er vermutlich an der richtigen Adresse, um Nachfragen zu stellen. Gespannt betrat er das schlichte Büro. Ein kleiner bebrillter Kopf beäugte ihn skeptisch.

»Polizei?«

Hansen zog seinen Ausweis. »Volltreffer. Kripo Kiel. Schlechtes Gewissen?«

Vehement schüttelte das Männlein den Kopf. »Nein. Friedhelm Fürst mein Name. Ich kann mir schon denken, warum Sie hier auf dem Gelände sind.«

»Soso. Ich bin aber nicht nur auf dem Gelände vom Seefischmarkt, ich bin in Ihrem Büro gelandet. Können Sie sich denken, warum, Herr Fürst?«

Der kleine bebrillte Kopf musterte ihn. »Nein. Ich bin ein ehrbarer Geschäftsmann.«

Hansen wurde konkret. »Das ist zunächst eine erfreuliche Auskunft, Herr Fürst. Ansonsten: Ist Ihnen der Name Gernot Wille geläufig?«

Der kleine bebrillte Kopf war um eine Antwort nicht verlegen. »Ja. Selbstverständlich kennt man seine Konkurrenten in unserem Gewerbe.«

Der Kieler Kommissar bohrte nach. »Dieser Gernot Wille ist heute Morgen ermordet an der Fischtreppe gefunden worden. Hat sich das innerhalb Ihrer Kollegenschaft schon herumgesprochen?«

»Ja, natürlich. In unserem Gewerbe gibt es wie überall nicht nur Lichtfiguren. Aber bedenken Sie bitte, die Sache mit Gernot Wille ist grundsätzlich schlecht für unsere Immobiliengeschäfte, weil es insgesamt dem guten Ruf unserer Branche schadet.«

Hansen konnte diese Aussage wegen des allgemein bekannten Gerangels im Immobiliengewerbe nicht für bare Münze nehmen, zumal ihm nach mehr als 40 Dienstjahren ein guter Ruf für Immobilienmakler bisher nicht bekannt geworden war. Es galt nun, die feine Klinge zu ziehen.

»Immerhin ein Konkurrent weniger, Herr Fürst.«

Der wehrte mit erhobenen Händen ab. »Quatsch. Der Gernot Wille hat sich in der Schiffsmaklerei nicht recht durchsetzen können. Das ist ein international schwer umkämpfter lukrativer Markt, auf dem bisweilen mit harten Bandagen geboxt wird.«

Von der Materie verstand Hansen wenig, und so lockerte er die Zügel etwas. »Für Sie scheint das Immobiliengewerbe vermutlich auch nicht sonderlich attraktiv zu sein, wenn ich Ihr kleines Ladengeschäft so recht betrachte.«

Immerhin brachte das den kleinen bebrillten Mann zum Sprechen. »Ja, es ist momentan in der Tat noch eine recht bescheidene Location. Wir leben derzeit von kleineren Aufträgen, aber mein Kompagnon bringt ebenfalls ein wenig Geld in die Kasse.«

Einen Kompagnon konnte Hansen nicht ausmachen, und so bohrte er nach. »Warum ist Gernot Wille überhaupt in Wellingdorf aufgetaucht?«

Das kleine Männchen mit dem großen Namen wurde langsam zutraulich. »In der Tat, mit der Schiffsmaklerei lief es bei ihm nicht so gut. Sagte ich schon. So wollte Gernot aus dem Kieler Seefischmarkt ein Outlet-Center machen, was der Rat der Stadt Kiel zum Glück im letzten Moment verhindert hat.«

Endlich hatte dieser Fürst angebissen, und Hansen konnte zur Sache gehen. »Was erzählt man sich darüber denn noch so in Ihrer Branche?«

Der kleine Herr Fürst putzte sich erst einmal die Brille, was auf längeres Nachdenken schließen ließ. »Nun, es gab andere Konkurrenten, die ebenfalls etwas vom Kuchen abhaben wollten und härter drauf sind. Viele Sahnestücke wie den Kieler Seefischmarkt mit weitgehend europäischer Förderung für eine Sanierung gibt es nicht auf dem Ostufer. Was meinen Sie, warum wir hier unsere Geschäftsräume eröffnet haben?«

Wirtschaftlich gesehen war das nachvollziehbar, kriminalistisch gesehen weniger. Kommissar Hansen vollzog eine kleine Schreibbewegung. »Die Namen der Konkurrenten, Herr Fürst.«

Während der Makler zögerlich begann, erste Wörter auf einen kleinen Zettel zu schreiben, betrat eine langhaarige vierschrötige Gestalt mit einer schwarzen Augenklappe das Büro durch die Hintertür.

»Wir sind soweit, Fürst. In einer Stunde bin ich zurück.«

Jetzt erst bemerkte diese Gestalt den Kommissar und machte auf der Stelle kehrt, um überstürzt die Flucht anzutreten. Hansen bohrte sofort nach.

»Ein Mitarbeiter von Ihnen, Herr Fürst?«

Der schüttelte, mit dem Schreiben beschäftigt, den Kopf. »Nein, das ist mein Kompagnon vom Firmenschild.«

Ein ungewöhnliches Duo, befand Hansen. Dem bebrillten Männlein fiel das Schreiben offensichtlich immer schwerer, die Buchstaben waren förmlich am Tropfen. Kriminaltechnisch gesehen würden die Schreibergebnisse des feinen Herrn Fürst mit Sicherheit nicht ergiebig werden. Gelangweilt schaute Hansen aus dem Fenster des kleinen Geschäftsraums, bis ein Abschleppwagen vorbeifuhr. Auf dem Beifahrersitz der vierschrötige Kompagnon von Fürst, im Huckepack eine schwarze Limousine. Hansen dachte sich nichts dabei, bis er das Kennzeichen entzifferte: KI-GW 1969, und war das nicht ein schwarzes Jaguar-Cabrio neuesten Datums? Alle Alarmglocken schrillten beim Kommissar. Schnell trat er vor die Tür und alarmierte die Einsatzleitstelle mit dem Kennzeichen des Abschleppwagens.

Als er zurück ins Maklerbüro eilte, verriet ihm die offene Hintertür, dass Herr Fürst offensichtlich das Weite gesucht hatte. Hansens feine Spürnase hatte wieder einmal mitten ins Schwarze getroffen. Neugierig langte er nach dem kleinen Zettel auf dem Schreibtisch, aber anstelle von Namen hatte Fürst nur einen Satz aufgeschrieben.

»Mich kriegt ihr nicht, ihr verdammten Idioten.«

»Mich kriegt ihr nicht.« Wie oft hatte Hansen das schon gehört? Auch vom Krieg, von seinem Vater.

»Konrad, besonders schlimm war es in Jugoslawien. Da gab es Partisanen, die haben uns aus dem Hinterhalt beschossen. Einfach so. Warum haben sich diese feigen Gesellen uns nicht mit breiter Brust entgegengestellt?«

Nun konnte sich allerdings schon der kleine Hansen vorstellen, warum die Partisanen das nicht taten. Er traute sich aber lange nicht, seinen Vater zu fragen, inwieweit er in Hitlers perfide Mordmaschinerie verstrickt war. Erst im Lauf der Jahre konnte Hansen ein genaueres Bild darüber gewinnen, was sich im Krieg an Grausamkeiten zugetragen haben musste. Wobei sein Vater immer wieder versicherte, kein Blut an seinen Händen zu haben.

Hansen hatte nun alles auf die Reihe bekommen, was er bisher in diesem Mordfall ermitteln konnte. Ein toter und zwei flüchtige Immobilienhändler. Sein ihm zugeordneter Oberkommissar Stüber war inzwischen auch über alles informiert. Es war an der Zeit, sich daran zu erinnern, wie ihn sein Vater am Ende der Ausbildung im Dietrichsdorfer Polizeirevier abholte und ihm sogleich nach dem Einsteigen eine Bierflasche reichte.

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre, Konrad, das wirst du vermutlich auch gelernt haben. Aber nun ist alles glücklich überstanden. Jetzt bist du erwachsen. Glaube mir, es gilt immer, nach vorne zu schauen, auch in harten Zeiten. Genau wie ich im Krieg damals. Prosit.«

Einerseits war der junge Hansen froh, auf diese bequeme Art dem seinerzeit trostlosen Dietrichsdorf entfliehen zu können. Andererseits verrichtete das Bier seine belebende Wirkung, und er wagte erstmals, intensiver bei seinem Vater nachzubohren. »Papa, hast du im Krieg wirklich keinem einzigen Menschen ein Haar gekrümmt?«

»Nein, Konrad. Großes Ehrenwort, ich habe niemals jemanden getötet.«

Erleichtert nahm der junge Hansen einen kräftigen Schluck, bis sein Vater eine Erklärung nachreichte.

»Ich habe lediglich die Schießbefehle aus Berlin an meine Einheit weitergegeben.«

Mit einem gewaltigen Schluck leerte sein Vater die Bierflasche und gab Gas. Wie immer kamen sie auf dem rutschigen Blaubasalt in der Tiefen Allee kurz ins Schleudern. Schweigend setzten sie die Fahrt über die kleine Steinbrücke fort. Erst vor der Haustür wendete sein Vater sich ihm mit harter Miene wieder zu.

»Mensch, Konrad. Was hättest du denn damals an meiner Stelle getan? Wir hatten keine Wahl, alle mussten in den Krieg ziehen.«

Damals hatte Hansen seinen Vater nicht verstanden. Im Laufe des Lebens hatte er aber schon mitbekommen, dass es bisweilen schwierig sein kann, gegen den Strom zu rudern. Wie hätte er sich in einer Diktatur verhalten, wie in einem Krieg? Sein Handy klingelte. Waren Fürst & Co geschnappt worden? Das war ihm in diesem Moment egal. Was zählte schon ein schäbiger Mord gegen die bitteren Erkenntnisse aus den Erzählungen seines Vaters? Hansen schaute nicht einmal auf das Display.

Folter

Verständnislos schaute Ferdinand Fingerloos von der Spurensicherung auf sein Smartphone. Warum ging der Kollege Hansen nicht ans Telefon? Kurzerhand rief er den Hansen zugeordneten Kollegen Stüber an.

»Moin, Kollege Stüber. Was ist nur mit deinem Alten los? Wir reißen uns heute schon am zweiten Tatort den Arsch auf, bis uns das Blut aus den Fingern spritzt. Jetzt muss ich Hansen dringend sprechen, und er geht nicht ans Rohr.«

Oberkommissar Stüber versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Ruhig bleiben. Wir haben momentan parallel mehrere Fälle zu beackern. Offenbar sind sich nach ersten Erkenntnissen Immobilienhaie wegen der Geländesanierung des Kieler Seefischmarktes gegenseitig an die Gurgel gegangen.«

Der Leiter der Spusi wurde neugierig. »Und?«

»Ja was, und? Hansen vernimmt momentan auf dem Kieler Seefischmarkt Zeugen. Aber sag mal, seid ihr schon in der Wohnung von diesem Wille?«

»Ja, klar. Wir sind hier voll im Gange. Gibt es bei euch schon Namen?«

»Ja, allerdings noch keine Festnahmen. Ein gewisser Friedhelm Fürst, zwielichtiger Immobilienmakler auf dem Seefischmarkt. Der ist abgehauen genau wie sein Komplize, der sich das Fahrzeug von diesem Gernot Wille unter den Nagel gerissen hat. Den Namen von dem Kompagnon kennen wir noch nicht, aber das müsste schnell im Handelsregister herauszufinden sein. Habt ihr von der Spusi schon etwas herausgefunden?«

»Ja und nein. Dieser Gernot Wille lebte nach Auskunft seiner Nachbarschaft alleine. Den Aussagen nach hatte er allerdings oft Besuch unterschiedlicher Frauen, teilweise zweifelhafter Herkunft.«

Stübers Stimme wurde mahnend. »Das ist kein Delikt, Pferdi. Weiter.«

»Natürlich nicht, vielleicht ein Hinweis. Verwandtschaft ist so weit nicht bekannt. Seine Segeljacht liegt vermutlich keine 50 Meter entfernt von seiner Loggia im Millionärsbecken vom Kieler Jachtklub.«

Jetzt pfiff Stüber durch die Zähne. »Mensch, da hätte ich gerne mein Büro.«

Den Zahn zog ihm Fingerloos sofort. »Bist du verrückt? Da segeln die Reichen im Sommer den ganzen Tag munter vor deiner Nase hin und her, und du musst Dienst schieben. Ich würde das als Folter in Reinkultur bezeichnen!«

Kollege Stüber lachte. »So kann man das auch sehen, vermutlich hast du recht. Dann wünsche ich euch Waidmannsheil.«

»Waidmannsdank und Tschüss.«

Fingerloos beendete das Gespräch. Jagdglück konnte er heute gut gebrauchen, zumal Polizeidirektor Magnussen seine Truppe von der Spusi immer wieder misstrauisch beäugte. So trommelte er seine Leute zusammen, die in unterschiedlichen Räumen tätig waren.

»Hört mal zu, neue Erkenntnisse. Sucht vorrangig in den Unterlagen nach Papieren, die auf Geschäfte mit anderen Maklern hinweisen. Nach einem Immobilienmakler Friedhelm Fürst ist zudem in diesem Zusammenhang gerade eine Fahndung ausgeschrieben worden wegen Mordverdacht. Also Augen auf und frisch ans Werk!«

Während sich seine Truppe wieder in der Wohnung zur Spurensuche verteilte, genoss Fingerloos den wunderbaren Blick auf die sonnenbeschienene Kieler Innenförde, auf der sich zahllose Boote tummelten. Auf der davor liegenden Uferpromenade ertüchtigten sich Jogger, Radler und Skateboarder. Es war ein buntes Bild, das plötzlich von dem Erscheinen eines Kollegen gestört wurde.

»Hier, Pferdi. Wir sind fündig geworden. Wir haben die Visitenkarte von einem Armin Sell gefunden, offenbar ein befreundeter Kieler Schiffsmakler. Wohnt in Kiel-Düsternbrook weiter oben in der feinen Bismarckallee.«

Fingerloos verstand nicht, worauf sein Mitarbeiter hinaus wollte. »Ja, und?«

Der begann jetzt aufgeregt mit zwei Papieren zu wedeln. »Zwei Kontrakte. Ein Schiffsankauf von diesem Armin Sell über zehn Millionen Euro. Im nächsten Geschäftsjahr der Rückverkauf der gleichen Luxusjacht für acht Komma fünf Millionen an denselben Schiffsmakler.«

Fingerloos pfiff erneut durch die Zähne. »Nicht schlecht. So kann Gernot Wille einen Verlust beim Schiffshandel von ein Komma fünf Millionen Euro beim Finanzamt geltend machen.«

Sein Mitarbeiter hatte sich aber noch mehr Gedanken gemacht. »Jetzt nicht mehr. Zudem bezweifle ich, dass es das Schiff jemals gegeben hat.«

Der Leiter der Spurensicherung verstand nicht recht. »Wie kommst du denn darauf?«

Der Kollege ließ seinen Vermutungen freien Lauf. »Na, schau dich hier einmal richtig um. Das ist zwar alles recht gediegen, nach Luxus pur sieht mir das allerdings nicht aus. Vor dieser Wohnung liegt die viel von Fahrzeugen frequentierte Kiellinie, dahinter vom Millionärsbecken her das Klappern der Drahtseile im Wind an den Alumasten der Segeljachten. Dazu noch das ständige Tuten vieler einlaufender Kreuzfahrtschiffe und Fördedampfer nicht nur vor dem An- oder Ablegen. Direkt gegenüber auf der anderen Seite der Kieler Förde liegt das neu errichtete Küstenkraftwerk. Da wird mit Sicherheit nicht nur reiner Sauerstoff aus den Schornsteinen kommen.«

Fingerloos fand diesen anderen Blickwinkel erstaunlich, den er dem bisher eher blassen Kollegen nicht zugetraut hätte. Vermutlich zu Unrecht.

»Das kann gut sein. Genau genommen ist das hier ein Zweckbau in Backsteinoptik mit 20 bis 30 kleineren Apartments. Gedacht offensichtlich für Segler, die nachts nicht unbequem an Bord schlafen wollen. Luxus pur sieht anders aus.«

Der Kollege verwies auf die Visitenkarte. »Ja, Bismarckallee.«

Fingerloos zückte sein Handy und wählte die Nummer von Stüber, der im Gegensatz zu seinem Chef artig das Gespräch annahm.

»Moin. Neue Erkenntnisse, Pferdi?«

»Ja, absolut. Wie haben das Apartment von diesem Wille durchforstet und sind auf eine merkwürdige Geschäftsverbindung mit einem Armin Sell gestoßen, der in der Bismarckallee residiert. Wir haben Papiere gefunden, welche den Anschein erwecken, dass Geschäfte in größerem Umfang vorgetäuscht wurden, um den Fiskus zu erleichtern. Wäre nicht schlecht, wenn ihr der Sache einmal nachgehen würdet.«

»Okay. Dann mache bitte Fotos von den Unterlagen und schicke sie uns herüber. Der Alte wollte gleich hereinkommen, und es ist noch ein wenig hin bis zum Feierabend. Wir knöpfen uns diesen Sell heute noch vor, es ist ja nicht weit zur Bismarckallee.«

Fingerloos begann zu frotzeln. »Feierabend, das ist ein Fremdwort für uns bei der Spurensicherung. So, wie ihr arbeitet, Stüber, möchte ich nur ein einziges Mal in meinem Leben Urlaub haben.«

Mit dem abrupten Ende des Telefonats hatte Fingerloos gerechnet und lachte sich ins Fäustchen. Lieber einen Freund verlieren als eine gute Pointe.

Hausbesuch

Nach dem Klingeln an der Einfahrt knarrte eine harte Stimme aus dem Lautsprecher. »Haben Sie einen Termin?

»Wir brauchen keinen. Kommissar Hansen, Kripo Kiel. Mein Kollege Stüber und ich möchten Ihnen einige Fragen stellen.«

Das Tor öffnete sich wie von Geisterhand. Viel versprach sich Hansen nicht von der Befragung des Kieler Schiffsmaklers, zumal es keinerlei stichhaltige Beweise für mögliche Straftaten gab, sondern lediglich Vermutungen. Auf die ersten vagen Fragen gab dieser Sell zunächst bereitwillig Auskunft. Mitten im Gespräch bat er allerdings um einen Gang zur Toilette. Das nutzte Hansens zugeordneter Kollege Oberkommissar Stüber, kurz die Villa zu verlassen, um eine Kamera für eine mögliche Beweissicherung aus dem Dienstfahrzeug zu holen. Kommissar Hansen genoss den wunderschönen Blick durch das Panoramafenster dieser noblen Villa in der Kieler Bismarckallee. Von hoher Warte aus erfreute er sich am Panorama der sonnenüberfluteten Kieler Förde, auf der viele farbenfrohe Schiffe und Boote aller Art kreuzten.

Aber gerade, als eines der riesigen Traumschiffe mit Tausenden von Passagieren in die Förde einlief, verspürte Kommissar Hansen plötzlich den kalten Lauf einer Pistole an der rechten Schläfe.

»Keine Bewegung, sonst knallt es! Ich fackle nicht lange.«