Endstation Ostsee - Kurt Geisler - E-Book

Endstation Ostsee E-Book

Kurt Geisler

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Beschreibung

Helge Stuhr ermittelt für Kommissar Hansen im Kieler Problemstadtteil Gaarden, in dem er aufgewachsen und aus dem er vor 30 Jahren regelrecht geflohen ist. Bei seinen verdeckten Ermittlungen lernt Helge das Viertel noch einmal völlig neu kennen. Um unerkannt recherchieren zu können, passt er sich den üblichen Gepflogenheiten des Stadtteils an. Dabei rutscht Helge schnell tief hinein in einen Strudel von Mord, Totschlag und Drogenhandel - und ihm wird klar, dass man weder vor sich noch vor der eigenen Vergangenheit fliehen kann.

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Kurt Geisler

Endstation Ostsee

Kriminalroman

Zum Buch

Leben am Abgrund Über dem Weihnachtsmarkt in der Kieler Innenstadt kappt Holger Schrock, ein Sozialfall aus dem mit negativem Ruf behafteten Stadtteil Gaarden, die Befestigungen von einigen mannshohen Weihnachtsmannfiguren aus Plastik. Anschließend springt er selbst vom Dach des Kaufhauses in den Freitod. Kommissar Hansen kann sich darauf zunächst keinen Reim machen, doch dann flieht ein junger Mann vom Unglücksort vor der Polizei über die Hörnbrücke zum Ostufer. Bei ersten Ermittlungen in der Wohnung des Toten wird schnell klar, dass die Kripo vor einer Mauer des Schweigens stehen wird, denn in diesem Stadtteil hält man zusammen.

In seiner Not wendet sich Kommissar Hansen wieder einmal an Helge Stuhr, der in dem Kieler Problembezirk Gaarden geboren wurde und die Verhältnisse dort bestens kennen muss. Der ist allerdings todunglücklich über den Auftrag. Dennoch lässt er sich überreden und rutscht tief hinein in einen Strudel von Mord, Totschlag und Drogenhandel.

 

Der Kieler Autor Kurt Geisler ist eingefleischter Schleswig-Holsteiner. Nach seinem Studium der deutschen, englischen und dänischen Sprache im Land zwischen den Meeren arbeitete er lange Zeit als Lehrer, bis er ins Bildungsministerium berufen wurde. Schleswig-Holstein und seine Menschen hält er nicht nur im Wort, sondern auch im Bild fest, was seinen Blickwinkel für das literarische Schaffen geprägt hat.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wilm Ihlenfeld / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6590-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Abtanz

Lauthals fluchte er wegen der verdammten Kälte. Der eiskalte Wind pfiff ihm unangenehm um die Ohren. Sein flatteriges, aber äußerst günstig erstandenes Weihnachtsmannkostüm war viel zu dünn, um ihm gegen die Kälteschübe irgendeinen Schutz bieten zu können. Nun gut, er würde sich erkälten, aber das war letztendlich auch egal. Der auf ihn zustiebende Schnee ließ die Kletterei auf dem glatten Untergrund trotz seiner Springerstiefel zu einer gefährlichen Schlitterpartie geraten, denn ein Geländer gab es an der Dachkante nicht.

Zweifelsohne befand sich Holger Schrock am Tiefpunkt seines Daseins: Er war blank und in seine Wohnung wollte er auch nicht mehr zurück. Aber heute würde er ein Signal für seine Kumpel setzen. Sie würden schon begreifen, dass es ihnen als Nächste an den Kragen gehen würde.

Endlich hatte er es geschafft, sich zu einem der vielen beleuchteten übermannsgroßen Plastikweihnachtsmänner vorzukämpfen, die den ganzen Advent über auf dem großen Kieler Einkaufstempel über die Weihnachtseinkäufer Wacht hielten. Verärgert musste er feststellen, dass diese Plastikfiguren mit teuflisch vielen kleinen Drähten gesichert waren. Vorsichtig lugte er die fünf Stockwerke zum Weihnachtsmarkt auf dem Holstenplatz hinunter, der trotz der ungemütlichen Witterung erstaunlich gut besucht war.

Früher, als er noch in der Stadt wohnte und die Taschen voller Geld hatte, hatte er dort ab und zu gefeiert. Damals genoss er es sehr, wenn er mit seiner Moni im Arm seinen erstaunten Freunden beim Glühwein erklärte, wie herum sich die Welt drehte.

Immerhin hatte Schrock studiert. Nur die letzte Prüfung, die hatte er nicht mehr absolviert. Schließlich wusste er genau, dass die akademische Welt einen Bastard wie ihn niemals an ihre Futtertröge heranlassen würde. Die feinen Herren hielten allesamt fest zusammen.

So musste er sich notgedrungen in einem Elektrohandel verdingen. Kein Traumjob, aber wenigstens konnte er sich mit Moni ein halbwegs feines Leben leisten. Gemeinsam schafften sie sich ihren kleinen französischen Freund an, einen Renault R5. Die vielen Ausflüge mit ihr durch die Holsteinische Schweiz waren fantastisch.

Schrock überkam Wehmut. Seine geliebte Moni. Irgendwann wollte sie ihn nicht mehr. Knall auf Fall musste er ausziehen, obwohl sie schon so lange zusammenlebten. Eine Frau wie Monika hatte er nicht wieder gefunden. Auf der Arbeit schmissen sie ihn bald raus, nur weil er öfter mal durchgefeiert hatte. Kein Wunder, dass der Laden zwei Jahre später in die Grütze ging.

Nun stand er allein auf seiner Mission fünf Stockwerke hoch über dem Kieler Weihnachtsmarkt. Und er wusste genau: Wenn man zu lange in einen Abgrund blickte, dann schaute irgendwann der Abgrund auch in einen hinein.

So nestelte er trotz seiner durchgefrorenen Finger einen kleinen Seitenschneider aus der Tasche und wandte sich den Sicherungsdrähten zu, um den ersten Weihnachtsmann abzukneifen. Knacks. Der begann sofort, unruhig an den verbliebenen Befestigungen zu tänzeln. Schnell folgten der zweite und dritte Draht, und nun zappelte die Plastikfigur nur noch an dem dünnen Kabel, welches die Beleuchtung speiste. Hasserfüllt trat Schrock mit seinen Springerstiefeln zu, und schon stob die Plastikfigur, getrieben durch den heftigen Wind, wie ein Geschoss in die Tiefe.

Schadenfroh vernahm Schrock das aufgeregte Hupkonzert auf der belebten Straßenkreuzung unter ihm, und selbst auf dem Weihnachtsmarkt schien Unruhe aufzukommen. Der Absturz der Plastikfigur war nicht unbemerkt geblieben. Er konnte sicher sein, dass die Polizei gerufen werden würde, um für Ordnung zu sorgen.

Das war allerdings nur der erste Teil seines Plans. Die Hornochsen auf dem Weihnachtsmarkt sollten heute noch ihr blaues Wunder erleben. Die Kälte war ihm jetzt scheißegal, und so machte er sich eifrig an dem nächsten Weihnachtsmann zu schaffen. Knack, knack, knack, und dann der nächste Tritt in den Hintern. So wie ihm selbst ständig der Arsch versohlt wurde.

Sein ganzes Leben war er dazu verdammt, Steine den Berg hinaufzurollen. Immer wieder trat ihn das Leben mit beiden Füßen in die Fresse. Und wenn man erst einmal blutete, dann kamen die Krokodile. All das, was er in den letzten Jahren hinter sich gebracht hatte, war nicht mehr durch Handauflegen zu heilen.

Immer stärker war in den letzten Tagen sein Entschluss gereift, nicht mehr auf Zehenspitzen zu schleichen. Bei seinem Abtanz heute würde er sich gerademachen, ein Zeichen setzen. Niemand könnte ihn von seinem Plan abhalten. Sollten die Bullen doch versuchen, ihn vom Dach zu holen. Sie würden in jedem Fall den Kürzeren ziehen.

So oder so.

Der letzte Weihnachtsmann

An diesem Freitagabend war der Holstenplatz außergewöhnlich gut besucht. Trotz des ungemütlichen Wetters lachten die Menschen in den geschützten, mit Tannenzweigen verzierten Glühweinständen, und aus manchen Schornsteinen der vielen bunt erleuchteten Holzbuden stiegen Qualm und Rauch hoch in den kalten Winterhimmel. Die fröhliche Feierabendstimmung zum Wochenende hin schien über den gesamten Festplatz zu strömen.

Für Polizeihauptmeister Frisch in der Überwachungszentrale der Kieler Polizei war das bunte Monitorbild über den brodelnden Weihnachtsmarkt schöner anzusehen als irgendein beliebiger Adventskalender. Von der Größe her natürlich nichts gegen den Nürnberger Christkindlmarkt, obwohl Frisch dieses überschätzte Fossil nicht sonderlich mochte. Vielleicht lag es aber auch an dem feinen fränkischen Dauerregen, der seinerzeit an einem trüben Wintertag seine rote Zipfelmütze schnell durchtränkt hatte.

Mit einem stimmigen Konzept hatte sich der Kieler Weihnachtsmarkt in den letzten Jahren mit Feierzonen an verschiedenen Orten zu einem beliebten und belebten Fest in der Adventszeit entwickelt. Das tat besonders der vorweihnachtlichen Stimmung auf dem Holstenplatz gut, denn genau genommen bildete lediglich der ehrwürdige Backsteinbau der Landwirtschaftskammer einen halbwegs angemessenen Rahmen für diesen Bereich des Kieler Weihnachtsmarkts. Ansonsten war der Platz auf den beiden Stirnseiten von nüchternen Stahlbetonbauten begrenzt, dem Hotel Astor und auf der gegenüberliegenden Seite einem fünfgeschossigen Warenhauskomplex, der den Eingang zu dem Einkaufszentrum Sophienhof bildete.

Auf der gegenüberliegenden Längsseite des Holstenplatzes versperrte der langgestreckte Klinkerbau des Neuen Rathauses den Blick auf den Kieler Hafen mit seinen Schiffen und Kränen. Die davorliegende, viel befahrene vierspurige Straße wurde bereits zu Beginn der 50er-Jahre breit angelegt, weil in Kiel beim Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadtkerns zum ersten Male in Deutschland die räumliche Trennung von Verkehr, Einkaufen und Wohnen umgesetzt werden sollte. Folgerichtig wurde die zerstörte, an der Landwirtschaftskammer beginnende Holstenstraße in eine der ersten Fußgängerzonen in Deutschland umgewandelt. Neben dem imposanten Ziegelbau wurden seinerzeit in aller Eile zahllose gesichtslose Geschäftshäuser hochgezogen, die von der architektonischen Tristesse der Nachkriegszeit zeugten. Dass Kiel im Dezember 1953 mit der Freigabe seiner Fußgängerzone der Stadt Kassel mit einem Monat Verzug den Titel als erste Fußgängerzone Deutschlands überlassen musste, war nur ein kleiner Wermutstropfen am Rande der Stadtgeschichte. Viel ärgerlicher war, dass die Holstenstraße durch das Trennungskonzept jahrzehntelang nach Feierabend wie ausgestorben war.

Jetzt herrschte auf dem Weihnachtsmarkt wieder buntes Treiben. Neben den vielen erleuchteten Buden auf dem Platz war auch das große Warenhaus weihnachtlich dekoriert. An der vorderen Glasfront prangte vor Tausenden kleinen funkelnden Lichtern eine riesengroße rote Schleife, und auf dem sich über die ganze Front erstreckenden Vordach des Restaurants im fünften Stock saßen wie jedes Jahr 24 lebensgroße, von innen beleuchtete Plastikweihnachtsmänner zu Werbezwecken einträchtig nebeneinander, die mit beiden Händen die Besucher des Weihnachtsmarktes grüßten.

Jedenfalls bis eben, denn Frisch hatte auf seinem Monitor gerade entdeckt, dass der erste dieser Weihnachtsmänner an der Ecke zur Straßenkreuzung hin entschwunden war. Er alarmierte sofort die Falkwache am Alten Markt, damit ein Streifenwagen nach dem Rechten sehen würde. Vielleicht hatte der aufkommende Wind die Figur aus der Verankerung gerissen, die jetzt möglicherweise eine Gefahr für den Straßenverkehr bildete. Der Polizeihauptmeister beugte sich vor, um aus dem Fenster zu blicken. Immer mehr dunkle, graue Wolken jagten über sein Dienstgebäude, und inmitten des Regens tänzelten zunehmend Schneeflocken durch die Luft. Es schien kälter zu werden.

Sein Blick schwenkte zurück zum Monitor. Jetzt war bereits der zweite Weihnachtsmann verschwunden. Frisch vergrößerte das Bild. Ein großer, schlanker Mann in einem roten Weihnachtsmannkostüm mit langem gelocktem blondem Engelshaar machte sich bereits an der dritten Figur zu schaffen. Der Polizeihauptmeister konnte gut verfolgen, wie der schlaksige Mann auf dem Dach mit einer Zange die Verankerungen durchkniff. Der starke Wind fegte die Plastikfigur sofort vom Dach, und der Mann im Kostüm begab sich in aller Seelenruhe zur vierten Figur.

Einige Menschen auf dem Weihnachtsmarkt hatten das Geschehen in der luftigen Höhe inzwischen bemerkt, denn sie winkten aufgeregt mit den Armen, um auf die Szenerie auf dem Dach hinzuweisen. Andere Weihnachtsmarktbesucher schienen das für einen Werbegag zu halten, denn bei dem Fall jeder weiteren abgetrennten Figur schlugen sie sich auf die Schenkel und lachten schadenfroh.

Als nur noch sechs Weihnachtsmänner auf ihrem Platz saßen, erreichte die Besatzung des Streifenwagens das Warenhaus. Das zuckende Blaulicht vom Dach des Polizeifahrzeugs bildete einen schönen farblichen Kontrast zu den vielen gelben und roten Lichtern der hölzernen Verkaufsbuden.

Der Fahrer des Streifenwagens schien von der Straße aus den als Weihnachtsmann verkleideten Akteur zum Einlenken aufzurufen. Der kniff aber ungerührt weiter die auf ihren Sitzen verbliebenen Weihnachtsmänner ab. Als der letzte Weihnachtsmann zur Straße hinunterstürzte, begann die Menge auf dem Weihnachtsmarkt zu applaudieren. Das Spektakel schien vorüber.

Der Mann im Weihnachtsmannkostüm trat an die Dachkante und hob seine Arme wie ein Priester. Wollte er sich bei der Menge bedanken? Was für ein seltsamer Spaßvogel!

Am Monitor konnte Frisch mitverfolgen, dass keine 20 Meter hinter ihm ein Polizist das Dach des Warenhauses betrat und sich nach vorn zur Brüstung schlich, um den falschen Weihnachtsmann einzukassieren.

Die Menge begann zu brodeln, als sie den uniformierten Ordnungshüter am Dachrand auftauchen sah. Das Schauspiel nahm an Dramatik zu, denn wie in einem Marionettentheater versuchten die Besucher des Weihnachtsmarktes händefuchtelnd, den Kasperle vor dem bösen Polizisten zu warnen. Der verkleidete Mann unternahm aber keinerlei Anstalten zu flüchten. Seelenruhig winkte er mit beiden Händen noch einmal kurz der Menge zu, bevor er sich langsam nach vorn fallen ließ.

Der entsetzte Polizeikollege auf dem Dach musste machtlos den Sturz des letzten Weihnachtsmannes in die Tiefe verfolgen. In diesem Moment wünschte sich der erfahrene Polizeihauptmeister Frisch anstelle seines Monitors einen Adventskalender mit einer heilen Welt. Eine tiefe Sehnsucht stieg in ihm hoch nach verschneiten Marktplätzen mit geschmückten Häusern und Läden.

Polizeihauptmeister Frisch besann sich schnell wieder und gab den Sachstand flink in seinen Computer ein. Das würde sicherlich ein Fall für Hauptkommissar Hansen werden, schätzte er. Der hatte in Kiel in den letzten Jahren die meisten heißen Eisen aus dem Feuer geholt.

Dienstpflichten

Es war schon spät geworden am Freitagnachmittag für Kommissar Hansen. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen, denn viele Kollegen waren erkrankt. Sein Tagesgeschäft hatte ihn nicht so mitgenommen, aber diese ständigen Vertretungen für Kollegen aus anderen Sachbereichen, die machten ihm zu schaffen.

Geärgert hatte er sich zudem, weil seine Ernennung zum Polizeirat zurückgenommen worden war, weil er zu dicht an der Pensionsgrenze war. Büroleiter Zeise hatte falsch gerechnet. Dazu kam noch das triste Wetter der ersten Wochen im Advent. In diesem Jahr war er noch nicht ein einziges Mal auf dem Weihnachtsmarkt gewesen.

Heute roch es förmlich nach Schnee, und Kommissar Hansen hatte endlich Feierabend. Das war der perfekte Moment, die Stimmung auf dem Weihnachtsmarkt einzufangen. Er freute sich auf den Glühwein, und vielleicht würde er sogar Stuhr treffen. Helge Stuhr, ein Frühpensionär der Landesregierung, eine ehrliche Haut. Er hatte Hansen oft schon verdeckt in Fällen geholfen, bei denen er mit seinen polizeilichen Mitteln nicht weiterkam, denn Stuhr hatte immer noch gute Kontakte in die Landesverwaltung hinein.

Gerade wollte der Kommissar sein Handy einstecken, als eine Eilmeldung auf seinem Monitor eintraf: »Todessturz bei Polizeieinsatz an der Kreuzung Ziegelteich / Sophienblatt«. Er strich den Glühwein aus seinen Gedanken und bestellte den ihm zugeordneten Oberkommissar Stüber zu seinem Dienstfahrzeug. Schnell setzte Kommissar Hansen noch das Blaulicht auf das Autodach, und dann jagten sie schon mit hohem Tempo Richtung Innenstadt.

Jetzt begann es richtig zu schneien, aber Hansen dachte überhaupt nicht daran, die Geschwindigkeit zu drosseln. Als sie den Ziegelteich erreichten, war der gesamte Bereich vor dem Warenhaus mit einem rot-weiß gestreiften Plastikband gegen Neugierige abgeriegelt.

Kommissar Hansen parkte sein Dienstfahrzeug mitten auf der Fahrbahn vom Ziegelteich, die das Warenhaus vom Weihnachtsmarkt trennte. Hastig sprangen sie aus dem Fahrzeug. Hier wehte der Wind nicht so stark, und so wurde der Straßenzug allmählich von einer leichten Schneedecke überzogen. Pferdi Fingerloos von der Spurensicherung schlitterte in Lackschuhen auf ihn zu und grüßte kurz.

Hansen sah ihn erwartungsvoll an: »Moin, Pferdi. Erste Ergebnisse?«

»Vor dem Tod werden seine Gesichtszüge ebenmäßiger gewesen sein, dafür geht es ihm jetzt vermutlich besser.«

Kommissar Hansen blickte den Kollegen von der Spurensicherung skeptisch an. »Sonst noch keine Erkenntnisse?«

»Doch. Der Tote ist Holger Schrock, 44 Jahre alt. Wohnhaft zuletzt in Gaarden in der Elisabethstraße. Er ist oft wegen kleinerer Sachen aufgefallen, meistens unter Einfluss von Alkohol. Er konnte mit dem Zeugs nicht besonders gut umgehen, das behaupten jedenfalls unsere Kollegen vom 5. Revier.«

Hansen ließ sich keine Regung anmerken, aber Gaarden war ein ganz spezieller Stadtteil auf dem Kieler Ostufer, der seit jeher eng mit der deutschen Geschichte und den beiden Weltkriegen verknüpft war. Freiwillig ging kein Kieler dorthin, obwohl es durchaus üblere Ecken in der Landeshauptstadt gab. Warum musste die Wohnung des Toten ausgerechnet in Gaarden liegen? Die Bewohner waren ein verschworenes Völkchen. Sie bemerkten sofort, wenn ein Fremder in ihrem Stadtteil herumschnüffelte.

Fingerloos drehte sich um und schlitterte auf eine Folie zu, die einen Menschen abdeckte. Während er auf den Toten zeigte, begann er zu singen. »Vom Himmel hoch, da komm ich her …«

Typisch Fingerloos. Hansen kommentierte dessen Schlittereinlage trocken. »Die Tanzschuhe an, Pferdi?«

»Den heiligen Boden, den meine Kundschaft küsst, kann ich schlecht mit Pantoffeln entehren.«

Fingerloos hob die Folie an. Die langen graublonden Haare um die harten Gesichtszüge des Toten wirkten wie Engelshaar. Trotz des gewaltigen Sturzes vom Dach des Warenhauses hatte die Leiche auf den ersten Blick erstaunlich wenige Blessuren abbekommen oder das Blut konnte sich am Körper nicht gegen das Rot der Verkleidung durchsetzen. Der Arzt würde das bald feststellen. Andererseits war nicht zu übersehen, dass die Beinknochen des Opfers die Schuhsohlen durchbohrt hatten.

Hansen bedeutete Fingerloos, die Leiche schnell wieder zuzudecken, weil Unruhe an der Absperrung zum Weihnachtsmarkt entstand. Der Kollege verwies aber auf einen drahtigen Mann in einem dunkelblauen Kapuzenpullover und einer abgewetzten Jeans, der die Polizeisperre überwunden hatte und auf sie zueilte. Vor dem Toten hielt er erschrocken inne.

»Mensch, Holgi, das gibt es doch nicht. Was machst du denn für Sachen?«

Kommissar Hansen musterte den Mann. Er mochte um die 40 sein, und der Pullover war ein Fanartikel von Holstein Kiel. »Deutscher Meister 1912« stand auf der Brust. Die Kapuze war zum Schutz gegen die Kälte stramm festgezurrt, sodass vom Gesicht nicht viel zu erkennen war. Die restliche Kleidung wirkte abgewetzt, und es strömte leicht fauliger Geruch herüber. Ein Gaardener?

Der Kommissar sprach ihn behutsam an. »Sie kannten Herrn Schrock?«

Der Mann mit dem Kapuzenpullover schüttelte abwesend den Kopf. Plötzlich drehte er sich wie von der Tarantel gestochen um und flüchtete über einen der den Ziegelteich abschottenden Streifenwagen Richtung Hauptbahnhof. Fingerloos nahm sofort die Verfolgung auf, aber schon nach wenigen Schritten lag er mit seinen eleganten Schuhen bäuchlings im Schnee.

Oberkommissar Stüber zückte seine Dienstwaffe, aber Schrocks Freund wurde sofort von der neugierigen Menge verschluckt. Vermutlich flüchtete er Richtung Hafen.

Hansen fluchte lauthals. Dieser faulige Geruch. Sicherlich würde der Bursche über die Hörnbrücke nach Gaarden fliehen. Wenn er dort erst einmal untergetaucht wäre, dann würde er nur schwer wieder aufzufinden sein. Er wies die Besatzungen der Streifenwagen an, dem Flüchtenden zur Hörnbrücke zu folgen und ihn aufzuspüren. Dann eilte er zu seinem Dienstfahrzeug, um das 5. Revier aufzufordern, die Ostuferseite der Hörn abzusperren. Er gab eine kurze Personenbeschreibung durch, bevor er sich erschöpft in den Fahrersitz fallen ließ. Warum floh der Mann?

Missmutig wartete Hansen am Funkgerät auf erste Informationen, aber Erfolgsmeldungen blieben aus. Ein unschönes Gefühl stieg im Kieler Kommissar auf, dass der Fall lang und schmutzig werden würde.

Wieder fluchte Hansen. Er selbst verspürte wenig Lust, in Gaarden zu ermitteln und sich eine Abfuhr nach der anderen einzuhandeln. Sollte er nicht lieber seinen Oberkommissar Stüber dorthin schicken? Nein, der fühlte sich nach seiner Heirat im letzten Monat mit der Witwe Eilenstein als Hotelbesitzer. Mit seinem Gehabe würde er auf dem Ostufer auffallen wie ein bunter Hund.

Wer könnte in Gaarden unbemerkt ermitteln? Ein echter Gaardener Jung musste her. Nur wer?

Helge Stuhr! Der war dort aufgewachsen und hatte ihm mehrfach von einschlägigen Erlebnissen aus dieser besonderen Ecke von Kiel berichtet. Stuhr könnte sich in diesem Stadtteil unauffällig umhören.

Hansen musste nur zusehen, wie er ihn am besten zu fassen bekam.

Gaardener Jung

Sein bester Freund Holgi war abgestürzt, wie so oft in den letzten Jahren. Dieses Mal aber vom Dach des Einkaufstempels und er war eindeutig tot. Natürlich war es dumm gewesen, sich durch die Polizeiabsperrung zu drängen, um sich zu vergewissern, dass es sich um Holger handelte.

Als die Offiziellen begannen, ihm Fragen zu stellen, wurde es eng. Maik Herder musste abhauen mit dem Stoff in der Hose. Zwar nur wenig mehr als zehn Gramm, aber er war nicht gemeldet, und ohne festen Wohnsitz hätten ihn die Bullen sofort eingebuchtet.

Also nichts wie weg. Den Lauf über einen Polizeiwagen hatte sich Maik Herder im Kino abgeguckt, wie so manches andere im Leben auch. Richtig gelernt hatte er ja nichts. Aber selbst in diesem Hollywoodfilm hatten sich die Bullenschweine nicht getraut, ihre Knarren zu ziehen, weil sie perplex waren und zudem nicht einfach in die Menschenmenge ballern konnten.

Er blickte sich hektisch um, aber hinter ihm waren keine Bullen auszumachen. Er wollte zurück nach Gaarden, auf schnellstem Wege. Zum Glück war heute Abend die reparaturbedürftige dreigliedrige Faltbrücke über die Hörn zum Ostufer nicht hochgezogen, die für Fußgänger und Radler das Ende der Kieler Förde überspannte.

Auf der Ostuferseite war allerdings ein erstes Zucken von Blaulichtern an den Wänden des großen Bürokomplexes neben dem Germaniahafen auszumachen. Im Grunde seines Herzens hasste Maik die ganzen Neubauten, denn durch sie wurden immer mehr unübersichtliche brachliegende Flächen eingeebnet. Wo konnte man heutzutage noch unbeobachtet hehlen und stehlen? Oder sich in dem vor ihm liegenden Betondschungel verdrücken?

Skeptisch drehte sich Maik mitten auf der Hörnbrücke um. Vom Hauptbahnhof her näherten sich jetzt ebenfalls Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Maik Herder setzte schnellen Schrittes seinen Weg über die Brücke fort, bis er endlich festen Boden auf dem Ostufer verspürte. Er hatte allerdings keine Zeit mehr wie sonst, einen näheren Blick auf die sanft schaukelnden Traditionssegler im Germaniahafen zu werfen. Gerne hätte er auch noch die vielen leeren Pfandflaschen unterhalb der Papierkörbe eingesammelt. Aber es galt jetzt, selbst nicht einkassiert zu werden.

Linker Hand verriegelte allerdings ein hoher Drahtzaun den Weg zum Gelände des Fährterminals, auf dem er sich gut hätte verstecken können, und vom anderen Ende des Germaniahafens näherten sich jetzt Autoscheinwerfer, denen ein Blaulicht aufgesetzt war. Es wurde eng. Richtig eng.

Es blieb ihm nur noch die Flucht in das Restaurant am Fuße des Büroturms. Auf die Spießer dort hatte er absolut keinen Bock, aber ihm blieb keine andere Wahl. Vorsichtig öffnete er die Eingangstür und mäßigte seinen Schritt. Zu den Toiletten gelangte er unbemerkt. Aber erst dort fand er endlich die Tür, nach der er suchte: »Privat«.

Vorsichtig drehte er sich um, aber niemand folgte ihm. Leise öffnete er die Tür und befand sich schließlich im ersehnten Treppenhaus des Büroturms. Bloß nicht nach oben flüchten, um nicht in die nächste Sackgasse zu stolpern, schoss ihm durch den Kopf. So hastete er zur gegenüberliegenden massiven Feuerschutztür, die zum lang gestreckten Parkhaus führen musste, das sich hinter dem Büroturm fast bis zur Werftstraße ausdehnte.

Gläubig war Maik nicht, aber er dankte dem Herrn, dass die Tür unverschlossen war. Zunächst gelangte er in einen weißgetünchten Gang, dem er weiter folgte. Nach der nächsten Stahltür kam er in einen Abschnitt, der unbeleuchtet war. Vorsichtig tastete er sich mit beiden Händen an den rauen Kalkwänden vor. Die nächste Tür musste ins Parkhaus führen. Er hielt einen Moment inne, denn es stank erbärmlich nach Urin. Irgendein Ferkel musste hier geschifft haben. Er tastete sich weiter vor, bis er unerwartet in etwas Weiches griff. Vor Ekel zuckte er zurück. Er wollte flüchten, aber in diesem Moment wurden die kahlen Wände blitzartig erleuchtet. Mit einem lauten Knall verbreitete sich eine Gaswolke, die ihm die Orientierung nahm und ihn taumeln ließ. Dann verspürte er einen heftigen Schlag am Hals, der ihn mit weichen Knien zu Boden sinken ließ. Er bekam heftige Fußtritte in die Seite, sodass er sich vor Schmerzen krümmte. Hatten ihn die Bullenschweine geschnappt?

Unerwartet blitzte in den Nebelschwaden ein Feuerzeug auf. »Maik! Was treibst du dich denn hier herum, du Blödmann?«

Die Stimme erkannte Maik. Es musste der Kölner sein. »Jupp, bist du es?«

Maik hörte Schritte wegschlurfen. Wenig später vernahm er ein leicht schleifendes Geräusch, und dann erleuchtete das Kellerlicht den Kopf des Kölners. Es war tatsächlich Jupp Jöllen, der die Glühbirne wieder in die Fassung gedreht hatte.

»Maik, du Arsch. Hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dich kaltgemacht.«

Maik sah sich um. Er lag in einer Urinlache. Offenbar hatte sich Jupp gerade erleichtert. Verärgert besah sich Maik seinen Holstein-Pullover, der sich mit Urin vollgesogen hatte. »Jupp. Schau dir nur meinen Pullover an, der ist versaut! So eine Scheiße!«

Jupp zeigte sich unschuldig. »Irgendwann muss der Bölkstoff wieder raus. Ich kann ja schlecht vor den Kindern in den Hafen pissen. Du bist wie ein Dieb durch die Gegend geschlichen, ich habe dich kaum gehört. Als du mir an den Schniedel gegriffen hast, da musste ich mich wehren!«

Jupp hatte ganz schön zugelangt, und vom Schuss aus der Gaspistole klingelten Maik noch die Ohren. Auch wenn er das Gesicht vor Schmerz verzerrte, der Ärger über den nach Urin stinkenden Holstein-Pullover war größer. Und dann noch die Sache vor dem Einkaufstempel am Ziegelteich. »Du, Jupp. Der Holgi ist weg.«

Erstaunt sah ihn Jupp an. »Was, Holgi ist weg? Rede keinen Quatsch, Maik. Das kann nicht sein, den habe ich vor zwei Stunden noch quietschfidel in der Imbissbude am Vinetaplatz gesehen. Er schien allerdings leicht verstrahlt zu sein.«

Maik schüttelte den Kopf. »Nein, Holgi ist tot, Jupp. Definitiv. Ich habe seine Leiche gesehen. Am Holstenplatz. Er muss vom Dach des Kaufhauses gesprungen sein. Jetzt jagen mich die Bullen. Sie werden alles durchkämmen, bis sie mich gefunden haben. Wir müssen abhauen, Jupp.«

Ohne weiter nachzufragen, griff sich Jupp seinen Rucksack. »Kein Problem. Wir verduften über die Trasse der Werfteisenbahn. Das ist eingezäuntes Privatgelände, da kommen die Bullen nicht so einfach hinauf.«

Das war keine schlechte Idee, befand Maik. Denn die Gleise der alten Werfteisenbahn, die kaum noch genutzt wurde, führten unterhalb des Büro- und Parkhauskomplexes auf das Werksgelände der großen Werft. Selbst wenn sie jetzt von den Bullen entdeckt werden würden, müssten die Streifenwagen ordentliche Umwege in Kauf nehmen, um auf das Werftgelände einfahren zu können.

Jupp schlich voraus. Hinter der nächsten Tür befand sich tatsächlich das Parkhaus, das nur noch spärlich von Fahrzeugen besetzt war. Jupp rannte nun wie Rambo nach vorn, aber Maik schlich sich abwartend zunächst seitwärts zu einer der breiten Lücken im Beton, die für ausreichende Lüftung im Parkhaus sorgten. Vorsichtig spähte er über die Brüstung. Auch hier versperrte der hohe Zaun den Fluchtweg zum Hafenvorfeld des Norwegenterminals. Maik fluchte, denn hinter den vielen abgestellten Trailern und Containern hätte man sich vortrefflich verstecken können.

Aber halt, was blitzte dort auf? Keine 30 Meter entfernt standen hinter dem Zaun zwei Männer zwischen den Containern neben einem Polizei-Bulli mit abgeblendeten Scheinwerfern, die sich gerade Zigaretten anzündeten. Im aufflackernden Licht des Feuerzeugs erkannte Maik sofort die wohlbekannten Gesichtszüge von Mozart. Den kleineren drahtigen Mann in der Lederjacke kannte er jedoch nicht. War es ein Polizist? Was trieben sie dort? Warum ließen sie sich nicht durch die Polizeisirenen aufschrecken? Maik beobachtete, wie Mozart in aller Seelenruhe seine gerade angerauchte Zigarette wegschmiss, um sich zu einem Container in der Nähe zu begeben. Dort hantierte er am Schloss.

Maik wurde von Jupps eindringlichem Weckruf in die Wirklichkeit zurückbefördert. »He, Alter. Wir sind auf der Flucht. Nun komm schon!«

Maik duckte sich lautlos weg und eilte zur Stirnwand des Parkhauses, an der sein Kumpel ungeduldig in Hockstellung kauerte. Jupp zeigte nur kurz nach unten. Es gab tatsächlich einen Fluchtweg zur Werfteisenbahn. Maik kroch als Erster über den Betonsims und ließ sich herabhängen. Dann gab er nach. Obwohl er nach drei Metern freiem Fall weich in der Hocke landete, tat ihm der Aufprall höllisch weh. Wenig später stöhnte Jupp neben ihm auf.

Beide rappelten sich aber gegen den Schmerz hoch und spurteten auf die Gleise der Werfteisenbahn zu, um unbemerkt den umzäunten Rand des Fährgeländes zu erreichen. Maik blickte sich immer wieder sichernd um. Sie unterquerten die Straßenbrücke zum Fähranleger auf den Schwellen der alten Werfteisenbahn.

Plötzlich blitzten zwei Lichtkegel auf. Waren sie entdeckt worden? Hastig schob Maik seinen Kumpel hinter einen Brückenpfeiler, aber der sich nähernde Polizei-Bulli bog vorher ab. Maik konnte nur noch den Unbekannten in der Lederjacke im Fahrzeug ausmachen. War Mozart auf dem Fährgelände geblieben?

In diesem Moment war über ihnen eine Sirene zu vernehmen, die darauf hinwies, dass die Polizei auch das Fährgelände zu sperren beabsichtigte. Jupp grinste ihn breit an, denn dort waren sie längst vorbei.

So ging die wilde Flucht weiter, und nach wenigen Schritten erreichten sie endlich das Werftgelände. Ruhe kehrte ein, und vorsichtig schlichen sie an einer hohen Stützmauer entlang, bis die Werftstraße und die Bahntrasse wieder auf gleichem Niveau lagen. Es war aber nicht der erneuerte mannshohe Metallgitterzaun, der ihnen die Flucht vom Werftgelände verwehrte, sondern die drei Lagen Stacheldraht darüber, die eine unüberwindbare Hürde bildeten.

»Gib mir deinen Pulli, Maik. Den werfen wir auf den Draht, dann kommen wir vielleicht darüber.«

Sollte Maik wirklich sein Kleinod opfern, um diese letzte Barriere zu überwinden? Gab es keine andere Möglichkeit? Maik blickte sich um und stellte fest, dass die Absperrung zu dem Grundstück eines alten Mietshauses, das zwischen Werft und Straße ein wenig verloren wirkte, viel niedriger war. »Wir steigen über das Grundstück zur Straße, Jupp. Ein Katzenschiss, dort herüberzuklettern.«

Tatsächlich überwanden sie problemlos das Hindernis und umschlichen das Haus. Die Pforte zur Werftstraße war unverschlossen, und so konnten sie schnell die vierspurige Fahrbahn überqueren und unbemerkt zu einem kleinen Gehölz eilen, das ihnen auf der anderen Seite am Hang vor dem Altersheim Schutz bot.

Maik fühlte sich nun in Sicherheit, denn von hier aus wusste er genau, wie er über Schleichwege und Hinterhöfe zu Holgis Wohnung in der Elisabethstraße gelangen konnte. Er musste seine Sachen aus der Hütte holen, bevor sie von den Bullen gefilzt wurden. Vielleicht hatte Holgi auch noch Geld und Zigaretten herumliegen. Das benötigte sein toter Freund jetzt ja nicht mehr.

Trotz der Schmerzen schlug er Jupp kameradschaftlich auf die Schulter. »Nichts für ungut, Jupp. Du hast einen gut bei mir. Terrorsaufen nachher mit der Truppe?«

»Klar, es ist schließlich Freitagabend. Erst kriegen die Ellerbeker was auf die Fresse, und dann versaufen wir unseren toten Holgi. Die Elli rechts.«

Maik nickte zustimmend. Auch wenn dieser Jupp Jöllen nicht direkt in Gaarden geboren war: Irgendwie war er einer von ihnen. Andererseits aber auch nicht.

Man würde sehen.

Die andere Seite des Lebens

Normalerweise umfuhr Kommissar Hansen die am Hafen liegenden Bereiche der Landeshauptstadt weit, denn hinter dem Ende der Hörn wurde es schnell unwirtlich. Seine Laune war nicht die beste. Die Kollegen vom 5. Revier hatten den Flüchtenden gestern Abend nicht mehr dingfest machen können. Sie hatten lediglich eine frische Urinlache im Treppenhaus des Bürokomplexes entdeckt, die von dem Flüchtenden stammen konnte.

Kollege Fingerloos von der Spurensicherung hatte am Morgen angerufen und berichtet, dass es offensichtlich eine Prügelei an dieser Stelle gegeben hatte, und es war sogar ein Schuss aus einer Gaspistole abgefeuert worden. Dann musste der Flüchtende mit seinem Kontrahenten über das angrenzende Parkhaus entkommen sein. Weitere Anhaltspunkte gab es noch nicht. Nun war man auf dem Weg zu Schrocks Wohnung.

Oberkommissar Stüber rief später am Vormittag an und berichtete, dass die Mutter von diesem Schrock sehr traurig war, als er ihr die Botschaft von dem Ableben ihres Sohnes überbrachte. Verwertbare Aussagen über sein genaues Lebensumfeld konnte sie allerdings keine machen. Sie erzählte aber von Schrocks gelegentlichen Besuchen, die in letzter Zeit häufiger waren. Ihr Sohn war offenbar zu tief in den Strudel von Arbeitslosigkeit, Alkohol und falschen Freunden hineingerissen worden. Was hätte sie als alte Mutter dagegen schon ausrichten können? Nein, der Holgi war nicht dumm, aber er ließ sich einfach nicht helfen, hatte sie traurig zu Protokoll gegeben. Stüber glaubte nicht, dass bei der alten Dame weitere Informationen zu holen sein könnten. Deswegen hatte sich sein Oberkommissar ebenfalls in Schrocks Wohnung begeben.

Eigentlich wollte Hansen überhaupt nicht nach Gaarden fahren, aber sein Oberkommissar hatte ihn eindringlich gebeten, sich unbedingt persönlich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Weil das dichte Schneetreiben aber keine hohen Geschwindigkeiten zuließ, fuhr der Kommissar dieses Mal mitten durch die Stadt.

Zahlreiche Ampeln ließen den Verkehrsfluss stocken und auf dem Sophienblatt kam er mehrfach ins Schliddern. Neidisch blickte er auf den wartenden Zug im Bahnhof, der seine Fahrgäste auf angenehme Art und Weise sicher durch eine wundervolle weiße Winterlandschaft transportieren würde. Er dagegen musste sich wegen der Schneeglätte mehr schlecht als recht zur Hummelwiese hochkämpfen, um auf die Gablenzbrücke einzubiegen, die zum Glück nicht mehr die Schienenreste der alten Straßenbahnlinie 4 aufwies. Sie hatte früher das West- und Ostufer verbunden, und wegen der vielen in Gaarden lebenden Türken wurde sie im Volksmund liebevoll »Orient-Express« genannt. Die vielen unschönen, nicht zusammenhängenden Betonbauten und Bunkerreste auf den Konversionsflächen des ehemaligen Werftgeländes bildeten eine unansehnliche Schneise für Reisende zwischen den Welten, und sie wirkten bei diesem Winterwetter noch trister als sonst.

Hansen musste unwillkürlich an die Lektüre eines prächtigen Bildbandes über den alten Baumeister Schinkel denken: »In der Naht liegt die Tugend«. Die perfekte Verbindung von Alt und Neu, von Gut und Schlecht. Dieses Hauptaugenmerk von Schinkel schien in Kiel an dieser Nahtstelle zwischen West- und Ostufer nicht bis zu den örtlichen Baumeistern vorgedrungen zu sein.

Nach dem Passieren des 5. Polizeireviers am Karls­tal und der Vorbeifahrt am hässlichen Betongebäude der Post bog er vor einem bunkerartigen, mit Graffitis verschmierten backsteinernen Neubaublock der späten 70er in die immer enger werdende Schulstraße ein. Jetzt bewegte sich das Baualter der Häuser auf die vorletzte Jahrhundertwende zu.

Stuhr hatte ihn irgendwann beim Bier mit einem Vortrag über die geschichtliche Entwicklung von Gaarden zugesülzt. Hansen interessierte es nur insoweit, um die richtigen Stellen zu kennen, an denen er Gesindel aus dem Verkehr ziehen konnte. Stuhr hatte damals berichtet, dass der weitgehend erhaltene Ortskern von Gaarden mit seinen zahlreichen restaurierten vierstöckigen Bauten aus der Gründerzeit quadratisch angelegt war und man durch die Umrandung von den Werften und einem hügeligen Erholungspark immer schnell an irgendwelche Grenzen stieß.

Genauso war das bei den Bewohnern, wusste Hansen. Wenn die spürten, dass man vom Westufer kam, dann blieb der Mund verschlossen und wurde nur noch kurzfristig zum Biertrinken geöffnet. In diesem Moment stieß der Kommissar schneller, als er wollte, an eine erste Grenze, als er die Elisabethstraße erreichte, in der Schrock gewohnt hatte. Viele tapfer aufrechtstehende, rot-weiß gestreifte Aluminiumwächter versperrten die Weiterfahrt.

Er blickte sich um, aber weit und breit war kein freier Parkplatz auszumachen. Keine 50 Meter hinter der Sperre konnte er aber die Fahrzeuge seiner Kollegen mitten im Fußgängerbereich erkennen. Hansen verspürte wenig Lust, noch einmal um den Block zu gondeln. So stellte er sein Dienstfahrzeug kurzerhand vor den Parkwächtern ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Schrocks Wohnung.

Auf den ersten Blick machte Schrocks Wohnhaus keinen schlechten Eindruck auf den Kommissar. Es war ein roter Klinkerbau aus der Aufbauzeit der späten 50er-Jahre. Wenn man genauer hinsah, bemerkte man, dass nur knapp ein Viertel der verschmutzten Fenster Gardinen oder Vorhänge aufwies. Das Klingelbrett gab ihm näheren Aufschluss über den Zustand des Hauses. Im Gegensatz zur Lagunenstadt Venedig mit seinen vergoldeten Klingelbrettern, auf denen neben jedem Klingelknopf ein Plättchen mit eingraviertem wohlklingendem Namen prangte, wiesen nur wenige Schriftfelder Namen auf, die keineswegs immer auf das Geburtsland schließen ließen.

Der Name Schrock war allerdings nicht zu finden. Mit spitzen Fingern öffnete Hansen die nicht mehr verschließbare Eingangstür. Er umkurvte kunstvoll einige der im Flur deponierten Mülltüten. Lange musste er nicht suchen, denn die Tür zur Linken öffnete sich und Oberkommissar Stüber zog ihn wortlos in die Parterrewohnung hinein.