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Ein einziges Pokerblatt verändert das Leben auf Schloss Harrowmore. Hilflos müssen Walt und Livie mit ansehen, wie sich der Südflügel in ein Heim für ruhelose Seelen verwandelt. Verantwortlich für diese unerwünschte Entwicklung scheint ihnen die junge Zeitreisende Allison zu sein. Und so setzt Livie alles daran, sowohl den neuen Mitbewohnern als auch dem jüngsten Spross der Harrowmores ihre Geheimnisse zu entreißen.
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Seitenzahl: 387
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Danksagung
Miriam Rademacher
Banshee Livie
Band 4: Seelensorge für Debütanten
Fantasy
Banshee Livie (Band 4): Seelensorge für Debütanten
Ein einziges Pokerblatt verändert das Leben auf Schloss Harrowmore. Hilflos müssen Walt und Livie mit ansehen, wie sich der Südflügel in ein Heim für ruhelose Seelen verwandelt. Verantwortlich für diese unerwünschte Entwicklung scheint ihnen die junge Zeitreisende Allison zu sein. Und so setzt Livie alles daran, sowohl den neuen Mitbewohnern als auch dem jüngsten Spross der Harrowmores ihre Geheimnisse zu entreißen.
Die Autorin
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Mai 2019
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2019
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss
Lektorat/Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-044-7
ISBN (epub): 978-3-03896-045-4
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Diese Geschichte ist für jene unter euch,
die beim Lesen gern lachen und weinen.
Mir geht es beim Schreiben genauso.
Im April 2015
Stimmengewirr schlug Conny entgegen, als er die Haustür der Familie Cole öffnete. Die Party war bereits in vollem Gange. Seine Begleitung, eine fesche Blondine namens Marina, hinter sich herziehend, kämpfte Conny sich durch Männer in schwarzen Anzügen und Mädchen in Cocktailkleidern. Als ein Kellner in Livree ihm ein Tablett mit Sektschalen unter die Nase hielt, griff er dankbar zu.
Conny war schrecklich nervös. Dies war nicht irgendeine Party. Es war die erste Party, auf die es wirklich ankam. Hier, in diesem Haus in Notting Hill, in dieser Wohnung, die den Eltern seines Kommilitonen Damian gehörte, traf sich heute Abend die Elite. Und jene, die gern ein Teil dieser Elite sein wollten. Zu letzterer Kategorie zählte Conny, und er wusste, dass es an der Zeit war, Kontakte zu knüpfen und Allianzen einzugehen.
Vorbei war die Zeit der Studentenfeten, vorbei die Zeit der Bierflaschen und aufgerissenen Chipstüten, die von betrunkenen Mitstudenten über die sowieso schon schmuddeligen Jeans gekippt wurden. Heute trug Conny sein widerspenstiges Haar gescheitelt und seinen einzigen Anzug. Zudem roch er nach Aftershave.
Auch Marina neben ihm hatte sich in ein schickes Abendkleid in dezentem Dunkelgrün geworfen. Sie lächelte ihm blasiert zu und nahm ebenfalls ein Glas Champagner vom Tablett. Conny fragte sich kurz, ob es seine Aufgabe gewesen wäre, es ihr zu reichen. Er kannte sich mit Benimmregeln nicht sonderlich gut aus, war bisher auch ohne sie gut zurechtgekommen. Mit seiner offenen und ungezwungenen Art machte er sich bei jeder Gelegenheit rasch Freunde. Aber heute galt es, keinen Fehler zu machen. Er musste überzeugend sein und seine Begleitung ebenfalls.
Obwohl Conny sich nichts aus Marina machte, war er doch sehr zufrieden damit, sie an seiner Seite zu haben. Sie wusste nicht nur, sich zu benehmen und sich zu kleiden, sie war auch mit den richtigen Personen verwandt und bekannt. Personen, die Conny heute ebenfalls kennenlernen wollte. Doch eigentlich war er ja gar nicht mehr Conny, der hochgewachsene Junge mit dem spitzen Gesicht, dem braunen Haar, das immer ein wenig elektrisch geladen zu sein schien. Jetzt, da sein Studium sich dem Ende näherte, war es an der Zeit, den lächerlichen Spitznamen aus Kindertagen abzulegen und endlich Conrad zu werden. Conrad Bligh, einer der zukünftigen Spitzenanwälte Londons. Ja, das war es, was er sein wollte. Und der heutige Abend würde ihn seinem Ziel näher bringen.
»Conny, wie schön, dich zu sehen!«
Conny wirbelte herum und entdeckte seinen besten Freund Peter in einer Gruppe bekannter Gesichter. Er winkte Conny aufgeregt zu. Alle um Peter herum hatten sich ebenfalls leidlich herausgeputzt, wirkten jedoch linkisch in ihren Bewegungen, waren schlecht oder gar nicht rasiert und stellten an diesem Abend zweifellos die Gruppe der Verlierer dar. Conny winkte kurz zurück und machte, dass er weiterkam. So leid es ihm tat, den Freund stehen zu lassen, es gab Wichtigeres für ihn zu tun. Er musste die richtigen Kontakte knüpfen.
Zwei Stunden später hatte Conny das Gefühl, eine ganze Reihe belangloser Gespräche mit an ihm gänzlich uninteressierten Menschen geführt zu haben. Unsicher, ob es gelungen war, einen auch nur schwachen Eindruck zu hinterlassen, suchte er jetzt nach Marina, die er schon vor einer ganzen Weile aus den Augen verloren hatte. Er vermutete, dass sie sich in einem der hinteren Winkel in Gesellschaft einiger kichernder Damen befand und Likör schlürfte. Doch dann entdeckte er sie. Sie war allein. Und sie stand in einer Schlange von Wartenden, deren Anfang er von seinem Blickwinkel aus nicht erkennen konnte.
Worauf warteten diese Leute? Das Buffet befand sich doch in einer ganz anderen Ecke des Raumes, um das Befüllen von Tellern konnte es nicht gehen.
Lässig schlenderte er auf Marina zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Warum stehen wir beiden denn hier herum?«, fragte er übertrieben heiter. Ihm war nicht entgangen, dass einige andere Wartende sein Kommen beobachtet hatten. Er musste um jeden Preis den Eindruck erwecken, dass er sich gut amüsierte.
»Wir warten darauf, dass uns die Attraktion des Abends einen Moment ihrer Zeit schenkt. Das wird sicher lustig, Conny. Sie ist eine Wahrsagerin und liest aus der Hand. Ein paar der Mädels an der Bar meinen, dass sie richtig gut sein soll.«
»Ach wirklich?« Conny bemühte sich, interessiert und nicht enttäuscht oder gelangweilt zu klingen. Eine Wahrsagerin schien ihm auf dieser Party völlig fehl am Platz.
»Sei kein Spielverderber, Conny.« Marina hatte ihn durchschaut. »Das wird sicher lustig. Komm, wir halten ihr unsere Hände gleichzeitig hin, ja? Wer weiß, vielleicht haben wir beide eine gemeinsame Zukunft.«
Das bezweifelte Conny sehr, aber ein Spielverderber wollte er unter gar keinen Umständen sein. Er würde den Spaß also mitmachen und sich anhören, was diese Wahrsagerin ihm mitzuteilen hatte. Vielleicht würden ihre Worte ihn etwas aufheitern. Er konnte es gebrauchen, hatte er doch noch immer das unbestimmte Gefühl, an diesem Abend versagt zu haben. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Peter, der jetzt schon eine geschlagene Stunde mit einem Teilhaber der teuersten Anwaltskanzlei Londons plauderte und sich dabei auch noch zu amüsieren schien. Nicht zu fassen.
»Zeigen Sie mir Ihre Hände«, hörte er plötzlich eine klare weibliche Stimme zu ihm sagen.
Sie hatten den Tisch erreicht, hinter dem die Wahrsagerin saß. Trotz ihres albernen Kostüms aus blauem Samt, dessen Säume mit goldenen Symbolen bestickt waren, und einem nicht weniger albernen turbanähnlichen Kopfputz aus blauen Seidentüchern, sah Conny, dass sie ein hübsches Geschöpf war. Ja, sogar außergewöhnlich hübsch. Ihre wasserblauen Augen und ihre blasse Haut bildeten einen auffallenden Kontrast zu den Strähnen nachtschwarzen Haares, die unter dem Turban hervorlugten. Ihre Lippen waren voll und luden regelrecht zum Küssen ein.
Gehorsam streckten Conny und Marina ihr vier Hände entgegen. Die Wahrsagerin nahm zuerst Marinas, dann seine beiden Handflächen in Augenschein. Conny bemerkte, dass sie beim Anblick seiner Handlinien kurz zusammenzuckte. Das gehörte vermutlich zur Show. Plante sie etwa, ihm Angst einzujagen?
Die Wahrsagerin sprach zuerst Marina an. »Ich sehe zwei Kinder und einen liebevollen Mann an Ihrer Seite. Es ist der Mann, der hier neben Ihnen steht.« Sie fuhr mit einem ihrer Fingernägel die Linien in Marinas Hand nach, die Conny freudestrahlend anlächelte.
Er lächelte verkrampft zurück. Er hatte es ja gleich gewusst. Alles Blödsinn. Dann fühlte er die zarte Berührung der Wahrsagerin in seiner eigenen Handfläche.
»Sie werden Karriere machen, ein Haus in Islington ersteigern und sehr alt werden. Zusammen mit dieser wunderschönen Frau hier neben Ihnen. Ich kann sehen, dass Sie beide heiraten werden. Es wird eine große Party, der schönste Tag Ihres Lebens.« Die Wahrsagerin hob den Blick und sah Conny mit ihren katzengrünen Augen an.
Grün? Conny stutzte. Waren die Augen der jungen Frau nicht eben noch wasserblau gewesen?
»Ist das nicht großartig, Conny? So eine Zukunft lässt man sich doch gern weissagen.« Marina strahlte ihn an und Conny bemühte sich um ein aufrichtig wirkendes Lächeln.
»Ja. Ja, das klingt wunderbar, vielen Dank«, sagte er und trat beiseite, um dem nächsten Partygast Platz zu machen, der sich aus der Hand lesen lassen wollte.
In den nächsten Stunden ließ Conny die Wahrsagerin nicht mehr aus den Augen. Er wartete. Er wartete auf die Gelegenheit, mit ihr allein zu sprechen, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, soeben belogen worden zu sein. Das plötzliche Zusammenzucken der Frau, als er ihr die Hand hingehalten hatte, war keine Einbildung gewesen. Natürlich war es möglich, dass sie nur ein kleines grausames Spiel mit ihm trieb und es ein Fehler war, darauf auch noch einzugehen. Doch Conny wollte es jetzt genau wissen.
So vernachlässigte er die Kontaktpflege mit den anderen Partygästen und auch Marina, die sich bereits schmollend zu einigen Freundinnen verzogen hatte, welche eine Flasche Gin kreisen ließen. Er selbst fühlte sich mittlerweile stocknüchtern.
Nachdem auch der letzte Gast seine Zukunft in den blühendsten Farben geschildert bekommen hatte, raffte die Wahrsagerin ihre Accessoires zusammen und verließ fluchtartig, wie es Conny schien, die Party.
Conny setzte ihr nach. Um Marina konnte er sich auch noch später kümmern, jetzt durfte ihm das Mädchen im blauen Samtkleid nicht entkommen. Die Stufen hinunterrennend, erreichte er den Gehsteig vorm Haus und sah gerade noch, wie die Wahrsagerin um die nächste Ecke bog. Sie rannte. Es gab keinen Zweifel mehr, sie rannte vor ihm davon.
Ebenfalls in die Seitenstraße laufend, sah er die Frau wieder vor sich und hatte sie dank seiner guten Kondition und seiner langen Beine auch bald eingeholt. Schon streckte er die Hand nach der Schulter der Fliehenden aus, um sie zurückzuhalten, doch in diesem Moment verlangsamte sie ihr Tempo und drehte sich zu ihm um.
»Was wollen Sie denn noch von mir?«, fauchte das Mädchen und zog sich den sowieso schon verrutschten Turban vom Kopf. Eine Flut langen schwarzen Haares ergoss sich über ihre Schultern bis zur Taille.
»Die Wahrheit.« Conny sah nicht ein, warum er um den heißen Brei herumreden sollte. Gerade sah er der Fremden in die jetzt wieder wasserblauen Augen. »Was haben Sie in meiner Hand gesehen?«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Die Wahrheit?« Ihr Tonfall war spöttisch. »Glauben Sie, dass Sie stark genug sind für die Wahrheit? Wo es mich doch fast zu Tode erschreckt hat, was ich in Ihrer Hand sehen musste?«
Conny ließ sich nicht beirren. »Die Wahrheit ist immer noch besser als eine gefällige Lüge.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Na schön. Wenn Sie sich so sicher sind.« Sie richtete sich kerzengerade auf und konnte ihm jetzt genau in die Augen sehen.
Sie war eine große und sehr schöne Frau. Doch sie strahlte etwas aus, das Conny kaum benennen konnte, und sie roch auch irgendwie eigentümlich.
Es ist der Geruch nach Abenteuern und die Ausstrahlung der Lebensgefahr, schoss es Conny durch den Kopf, doch er verdrängte den Gedanken sofort wieder.
Jetzt sprach die Fremde mit leiser Stimme, aber sehr deutlich. Er konnte jedes ihrer Worte verstehen.
»Sie werden niemals Karriere als Anwalt machen, Sie werden kein reicher Mann und Ihnen wird niemals ein eigenes Haus gehören. Aber heiraten werden Sie. Wenn auch nicht das Mädchen in Grün, das Sie an diesem Abend begleitet hat.«
Zuerst war Conny wie vor den Kopf geschlagen. Dann spürte er, wie die Wut in ihm hochstieg. Hatte er es nicht geahnt? Diese angebliche Wahrsagerin wollte ihn nur zum Narren halten und er war ihr auf den Leim gegangen.
»Und all das wollen Sie in meiner Hand gelesen haben? Sie ticken doch nicht richtig, meine Liebe.«
Er wollte sich umdrehen und zurück zur Party gehen, doch ein unbestimmtes Gefühl in der Magengegend hielt ihn zurück. Konnte sie tatsächlich etwas über ihn und sein Leben wissen? Aber nein, das war albern. Er würde sich von dieser Frau doch nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Ihre Miene blieb unbewegt und ihre Stimme klang tonlos, als sie fortfuhr: »Ich konnte all das klar und deutlich in den Linien und Hügeln Ihrer Hände sehen, weil es auch meine Zukunft ist, Mister. Denn Sie werden mich heiraten. Und das finde ich kaum weniger erschreckend als Sie.«
Conny verschlug es für einen kurzen Moment die Sprache. Dann lachte er unsicher, doch die Fremde lachte nicht mit. Schließlich brachte er heraus: »Ich? Sie heiraten? Wie käme ich wohl dazu? Wer sind Sie denn überhaupt?«
»Mein Name ist Allison Harrowmore.« Sie lächelte plötzlich und in ihre Augen trat ein eigenartiges Glitzern. »Und du wirst mich finden.«
Einen Augenblick später hatte sie sich abrupt von ihm abgewandt und rannte die Straße hinab.
Conny versuchte, ihr zu folgen. Auf gar keinen Fall würde er diese seltsame Frau mit den zwei Augenfarben entkommen lassen. Nicht, bevor sie ihm erklärt hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Doch sie lief noch schneller als zuvor, Conny hatte jetzt Mühe, mitzuhalten. Und nur eine Straßenecke später war sie weg. Einfach verschwunden, was eigentlich unmöglich war, denn es gab keinen offenen Hauseingang, ja nicht einmal einen Gully, in den sie sich hätte flüchten können.
Atemlos lehnte sich Conny Bligh an ein Straßenschild und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nach nur fünf Minuten erschien ihm das Verschwinden der Fremden schon gar nicht mehr so eigenartig, obwohl er noch immer keine Erklärung dafür hatte. Und ihre Weissagung war natürlich ein Scherz gewesen, was auch sonst.
Er würde nie wieder von diesem Mädchen hören und es war reine Zeitverschwendung, noch weiter über sie, ihre Worte oder über ihr Verschwinden nachzudenken.
Nachdem er sich selbst auf diese recht einfache Weise der selbst erschaffenen Realität beruhigt hatte, schlenderte er zurück zur Party, um seinen Lebensweg wieder an dem Punkt aufzunehmen, an dem die Wahrsagerin ihn gekreuzt hatte. Nicht ahnend, dass von nun an alles anders werden würde.
Mai 2018
»Das war ein unglaublich toller Ausflug«, rief ich Walt, meinem Todesboten, zu, der sich nur Sekunden später als ich in meiner heimeligen Dachkammer materialisierte. Seine rotbraune Kutte war verdreckt und er hustete angestrengt. Aber ansonsten schien ihm unser Ausflug auf einen fernen Kontinent nicht geschadet zu haben. »Noch nie zuvor bin ich in Australien gewesen, hätte mir eine Reise von England nach Australien zu meinen Lebzeiten auch gar nicht leisten können. Und jetzt habe ich es schon bei meinem ersten Einsatz dort mit echten Kängurus zu tun. Faszinierende Tiere, nicht wahr?«
»Ja, herzallerliebst«, bestätigte Walt mir zwischen zwei Hustern, doch sein Tonfall strafte seine Worte Lügen. »Ganz besonders reizend sind sie, wenn sie in vollem Lauf durch einen hindurchhoppeln und dabei mehr Staub aufwirbeln als eine Kolonne Jeeps.« Er wischte sich den Sand von der Kutte und räusperte sich mehrmals.
Fürsorglich wollte ich ihm auf den Rücken klopfen, doch er machte eine abwehrende Handbewegung und hustete noch ein wenig weiter, während ich meiner Begeisterung Ausdruck verlieh: »Ich finde es großartig, dass es Harrowmores auf der ganzen Welt gibt. Und dass ich als ihre Banshee quasi überallhin teleportieren darf, um die Mitglieder der Familie vor tödlichen Gefahren zu retten. Ich sehe viel mehr von der Welt, seit ich tot bin. Eigenartig, oder?«
»Warnen darfst du sie und mehr nicht«, erinnerte Walt mich an die Grundregeln meines Banshee-Daseins. »Wortlos erscheinen oder unsichtbar klagen, und zwar immer nur bei einem Angehörigen, nie bei dem Betroffenen selbst. Haben wir uns verstanden?« Das letzte Räuspern unter der Kapuze ging in eine Art geringschätziges Schnauben über. »Lässt dieser Idiot von einem Harrowmore sich erst volllaufen und legt sich auf dem Heimweg mit einem angriffslustigen Känguru an. So viel Pech kann nur genetisch bedingt sein.« Er zupfte sich die Kapuze seiner Kutte zurecht. »Dabei war der ausgewanderte Teil dieser Familie in den letzten Jahren so friedlich.«
»Egal, wir haben es geschafft, Daniel Harrowmores Leben zu retten, genau wie es unserer Aufgabe entspricht«, rief ich glücklich. »Kein Känguru hat ihn zu Tode getrampelt, so wie es deine Vision gezeigt hat. Wie gut, dass seine Ehefrau sowieso schon nach ihm suchte. Auch wenn ich mich frage, warum sie ein geladenes Gewehr mit in den Pub nehmen wollte, nachdem ich für sie mein Banshee-Geheul angestimmt habe. Ob das irgendetwas mit dieser hübschen rothaarigen Bardame zu tun hatte? Na ja, ist ja alles gut gegangen.«
Ich streckte mich ausgiebig und ließ den Blick durch mein Zuhause schweifen: Eine Dachkammer auf Schloss Harrowmore war meine Dienstwohnung, seit mich in einer Herbstnacht ein Blitz aus dem Leben gerissen hatte, und dieses staubige Kämmerchen beherbergte nun alles, was ich noch besaß. Das Inventar beschränkte sich auf ein durchgelegenes Troddelsofa, das mir als Bett diente, und einen ausrangierten Couchtisch nebst einigen weiteren gammligen Ex-Möbeln der Familie, in deren Dienst ich nun stand.
Nach einer kurzen Phase der Eingewöhnung war ich heute der Meinung, dass es mir zu Lebzeiten bei Weitem nicht so gut gegangen war wie jetzt im Tode. Ich hatte meinen Freund und Kollegen Walt an meiner Seite und gemeinsam gelang es uns meisterhaft, die manchmal leicht vertrottelten Harrowmores aus allen lebensgefährlichen Situationen zu retten.
In diesem Moment stimmte mein kleiner Gesellschafter, ein orangefarbener Mummel, ein leierndes Geheul an und ich wandte mich ihm verwundert zu.
Sniff, so hieß der kleine Wassergeist, der in Form und Farbe sehr viel Ähnlichkeit mit einer Karotte hatte, hauste in einem Aquarium von der Größe eines Medizinballs. Und für gewöhnlich heulte er nicht, sondern konnte sich durchaus artikulieren.
Interessanterweise entdeckte ich ihn und sein Behältnis nicht wie üblich auf dem Couchtisch, sondern mitten auf meinem Schlafplatz, dem besagten Sofa. Ich hatte ihn dort mit Sicherheit nicht zurückgelassen. Doch gleich neben meinem Mummel lag die Erklärung für seinen sicher unfreiwilligen Umzug auf einer rosa Wolldecke und rührte sich nicht. Und nun begriff ich, dass Sniffs Gewimmer Gesang darstellen sollte. Ein Mummelschlaflied vermutlich.
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief ich laut. »Sieh nur, Walt: Millie hat uns schon wieder einen ihrer Zwillinge aufs Auge gedrückt. Das ist doch unerhört. Ich bin die Banshee auf diesem Schloss und kein verdammtes Kindermädchen!«
Mit entschlossenen Schritten durchquerte ich meine Dachkammer und kniete mich neben das kleine rosa Bündel. Der Mummel sang ungerührt weiter, während ich das Köpfchen des Säuglings freilegte und auf einen schwarzen Haarschopf stieß.
»Es ist Allison. Schon wieder.«
Millie, meine beste Freundin und bis zur Geburt ihrer beiden Kinder einziges Mitglied ihrer Familie, das mich dank ihres Druidenerbes sehen und hören konnte, hatte ihre wenige Wochen alte Tochter mal wieder bei mir zwischengelagert.
Ich setzte mich mit einem Seufzer neben den ruhig daliegenden Säugling aufs Sofa und sah der Kleinen in die blauen Augen. Schon vom Moment ihrer Geburt an schien sie mich fixieren zu können. Sie war ein ungewöhnliches Kind, aber ich hatte auch nichts anderes von ihr erwartet. Dann blickte ich auf und schaute mich noch einmal in meinem kleinen Reich um. Wenn ich ehrlich war, hatte sich die Dachkammer in den letzten Tagen zu ihrem Nachteil verändert.
Vor dem Rundfenster, das einen traumhaften Ausblick über die Gärten von Schloss Harrowmore ermöglichte, stand neuerdings ein ausrangierter Gartentisch, der als Wickelkommode diente. Darunter befand sich der unvermeidliche Windeleimer aus grellgrünem Plastik. Artverwandte Utensilien wie Puder, Öl, Schnuller und Spucktücher hatten sich großzügig im Rest des Raumes ausgesät und schienen sich täglich zu vermehren.
»Es ist nicht leicht, eine alleinerziehende Mutter von Zwillingen zu sein«, verteidigte Walt meine Freundin Millicent und setzte sich ebenfalls aufs Sofa, wobei er das Mummelglas zurück auf den Couchtisch stellte. »Außerdem ist die kleine Allison doch ganz reizend. Das ruhigste Baby, das ich je gekannt habe. Und ich habe in den letzten Jahrhunderten viele kleine Harrowmores in Windeln gesehen.«
Walt, schon seit dem finsteren Mittelalter so tot wie ein Türnagel, war schon seit Langem der Todesbote der Harrowmores und damit so etwas wie mein Vorgesetzter. In für ihn quälenden Todesvisionen kündigten sich Katastrophen der Familie an, was jedes Mal zur Folge hatte, dass ich von ihm auf eine neue Rettungsmission geschickt wurde. Manchmal, wie auch im Falle unseres jüngsten australischen Abenteuers, begleitete er mich dabei, denn wir beide gehörten zusammen wie der Papst und seine roten Schuhe.
»Millie behauptet aber von Allison, dass sie immerzu brüllen würde. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder Badria, den sie als eher pflegeleicht bezeichnet. Allison ist allem Anschein nach nur ruhig, wenn sie bei uns ist«, bemerkte ich und strich dem Baby zärtlich über die rosige Wange.
Ally, wie ich unsere kleine Besucherin auch gern nannte, reagierte, indem sie mir ihre winzigen Hände entgegenstreckte. Ich konnte es kaum erwarten, bis sie zum ersten Mal lächeln würde.
»Das ist lediglich ein Zeichen von gutem Geschmack. Vermutlich hat die kleine Allison jetzt schon ein Faible für diese Dachkammer oder für unsere Gesellschaft«, erwiderte Walt, hob das Baby sanft auf und nahm es in seine Arme.
Ally gab ein Glucksen von sich, das sehr zufrieden klang, und mein Mummel hörte auf, zu singen.
»Gut, dass Sniff nicht mehr allein mit Baby ist«, piepste er mit anklagender Stimme. »Mummel können Helden sein, aber Mummel können keine Milch geben oder Windeln wechseln. Sniff hat nämlich keine Arme.« Er reckte mir demonstrativ seine Quasten entgegen, tauchte dann ab und kringelte sich am Grund seines Glases zusammen.
»Ersteres kann ich auch nicht und das Zweite will ich nicht. Und das trotz Armen«, rief ich ihm nach, doch Sniff zuckte nur mit seiner Schwanzquaste und schloss die schwarzen Knopfaugen.
Er war die niedlichste schwimmende Karotte, die ich je in mein Herz geschlossen hatte, und er war ein echter Held. Im letzten Sommer hatte er maßgeblich dazu beigetragen, uns durch ein gefährliches Abenteuer mit Wasserwesen hindurchzuhelfen. Millie, selbst Wiedergeburt eines Druiden namens Badria, war damals schon mit ihren Zwillingen schwanger und keine große Hilfe gewesen.
Im April waren ihr Sohn Badria und ihre Tochter Allison geboren worden. Letztere war zu diesem Zeitpunkt bereits keine Unbekannte mehr für uns. Zeitreisen hatten es ermöglicht, dass ich die erwachsene Allison weit vor ihrer jüngeren Ausgabe kennengelernt hatte. Zeitreisen fand ich ziemlich klasse.
»Und drittens kann Allison ja Allison die Windeln wechseln«, ließ sich in diesem Moment Walt vernehmen, der Unterton war unüberhörbar bissig.
Der Todesbote durchschritt meine Dachkammer, wobei er den Säugling in seinen Armen sacht schaukelte. Umso unsanfter schlug er am Ende seines Weges mehrmals gegen die Wand, sodass der Putz abplatzte und auf die Holzdielen rieselte.
»Komm rüber, du hast die Hosen voll!«, schrie er laut.
Als er sich daraufhin zu mir umwandte, schüttelte ich nur missbilligend den Kopf.
Seine Botschaft war natürlich für die erwachsene Allison bestimmt. Jene Allison jenseits dieser Wand, die schon Anfang zwanzig war und in der Nacht ihrer eigenen Geburt mir nichts, dir nichts vor mir aufgetaucht war und mich um Asyl gebeten hatte.
Und auch wenn ich dem verdreckten Mädchen in dem olivgrünen Overall mit den Springerstiefeln diese Bitte nur zu gern abgeschlagen hätte, schließlich gehörte sie nicht in unsere Zeit, konnte ich dem Baby Ally vom ersten Augenblick an überhaupt nichts abschlagen. Wann immer sie mich mit ihren wasserblauen Augen ansah und dabei leise schmatzte, schmolz ich dahin. Seltsamerweise hatte ihr Bruder nicht diese Wirkung auf mich. Doch das mochte damit zusammenhängen, dass er nur selten den Weg zu mir und Walt fand. Meist war es Allison, die Millie hier oben loswurde, um sich selbst ein wenig zu entlasten.
Das Quietschen der Tür kündigte die erwachsene Allison an und schon stand sie vor uns. Noch immer trug sie diesen schlammfarbenen Overall, der ihr in der Körpermitte zu weit war und deswegen von einem schwarzen Riemen als Gürtelersatz gerafft wurde. Ihre schweren schwarzen Stiefel sahen aus, als seien sie direkt aus einem Schützengraben zu mir marschiert.
»Du bist ja immer noch da«, bemerkte Walt statt einer Begrüßung zu unserem Gast, der schon seit Wochen in der benachbarten Dachkammer hauste und keine Anstalten machte, in die eigene Zeit zurückzureisen. Dabei hatte sie mir versprochen, nur für wenige Tage zu bleiben.
»Ich hänge hier nicht zum Spaß rum. Das Ereignis, auf das ich warte, ist eben noch nicht eingetroffen«, antwortete Allison, warf das lange schwarze Haar schwungvoll in den Nacken und nahm meinem Todesboten das Baby ab, das sie selbst war.
Ja, mein Tod war in letzter Zeit ein wenig kompliziert und auch ich konnte es kaum erwarten, bis alles wieder in geregelten Bahnen verlief. Das, so glaubte ich, würde dann der Fall sein, wenn Allison erledigt hatte, weswegen sie gekommen war, und wieder in die Zukunft abrauschte. Dann würde ich die nächsten Jahre damit verbringen, die Zwillinge aufwachsen zu sehen, meinen Todesboten in den Armen zu halten und ab und zu ein paar Banshee-Warnungen zu heulen. Eigentlich sah die Zukunft rosig aus. Von vollen Windeln einmal abgesehen.
Allison trug ihr jüngeres Ich zum Wickeltisch und machte sich unerschrocken ans Werk. Klein-Ally jauchzte vor Freude und strampelte mit den Beinchen. Ihre winzigen Hände streckten sich ihrem erwachsenen Ich besitzergreifend entgegen. Sie konnte sich selbst ganz offensichtlich gut leiden.
»Es ist nicht richtig, dass du hier bist«, konstatierte Walt und lehnte sich an den Holzpfeiler ganz in der Nähe des Rundfensters.
Allison ignorierte ihn und kitzelte sich selbst die Babyfüße.
»Sich selbst zu begegnen ist ein unerhörtes Paradoxon und sollte überhaupt nicht möglich sein. Ich habe ja nichts gegen Reisen durch Zeit und Raum, sie sind lehrreich und praktisch. Doch dass du dich hier in der Dachkammer deines eigenen Elternhauses vor was auch immer versteckst, ist überhaupt nicht lehrreich. Und für den Lauf der Zeit ist es sehr ungesund.«
Allison sah kurz auf und warf Walt einen Blick zu, den man nur als spöttisch bezeichnen konnte. »Ich habe es dir erklärt, nicht wahr? Ich verstecke mich nicht, ich warte. Das ist etwas ganz anderes. Außerdem stehe ich außerhalb der Zeit, denn ich wurde außerhalb der Zeit gezeugt. Und ich gehöre an keinen Ort der Welt, weil ich an keinem Ort der Welt entstanden bin. So ist das, wenn sich die Eltern in einer Teleportzone vergnügen. Ich habe mir das nicht ausgesucht, es ist mein Schicksal.«
»Und wann wirst du dein Schicksal in die Hand nehmen und uns wieder verlassen?«
Hupps. Ich hätte diese Frage höflicher verpackt, aber Walt redete nur selten um den heißen Brei herum.
»Mein Schicksal wird zu mir kommen. Und das schon sehr bald. Ich kenne zwar den genauen Tag nicht, aber ich weiß, dass alles kurz nach meiner Geburt begann. Wenn alles zu aller Zufriedenheit vonstattengegangen ist, verschwinde ich von hier. Ich will nur das Beste für mich und meine Familie«, erwiderte Allison und klebte die Windel zu.
Ich saß noch immer auf dem Sofa und fragte mich gerade, welche Farbe die Augen der erwachsenen Allison gerade angenommen hatten. Gelegentlich wechselte das Wasserblau ihrer Iris nämlich zu einem katzenhaften Grün, das war mir schon bald nach ihrer Ankunft aufgefallen. Dieser Farbwechsel vollzog sich allem Anschein nach immer in genau jenen Momenten, in denen ich Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Worte hatte. Allison Harrowmore konnte nicht lügen, jedenfalls nicht, ohne dass man es ihr ansah. Nichtsdestotrotz log sie häufig. Zu häufig für meinen Geschmack und für Walts auch.
»Sieh mich an«, forderte da auch schon Walt, dem die Besonderheit an Allisons Augenfarbe ebenfalls nicht verborgen geblieben war.
Allison gehorchte und Walt gab ein zufrieden klingendes Schnauben von sich. Ich schloss daraus, dass ihre Augen unverändert blau waren.
»Hallo, all ihr glücklichen Kinderlosen dieser Welt, ich, die Todmüde, grüße euch!«, erscholl plötzlich laut die Stimme von Millie in meiner Dachkammer.
Nur einen Wimpernschlag bevor ihre übernächtigte Mutter den Raum betreten hatte, war Allison auch schon aus selbigem herausteleportiert. Nie zuvor hatte ich jemanden so schnell per Teleport verschwinden sehen. Zudem schien sie einen sechsten Sinn für die Auftritte ihrer Mutter zu haben, der sie augenscheinlich unter keinen Umständen begegnen wollte.
Einen Augenblick starrte ich noch auf den Platz, an dem Allison gerade noch gestanden hatte, dann forderte Millie meine gesamte Aufmerksamkeit ein.
»Seid ihr verrückt geworden, die Kleine unbeaufsichtigt auf dem Wickeltisch liegen zu lassen?« Millie hechtete durch den Raum, um ihre Tochter vor drohendem Unheil zu bewahren. Mit einer schnellen Bewegung riss sie die frisch gewickelte Ally von der Tischplatte. Die Kleine stimmte ein vorwurfsvolles Geheul an.
»Millie«, begann ich in oberlehrerhaftem Ton, »deine Tochter ist erst ein paar Wochen alt. Sie ist noch viel zu jung, als dass sie sich auch nur auf den Bauch drehen könnte. Sie kann noch gar nicht vom Wickeltisch fallen.« Die Information, dass sich der Säugling nur eine Sekunde zuvor noch in seiner eigenen Obhut befunden hatte, unterschlug ich.
»Jetzt, in diesem Moment, ist sie zu klein und einen Moment später lallt sie schon das Alphabet«, behauptete Millie. »Ich traue diesen beiden Kindern nicht über den Weg. Sie entwickeln sich viel zu schnell. Heute hat Badria mich ganz bewusst angelächelt, ich schwöre es.«
»Nett von ihm«, erwiderte Walt.
»Nett?« Millie suchte die Dachkammer nach einem Schnuller ab, fand ihn zwischen der Weihnachtsdekoration und steckte ihn der noch immer wimmernden Ally zwischen die Lippen. Das Wimmern ging in ein leises Schmatzen über. »Das ist nicht nett, das ist gruselig. Warum in aller Welt konnte ich nicht zwei ganz normale Babys bekommen, kann mir das mal jemand sagen?«
»Hättest du dir einen normalen Vater ausgesucht und keinen Inkubus, der Stimmungen beeinflusst und tagsüber nahezu unsichtbar ist, und hättest du dich wie andere junge Frauen im Heu vergnügt anstatt in einer Teleportzone, dann …«
Millie unterbrach meine Erklärungen mit einer entschiedenen Handbewegung und erwiderte: »Schon gut, schon gut. Ich bin selbst schuld, danke schön. Nichts höre ich lieber als das. Aber warum mussten es denn auch gleich zwei auf einmal sein? Hätte nicht ein Kind gereicht? Mir auf jeden Fall.«
»Wo hast du deinen zweiten Nachkommen gelassen?«, fragte Walt und verschränkte die Arme vor der Brust.
Millie schien kurz nachdenken zu müssen. Dann hob sie den Schnuller auf, den Allison soeben ausgespuckt hatte, und schob ihn der Kleinen erneut in den Mund.
Irgendwie war ich mir sicher, dass dieses Kind niemals unter Allergien leiden würde. Bei so viel Staub und Spinnweben, die es auf diese Weise bereits zu sich genommen hatte, war das kaum zu erwarten. Ally erhielt quasi eine Art Dachkammerimpfung.
»Ich glaube, bei meinem Bruder Cameron«, beantwortete Millie Walts Frage. »Ich bin in letzter Zeit ein wenig vergesslich, das kommt vom Schlafmangel, aber ich denke, ich habe ihn Cameron in die Arme gedrückt. Ehrlich, wenn ich euch beide und meine Familie nicht hätte, würde ich verrückt werden. Einer von den beiden hat immer Hunger, die Hosen voll oder sonst ein Problem. Wie machen andere Mütter von Zwillingen das? Wenn zwei Hände nicht einmal für ein einziges Baby ausreichen, wie bändigen sie dann zwei von der Sorte?«
Ich lachte. »Dann sei doch froh darüber, dass sie sich ungewöhnlich schnell entwickeln. Vielleicht kannst du sie im Herbst schon einschulen lassen.«
Millie hielt die jetzt wieder weinende Allison eine Armeslänge von sich und schrie, um ihre Tochter zu übertönen: »In ein Internat ganz weit weg von hier. Was für ein herrlicher Gedanke.«
Mit schnellen Schritten kam sie durch die Kammer gehastet und warf mir ihr Kind quasi entgegen. Ich fing Ally geistesgegenwärtig auf.
Das war mal wieder typisch. Erst beklagte sie sich darüber, dass wir das Kind unbeaufsichtigt auf dem Wickeltisch zurückließen, und dann konnte sie es kaum erwarten, das Kind wieder an mich abzutreten.
Ich strich der Kleinen über das schwarze Haar und küsste ihre winzige Hand. Augenblicklich brach das infernalische Geheul ab. Der Körper in meinen Händen erbebte noch einmal stakkatoartig unter einer Reihe von Schluchzern, dann fielen ihr die Augen zu. Klein-Allison war auf meinem Arm augenblicklich eingeschlafen.
Millie stieß einen Seufzer aus, ließ sich auf mein Sofa fallen und schloss ebenfalls die Augen. »Sie kann mich nicht leiden. Meine eigene Tochter kann mich nicht leiden. Und das quasi von Geburt an. Ich dachte, diese Spannungen zwischen Müttern und ihren Töchtern kämen erst mit der Pubertät.«
»Sie kann dich schon leiden, aber mich hat sie eben lieber«, feixte ich, bereute es aber sofort, als Millie die Lider hob und ich ihren verletzten Blick auffing.
Sie machte sich wirklich Gedanken wegen Ally. Zudem litt sie unter den Nachwirkungen der Geburt, den ungewohnten Pflichten und dem Schlafmangel. Der Gedanke, dass ihre Tochter sie nicht mochte, schmerzte sie sehr.
Ich hätte gern ein paar aufbauende Worte von mir gegeben, doch das war nicht so leicht. Auch ich hatte den Eindruck, dass Ally sich auf dem Arm ihrer Mutter nie ganz wohlfühlte. Als ob sie sich von etwas befreien müsste, zappelte die Kleine herum und begann zu quengeln, während ihr Bruder Badria hingegen die mütterliche Nähe zu genießen schien.
Nach ein paar hilflosen Versuchen, Millie gekonnt zu belügen, wechselte ich rasch das Thema und wählte eines, bei dem ich die Emotionen meiner Freundin genau vorhersagen konnte.
»Hat sich der Vater dieser beiden Prachtexemplare eigentlich schon mal wieder blicken lassen? Der hätte vielleicht eine Erklärung für das schnelle Voranschreiten ihrer Entwicklung. Möglicherweise ist das bei Inkubus-Kindern ganz normal.«
Millies Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie gab ein Schnauben von sich und warf sich schwungvoll in die Sofalehne. Während Walt unbewegt am Stützbalken nahe dem Wickeltisch lehnte und sich auf das einstellte, was jetzt zwangsläufig folgen musste.
»Der Vater, nein, der Erzeuger dieser Kinder, denn der Begriff Vater beschreibt definitiv etwas anderes, hat mich wissen lassen, durch Dritte wohlgemerkt, dass er mal wieder reinschaut, sobald die zwei trocken sind. Also kann ich frühestens in zwei, eher in drei Jahren mit seinem Besuch rechnen. Dieser selbstverliebte, treulose …«
»Du hast nicht ernsthaft Treue von einem Inkubus erwartet, oder?«, fiel Walt ihr ins Wort. »Das ist in etwa so, als würdest du von einem Hamster erwarten, dass er ein Ei legt oder Feuer speit. So etwas gibt es einfach nicht.«
Und mit diesem simplen und sehr berechtigten Einwurf zerstörte Walt all meine Bemühungen und die Hoffnungen, die ich in den Themenwechsel gesetzt hatte, und Millie brach doch noch in Tränen aus.
»Brillant, Walt«, zischte ich und legte den Säugling neben mich, der zufrieden weiterschlummerte. Jetzt hatte ich die Hände frei für meine Freundin. Sacht strich ich ihr über das glatte rote Haar, das ich so mochte.
Millie erbebte an Unterlippe und Schultern und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. »Ich habe mir alles ganz anders vorgestellt, wisst ihr? Ich dachte, dass ich irgendwann einen Mann finde, der mich liebt, und dass wir dann gemeinsam Kinder haben würden. Ich dachte, dass ich meinen eigenen Schlosstrakt bekommen und dort bis in alle Zeiten glücklich mit meiner Familie leben würde. Aber alles ist irgendwie schiefgegangen und jetzt bin ich einsam, habe zwei Kinder am Hals, bin fett und schlafe noch immer in meinem Kinderzimmer.«
Ein Weinkrampf schüttelte sie und ich warf Walt noch einen finsteren Blick zu, bevor ich mich in die Flut ihrer langen roten Haare stürzte und sie an mich presste. Dann zog ich alle Register, wie es sich für eine Freundin gehört.
»Du bist kein bisschen fett, das ist nur der Babybauch und der ist bald wieder verschwunden. Ganz im Gegensatz zu mir wirst du gertenschlank durchs Leben gehen, das ist dir einfach vorherbestimmt. Und diese Kinder werden groß und klug und du wirst bald stolz auf sie sein, anstelle sie gegen die Wand werfen zu wollen. Alles wird richtig super und möglicherweise taucht eines Tages auch noch Mister Right vor dem Schlosstor auf, klingelt und verliebt sich Hals über Kopf in die Frau, die ihm geöffnet hat. Und das könntest du sein.«
»Glaubst du das wirklich?« Millie zog geräuschvoll die Nase hoch und drückte ihr Gesicht in meine Halsbeuge.
Ich tauchte aus ihrer Haarmähne auf und gab Walt ein Zeichen, der daraufhin ein Kleenex vom Wickeltisch rupfte und es mir brachte. Fast zärtlich machte ich mich frei und ließ, weil ich Alltagsgegenstände seit meinem Tod nicht mehr greifen konnte, das Stück Zellstoff auf Millies Nase zuschweben. Millie schnaubte hinein und brachte danach ein schwaches Lächeln zustande.
»Eigentlich bin ich ja deswegen hier, weißt du? Heute Abend habe ich Gelegenheit, mal wieder unter Leute zu kommen. Alte und langweilige Leute vermutlich, aber das ist mir inzwischen egal. Und wenn der Mann meiner Träume auch nur knapp unter hundert sein sollte, ist mir das auch recht. Ich will nicht mehr allein sein. Und deswegen möchte ich euch bitten, heute Abend beide Babys zu übernehmen. Nur für ein paar Stunden. Ich pumpe auch etwas Milch ab und lasse sie euch da. Badria hat ja immer Hunger.«
Walt hob die Kapuze. Das blaue Leuchten seiner Augen, Rückstände unzähliger Todesvisionen, die er hatte mit ansehen müssen, schimmerte plötzlich heller. »Du willst ausgehen, Millie?«
»Nicht direkt.« Millie sah uns abwechselnd treuherzig an. »Mein Vater hat sich von ein paar Herren seines Clubs zu einem Pokerabend überreden lassen. Hier im Schloss. Ich sage euch, das ist das erste Mal, dass in der Bibliothek etwas anderes gespielt wird als Bridge. Ich würde gern mitspielen und Vater und auch Cameron haben nichts dagegen. Mutter findet Poker fürchterlich und wird den Abend wohl im Ostflügel bei meiner Tante und meiner Cousine verbringen, um Seifenopern im Fernsehen anzuschauen. Aber ich freue mich so sehr über eine Abwechslung, ich will auf keinen Fall heute Abend die brave, stillende Mutter sein, die in ihrem Zimmer sitzt. Bittebittebitte.«
Walt und ich seufzten beide gleichzeitig. Wie hätten wir Millie diese kleine Freude verderben können?
Noch bevor wir uns mit schwachem Kopfnicken in unser Schicksal fügen konnten, fiel mir Millie schon wieder um den Hals. »Oh dankedankedanke!«
»Bitte schön«, erwiderte ich mit einem Lächeln. »Aber bitte achte diesmal ganz genau darauf, mit wem du anbändelst, ja? Von Dämonen und Inkubussen habe ich jetzt nämlich wirklich die Nase voll. Wie wäre es denn zur Abwechslung mit einem ganz normalen Mann?«
Millies Blick verdüsterte sich. »Solche Männer kommen gar nicht erst hierher. Die wollen mich nicht. Daran wird sich wohl nicht plötzlich etwas geändert haben.«
Bevor sie wieder in Selbstmitleid zerfließen konnte, sprang ich auf die Füße und zerrte meine Freundin mit mir hoch. »Dann aber schnell vor den Kleiderschrank. Du musst dir eine passende Abendgarderobe überlegen. Ein Kleid mit Schärpe vielleicht? Damit ließe sich das letzte Speckröllchen vom Babybauch hervorragend kaschieren.«
Auf Millies hoher Stirn erschien eine steile Falte. »Mal nachdenken. Ich glaube, so etwas müsste ich mir zusammenbasteln können.«
»Und nimm ein Kleid mit tiefem Ausschnitt«, grollte Walt. »So eine Oberweite, wie du sie im Moment spazieren trägst, bekommst du vermutlich nie wieder.«
Ich warf ihm erneut einen finsteren Blick zu, doch Millie war in Gedanken schon ganz bei ihrer Abendgarderobe. Wie eine Schlafwandlerin erhob sie sich und verließ die Dachkammer. Keine Minute später kam die erwachsene Allison wieder zu uns herein und betrachtete das jetzt schlafende rosa Bündel neben mir.
»Sie hat mich zurückgelassen, wie nett von ihr.«
»Warum verschwindest du eigentlich immer von der Bildfläche, wenn deine Mutter auftaucht?«, platzte es aus mir heraus. »Millie weiß doch, dass du eine Zeitreisende bist, sie ist dir längst begegnet. Wenn auch einer wesentlich älteren Ausgabe von dir.«
Ich ging nicht weiter ins Detail, denn von mir brauchte Allison nicht zu erfahren, dass ihre Mutter und ich sie bereits als zahnlose, zerlumpte Alte kannten. Es gibt Dinge über die eigene Zukunft, die einfach niemand so genau wissen will.
»Mama und ich werden uns begegnen. Schon bald. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür«, entgegnete Allison.
»Da sieh mal einer an«, konterte ich. »Also stehst du doch nicht über allen Dingen, was den Ablauf der Zeit angeht.«
»Das tue ich sehr wohl«, widersprach Allison. »Aber meine Mutter nicht.«
»Sie wird übrigens bald wieder hier auftauchen, um uns auch noch deinen Bruder aufzuhalsen«, bemerkte Walt und nahm in einem wackligen Stuhl mir gegenüber Platz. »Heute Abend findet auf Schloss Harrowmore eine Pokernacht statt. Fürwahr, es ändern sich die Zeiten.«
Allison, die gerade ebenfalls in einem Stuhl hatte Platz nehmen wollen, erstarrte in der Bewegung. »Dann ist es also so weit. Die Zukunft hat begonnen. Heute Nacht wird es geschehen.«
»Diese Pokernacht ist also das Ereignis, auf das du gewartet hast? Was wird denn geschehen?«, fragte ich alarmiert, hob instinktiv die kleine Ally hoch und drückte sie an mich.
Die erwachsene Allison schien durch mich hindurchzusehen und lächelte versonnen. »Heute Nacht wird eine Rechnung beglichen. Und für unzählige Seelen wird ein Traum Wirklichkeit.«
Ich beugte mich vor, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Allisons Augen waren von ehrlichem Blau und glänzten vor Erregung. Verstört antwortete ich: »Also, ich bin mir nicht sicher, ob ich das zulassen kann.«
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, verschwand die erwachsene Allison kommentarlos vor meinen Augen.
Verdutzt wandte ich mich an Walt. »Sie hat sich wegteleportiert. Soll das etwa eine Antwort sein? Ist sie jetzt beleidigt, oder was? Gerade jetzt, wo mir haufenweise Fragen unter den Nägeln brennen?«
Statt einer Erwiderung klopfte Walt erneut an die Wand, die zwischen meiner Dachkammer und der Allisons stand, und rief laut: »Hey! Komm sofort wieder her! Bis zu deiner Pubertät vergehen aus unserer Sicht noch mindestens vierzehn Jahre, also mach, dass du hier rüberkommst, und stehe uns Rede und Antwort!«
Wir warteten und sahen auf die kleine Ally hinab, die noch immer schlafend neben mir lag und dabei kleine Spuckebläschen blubberte. Nichts geschah. Unser Gast aus der Zukunft ließ sich nicht blicken.
Schließlich verloren Walt und ich gleichzeitig die Geduld.
»Jetzt reicht es! Sehen wir nach, was mit ihr los ist«, waren Walts Abschiedsworte, bevor auch er sich per Teleport davonmachte.
Ich warf noch einen letzten wachsamen Blick auf das Baby, erhob mich und verließ meine Dachkammer zu Fuß. Irgendwie gab es in meinem Kopf einen Rest menschliches Denken, der den Teleport mit einer Autofahrt gleichsetzte. Und die Faulheit, für eine Wegstrecke von zwanzig Schritten auf Hilfsmittel zurückzugreifen, brachte ich einfach nicht über mich.
Kraft meiner Gedanken öffnete ich alle Türen auf meinem Weg und trat schließlich neben Walt, der sich in dem verhältnismäßig kleinen Raum aufmerksam umsah.
Viel gab es nicht zu entdecken: ein leer geräumter Schreibtisch vor dem einzigen Fenster, eine leere Kommode mit offenem Deckel und ein verlassenes Bett, auf dem Allisons Kampfanzug ordentlich zusammengelegt lag. Davor standen ihre grässlichen Stiefel.
»Sie ist fort?« Das Erstaunen musste mir ins Gesicht geschrieben stehen. »Aber ich dachte, es ginge ihr um ebendiese Pokernacht. Und warum hat sie ihre Klamotten hiergelassen? Ich habe sie nie in etwas anderem als diesem Anzug gesehen.«
Walts dunkle, warme Stimme, die mich immer an geschmolzene Schokolade erinnerte, klang ein wenig besorgt, als er antwortete: »Ich habe leider auch keine Antwort darauf. Wir werden abwarten müssen. Und wachsam werden wir sein, sehr wachsam.«
»Warum können wir nicht beide den Abend in der Bibliothek verbringen?«, quengelte ich und schaukelte Badria in meinen Armen. »Wir singen den zwei Zwergen ein Schlaflied, lassen den Mummel bei ihnen wachen und sehen alle zehn Minuten nach dem Rechten.«
Sniff schlug Wellen in seinem Glas und stimmte ein Protestgeschrei an. Auch Walt schüttelte die Kapuze.
»Es geht nicht, Livie. Einer von uns muss bei den Zwillingen bleiben. Wir haben es Millie versprochen. Und da unsere Freundin Allison mit unbekanntem Ziel abgereist ist, kaum dass sie von der bevorstehenden Pokernacht erfuhr, können wir auch nicht auf sie zurückgreifen.«
»Es gibt ja auch noch andere Harrowmores in diesem Schloss«, begehrte ich auf. »Soll doch Claire mal ihren Omapflichten nachkommen, anstelle Tagescremes und gesundheitsgefährdende Tees zusammenzupanschen.«
»Willst du das wirklich?« In Walts Stimme klang Zweifel. »Ehrlich gesagt ist es nur uns zu verdanken, dass die Schar ihrer Kinder und Enkel noch vollzählig ist. Claire Harrowmore ist gedankenlos genug, um einen Säugling in Domestos zu baden. Nein, es bleibt dabei. Ich kümmere mich um die beiden Babys und sorge dafür, dass es ihnen in dieser angeblich schicksalhaften Nacht an nichts fehlt. Und du, Livie, gehst hinunter in die Bibliothek und behältst alles und jeden genau im Auge. Keine Sorge, es handelt sich sicher nicht um eine tödliche Gefahr, in dem Falle hätte ich eine Todesvision gehabt und wir beide wüssten bereits, wovor wir uns heute fürchten müssen.«
Seine Worte vermochten nicht, mich zu beruhigen. »In der Nacht ihrer Geburt meinte Allison, dass ich die Dinge, die jetzt passieren, ausgelöst hätte. Bei einem unserer vergangenen Abenteuer. Sie sagte, es hätte etwas mit meinem Aufenthalt in London zu tun.«
Obwohl ich für alle Partygäste außer Millie an diesem Abend unsichtbar sein würde, richtete ich unaufhörlich mein Samtkleid und mein schwarzes Haar. Ich war schrecklich nervös. Allisons Verschwinden hatte mich nervös gemacht. Da kam sie hierher, in unsere Zeit, und wartete auf ein Ereignis, nur um sich dann bei seinem Eintreten in Luft aufzulösen.
Warum machte sie so etwas? War das Mädchen etwa nicht ganz dicht? Würde sie mir in den kommenden Monaten wirklich noch vom Wickeltisch und auf den Kopf fallen? Dann wäre ich für den verwirrten Geisteszustand der kommenden Generation verantwortlich.
Walt kam zu mir und nahm mir Badria ab, damit ich damit fortfahren konnte, an mir herumzuzupfen. Der Junge lag still in seinen Armen und starrte hoch in den blauen Lichtstrahl, der unter der Kapuze schimmerte. Seine Finger streckten sich nach dem Schimmer und er gab einen unwilligen Laut von sich.
Walt ließ eine blaue und nicht ganz ungefährliche Energiekugel zwischen seinen Fingern entstehen und hielt sie dem Kleinen hin, der begierig danach griff. Dann sagte er: »Was Allison dir in jener ersten Nacht anvertraute, ist ein weiterer Grund dafür, warum du heute in der Bibliothek sein solltest und nicht ich. Während unseres Londoner Abenteuers war ich die meiste Zeit weggetreten, weil ich unter den Nachwirkungen meiner Zeit in Butterbees Kuriositäten litt. Man hat mich dort mental ausbluten lassen, ich kann mich an kaum etwas erinnern. Dir hingegen könnte schon beim Anblick der Gäste ein Licht aufgehen. Möglicherweise erkennst du jemanden wieder.«
»Aber wenn ich niemanden wiedererkenne, alles verbocke und die Katastrophe ihren Lauf nimmt, bin ich an allem schuld. Und ich hasse es, an allem schuld zu sein! Ich finde es besser, wenn du schuld bist. Geh du zu dieser Pokernacht und ich bleibe hier.«
Walt lachte. »Vielleicht wird es ja gar keine Katastrophe geben. Vielleicht ist das, was heute Abend passiert, für Allison von viel größerer Bedeutung als für uns. Vielleicht werden wir in unserer Zeit die Auswirkungen noch nicht einmal spüren«, versuchte er, mich zu beruhigen, und verhinderte gerade noch, dass Badria die blaue Energiekugel verschluckte.