Banshee Livie (Band 8): Spionage für Spezialisten - Miriam Rademacher - E-Book

Banshee Livie (Band 8): Spionage für Spezialisten E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Zunächst ist Livie vor Freude ganz aus dem Häuschen, als ihr Weg sie überraschend in das Paris der Fünfzigerjahre führt. Doch während sie Personen nachspürt, die entweder nie existiert haben oder in der Zeit verloren gegangen sind, begegnen ihr eine Reihe geheimnisvoller Gestalten. Und diese sind alles andere als ungefährlich. Laufen auch Livie und ihre Freunde Gefahr, für immer verloren zu gehen?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Dank

Miriam Rademacher

Banshee Livie

Band 8: Spionage für Spezialisten

Fantasy

 

 

 

Banshee Livie (Band 8): Spionage für Spezialisten

Zunächst ist Livie vor Freude ganz aus dem Häuschen, als ihr Weg sie überraschend in das Paris der Fünfzigerjahre führt. Doch während sie Personen nachspürt, die entweder nie existiert haben oder in der Zeit verloren gegangen sind, begegnen ihr eine Reihe geheimnisvoller Gestalten. Und diese sind alles andere als ungefährlich. Laufen auch Livie und ihre Freunde Gefahr, für immer verloren zu gehen?

Die Autorin

Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Dezember 2022

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2022

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-256-4

ISBN (epub): 978-3-03896-257-1

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

 

Gewidmet meinen eigenen kleinen Dämonen,

die mich täglich vorwärtstreiben.

Ihr macht einen guten Job.

 

Prolog

 

London 1941

 

Morrigan Bailey blickte sich gelangweilt an ihrem Arbeitsplatz, dem kleinen Café in Soho, um, während sie die frisch gespülten Gläser polierte. Es bot sich ihr der vertraute Anblick ernst dreinblickender Menschen, deren Kleidung verriet, wie wenig Geld die Träger eigentlich für Tee und Kekse erübrigen konnten, von einem Stück Kuchen ganz zu schweigen. Doch auf das regelmäßige Erscheinen ihrer Stammkunden war Verlass, denn im ›King’s Corner‹ gab es neben heißem Wasser, durch welches nur flüchtig ein paar Teeblätter gezogen worden waren, auch immer die aktuellen Nachrichten vom Kriegsgeschehen.

Tag für Tag gruppierten sich um die runden Tische Flüchtlinge vom Kontinent, ließen die zerfledderte Tageszeitung kreisen und unterhielten sich im Flüsterton über die Neuigkeiten. Nicht alle von ihnen sprachen Englisch. Die meisten Besucher des ›King’s Corner‹ stammten aus Polen, Österreich oder Deutschland und hatten ihre Heimat Hals über Kopf verlassen, als die Nazis ihnen und ihrer Lebensweise zu nahe gekommen waren. Hier vereinten heiße Getränke sowie die Sehnsucht nach Gesellschaft und Information viele Einzelschicksale. Manchmal wurde an den Tischen aufgeregt erzählt, geweint oder auch nur gemeinsam geschwiegen. Je nachdem, welche Nachrichten aus der Heimat die Vertriebenen gerade erreicht hatten.

Morrigan selbst war gerade fünfzehn Jahre alt geworden und wusste nicht viel über Nazis, außer dass sie bösartig oder sehr dumm sein mussten und die ganze Welt, zumindest die ihr bekannte, diese Leute hasste. Sie war ein hoch aufgeschossenes, eher dürres Mädchen mit dunklem Haar und hätte zu dieser Tageszeit eigentlich in der Schule sein sollen. Doch anlässlich des Krieges, der Lungenkrankheit ihrer Mutter und des weniger werdenden Geldes der Baileys hatte Morrigan das Lernen aufgegeben und arbeitete nun als schlecht bezahlte Hilfskraft im ›King’s Corner‹.

Auf diese Weise trug sie ihren Teil zum Lebensunterhalt der Familie bei, was sie durchaus mit Stolz erfüllte. Lernen konnte sie später immer noch, denn der Krieg würde ja nicht ewig dauern.

In ihren ersten Tagen hinter dem Tresen des ›King’s Corner‹war ihr der Job aufregend und abwechslungsreich erschienen, einfach weil die Umgebung und die anfallenden Aufgaben neu für sie gewesen waren. Sie hatte viele Menschen kennengelernt, von denen die meisten sehr nett und höflich ihr gegenüber waren und ihr das Gefühl gaben, erwachsen zu sein.

Doch mittlerweile vermisste sie ihre Klassenkameraden. Sowohl jene, die nach wie vor die Schulbank drückten und sich auf diesem Weg bessere Zukunftschancen sichern konnten als sie selbst, als auch die Kinder, welche London aus Sicherheitsgründen verlassen hatten und auf dem Land das Ende des Krieges erwarteten.

Das Leben in der großen Stadt war dank der sich häufenden deutschen Luftangriffe für jeden ein unkalkulierbares Risiko geworden, warf Lebenspläne über den Haufen und veränderte die Menschen. Es ließ sie ängstlich, ratlos und oft auch wütend zurück, angesichts der Zerstörung, die sich überall zeigte.

Morrigans Mutter trauerte allerdings vornehmlich um ihre Johannisbeersträucher im Garten, die einem hässlichen Bunker aus Blech hatten weichen müssen.

Gerade als Morrigan dem aus Wien stammenden ehemaligen Pianisten jüdischer Abstammung den zweiten Kaffee des Vormittags einschenkte, öffnete sich die Tür, und ein schmächtiger Junge trat ein. Der Bursche war ein wenig kleiner als sie selbst und besaß dasselbe dunkle Haar, das er mit viel Wasser gescheitelt hatte. Doch mindestens zwei Wirbel auf seinem Hinterkopf hatten seine Bemühungen bereits wieder zunichtegemacht.

Ein zufälliger Betrachter konnte auf den Gedanken kommen, ein Geschwisterpaar vor sich zu haben, doch was sie tatsächlich miteinander verband, war eine tiefe und lange Freundschaft. Und das wog, wie Morrigan fand, in diesem Fall mehr als Familienbande.

Ihre Laune stieg spürbar, während er ohne Umschweife auf sie zugelaufen kam und vor dem Tresen innehielt.

Im täglichen Einerlei ihrer Arbeit waren Tibby Turners Besuche für sie eine willkommene Abwechslung. Er war immer gut gelaunt und wusste die unglaublichsten Geschichten zu erzählen, auch wenn nicht alles, was er von sich gab, der Wahrheit entsprach. Morrigan war nicht entgangen, dass Tibby sich gelegentlich Menschen und sogar seltsame Tiere ausdachte, die in Wahrheit nicht da waren, doch sie hörte ihm bei seinen Spinnereien gerne zu.

Allerdings gab es da noch eine Kleinigkeit, die ihre Freundschaft gelegentlich auf die Probe stellte. Man musste ihn scharf im Auge behalten, denn Tibbys Finger schienen für einen ehrlichen Jungen ein wenig zu lang geraten zu sein. In jüngster Vergangenheit war bereits die eine oder andere Kleinigkeit von den Tischen des ›King’s Corner‹ verschwunden.

Dabei handelte es sich für gewöhnlich um Gegenstände, die dem Café, manchmal aber auch den Gästen gehörten. Wenn Zuckerwürfel oder Servietten verschwanden, drückte Morrigan noch ein Auge zu. Doch bei Spitzentaschentüchern oder Füllfederhaltern hörte ihre Toleranz schlagartig auf. Dinge von wirklich großem Wert waren während Tibbys Anwesenheit glücklicherweise noch nie auf rätselhafte Weise verloren gegangen. Trotzdem blieb Morrigan wachsam, wann immer der Junge sich an einen der Tische zu den Gästen setzte und sich ins Gespräch einmischte.

Heute aber galt sein Interesse ausschließlich ihr. Zudem musste es allem Anschein nach ein ganz besonderer Tag für ihren Freund sein, denn Tibby schwang sich freudestrahlend auf einen der Hocker ihr gegenüber und ließ ein paar Münzen auf den Tresen fallen. »Eine Tasse Tee mit viel Milch und eine Zigarette bitte«, bestellte er und grinste dabei über das ganze, nicht übermäßig saubere Gesicht.

Sofort keimte in Morrigan Misstrauen auf. Sie betrachtete zunächst das Geld vor ihrer Nase und anschließend Tibby, den es vor Freude über seinen plötzlichen Reichtum kaum auf dem Sitz zu halten schien. Er wippte auf und ab wie ein Teufelchen, das man aus seiner Schachtel befreit hatte.

»Woher hast du das?« Sie rührte die Münzen nicht an und brachte ihm auch nicht das Gewünschte. Stattdessen wartete sie auf eine wenigstens halbwegs glaubhafte Erklärung.

»Du brauchst gar nicht so zu gucken, ich habe es ehrlich verdient.« Tibby strich sich die vorwitzigen Ponyfransen aus der Stirn und schaute selbstbewusst zurück. »Schon seit den frühen Morgenstunden bin ich auf den Beinen und erledige Botengänge für den Gemischtwarenladen von Arnie Potts. Ich bringe die Post weg und liefere Waren aus. Vor allem an gute Adressen, wo man noch Geld hat. Die Leute hinter diesen gelackten Türen merken, glaube ich, gar nicht, dass Krieg ist, so reich sind die. Morry, ich schätze, ich werde Kurier, und zwar jetzt gleich. Damit lässt sich einiges verdienen. Wenn ich nur ein Fahrrad hätte, wäre ich noch schneller in den Straßen unterwegs und könnte noch heute mein eigenes Unternehmen gründen.«

»Nenn mich nicht Morry.« Ihre Augen waren schmal geworden. Sie hasste diese Verunstaltung ihres Namens, den sie wundervoll fand, weil er auf eine irische Sagengestalt zurückging. »Und du weißt ganz genau, dass ein eigener Kurierdienst meine Geschäftsidee ist. Wehe, du klaust sie mir und obendrein noch meine Kunden. Überleg dir gefälligst etwas anderes. Du wolltest doch gestern noch Abenteurer werden, was immer das überhaupt sein soll. Was ist daraus geworden?«

»Boten erleben Abenteuer, glaub mir. Und in London ist genug Platz für zwei Kurierdienste. Wenn du willst, können wir aber auch Partner werden«, schlug Tibby vor. »Doch zuerst hätte ich gern meinen Tee. Und eine Zigarette.«

»Der Herr wünscht eine Tasse Tee und einen Haferkeks? Kommt sofort«, erwiderte Morrigan schnippisch und warf das Spültuch auf die Arbeitsfläche.

»Wer hat denn von Keksen gesprochen? Ich sagte, bring mir die Zigarette. Heute will ich feiern.« Als er ihren Blick bemerkte, ergänzte er: »Komm schon, Morry, ich bin alt genug dafür.«

Sie tippte sich vielsagend an die Stirn und suchte für ihn einen der größten Haferkekse aus der Dose. Auch wenn Tibby ihr sein genaues Alter nicht verriet, so war sie davon überzeugt, die erwachsenere von ihnen beiden zu sein. Dem Bengel spross noch kein bisschen Bart auf der Oberlippe, und an anderen Stellen hatte er vermutlich auch noch keine Haare.

In dem Moment, da sie den Tee für ihn einschenkte und ein wenig mehr Milch als üblich hineintropfen ließ, betrat ein auffallend gut gekleideter Fremder das ›King’s Corner‹. Morrigan erkannte in ihm augenblicklich einen vornehmen Gentleman, wie man sie nicht oft in dieser Gegend zu sehen bekam. Nicht nur, weil er einen Hut und einen Spazierstock bei sich trug, sondern vor allem, weil seine Schuhe glänzten wie die von ihr so mühsam polierten Gläser und darüber hinaus sehr teuer gewesen sein mussten.

Während der Fremde mit ernster Miene schnurstracks auf sie zuhielt, fiel ihr auf, wie jung er noch war. Vermutlich gerade erst Anfang zwanzig. Ein Sohn aus gutem Hause, der das Geld für seine Kleidung nicht selbst verdient hatte. Der schmale Schnurrbart in seinem Gesicht wirkte deplatziert und sollte ihn vermutlich älter erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit war.

»Guten Morgen«, rief Morrigan ihm entgegen und strich sich hastig über das zu Zöpfen geflochtene Haar, um einen möglichst guten Eindruck auf ihn zu machen. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, vielen Dank.« Sein Blick war freundlich, die Stimme auffallend leise. Dem Akzent nach stammte er nicht aus der Gegend, aber gewiss aus den von ihr schon vermuteten vornehmen Kreisen. »Ich habe unglücklicherweise den Weg verloren und frage mich, wie ich von hier aus zur nächsten U-Bahn-Station komme. Können Sie mir weiterhelfen?«

Während Morrigan ihm bereitwillig Auskunft gab und eine exakte Wegbeschreibung zur nächsten Untergrundbahn lieferte, beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie Tibby sich auffällig unauffällig näher an den Fremden heranschob. Fast wäre er dabei von seinem Hocker gefallen.

Schon aus Gewohnheit warf sie ihm einen strafenden Blick zu, doch Tibby ignorierte sie. Nur eine Minute später bedankte sich der Gentleman für ihre Hilfe, lupfte den Hut und bahnte sich seinen Weg durch die gut besetzten Tische des Cafés. Dann war er zur Tür hinaus und hinterließ bei Morrigan nichts als einen Tagtraum von Glück und Reichtum, der sie vermutlich bis weit nach Feierabend wehmütig stimmen würde.

Warum war sie nicht in ein Umfeld hineingeboren worden, in dem schöne Schuhe, genug zu essen und die duftende Seife neben der Waschschüssel zum Alltag gehörten? Das Leben war einfach ungerecht.

Ihr Blick war noch träumerisch in weite Ferne gerichtet, als Tibby plötzlich ausrief: »Echtes Schweinsleder und prall gefüllt. Das nenne ich Glück. Morry, willst du heute Abend mit mir ins Kino gehen?«

Irritiert wandte sie sich dem Jungen zu und erstarrte, als sie die teuer wirkende Geldbörse in seinen Händen bemerkte. »Woher hast du die?«

»Die?« Tibby tat unschuldig. »Stell dir vor, die habe ich gerade gefunden. Sie lag hier, gleich neben meinem Hocker auf dem Boden, und wartete darauf, von mir aufgehoben zu werden. Und was man findet, darf man auch behalten.«

»Nein, das darf man nicht.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Schon gar nicht, wenn man es in der Manteltasche eines anderen gefunden hat. Erzähl mir nichts vom Fußboden, Tibby. Du hast gestohlen und du gibst dem Mann sein Eigentum sofort zurück. Lauf ihm nach. Er kann noch nicht weit sein.«

»Morry, du hast doch gesehen, wie der aussah. Ein echter Herr, der sich nicht darum zu scheren braucht, wo seine nächste Mahlzeit herkommt. So einem nutzt das Geld viel weniger als uns zweien.« Treuherzig blickte er sie an und ergänzte: »Bitte, Morry. Lass uns die Geldbörse behalten.«

Zorn stieg in ihr auf. Mit schnellen Schritten trat sie hinter dem Tresen hervor und versuchte, ihm das Corpus Delicti zu entreißen, hatte jedoch keinen Erfolg. »Du spinnst wohl. Augenblicklich gibst du den Geldbeutel zurück, Tibby Turner. Oder du fliegst aus dem Lokal und bekommst lebenslanges Hausverbot. Weißt du überhaupt, was dir blüht, wenn du erwischt wirst?«

»Gar nichts. Ich bin viel zu jung für das Gefängnis.« Er feixte.

»Aber alt genug für Zigaretten, was?« Morrigan griff erneut nach dem teuer wirkenden Portemonnaie und wollte es ihm entreißen.

Doch Tibby umklammerte das Leder mit aller Kraft. Er war offensichtlich fest entschlossen, seine Beute zu verteidigen.

Eine Weile rangen sie miteinander, dann hob Tibby den Blick und ließ seine Beute so unvermittelt los, dass Morrigan rückwärts taumelnd gegen jemanden stieß, der sich dicht hinter ihr befand.

Sie fuhr herum und erstarrte, als sie sich erneut dem eleganten Fremden gegenübersah, der mit ernster Miene auf sie und die Geldbörse in ihren Händen herunterschaute. Auch die anderen Gäste im Lokal starrten sie an. Totenstille lag über dem ›King’s Corner‹.

Was würden der Gentleman und ihre Stammkunden nun von ihr denken? Es lag Morrigan fern, Tibby zu verraten, aber die Suppe auslöffeln, die er ihnen eingebrockt hatte, würde sie ebenfalls nicht.

Mit angehaltenem Atem hielt sie dem gut gekleideten Mann sein Eigentum entgegen. »Sie müssen das hier verloren haben, Sir.«

»Verloren?«, wiederholte er, nahm ihr die Börse ab und schien auf eine weitere Erklärung zu warten.

»Gleich hier neben dem Hocker hat der Geldbeutel gelegen, Sir«, rief Tibby aus und stellte sich nun so dicht neben sie, dass sie die Wärme seines nackten Armes an dem ihrigen spürte. »Ich habe ihn gefunden und aufgehoben. Leute wie Sie verlieren ja ständig irgendetwas. Ist es nicht so?«

»Nein.« Er nahm die Geldbörse, öffnete sie und überprüfte den Inhalt. Dann schob er sein Eigentum zurück in die Manteltasche. »Wer ist der Besitzer dieses Etablissements? Ich möchte ihn gern sprechen.«

Morrigan brach augenblicklich der Schweiß aus. Mehr als alles andere brauchte sie diesen Job. Und wer wegen Diebstahls gefeuert wurde, für den standen die Chancen schlecht, eine neue Anstellung zu finden. In Gedanken bei ihrer hustenden Mutter und den hungrigen Augen ihrer Geschwister verlegte sie sich aufs Betteln. »Bitte, Sir, sprechen Sie nicht mit dem Eigentümer. Es wird gewiss nicht wieder vorkommen. Können wir dieses Missgeschick nicht einfach vergessen?«

»Vergessen?« Er schien eine Vorliebe für Wiederholungen zu haben. »Ein Lord Harrowmore vergisst niemals. Es sei denn, man nennt ihm einen verdammt guten Grund, warum er das tun sollte.«

Morrigan nagte eine Weile an ihrer Unterlippe, bevor sie mit zittriger Stimme hervorstieß: »Meine Mutter ist krank, und mein Vater ist im Krieg. Wenn ich kein Geld heimbringe, werden meine kleinen Brüder hungern. Bitte, Sir. Ihr berechtigter Zorn trifft die Falschen. Wir sind aufrechte Bürger, die ihrem Land dienen, aber wir müssen auch essen.«

Einen Moment herrschte Stille, und alle Aufmerksamkeit war auf das Geschehen vor dem Tresen gerichtet. Morrigan wurde sich ihrer schäbigen Kleidung, der Zöpfe, die sie wie ein Kind wirken lassen mussten, und ihrer hageren Gestalt bewusst. Sie fühlte sich erbärmlich, und all das verdankte sie Tibby.

»Diese Rechtfertigung war schon sehr beeindruckend«, meinte der Gentleman. »Nur wollte ich die Erklärung gar nicht von dir hören, kleines Mädchen. Du hast schließlich hinter dem Tresen gestanden, als ich meine Geldbörse angeblich verlor. Der junge Mann an deiner Seite scheint mir die größere Verantwortung am Geschehen zu tragen. Also, Bursche: Hast du auch eine kranke Mutter und einen Vater im Krieg?«

»Mit so viel Luxus kann ich nicht aufwarten«, erwiderte Tibby schnippisch und blickte auf seine Schuhspitzen hinab.

Morrigan beeilte sich, zu ergänzen: »Tibby hat niemanden mehr, Sir. Als die ersten Bomben fielen, haben die Deutschen Tibbys Zuhause ausradiert. Seine Eltern waren noch drinnen. Tibby ist auf die Großzügigkeit anderer angewiesen. Und auf seiner Hände Arbeit.«

Erneut trat eine Stille ein. Dann fragte der Lord: »Wie alt bist du, Tibby?«

»Elf?« Tibby rieb sich den Nacken.

»Ist das eine Antwort oder eine Frage?« Missbilligung schwang in der Stimme des Mannes mit. »Ich warne dich, Tibby. Als Dieb hast du dich heute schon hervorgetan, lass mich nicht glauben, du seist auch ein Lügner, denn dann wärst du es nicht wert, dass ich mich näher mit dir befasse.«

»Wie wäre es mit dreizehn?«, schlug Tibby vor und kratzte sich verlegen am Kopf. Morrigan hätte ihm eine reinhauen mögen.

Der Lord stieß einen Seufzer aus. »Ich mache dir einen Vorschlag, kleiner Mann: Auf meinem Schloss fehlt es derzeit an Arbeitskräften, weil so viele meiner Angestellten an der Front sind, um für unser Land zu kämpfen. Ich bin heute unter anderem nach London gekommen, um ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu regeln. Doch wenn ich hier, in einem Café, rein zufällig auf meinen neuen Stallburschen stoßen würde, wäre mir das sehr recht.«

Morrigan hielt den Atem an und beobachtete, wie Tibbys offensichtliche Ablehnung gegenüber dem Fremden großem Erstaunen wich, und fragte: »Wo ist denn Ihr Schloss, Sir?«

»Ziemlich weit im Norden, hübsche Dame. Dort, wo hoffentlich keine Bomben fallen werden.« Sein Blick wanderte von ihr zurück zu Tibby. »Also, was sagst du? Hast du Interesse an einem sauberen Schlafplatz, regelmäßigen Mahlzeiten und bezahlter Arbeit? Denk darüber nach. Ich werde jetzt meinen Geschäften nachgehen und am späten Nachmittag noch einmal hierher zurückkehren. Bis dahin musst du dich entschieden haben. Ach, und wenn du dann wieder weißt, wie alt du bist, würde mich das sehr freuen.«

Er schlenderte zur Tür hinaus, woraufhin das große Schweigen im ›King’s Corner‹ einem lauten Palaver wich. Mehrere Stammgäste erhoben sich von ihren Plätzen, um Tibby zu seiner Chance zu beglückwünschen, der, ähnlich wie Morrigan, wie betäubt dastand und sein Glück nicht fassen konnte.

Nach und nach aber kehrte wieder Ruhe ein, und die Gespräche der Gäste drehten sich wie üblich um den Krieg und ihre eigenen Familien auf dem Festland. Morrigan widmete sich erneut dem Abspülen von Gläsern und Geschirr, während Tibby auf dem Hocker saß und seinen Tee kalt werden ließ.

Ein wenig neidisch musterte sie ihren Freund. »Du hast unverschämtes Glück gehabt, das ist dir hoffentlich klar, oder? Anstatt einem Job an einem Ort, wo der Krieg vielleicht nie hinkommt, hättest du dir auch ein Verhör auf der Polizeiwache einhandeln können.«

»Warum, meinst du, hat er das getan?« Tibby sah sie nachdenklich an. »Das ist doch nicht normal, einem kleinen Taschendieb einen Job anzubieten. Wer ist dieser Lord Harrowmore überhaupt? Kann ich ihm trauen? Was ist, wenn er kleine Kinder frisst?«

»Ob du ihm trauen willst, musst du schon allein entscheiden.« Sie zuckte mit den Schultern. »Seltsam ist sein Verhalten allemal. Aber ich an deiner Stelle würde es riskieren. Falls es nicht klappt, kannst du ja immer noch davonlaufen. Nur bin ich nicht an deiner Stelle, ich muss hierbleiben und für meine Mutter und meine Geschwister sorgen.«

»Ich frage mich, ob der einsame Mönch dort drüben mehr über diesen Lord weiß«, überlegte Tibby laut und schaute zur Tür. »Schließlich sind sie gemeinsam hereingekommen.«

Irritiert sah Morrigan in die gleiche Richtung, verstand aber nicht, wovon Tibby überhaupt sprach. »Von was für einem Mönch redest du denn?«

»Na, der Typ, der gleichzeitig mit diesem Lord Harrowmore hier aufgetaucht ist und jetzt immer noch dort herumsteht. Der, der die Kapuze seiner Kutte so tief über den Kopf gezogen trägt, dass man sein Gesicht nicht erkennen kann«, erwiderte Tibby ungeduldig und wies auf einen kahlen Fleck an der Wand neben dem Eingang. »Findest du nicht auch, dass ein blaues Licht von ihm auszugehen scheint?«

Einen Moment lang starrte Morrigan in die von Tibby angegebene Richtung an die weiß getünchte Wand und sah absolut nichts von dem, was er ihr soeben geschildert hatte. Dort stand niemand, schon gar kein Mönch.

Schließlich gab sie es auf. »Tibby, ich habe dir schon tausend Mal gesagt, es ist nicht gut, Dinge zu sehen, die für andere gar nicht da sind. Besser, du erzählst dem Lord nichts von diesem seltsamen Mönch, sonst hält er dich noch für verrückt und lässt dich doch in London zurück.«

»Ja«, stimmte Tibby zu, blickte aber noch immer zum Eingang hinüber. »Bestimmt hast du recht. Der Kerl da bleibt besser mein Geheimnis. Ist ja nicht das erste dieser Art.«

Kapitel 1

 

Schloss Harrowmore, Januar 2020

 

Im Südflügel von Schloss Harrowmore saß ich neben den Rädern eines Rollstuhls auf einem fleckigen Teppich und hing wie gebannt an Onkel Tibbys Lippen.

Erst vor einigen Wochen war uns der Geist des lang verstorbenen Tiberius Harrowmore vom Höllenfürsten persönlich anvertraut worden, damit wir ihn hier beherbergten. Der regen Seele des alten Abenteurers war es gelungen, die Hölle selbst zur Verzweiflung zu treiben. Ich aber war froh, ihn bei uns, im Heim für herrenlose Geistwesen, zu wissen. Niemand kannte so viele wunderbare Geschichten wie Onkel Tibby, der im Jahre 2010 in hohem Alter verstorben war. Sein Körper mochte zu diesem Zeitpunkt an seine letzten Grenzen gestoßen sein, seine Seele und sein Verstand hingegen noch lange nicht.

»Ich erinnere mich noch gut an diesen Besuch im ›King’s Corner‹«, ließ sich nun Walt, mein Vorgesetzter, Geliebter und Todesbote der Familie Harrowmore vernehmen. »Mitten im Krieg in London zu sein, war ein seltsames Gefühl für mich. Es waren unruhige und auch gefährliche Zeiten. Ich wünschte damals, der Lord wäre brav hier auf Harrowmore geblieben, er wollte allerdings unbedingt nach London, um geschäftliche Dinge zu regeln.«

Walt saß, wie stets in eine rotbraune Kutte gehüllt, deren Kapuze seine Gesichtszüge verbarg, auf einem von Motten angefressenen Sofa. Er genoss, genau wie ich, unser gemütliches Plauderstündchen mit dem alten Mann. »Normalerweise begleite ich die Familienmitglieder ja nicht bei ihren Ausflügen. Doch an jenem Tag spürte ich deutlich, dass dem damaligen Lord Harrowmore ein einschneidendes, wenn auch nicht unbedingt tödliches, Erlebnis bevorstand, und so reiste ich aus Neugier mit ihm in die Hauptstadt. Der kleine Junge, dem es gelang, die Geldbörse des Lords zu entwenden, war mir vom ersten Moment an suspekt. Der Grund lag auf der Hand: Er war offensichtlich die einzige Person in diesem Café, die mich wahrnahm. Warum er über diese seltene Gabe verfügte, war und blieb mir all die Jahre über schleierhaft. Eine Laune der Natur, vermute ich mal.«

Tibby lachte leise und streichelte sich die von Altersflecken übersäte Glatze. »Du hast dir wenig Mühe gegeben, dein anfängliches Misstrauen mir gegenüber zu kaschieren, und warst oft wortlos um mich herum, nachdem ich meinen Dienst in den Stallungen angetreten hatte. Ich stand bei allem, was ich tat, gewissermaßen unter Aufsicht. Und auch Maggie, die damalige Banshee der Harrowmores, blieb in jenen ersten Tagen auf dem Schloss in meiner Nähe, behandelte mich aber von oben herab und sprach kein Wort mit mir. Bis zu jenem Tag im Jahre 1945, als der Krieg endlich endete und Lord Harrowmore beschloss, den Bengel aus London, der ihm jahrelang so gut gedient hatte, zu adoptieren. Mit einem Schlag war ich ein echter Harrowmore und hatte wieder eine Familie. Maggie, nun auch meine Banshee, hieß mich ausdrücklich willkommen. Es war ein feierlicher Augenblick. Damals war es ihre Aufgabe, die Tode der Familienmitglieder rechtzeitig anzukündigen und zu beklagen, falls sie sich nicht verhindern ließen.«

»Und jetzt ist das mein Job, die Harrowmores vor Gefahren zu warnen«, verkündete ich stolz und reckte das Kinn in die Höhe. »Ich mache ihn ziemlich gut, würde ich sagen.«

»Ganz ohne Frage, meine Liebe.« Seine faltige Hand glitt von der Armlehne des Rollstuhls und strich mir über die schwarzen Locken. »Du bist eine wundervolle Banshee. Ohne dich würden die Harrowmores nicht zurechtkommen.«

Zufrieden schloss ich die Augen und unterdrückte ein Schnurren. Tibby verstand es, Komplimente zu machen.

»Es war in der Tat eine sehr noble Geste des Lords, dich als seinen Sohn zu akzeptieren«, fuhr Walt fort. »Er nahm sich deiner sehr liebevoll an und versuchte, trotz seiner Jugend so etwas wie ein Vater für dich zu sein. Darüber hinaus ermöglichte er dir ja auch einen Abschluss an einer guten Schule und ein Studium in Oxford.«

»Ja, ich hatte fast verboten viel Glück«, stimmte Tibby ihm zu. »Aber auch mein neuer Vater profitierte von diesem Arrangement. Von dem Tag an, da ich sein Sohn war, hatte er für einen Stammhalter gesorgt und konnte entspannt in die Zukunft blicken. Niemand setzte ihm mehr zu, er solle rasch heiraten, um eine neue Generation Harrowmores zu zeugen. Er konnte mit seinem Leben tun und lassen, was er wollte. Das war eine ganz neue Form der Freiheit, und sie gefiel ihm.«

»Du hast das Schloss doch gar nicht geerbt, sondern Alistair, der jetzige Lord Harrowmore«, protestierte ich.

»Tja, wie das Leben so spielt.« Tibby schloss für einen Moment die Augen. »Mit fast vierzig Jahren wurde der alte Lord doch noch Vater eines Jungen, eines echten, blaublütigen Harrowmores. Ich trat bereitwillig zurück in die zweite Reihe. Das Schloss und all die damit verbundenen Verpflichtungen reizten mich ohnehin nicht. Und so konnte der ehelich geborene Sohn sein Erbe antreten. Ich habe meinen kleinen Bruder Alistair niemals darum beneidet. Meine Freiheit war mir wichtiger als dieser alte Kasten. In dieser Hinsicht war ich unserem Vater ähnlicher als er, trotz der mangelnden Blutsverwandtschaft.«

»Hier steckt ihr also.« Die Tür zu Tibbys kleinem Zimmer flog überraschend auf, und seine Enkelin, Millie, stand mit zerzaustem Haar und hektischen Flecken im Gesicht auf der Schwelle. Sie blickte vorwurfsvoll in die Runde. »Könnten die dienstbaren Geister dieses Hauses mir vielleicht bei einem großen Problem helfen?«

Ich sprang alarmiert auf die Füße und blickte zu Walt hinüber, der noch immer gelassen auf dem Sofa saß. »Ist etwas geschehen? Haben wir irgendeine Katastrophe verpasst?«

»Das kann nicht sein. So etwas wäre mir nicht entgangen.« Mein Todesbote war die Ruhe selbst, was vermuten ließ, dass er keine warnende Vision gehabt hatte und somit aktuell kein Harrowmore auf der großen weiten Welt in ernsthafter Gefahr schwebte.

Schon wesentlich beruhigter wandte ich mich an meine Freundin Millie und schaute sie fragend an. »Okay, was genau ist dein Problem? Ich hoffe, es rechtfertigt den Schrecken, den du mir gerade eingejagt hast.«

»Meine Kinder sind weg.« Sie verzog keine Miene. »Alle beide. Und ich kann sie nirgends finden.«

Millie war vor nahezu zwei Jahren Mutter von Zwillingen geworden, die nun, da sie hervorragend und äußerst flink laufen konnten, immer häufiger in entgegengesetzte Richtungen aufbrachen, um ihren Lebensraum zu erkunden und Millie damit zur Verzweiflung zu treiben. Für sie, als alleinstehende Mutter, war die Erziehung der quirligen Kleinen eine schier unlösbare Aufgabe, um die sie niemand beneidete.

»Ich helfe dir bei der Suche«, erklärte ich bereitwillig und warf sowohl Tibby als auch Walt strenge Blicke zu. »Wehe, ihr erzählt euch ohne mich weitere Geschichten. Ich will nichts verpassen.«

»Wie bitte? Ihr habt euch hier ein nettes Plauderstündchen gegönnt?« Empört blickte Millie von einem zum andern. »Na, herrlich. Ich werde von meinen beiden besten Freunden und meinem toten Onkel von allem ausgeschlossen. Und das nur, weil ich eine junge Mutter bin, die alle Hände voll zu tun hat. Ich hasse euch.«

Da Millie nicht zum ersten Mal die beleidigte Leberwurst mimte, verdrehte ich lediglich die Augen, hakte mich bei ihr ein und zog sie hinaus auf den langen Flur, der den Südflügel mit dem Rest des Schlosses verband.

»Wenn wir deine kleinen Ausreißer dingfest gemacht haben, bringe ich dich gern auf den neusten Stand. Schauen wir mal, wo Allison und Badria abgeblieben sind.«

 

Fast eine halbe Stunde lang durchkämmte ich die weitläufigen Gänge des Schlosses, das mehrere Familienmitglieder ihr Zuhause nannten. Endlich fand ich den kleinen Badria in der Bibliothek wieder, wo er zu Füßen seines schlafenden Onkels Cameron hockte und hingebungsvoll Seiten aus einem sehr alt und sehr teuer wirkenden Bildband riss.

Ich klemmte mir das widerspenstige Kleinkind unter den Arm und traf Millie auf den Stufen zu meiner Dachkammer wieder. Ihr war es gelungen, die agile Allison einzusammeln, die versucht hatte, die Treppe zu meinem Reich ganz allein zu erklimmen.

Oben angekommen, schlossen wir die Tür hinter uns, ließen die Kinder im Gerümpel unter den Dachschrägen spielen und sanken erschöpft auf mein geliebtes Troddelsofa.

»Ich denke, es wird allerhöchste Zeit für eine Nanny«, erklärte Millie und schob sich das lange Haar hinter die Ohren. »Cameron und ich hatten schließlich auch ein Kindermädchen. Jeder Harrowmore bekommt über kurz oder lang eine solch qualifizierte Kraft, und ich bestehe darauf, ebenfalls jemanden einstellen zu dürfen. Ansonsten sind die beiden noch mein Tod.«

»Und wovon willst du eine gut ausgebildete Person bezahlen?«, fragte ich. »Deine Familie ist chronisch pleite. Und nur für nette Worte, eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf wird sich niemand dieser Aufgabe stellen. Wir leben schließlich nicht mehr zu Zeiten von Königin Viktoria. Warum fragst du nicht deine Cousine Jennifer? Die sitzt ohnehin die meiste Zeit über im Ostflügel herum und langweilt sich zu Tode.«

»Jennifer würde sich eher die Zehen amputieren, als mich zu unterstützen«, erklärte Millie. »Für Kinder hat sie nichts übrig. Das Gleiche gilt übrigens auch für ihre Mutter, Tante Deborah. Meinst du, ich könnte Onkel Tibby fragen?«

»Ich schätze, er würde die Hölle jederzeit deinen Kindern vorziehen«, erwiderte ich und versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken. »Er sagte einmal, du wärst ihm zu seinen Lebzeiten schon wahnsinnig auf den Wecker gefallen und deswegen hättest du deine Zwillinge auch mehr als verdient.«

»Ganz reizend, wirklich.« Mürrisch beobachtete sie ihren Sohn, der gerade versuchte, ein staubiges Teelicht zu zerkrümeln, das er im Gerümpel unter der Schräge gefunden hatte. »Nur nimmt die Hölle Onkel Tibby keinesfalls zurück. Da kann er sich genauso gut für unsere Gastfreundschaft erkenntlich zeigen. Hat er inzwischen eigentlich erzählt, was er angestellt hat, um nach seinem Ableben in der illustren Gesellschaft von Mördern und Verbrechern zu landen?«

»Ja und nein«, gestand ich. »Er wollte mir und Walt heute eigentlich berichten, womit er seiner Meinung nach die ewige Verdammnis verdient hat. Stattdessen erzählte er uns von seiner ersten Begegnung mit deinem Großvater, den er tatsächlich versucht hat zu beklauen, bevor er in dessen Dienste trat. Aber ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass ein kleiner Diebstahl, noch dazu aus der Not heraus, einem gleich das Fegefeuer samt einem Aufenthalt im Hotel Hölle beschert. Und auch der Rest der Geschichte war ziemlich unspektakulär. Mir ist nicht klar geworden, worauf er eigentlich hinauswollte.«

Millie zuckte mit den Schultern. »Womöglich ist Onkel Tibby einfach ein wenig senil, hat den Faden verloren und vergessen, was er euch wissen lassen wollte.«

»Nein, du bist aufgetaucht und hast mich fortgeholt, bevor er auf den Punkt kam«, widersprach ich. »Walt weiß inzwischen vermutlich mehr als wir.«

»Das ist ziemlich unbefriedigend.« Millie sprang vom Sofa, um ihrer Tochter eine gespannte Mausefalle zu entreißen, die diese sich gerade in den Mund stecken wollte. »Man sollte doch meinen, er müsste mindestens einen Mord begangen haben, oder nicht? Wie hießen noch gleich die sieben Todsünden?«

»Das fragst du mich? Ich könnte nicht einmal die Namen der sieben Zwerge aufsagen.«

Rasch brachte ich das auf meinem Couchtisch befindliche Aquarium in Sicherheit, nach welchem Badria soeben die Hände ausgestreckt hatte. In dem kleinen, runden Behältnis schwamm mein Mummel, ein oranger Wassergeist, nervös seine Kreise und ließ das bedrohlich quietschende Kleinkind keine Sekunde aus den Augen.

Missmutig betrachtete ich Millies Sohn, der seine Arme höher und höher reckte, um meinen Mummel erreichen zu können. »Nun gut, ich stimme dir in diesem Punkt zu: Wir brauchen eine Nanny. Und zwar für unser aller Seelenheil, sonst drehen wir noch durch. Wo sucht man nach einer Arbeitskraft, die kein Interesse an regelmäßigem Lohn hat und unbedingt zwei quirlige Kinder bändigen möchte?«

»Der gängige Weg wäre wohl eine Annonce in der Zeitung oder im Internet«, schlug Millie vor. »Doch davon verspreche ich mir in der Tat nicht viel. Wer sollte schon freiwillig hier draußen, weit weg von allem, leben wollen? Aber uns eröffnen sich durchaus noch andere Möglichkeiten. Ich könnte einen Aushang in der Ewigen Bibliothek anbringen lassen. Gibt es dort so etwas wie ein Schwarzes Brett?«

Ich dachte angestrengt nach, konnte mich allerdings nicht an ein solches zwischen den literarischen Schätzen der Bibliothek erinnern. »Das weiß ich nicht, doch in jedem Fall kommt es bei so einer Annonce auf den richtigen Text an. Schließlich wird die Ewige Bibliothek nicht gerade von Durchschnittsmenschen aufgesucht. Lass uns mal ein paar Entwürfe kreieren. Wie wäre es mit: ›Hexe, die keine Kinder frisst, für Hänsel und Gretel gesucht. Die tägliche Ration Lebkuchen wird garantiert.‹«

Millie begann zu lachen und köderte ihren Sohn mit einer Plüschrassel. »Oder wie wäre es mit: ›Nervenstarke Drachendame wird gebeten, meinem Nachwuchs Feuer unterm Hintern zu machen.‹«

Jetzt kam ich so richtig in Fahrt. »Oder: ›Mutiger Inkubus zur Kinderaufzucht gesucht. Emotionale Manipulation der lieben Kleinen dringend erbeten.‹«

Millie zog eine Grimasse. »Ich schätze, die perfekte Formulierung ist noch nicht dabei. Denkst du, ein Zombie wäre vertrauenswürdig? Dem könnten die beiden zumindest nicht den letzten Nerv töten.«

Wir flachsten noch eine Weile weiter und beschäftigten die Kinder mit allem, was die Dachkammer zu bieten hatte. Nur Sniff, meinen Mummel, deponierten wir in einiger Entfernung oben auf dem Wickeltisch, wo er durch das Fenster hinaus in die überfrorenen Gärten des Schlosses schauen und sich leidlich sicher fühlen konnte.

Als Millie endlich ihre zappelnde Brut unter die Arme klemmte und mir noch einen schönen Abend wünschte, war ich so müde, dass ich nur kurze Zeit später auf meinem Sofa einschlief, während mein Mummel noch immer hinaussah und Wintergedichte rezitierte.

 

Stunden später erwachte ich in völliger Dunkelheit – sah man einmal von dem blauen Leuchten ab, welches sich in den Scheiben des großen Rundfensters spiegelte und die Anwesenheit eines Todesboten verriet.

»Walt?« Ich rieb mir die Augen. »Bist du das? Ich kann das Leuchten der Todesvisionen in deinen Augen sehen.«

»Ja, ich denke schon, dass ich noch immer Walt bin«, lautete die Antwort. Eine ziemlich seltsame, wie ich fand.

Leise stand ich auf, stellte mich neben ihn und bemerkte, dass er meinen Mummel streichelte, der versonnen auf dem Rücken durchs Becken trieb.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte ich. »Du klingst ein wenig deprimiert.«

Er ließ von Sniff ab, streckte die Hand nach meiner aus, ergriff sie und schwieg.

Ich bohrte nicht noch einmal nach, wollte ihm Zeit geben, mir zu sagen, was ihn beschäftigte, doch das Gefühl, es könnte schon wieder ein Unheil über uns oder die Harrowmores hereinbrechen, nagte bereits an mir.

»Ich wünschte für ihn, er hätte Gewissheit«, murmelte Walt schließlich und blickte dabei unverwandt zum Fenster hinaus, wo der Winterhimmel seine ganze Sternenpracht für uns auffuhr. »Es gibt nichts Schlimmeres, als sich ständig fragen zu müssen, was mit einem geliebten Menschen geschehen ist. Viele Seelen zerbrechen an solch einer Belastung. Und wenn man nur noch Seele ist, was tut einem dieses Zerbrechen dann an?«

Ich schmiegte mich an ihn, hielt seine Hand und hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er überhaupt sprach. Doch als ich den Mund öffnete, um ihm genau dieses Problem zu verdeutlichen, kam er von selbst darauf.

»Entschuldige. Ich habe vergessen, dass du das Ende von Onkel Tibbys Geschichte verpasst hast. Ich weiß nun, auf welche Weise er ein Ticket zur Hölle gelöst hat. Zumindest kenne ich seine Theorie zu diesem Thema.«

Erleichterung breitete sich in mir aus. Das klang nicht nach einer neuen Katastrophe, sondern lediglich nach einer alten Geschichte, die sich ohnehin nicht mehr ändern ließ. So antwortete ich gelassen: »Ging es ihm um den Diebstahl der Geldbörse? Glaubt er etwa, Schuld auf sich geladen zu haben, weil er seinem zukünftigen Gönner übel mitspielen wollte? Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass so eine Lappalie ausreicht. Hunger, Not und der Wille, den Krieg zu überleben, machen aus niemandem einen schlechten Menschen, oder?«

Walt schüttelte seine Kapuze. »Nein, darum ging es ihm auch gar nicht. Er hat uns diese Episode seines Lebens lediglich erzählt, um uns eine bestimmte Person vorzustellen.«

»Seinen Adoptivvater?«, vermutete ich. »Er wird ihn doch wohl nicht um die Ecke gebracht haben.«

Das Kopfschütteln Walts wurde eine Spur energischer. »Nein, es geht um Morrigan. Du erinnerst dich an die Bedienung im ›King’s Corner‹, mit der er bis zu seinem Weggang aus London befreundet war?«

Ich nickte. Während Tibbys Erzählung hatte ich das Mädchen klar vor mir gesehen, meinte sogar, ihren Gedanken folgen zu können.

»Morrigan und Tibby verloren sich damals zunächst aus den Augen. Verständlich, da er die Stadt verließ, um Stallbursche auf Harrowmore zu werden. Aber viele Jahre später begegneten sie sich noch einmal wieder. In Paris.«

»Paris«, wiederholte ich andächtig. »Die Stadt der Liebe.«

»Nicht in diesem Fall. Das heißt: Es gab zumindest kein Happy End, denn die beiden wurden dort in ein sehr seltsames und für Tibby undurchsichtiges Treiben verwickelt, an dessen Ende sich Morrigans Spur für immer verlor. Er weiß nicht, was mit ihr geschah, ob sie die Ereignisse in Paris überlebte und was aus ihr wurde. Morrigan Bailey verschwand Mitte der Fünfzigerjahre von der Bildfläche und tauchte niemals wieder irgendwo auf.«

»Hat er nach ihr gesucht?«, wollte ich wissen.

»Das hat er natürlich. Und der Name Morrigan ist nun wirklich selten genug, um einen Menschen, der so heißt, wiederfinden zu können. Nicht viele Mädchen werden nach dieser Göttin der keltischen Sagenwelt benannt. Sie steht für Krieg, Gewalt und Sexualität, eine brisante Mischung, wenn du mich fragst. Morrigans Eltern müssen interessante Leute gewesen sein.«

Meine Gedanken weilten bereits bei Tibby und dem, was in ihm vorgehen musste. »Er litt also viele Jahre lang unter dem schlechten Gewissen, Morrigan im Stich gelassen zu haben, und konnte sich nicht erklären, was aus ihr geworden war. Ist das richtig? Und als er sich nach seinem Ableben nicht auf Wolke sieben, sondern in den endlosen Fluren der Hölle wiederfand, schlussfolgerte er, verdient zu haben, was immer mit ihm geschah. Wegen Morrigan.«

»Genau. Doch auch hier erfuhr er nicht, welches Schicksal seine Freundin und Gefährtin aus Kindertagen ereilt hatte. Maude, die Vorzimmerdame der Hölle, du erinnerst dich an sie?«

»Wie könnte ich Maude vergessen?«, murmelte ich düster. »Es gibt nur wenige Wesen, die mir verhasster sind als die selbst ernannte Königin des Mobbings.«

»Ja, es ist ihr ein besonderes Vergnügen, jedem seine Schwächen und Verfehlungen unter die Nase zu reiben. Doch im Falle von Tibby schwieg sie eisern. Vermutlich, um ihn auf genau diese Weise zu quälen.«

»Sie ist so ein Miststück.« Auch wenn ich froh darüber war, das Höllentor in Millies Zimmer wieder geschlossen zu haben, so wäre ich jetzt gern direkt zu Maude gestiefelt, um kräftig auf ihren Schreibtisch zu hauen. Dieser spezielle Dämon in Sekretärinnengestalt förderte einfach das Schlimmste in mir zutage.

»Ich würde Tibby gern helfen, aber ich weiß nicht, wie«, erklärte Walt. »Es ist schlimm genug, die Konsequenzen für schlimme Taten nach dem Tod ertragen zu müssen. Niemand kann das besser beurteilen als ein Todesbote, schätze ich. Allerdings weiß ich wenigstens, warum ich heute all die Visionen von Schmerz, Leid und Auslöschung erdulden muss. Ich habe im Namen der Kirche gemordet, ich glaubte an den Sinn der Inquisition. Ich weiß, was ich getan habe, wer ich war, und kann mich sogar in den Menschen, der ich war, zurückversetzen. Zumindest in Nächten wie dieser. Doch Tibby steht auch Jahre nach seinem Tod noch immer vor einem riesigen Rätsel. Alles, was er hat, ist ein Verdacht und die Erinnerung an eine junge Frau, die er aus den Augen verlor.«

»Das ist doch ewig her«, widersprach ich. »Tibby hatte ein ganzes Leben lang Zeit, um über das Verschwinden von Morrigan hinwegzukommen. Selbst wenn er sie damals auf irgendeine Weise im Stich ließ, kann er es nicht für sich abschließen?«

»Unwissenheit ist ein tief sitzender Stachel«, meinte Walt. »Du an seiner Stelle würdest wohl auch nicht einfach einen Haken unter das Schicksal eines geliebten Menschen setzen, ohne wenigstens Gewissheit zu haben.«

»Doch«, behauptete ich. »Das würde ich schaffen. Was man nicht ändern kann, muss man akzeptieren und darf sich nicht davon zermürben lassen.«

»Weise Worte.« Walts Stimme war frei von Spott. »Hoffen wir, dass ich dich nie an sie erinnern muss.«

»Vielleicht bist du ja in der Lage, Morrigan für Tibby wiederzufinden«, schlug ich vor. »Bestimmt war sie ein wenig älter als Tibby, sie müsste mittlerweile auf die hundert zugehen, wenn sie noch am Leben sein sollte. Viel wahrscheinlicher ist also, dass du nach einem Grabstein statt einer Greisin Ausschau halten musst. Dann wüsstest du auch gleich, ob Morrigan die Fünfzigerjahre überlebt hat.«

Walt strich sich nachdenklich über das Kinn. »Es sollte möglich sein, ihren Lebensweg zurückzuverfolgen und Tibby zu erzählen, was aus seiner Jugendfreundin wurde.« Das Leuchten seiner Augen wurde eine Spur intensiver. »Aber was ist, wenn Morrigan ein friedliches und langes Leben führte und nicht der Grund für Onkel Tibbys Höllenfahrt ist?«

»Dann weiß er zumindest, dass er bei anderer Gelegenheit einen Bock geschossen haben muss.« Ich zog eine Grimasse. »Doch das Rätsel um Morrigan Bailey wäre immerhin gelöst.«

»Das ist eine fantastische Idee.« Ich spürte seine Begeisterung. »Morrigan Bailey hat auf dieser Welt bestimmt irgendwo eine brauchbare Spur hinterlassen. Nur weil Tibby nicht in der Lage war, sie aufzutreiben, heißt es nicht, dass es mir nicht gelingt. Ich werde sofort ein paar Nachforschungen in die Wege leiten.«