Barfuß auf dem Sommerdeich - Katja Just - E-Book
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Barfuß auf dem Sommerdeich E-Book

Katja Just

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Beschreibung

Hooge ist eine winzige Hallig im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer mit rund 100 Einwohnern. Eine davon: Katja Just. Vor 16 Jahren tauschte die Großstädterin ihr Leben und ihre aussichtsreiche Karriere im turbulenten München gegen den beschaulichen Alltag auf der Marschinsel ein und hat es seitdem keinen Tag bereut. Denn: Trotz aller Zurückgezogenheit, langweilig wird es auf Hallig Hooge nie! Von Begegnungen mit eigensinnigen Halligleuten über faszinierende Naturschauspiele bis hin zu ungeahnten Herausforderungen am Rande der Zivilisation hat Katja Just einiges zu erzählen. Mit viel Humor und Liebe zum Detail gibt sie Anekdoten aus ihrem Leben auf der Hallig wieder und zeigt den Lesern, wie ereignisreich und erfüllend der Alltag am vermeintlichen Ende der Welt doch sein kann.

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KATJA JUST

Barfuß

AUF DEM

Sommerdeich

Mein Halligleben zwischen Ebbe und Flut

»Liebe ist ewige Gegenwart.«

Prolog

Was ist denn an meiner Lebensgeschichte so spannend, dass ich darüber ein ganzes Buch schreiben könnte? Geboren wurde ich in München, meine Kinder- und Jugendjahre verbrachte ich in einer modernen Reihenhaussiedlung in einem idyllischen Münchner Vorort. Heute lebe ich auf Hallig Hooge in einer denkmalgeschützten, über dreihundert Jahre alten Reetdachkate.

Ja und? Andere wurden in Berlin-Mitte geboren und leben heute in Prien am Chiemsee und schreiben darüber auch kein Buch. Okay, es war ein großer Schritt, als ich mit gerade 25 Jahren der Millionenstadt München den Rücken kehrte und auf die knapp sechs Quadratkilometer große Hallig zog. Manch einer sagte: »Noch so jung und dann allein auf ein Eiland mit gerade mal hundert Einwohnern?« Oder hinter vorgehaltener Hand: »Mit 25, im besten Alter, von München weg? Die tickt wohl nicht ganz richtig.« So oder so, die meisten hielten mich für verrückt.

Hallig Hooge habe ich in den Sommerurlauben mit meiner Familie kennengelernt. Bei meinem ersten Besuch war ich sechs oder sieben. Wie alle kleinen Mädchen fand ich Urlaub auf dem Bauernhof toll. Kälber streicheln und füttern, ausreiten, unzählige Vögel beim Fliegen und Brüten beobachten, beim Angeln dabei sein. Quer auf den Straßen Rollschuh laufen und dabei den Wind in der über den Kopf gehaltenen Jacke als Antrieb nutzen und in der schönsten Sonntagshose auf dem Nachbarhof im Misthaufen versinken – wenngleich Letzteres ungeplant.

Obwohl ich nach dieser spaßigen Zeit in meinen Kindertagen mehrere Jahre nicht mehr auf Hooge war, nahm diese Hallig ihren festen Platz in meinem Herzen und in meinen Träumen ein. Schon als Kind wusste ich: Irgendwann ziehst du da mal hin! Die Gedanken an Hooge brachten immer das Gefühl von Freiheit, Leichtigkeit und Sehnsucht nach unendlicher Weite mit sich.

Viele Jahre später kam ich erneut nach Hooge, denn inzwischen hatten meine Mutter und ihr zweiter Ehemann dort ein Haus gekauft. Wann immer es meine Zeit zuließ, besuchte ich sie und lernte nun die Hallig von einer anderen Seite kennen. München war mein Lebensmittelpunkt, die Hallig blieb mein Sehnsuchtsort. Aber dort leben? Auf einem Eiland ganz oben im Norden, mitten in der Nordsee? Wie es zu dieser Entscheidung kam und wie ich mein Leben hier lebe, davon möchte ich erzählen. Ein Leben, das nicht durch den starren Zeitplan eines durchgetakteten Alltags bestimmt wird, sondern durch den Rhythmus von Ebbe und Flut. Ein Leben, das einen eigenen Herzschlag hat.

Oft werde ich gefragt: »Was macht man eigentlich so auf einer Hallig?« – »Was ist der Unterschied zwischen dem Leben auf einer Hallig und auf dem Festland?« – »Ab wann zählt man dazu und darf sich selbst als Hooger bezeichnen?« Ich werde versuchen, diese und ähnliche Fragen zu beantworten.

Wer allerdings darauf hofft, dass ich in diesem Buch Geheimnisse des Halliglebens ausplaudere oder in die Intim­sphäre anderer eindringe, der sollte erst gar nicht anfangen zu lesen. Hier geht es ausschließlich um meine persönliche Geschichte, den Weg, den ich als 25-Jährige begonnen habe und auf den ich heute als 42-Jährige zurückblicke. Wer dieses Buch liest, wird einen Einblick in mein Leben auf Hooge bekommen und mich eine Zeit lang auf meinem Weg begleiten.

Fühlen Sie sich herzlich eingeladen nach Hallig Hooge, in mein Haus am Landsende.

KAPITEL 1

Eine Oase im rauen Meer

Es war im August 1995, als meine Mutter anrief und sagte: »Wir können das Haus kaufen, in dem wir gerade unseren Urlaub verbringen! Was hältst du davon?«

»Na, das ist ja mal ein nettes Souvenir, das ihr aus eurem Urlaub mitbringen wollt. Ist mal was anderes«, sagte ich überrascht. »Soll das ein Scherz sein?«

Nein, es war kein Scherz!

Meine Eltern, damit meine ich meine Mutter und meinen Stiefvater, waren mal wieder auf Hooge zu Gast und wohnten diesmal in einem Haus auf der Ockenswarft, das sie ein Jahr zuvor bei einem ihrer Spaziergänge entdeckt hatten. Ein kleines Reetdachhaus, über dreihundert Jahre alt, mit einem großen, wilden Garten und einer Ferienwohnung. Die Ockenswarft liegt im Osten der Hallig, fernab vom Trubel, den es durchaus auf einer Hallig geben kann, zumindest während der Sommermonate. Eine Warft ist ein künstlich aufgeworfener Erdhügel, überwiegend aus Kleiboden, der wie ein runder Siedlungs­­hügel wirkt, je nachdem, wie viele Häuser auf diesem rund sechs Meter hohen Hügel stehen. Die Ockenswarft zählt mit rund zehn Gebäuden zu den größeren der zehn bewohnten Warften auf Hooge.

Meine Eltern waren gerade eine Woche auf Hooge, als die Vermieterin darum bat, mit einem Makler durch die Ferienwohnung gehen zu dürfen. Sie müsse das Haus verkaufen und daher solle ein Gutachten erstellt werden. Damit war es vorbei mit einem ruhigen und entspannenden Urlaub, denn meine Eltern hatten sich in das Haus verliebt und erwogen nun, dieses Kleinod selbst zu erwerben. Eine Entscheidung, die ihr Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf stellen könnte.

Tatsächlich haben meine Mutter und mein Stiefvater Nägel mit Köpfen gemacht. Sie hatte bereits aufgehört zu arbeiten, er nahm kurzerhand das Angebot seines Arbeitgebers an, in den Vorruhestand zu gehen. Der Verkauf des Hauses in München wurde eingeleitet und der Umzug auf die Hallig für Anfang Januar organisiert. Für beide war es nicht der erste Umzug, daher dachte keiner daran, dass dieser Umzug anders als die anderen werden würde. Auch gab es schon Umzüge in der Winterzeit. Aber ein Umzug auf eine Hallig im Winter – dabei werden Festländler direkt auf die erste Probe gestellt. Die Fähre zwischen Hooge und dem Festlandhafen Schlüttsiel transportiert alles, was zwischen Festland und Hallig hin und her muss: Waren, Güter, zwei- und vierbeinige Pensionsgäste und – wie in unserem Fall – ganze Haushalte.

Windvorhersage, Gezeitenkalender, Anlegerbrücken – was für eine Rolle spielt es denn, wenn der Wind aus Osten bläst und der Wasserstand gerade ablaufendes Wasser anzeigt? Das beeinflusst einen gestandenen Umzugstrupp aus München doch nicht! Dass Wind und Wasser aber durchaus das letzte Wort haben, bekamen die Umzugshelfer auf der Fähre zu spüren. Die Fahrt war fast geschafft, der Lkw auf der Fähre abgestellt und die erste Runde wärmenden Teepunschs bestellt. Die 75 Minuten Überfahrt waren eine willkommene Pause. Alle hatten es sich gerade gemütlich gemacht, als der Kapitän an den Tisch trat.

»Wir haben zu wenig Wasser unterm Kiel! Das heißt, dass der Lkw auf der Hallig nicht von der Fähre runterfahren kann, da die Neigung der Brücke zu steil sein wird. Ihr müsst umladen.«

Das war’s mit der ersehnten Pause, denn allen war sofort klar, was das bedeutete. Eine knappe Stunde war nun Zeit, um die Kartons und Möbel auf die von der Fähre mitgeführten Rollwagen umzupacken. Ein Kraftakt! Erschöpft und hungrig packte der Trupp noch einmal an und schaffte Stück für Stück aus dem Lkw auf die Anhänger. Ins Schwitzen kam trotz des Zeitdrucks niemand, denn bei dem hier üblichen eisigen Ostwind ist das schier unmöglich.

Auf Hooge angekommen, nahmen mein Stiefvater und ich die müden Umzugshelfer und die voll beladenen Rollwagen in Empfang. Wir beide waren gemeinsam mit meinem Onkel eine Woche früher angereist, um die Vorbereitungen zu erledigen. Schlaf- und auch Stellplätze mussten geschaffen werden. Am Anleger kam uns ein Halligbewohner mit seinem Traktor zu Hilfe. Er fuhr nacheinander die drei voll beladenen Rollwagen zur Ockenswarft. Auf dem Weg vorbei an den beiden ersten Warften saß ich hoch oben auf dem Wagen und versuchte Kartons, Wohnzimmerlampe, Sofa und Gummibaum gleichzeitig festzuhalten. Bis dahin hatte ich keine Vorstellung davon, wie lang die Strecke vom Anleger bis zur Ockenswarft sein kann. Fuhren wir mit dem Auto sonst nur ein paar Minuten, dauerte es diesmal eine gefühlte Ewigkeit. Ich dachte die ganze Zeit Hoffentlich sieht das keiner, aber diesen Satz kann man getrost aus seinem Wortschatz streichen, wenn man auf eine Hallig zieht. Auf halber Strecke fiel der Küchenschrank vom Anhänger, denn der Wind war nicht nur eisig, sondern blies mit Stärke sechs aus Ost. Selbst wenn das Möbelstück für mich in Reichweite gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich nur in Zeitlupe bewegen können, so steif waren meine Glieder inzwischen gefroren. Ich machte mich also lautstark bemerkbar und bedeutete dem hilfsbereiten Traktorfahrer, anzuhalten. Der Küchenschrank wurde ein weiteres Mal hochgehievt und weiter ging die abenteuerliche Fahrt. Inzwischen war es dunkel geworden und dunkel heißt im Winter auf der Hallig sehr dunkel! Straßenlaternen gibt es nicht und wenn der Mond nicht scheint, sieht man manchmal die Hand vor Augen nicht. Da aber die Fracht ungeschützt auf den Anhängern lag, musste alles noch ins Haus geschafft werden, egal, wie müde und durchgefroren wir waren. Irgendwann spät in der Nacht sagten meine Eltern endlich: »Willkommen im Haus am Landsende.« Das war im Januar 1996.

Es sollte noch vier Jahre dauern, bis auch ich meinen ersten Wohnsitz auf der Hallig anmelden würde. Bis dahin war ich so oft wie möglich bei meinen Eltern zu Besuch. Manchmal flog ich für ein verlängertes Wochenende, manchmal fuhr ich die Strecke mit dem Auto, gemeinsam mit einer Freundin, und wenn ich es richtig genießen wollte, fuhr ich mit dem Motorrad.

In diesen vier Jahren habe ich miterlebt, wie sich das neue Zuhause meiner Eltern zu einem Kleinod entwickelte. Den wilden Garten verwandelte meine Mutter mit Hingabe in ein blühendes Idyll, dem ein Klostergarten als Vorlage diente. Buchsbäume umranden die insgesamt fünf Beete, die jeweils mit rot, gelb, weiß oder blau blühenden Pflanzen bestückt sind. In der Mitte steht eine Stammrose und irgendwas blüht immer. So ist über die Jahre eine richtige kleine Oase entstanden. Eine Oase, in der sich auch Gäste des Hauses gern aufhalten, wenn sie ihren Urlaub in einer der beiden Ferienwohnungen verbringen, die im ersten Stock ausgebaut wurden. »Die Grüne« gab es schon. Sie wurde allerdings völlig neu eingerichtet und dekoriert. Diese Wohnung ist die größere, hier können bis zu vier Personen wohnen. Sie ist in einem warmen Grün gehalten, die Decke ist nicht ganz so hoch, alte Holzbalken sind zu sehen, was dieser Wohnung etwas Heimeliges und Kuscheliges gibt. Vor allem in den Wintermonaten. »Die Blaue« haben meine Eltern zwei Jahre nach ihrem Einzug ausgebaut und angelehnt an den Gustavianischen Stil, also mit schwedischer Herzlichkeit und kühlen Farben, eingerichtet. Auch hier gibt es zwei Alkoven, die zwei Personen Platz bieten. Gäste fragen mich häufig, ob man denn in so einem Wandschrank auch zu zweit schlafen könnte.

»Das kommt ganz darauf an, wie gern Sie sich haben«, ist meine Antwort. Selten liegt man wie ein Streichholz in der Schachtel, daher sind zwei Meter Länge und ein Meter Breite eigentlich ausreichend. Sogar sehr große Gäste geben mir als Rückmeldung, dass sie die Alkoven sehr gemütlich finden. Ich liebe es, im Alkoven zu schlafen, und raumsparend sind sie auch. So haben meine Eltern nicht nur für sich ein neues Zuhause geschaffen, sondern auch einen Ort, an dem sich Urlaubsgäste wie zu Hause fühlen.

KAPITEL 2

Der perfekte Plan und was dann kam

Geplant war es ganz anders. Es war der berühmte »perfekte Plan«, den wir gemeinsam entwickelt hatten. Mein Partner sprach von Heirat und von Kindern und einem schönen Reihenhaus mit Garten im Münchner Hinterland.

Ich bin in Ismaning, einem Vorort von München, groß geworden und habe die ersten 25 Jahre meines Lebens dort verbracht. Es war großartig, dort aufzuwachsen. Ländlich, familiär und behütet. In dem damals kleinen Ort kannte man sich. In der Reihenhaussiedlung, in der ich aufwuchs, waren wir Kinder eine feste Clique. Wir heckten regelmäßig Pläne aus und erlebten so einige Abenteuer. Unser »Revier« war riesig, die Freiheit schien grenzenlos. Wir waren viel draußen, bauten Buden und »backten« Sandkuchen, die wir selbstverständlich ausgiebig probierten. Während der Zeit in der Grundschule waren wir noch eng zusammen, danach gingen wir auf unterschiedliche Schulen und die Interessen verschoben sich. Aus den Augen verloren haben wir uns bis heute nicht, aber wir gingen sehr unterschiedliche Wege.

Der meine führte mich zur Lufthansa, bei der ich eine kaufmännische Ausbildung absolvierte und auch im Anschluss übernommen wurde. Ich wechselte von der Konzernmutter zur Lufthansa Technik, direkt am Münchner Flughafen. Dort lernte ich auch meinen Partner kennen. Er war der Computerfachmann und musste bei uns in der Abteilung Probleme beheben. Er sah an meinem Kleiderständer eine Motorradkombi hängen und wollte wissen, ob das meine sei. Ja, es war meine, denn ich fuhr täglich mit dem Motorrad zur Arbeit, und so kamen wir ins Gespräch und sehr schnell auch zur ersten gemeinsamen Ausfahrt, denn er war selbst Motorradfahrer. Das war unsere größte gemeinsame Leidenschaft, ebenso wie das Bergwandern. Die Liebe zur Natur war auf beiden Seiten gegeben.

Ich war Anfang zwanzig, als mein Partner von Heirat und Kindern sprach. Ismaning war inzwischen nicht mehr das Dorf, in dem ich groß geworden war. Es war gewachsen, wurde modern und ein beliebter Wohnort für Menschen, die den Vorteil der stetig wachsenden Infrastruktur rund um München früh erkannten. Der dörfliche Charakter ging verloren, was mich traurig machte, auch wenn ich den wirtschaftlichen Aufschwung ­erkennen und verstehen konnte, der diesen kleinen Ort langsam zu einem exklusiven Vorort von München werden ließ. Das Bild, das sich Ende der Neunzigerjahre entwickelt hatte, hatte nicht mehr viel mit meinen Kindertagen gemein. Der Nachwuchs ging nicht mehr bei Wind und Wetter in Gruppen von mindestens drei, vier Kindern zur Schule, sondern wurde einzeln mit dem Auto bis vor das Schultor gefahren. Das waren keine Kadetts, Käfer oder R4s mehr, sondern riesige Familienkutschen. Natürlich wurden die Kinder auch wieder abgeholt, denn die Nachmittage waren mit Zusatzkursen, Vereinsbesuchen oder Theaterproben stramm durchgetaktet. Klar, wir waren damals auch im Sportverein oder hatten Musikunterricht, aber die Zeit, die wir gemeinsam draußen verbracht haben, überwog deutlich.

All das war präsent, als mich mein Partner mit seinem Kinderwunsch konfrontierte. Diesem Wunsch gegenüber standen meine Erinnerungen, die ja gerade erst ein paar Jahre alt waren. Das verunsicherte mich. Nicht weil ich Angst vor Entwicklung oder Fortschritt habe, beides ist wichtig und ist gerade für die nachfolgende Generation existenziell. Aber die Abenteuerlust und das Freiheitsgefühl, die wir als Kinder im Münchner Vorland ausleben konnten, waren schon damals in den Städten kaum mehr möglich. Für mich war klar, wenn ich Kinder haben würde, dann sollten sie Abenteuer in der freien Natur erleben können, ohne dass ich ständig Sorgen um sie haben müsste. Ich wollte keine Kinder im Münchner Umland großziehen und so sagte ich unmissverständlich: »Wenn Kinder, dann nur auf Hooge!«

Auf der Hallig können Kinder noch Natur zum Anfassen erleben und ein großes Maß an Freiheit genießen. Zwar ist die Infrastruktur dort ausbaufähig und die Chance auf gute Verdienstmöglichkeiten begrenzt, aber es kann sich noch vieles entwickeln und ausgebaut werden. Das Gefühl von Abenteuerlust, das wir in Kindertagen erleben durften, ist ein Gut, welches sich nicht produzieren und entwickeln lässt. Außerdem ist es unbezahlbar! Wenn ich es damals nicht erfahren hätte, wüsste ich heute nicht, was das ist. Man kann das nicht nachholen, man muss es leben! Genau das wollte ich meinen Kindern bieten und mein Partner konnte das nachvollziehen.

Er hatte sich gerade erst in der IT-Branche selbstständig gemacht und brachte daher ideale Voraussetzungen mit, um der Computer- und Internetfachmann im hohen Norden zu werden. Ich hätte in den kleinen Vermietungsbetrieb meiner Eltern einsteigen können, um ihn langfristig zu übernehmen. In dieses Konstrukt hätten Kinder sehr gut gepasst. Eine wunderbare Umgebung, Weite bis zum nicht enden wollenden Horizont, Kühe, Kälber, Pferde, Schafe, Vögel, eigene Hunde und die Familie drum herum. Alles »Böse«, all die Hektik und der Trubel, die das Leben in großen Gemeinden oder Städten mit sich bringen können, würden auf dem Festland bleiben. Aber natürlich auch das Gewohnte, die Hobbys, die Freunde und in diesem Fall auch die Familie meines Partners. Die Zelte in München abzureißen und den Lebensmittelpunkt auf eine kleine Hallig mitten in der Nordsee zu verlegen, wäre ein großer Schritt. Für ihn war er letztlich größer als für mich, Sorgen und Zweifel breiteten sich bei ihm aus. Wir diskutierten, fingen an zu streiten, der gemeinsame Traum verlor seine Leichtigkeit.

Im Oktober 2000 bin ich schließlich allein nach Hallig Hooge gezogen, denn plötzlich war alles anders und ging ganz schnell: Den Job, den ich immer geliebt habe, gekündigt, mein Motorrad mit Tränen in den Augen verkauft, meine Habseligkeiten in einem kleinen Transporter verstaut. Der Partner, mit dem ich eine Familie haben wollte, nicht mehr an meiner Seite.

In Begleitung von Anne und Lutz, meinen zwei besten Freunden, die mir bei meinem Aufbruch mit Rat und Tat zur Seite standen, machte ich mich nachts auf den Weg Richtung Norden. Es war eine windige, regnerische Nacht, aber bei uns im Wagen spürten wir drei Vertrautheit und Geborgenheit. Anne und ich gaben unsere Kindheitserlebnisse zum Besten, denn wir kennen uns seit unserem dritten Lebensjahr. Lutz und ich schwelgten in Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit bei der Lufthansa. Zwischendurch vergaßen wir den Grund unserer Reise und lachten und waren regelrecht ausgelassen. Mit diesen beiden an meiner Seite konnte ich die Ungewissheit, die tief in meinem Inneren rumorte, vergessen. Selbst der Regen, der unablässig auf die Frontscheibe prasselte, konnte uns die Stimmung nicht vermiesen.

Um zehn Uhr legte von Schlüttsiel die Fähre ab, die uns auf das kleine Eiland brachte. Noch fühlte es sich wie immer an, wenn ich zu Besuch auf die Hallig kam, auf der gerade mal um die hundert Menschen wohnen. Ankommen, ausladen, essen. Meine Mutter verwöhnte uns und wir bekamen das beste Essen, das man nach einer durchgemachten Nacht bekommen kann: eine heiße, selbst gemachte Gemüsesuppe. Das weckt die geschundenen Lebensgeister. Lutz war das erste Mal auf Hooge und lernte jetzt erst meine Eltern kennen. Und wer zum ersten Mal auf einer Nordseehallig oder -insel ist, muss natürlich auch eine von den vielen Spezialitäten aufgetischt bekommen. So kam er auch noch in den Genuss eines frisch zubereiteten Krabbenbrotes. Das Höchste für Krabbenliebhaber! Und frischer als hier, mitten in der Nordsee, bekommt man sie nirgends.

Inzwischen hatte sich die Sonne durchgesetzt und die Wolkendecke war verschwunden. Um unsere Knochen wieder geradezurücken, machten wir einen Spaziergang zum Deich. Mit dabei mein Hund Chico, der seit drei Monaten ein festes Familien­­mitglied war. Ich hatte ihn das letzte Mal im August gesehen, als meine Mutter und ich ihn während meines letzten Urlaubs gemeinsam nach Hooge geholt hatten. Die Freude des Wiedersehens war auf beiden Seiten riesig. Lutz und Chico spielten ununterbrochen mit einem dicken Tau, Anne und ich genossen den Blick auf das Meer und die unendliche Weite, die bei mir langsam Ruhe einkehren ließ. Eine tiefe Ruhe, die sich an der frischen Luft und nach dem guten Essen zu einer wohligen Müdigkeit entwickelte. Die vergangene Nacht steckte uns immer noch in den Knochen und so gingen wir nach dem ausgiebigen Spaziergang direkt in meine neue Wohnung.

Ich hatte für meinen Neustart auf der Hallig eine Zweizimmerwohnung in der direkten Nachbarschaft angemietet. Die im ersten Stock liegende Wohnung bot einen herrlichen Ausblick über das Halligland. Da ich diese aber erst noch renovieren musste, stand noch nichts an seinem Platz. Wir richteten uns also nur ein notdürftiges Matratzenlager im zukünftigen Schlafzimmer ein. Kissen und Decken waren ausreichend vorhanden und mehr brauchten wir nicht. Es dauerte auch gar nicht lange, bis wir alle drei fest schliefen.

Ein Fenster blieb über Nacht offen stehen. Als ich wach wurde und Richtung Bad ging, sah ich, dass wir Besuch von einem kleinen »König« hatten. Ein Zaunkönig flog durch mein Wohnzimmer. Er wirkte überhaupt nicht aufgeregt und ließ sich leicht nach draußen leiten. Ein »König« zu Gast in meiner Wohnung – das nahm ich als Zeichen dafür, dass ich alles richtig gemacht hatte. Er machte mir Mut und gab mir Zuversicht.

Am nächsten Morgen um acht Uhr verließen wir drei die Hallig mit der Fähre und fuhren erneut die rund eintausend Kilo­­meter nach Ismaning. Die letzten Kleinigkeiten mussten noch erledigt und Verabschiedungen vollzogen werden. Manche sogar für immer. Zwei Tage später fuhr ich die Strecke wieder. Diesmal allein. Während der Fahrt hörte ich von Nenas Irgendwie, irgendwo, irgendwann bis hin zu Bon Jovis It’s my life alles, was das Radio hergab. Und treffender hätte ich meine Gefühle selbst nicht beschreiben können. Ich war mir nicht wirklich im Klaren darüber, ob es mehr eine Fahrt mit einem nicht vollendeten Abschluss oder eher eine Fahrt in einen Neubeginn war. Ich wusste nicht, ob mir nach Weinen oder Lachen war. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Ich ließ so vieles zurück. War meine Entscheidung richtig oder unvernünftig? Was war aus meinem beziehungsweise unserem perfekten Plan geworden? Was aus meinen Träumen? Was sollte aus meinen Freundschaften werden, würden sie die Entfernung aushalten? Die Menschen, die ich am liebsten um mich hatte, waren nun fast tausend Kilometer weit entfernt. Menschen, die mir zum Abschied sagten, wie sehr sie mich vermissen würden. Und ich wusste nicht, wie mein Plan jetzt aussehen würde. Ich hatte gar keinen.

Eines war mir allerdings klar. Es war ein Abschied von meinen vergangenen 25 Jahren, meiner Kindheit, meiner Heimat, von einem vermeintlich perfekten Plan und von vielem mehr. Und sicher war auch, dass dies der Beginn eines neuen Lebensabschnitts war. Ich zog auf die Hallig Hooge und legte damit den Grundstein für ein neues Leben mit vielen Kapiteln.

KAPITEL 3

Die Hallig – nur ein Haufen Schlick?

Wenn ich erzähle, dass ich auf Hooge lebe und arbeite, höre ich oft: »Du lebst auf einer Hallig? Was macht ihr denn da den ganzen Tag? Da ist doch nichts los!« Diese und ähnliche Reaktionen kommen in erster Linie von Menschen, die keine Ahnung von einer Hallig haben. Weder wissen diese Leute, wo die Halligen liegen, noch was sie sind, geschweige denn was man dort machen kann. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch daran, dass das Thema Halligen früher einmal im Erdkunde­unterricht durchgenommen wurde.

»Das sind so Schlickhaufen, ne?«

»Sind das nicht diese kleinen Inseln da oben bei Sylt?!«

Falsch! Halligen sind keine Inseln! Und die Nachbarinsel heißt auch nicht Sylt, sondern Pellworm. Oder Amrum. Oder auch Föhr. Sylt ist zwar geografisch nicht weit entfernt, aber in Sichtweite liegt diese Insel nicht.

Der offensichtlichste Unterschied zu einer Insel liegt darin, dass Halligen mehrmals im Jahr überflutet werden. Wie oft das passiert, hängt zum einen damit zusammen, ob eine Hallig einen sogenannten Sommerdeich hat, und zum anderen, wie stark und ausdauernd der »Blanke Hans« ist. So wird die Nordsee betitelt, wenn sie tobt und stürmt und ein Landunter die Folge ist. Dann ist die Hallig blank und nur noch die Warften gucken aus dem Wasser. Jede für sich, wie eine Arche. Hooge ist die einzige der zehn Halligen, die seit 1914 einen geschlossenen Sommerdeich hat. Dieser flache Deich heißt so, weil er die kleineren Hochwasser während der Sommermonate abhalten soll, auf das Land zu kommen. Dies dient zum Schutz der landwirtschaftlich genutzten Flächen. Die Fluten im Winter gehen bei den entsprechenden Windverhältnissen über diesen Deich hinweg. Diese Steinkanten sind durch mühevolle Handarbeit der Deicharbeiter auf den Halligen errichtet worden. Gäbe es diese nicht, hätten wir wesentlich öfter nasse Füße. So sprechen wir auf Hooge nur noch von drei bis fünf Landuntern in der Herbst- und Winterzeit und äußerst selten von einem Landunter in den Sommermonaten. Mal sind es mehr, mal weniger, mal geht es schon im Spätsommer los – die Natur hält sich nicht an statistische Vorgaben.

Weitere Unterschiede liegen tiefer vergraben und werden immer noch viel diskutiert, von Gelehrten genauso wie von Laien. Halligen haben kein Grundwasser, sagt man zum Beispiel. Oder auch: Inseln haben einen Festlandsockel, Halligen nicht. Halligen sind im Laufe der Jahrhunderte gewachsen. Sie sind keine Überreste einer früheren Küstenregion, wobei das nicht auf die Hallig Nordstrandischmoor zutrifft. Diese kleine und jüngste Hallig ist tatsächlich zusammen mit der Halbinsel Nordstrand und der Insel Pellworm das Überbleibsel der untergegangenen Insel Strand. Diese verschwand 1634 bei der sogenannten »Burchardiflut«, die auch als »Zweite Grote Maan­dränke« bekannt ist, von der Landkarte.

Man spricht also von kleinen Eilanden oder auch Marsch­inseln, die mehr oder weniger regelmäßig überflutet werden, da sie nur rund einen Meter über dem Meeresspiegel liegen. Dann sprechen wir von einem Landunter. Das macht sie einzigartig und darum sind die Häuser auf den Halligen auf Warften errichtet. Auf Hooge gibt es zehn bewohnte und eine unbewohnte Warft, die Pohnswarft. Sie wurde 1825 in einer heftigen Sturmflut, sie ist als die »Februarflut« bekannt, so stark zerstört, dass sie seither nicht mehr bewohnt wird. Keine andere Flut hat solch eine Zerstörung gebracht, selbst die Sturmfluten von 1962 und 1976 verliefen vergleichsweise glimpflich.

Die Halligen liegen mitten im Schleswig-Holsteinischen Wattenmeer, einem der wenigen Wildnisgebiete, von dem man heute noch sagt, dass es eine europäische Urlandschaft sei. Auch von der Hochregion der Alpen sagt man das übrigens. Ich bin sozusagen von einer Urlandschaft in die andere gezogen und muss sagen, dass ich beide liebe und keine missen möchte. Das Wattenmeer ist eines der vogelreichsten Gebiete Europas, Millionen von Wat- und Wasservögeln machen hier Rast. Seit 1985 ist dieses Gebiet als Nationalpark ausgewiesen. Nicht nur der Meeresboden, der bei Ebbe bewandert werden kann, hält jede Menge Attraktionen bereit, sondern auch auf den Salzwiesen ist immer etwas los. Es gibt keinen Tag, an dem man nicht irgendetwas Besonderes sehen oder beobachten kann.

In Gebieten, in denen das Zusammenleben von Natur und Menschen beispielhaft entwickelt und erprobt wird, ist es das oberste Ziel, Kultur- und Naturlandschaften zu schützen. Es sind Modellregionen, die als sogenannte Biosphärenreservate durch die UNESCO ausgezeichnet werden. In Deutschland gibt es heute 15 Biosphärenreservate, das nördlichste heißt »Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer und Halligen«. Seit 2005 gehören die Halligen dazu. Der Wunsch wurde ursprünglich von einer Gruppe von vier Personen auf Hooge geboren und als Antrag an die damalige Gemeindevertretung eingereicht. Diese hat nach relativ kurzer Diskussion zugestimmt und auch die Nachbarhalligen überzeugen können. Eine dieser vier Personen war ich.

Hallig Hooge und die anderen acht beziehungsweise neun Halligen haben eine beachtenswerte Entstehungsgeschichte, die sie damit einmalig auf der Welt machen. Sie liegen mitten im Meer, sind umgeben von einem Nationalpark und Bestandteil einer Biosphärenregion – da soll noch einmal jemand sagen, hier sei nichts los! Hier ist immer etwas los, man muss es nur sehen können. Es sollen einmal über hundert Halligen ­gewesen sein. Die verbliebenen, die es heute noch gibt, heißen: Südfall, Süderoog, Norderoog, Habel, Oland, Gröde, Nordstrandisch­moor, Hooge und Langeneß. Die Hamburger Hallig hat seit 1875 einen Damm, der das Eiland mit dem Festland verbindet und über den sogar Autos fahren können, daher ist sie nur noch eigentlich die zehnte Hallig.