Barrier Highway - Garry Disher - E-Book + Hörbuch

Barrier Highway Hörbuch

Garry Disher

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Beschreibung

Tivertons sirrend heißer Sommer, der müde Steinmauern zermalmt und träge Windräder unter seiner Hitze in die Knie zwingt, wird von einem kalt grünen Winter abgelöst. Unentwegt fährt Constable Hirschhausen über die einsamen Landstraßen, um nach dem Rechten zu sehen. Oft sind es Kleinigkeiten, mit denen das große Verbrechen sich ankündigt. Ein Unterwäschedieb in den Gärten. Ein randalierender Vater an der Grundschule. Ein vernachlässigtes, eingesperrtes Kind. Familien unter Druck, finanzielle Probleme. Hirsch weiß genau, wie leicht solche Fälle eskalieren können, und bemüht sich mit einfühlsamer Autorität um Kontrolle. Bis sie ihm entgleitet.

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Zeit:9 Std. 57 min

Sprecher:Sebastian Dunkelberg
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Über dieses Buch

Tivertons sirrend heißer Sommer wird von einem kalt grünen Winter abgelöst. Constable Hirschhausen patrouilliert über die einsamen Landstraßen. Scheinbare Kleinigkeiten halten ihn auf Trab: ein Unterwäschedieb, ein randalierender Vater. Hirsch weiß genau, wie leicht solche Fälle eskalieren, und bemüht sich um Kontrolle. Bis sie ihm entgleitet.

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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter zweimal der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.

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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Hardcover, Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Garry Disher

Barrier Highway

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Ein Constable-Hirschhausen-Roman (3)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 2 Dokumente

Die Originalausgabe erschien 2020 bei The Text Publishing Company, Melbourne.

Lektorat: Anne-Catherine Eigner

Originaltitel: Consolation

© by Garry Disher 2020

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Jonathan Lloyd (Alamy Stock Photo)

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-31114-5

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Version vom 09.12.2022, 17:52h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

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Inhaltsverzeichnis

BARRIER HIGHWAY

1 – Herrschte Hirsch über den Ort2 – Reflexartig wich er wieder zurück. Er drehte sich …3 – Später Vormittag. Sie trafen sich an der Hawker …4 – Hirsch raste davon, nahm die schmierige Piste mit …5 – Donnerstag6 – Um zu dem kleinen Haus unterhalb von Ayliffes …7 – Am Freitag gleich in der Frühe rief Sergeant …8 – Wieder zog Hirsch das Handy aus der Tasche …9 – Sie fahren, Sie Kanone«, sagte Comyn10 – Das Krankenhaus in Clare, Samstagnachmittag. Hirsch ging einen …11 – Mir ist eine gewisse Dringlichkeit hinsichtlich der sexuellen …12 – Am Montagmorgen schaute Hirsch nach, ob es Neues …13 – Jean Landy setzte Hirsch am Revier ab …14 – Dienstag, sechs Uhr früh, Hirsch marschierte durch die …15 – Weder der Inspector der STAR Group noch Comyn …16 – Die Wolken hatten sich im Laufe des Tages …17 – Als Erster traf Inspector Merlino mit einem verkleinerten …18 – Clara, Sie wohnen in Redruth. Sie schauen nicht …19 – Am Samstagmorgen stand Hirsch auf dem hinteren Parkplatz …20 – Mutter und Tochter, am Tag hellwach und aktiv …21 – Montag: Hirsch lag im Bett und blinzelte sich …22 – Er hielt die Nase in die Luft und …23 – Kurz nachdem Hirsch am Dienstagmorgen in Redruth angekommen …24 – Mittwoch. Hirsch kaufte in Redruth im Feinkost neben …25 – Das Bild von dem Anhänger und dem alten …26 – Er gab seinen Namen mit Laurence Rea an …27 – Freitag. Hirsch wanderte durch die Straßen von Tiverton …28 – Am Samstagmorgen führte er, wohl wissend, dass er …29 – Um sieben Uhr abends sagte Katie mitten in …30 – Am Sonntagvormittag war es stürmisch. Rindenstreifen, Blätter und …31 – Hirsch kehrte am späten Nachmittag nach Tiverton zurück …32 – Stolte stand noch immer in der Tür …33 – Der Hund hat ihn gebissen, dachte Hirsch34 – Hirsch machte den Mund auf und klappte ihn …35 – Hirsch musste sich hinterher auf den Fluren des …36 – Hirsch und Katie hatten eine Vorliebe für Katastrophenfilme …37 – Als Hirsch Redruth erreichte, fuhr er bereits über …38 – Dürfte der Vater gewesen sein«, sagte Hirsch …39 – Hirsch führte eine Reihe von Telefonaten: Ein Krankenwagen …40 – Es war bereits nach Mitternacht, als Hirsch bei …41 – Donnerstag früh überquerte Hirsch die Straße, um sich …42 – Der Toyota wurde heftig durchgeschüttelt; der Lärm war …Danksagung

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Über Garry Disher

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1

Herrschte Hirsch über den Ort?

Manchmal kam es ihm so vor – zumindest machte er ihn zu dem seinen, wenn er bei Tagesanbruch durch die Straßen patrouillierte. Als er damit vor achtzehn Monaten begonnen hatte, hatte er sich eine Art inneren Lageplan zurechtgelegt. Ausgehend vom Polizeirevier hatte er imaginäre Verbindungslinien gezogen zur kleinen Schule am Barrier Highway, zum Gemischtwarenladen, zu dem Geschäft für Luzernesamen in der Nebenstraße, den Tennisplätzen, den bemalten Silos an der aufgelassenen Bahnstation – und zu jedem der Häuser, zumeist errichtet aus lokalem Gestein des Woll- und Weizenlandes auf halber Strecke zwischen Adelaide und den Flinders Ranges.

Als Hirsch diesen Lageplan vollendet hatte und alles mit allem verknüpft war, hatte der Polizist in ihm wieder die Oberhand gewonnen. Der Beschützer und Gesetzeshüter. Er wachte über die beiden Geschwister im Teenageralter, die sich um ihre manisch-depressive Mutter kümmerten, über die alte Frau, deren Gatte ständig umherirrte, kaum dass sie ihm den Rücken kehrte, über den jungen Ureinwohner, der erst allmählich zu glauben begann, dass Hirsch nicht zu der prügelnden Sorte von Polizisten gehörte. Und er hielt Ausschau nach Dummheit, Hinterlist und reiner Bosheit. Er ging alte Verbrechen und launische Schicksalsschläge durch, von denen nur noch ein paar Blutflecken an einem Verandapfosten oder auf einer Einfahrt zeugten – verbunden mit einem Gefühl von Bedauern: »Hätte ich doch nur …« Vielleicht konnte er das nächste Mal früher eingreifen? War da nicht ein irrer Glanz in den Augen eines Mannes, der auf den ersten Blick wie ein ordentlicher Bürger wirkte? An welcher Stelle auf der First Street konnte er vielleicht einen eventuellen Fluchtversuch unterbinden? Oder wie am Canowie Place schließlich den Schlüpferdieb schnappen? Jeder Ort war durchlässig, nach allen Seiten offen. Niedertracht wie Gutherzigkeit konnten einsickern. Alles war mit allem verbunden.

Der Schlüpferdieb. Hirsch ging an diesem eisigen Mittwochmorgen gegen Ende August von der Mawson Street zum Canowie Place; Frost lag auf dem Gras, Eiszapfen hingen an tropfenden Gartenwasserhähnen, schließlich zerfielen sie im Glanz der Sonne in Prismen und Diamanten. Vor Hirsch lag ein strahlender, ruhiger, eisiger Tag. Gestern war Schnee auf dem Razorback gemeldet worden, und Hirsch war gewillt, das zu glauben, denn von der Kälte tränten ihm die Augen, und Wangen und Zehen waren eiskalt.

Komische Vorstellung, dass 2019 mit Buschbränden im ganzen Land begonnen hatte. Was konnte da noch kommen? Hirsch stampfte mit den Füßen auf, zog die Schultern hoch und den Kopf ein, wurde zu einer gedrungenen Gestalt unter einer Strickmütze, die den Canowie Place entlangging. Er kam an der Uniting Church vorbei, in der nun ein Geologe im Ruhestand wohnte, dann an einem transportablen Fertighaus, aus dessen Schornstein der Rauch senkrecht in die Höhe stieg, und passierte weitere steinerne Häuser mit verblichenen roten oder grünen Blechdächern, deren Sträucher und Jalousien die Welt fernhielten. Die übliche ländliche Gemeinde: ein Mischmasch aus alt und neu, renoviert und verlassen; Hirsch konnte die Kälte in all den Gemäuern spüren.

Er blieb bei Mrs Lidstroms Haus, 9 Canowie Place, stehen und schaute an der Seitenwand entlang zur Wäscheleine im Hinterhof hinüber. Ein Geschirrtuch und eine marineblaue Polyesterhose, die sie häufig trug. Sie dürften steif gefroren sein, nahm er an. Er stellte sich vor, wie er sie mit den Fingern anschnippste: ein leises Knacken wie Pappe.

Er schaute zum Dachvorsprung hinauf. Nachdem der Schlüpferdieb wiederholt in der Gegend zugeschlagen hatte – hier in Tiverton, unten in Penhale, drüben in Spalding – und bei einigen Opfern mehrmals aufgetaucht war, hatte sich im Polizeibudget eine Summe gefunden, um die Installierung einer versteckten Überwachungskamera an je einem Haus in jedem Ort zu finanzieren. In Redruth war nichts dergleichen vorgefallen, was Hirsch und seine Vorgesetzte, Sergeant Brandl, vermuten ließ, dass der Täter dort lebte. Das war nun zehn Wochen her gewesen. Seitdem hatten die Kameras bei Mrs Lidstrom und in Penhale körnige Videoaufnahmen von einer männlichen Gestalt in Motorradkleidung und Helm geliefert. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, hatten die Nachbarn gesagt, »ich habe gestern Nacht ein Motorrad gehört.« Kein Gesicht, nur der Eindruck einer gedrungenen Gestalt in Lederkluft.

Bob Muir, Hirschs Elektrikerfreund, hatte die Kameras installiert. Mrs Lidstrom, die mit Hirsch danebengestanden und Bob auf der Leiter zugeschaut hatte, hatte ein Wort benutzt, das Hirsch bislang nur gedruckt gekannt hatte.

»Wer würde denn meine alten Liebestöter klauen?«

»Das liegt an deinem topmodischen Geschmack, Betty«, hatte Bob erwidert und mit ein paar Messingschrauben zwischen den Zähnen von der Leiter geschaut.

Mrs Lidstrom hatte geprustet. Sie war rundlich und gemütlich, weißhaarig und gewitzt und amüsierte sich meist über die Welt. »Und dann auch noch meinen Badeanzug und meinen besten BH.«

»Badeanzug?«, hatte Hirsch gefragt.

Sie machte eine leicht verdrießliche Miene: Schon vergessen, Paul? »Wassergymnastik. In Redruth.«

Wie sie mal zu Hirsch gesagt hatte, war sie keine von denen, die einfach auf dem Hintern herumsaßen. Vorträge im Probus Club, Wanderurlaub auf Neuseeland, freiwillige Dienste, Sport. »Ach ja«, meinte Hirsch.

»So bleibe ich jung. Aber so jung auch wieder nicht. Also, wer würde denn die Unterwäsche einer alten Frau klauen wollen?« Betty Lidstrom sah Hirsch an. Er bemerkte ihren hellen Blick und den wachen Verstand dahinter. »Ein Fetisch?«, fragte sie. »Etwas Psychosexuelles?«

Hirsch sah sie stirnrunzelnd an. Sie verpasste seinem Oberarm einen leichten Schlag – unterschätzen Sie mal alte Frauen nicht –, und er lächelte und nickte. »Schon möglich.«

Die beiden standen unten, Bob Muir balancierte im Overall oben auf der Leiter, und alle drei versuchten, sich in einen Mann hineinzudenken, der Unterwäsche von den Wäscheleinen in Hinterhöfen klaute. Warum tat er das? Was machte er mit seinem Schatz an Liebestötern? Und war das nur der Auftakt zu weiteren Taten?

Ihn zu fassen würde schwer werden. Und wenn, dann konnte er seinen Kopf ganz einfach aus der Schlinge ziehen und sagen, er habe die Unterwäsche in einem Secondhandladen gekauft. Peinlich, aber kein Diebstahl. Dann würde er sagen, die Behörden hätten in den Schlafzimmern der Bürger nichts zu suchen, und so weiter. Deshalb waren die Opfer mit besonders markierter Unterwäsche ausgestattet worden, falls der Mann wieder zuschlagen sollte: ein in die obere linke Ecke des Etiketts gestanztes Loch.

In diesem Augenblick ging in Mrs Lidstroms hinterem Seitenfenster das Licht an: die Küche. Hirsch setzte seinen Kontrollgang fort, die nächtlichen Verspannungen und die Steifheit lösten sich und er fühlte sich trotz Kälte und Eintönigkeit lebendig. Er würde den Vormittag wahrscheinlich damit verbringen, ein, zwei eidesstattliche Erklärungen zu bezeugen, einen Bericht über die Kneipenschlägerei unter Windfarmarbeitern am letzten Wochenende abzufassen und die Lehmklumpen aus den Radkästen seines Allrad-Dienstfahrzeugs der South Australia Police zu kratzen, die aus dem fiesen, zähen, klebrigen roten Staub der Plains zusammengebacken waren.

Dann ging er seitlich an einem kleinen Backsteinhaus am Highway vorbei. Im Vorübergehen klopfte er gewohnheitsmäßig mit den Fingerknöcheln auf die Windschutzscheibe seines alten Nissan, das sollte Glück bringen. Er betrat das Haus durch die Hintertür. Nach der Dusche und dem zweiten Frühstück öffnete er die Verbindungstür und trat aus seiner kleinen Dreizimmerwohnung in das Zimmer mit Blick auf den Highway.

Das war das ganze Polizeirevier. Ein Deckenventilator für den Sommer, ein nutzloser Heizstrahler für den Winter. Gemeindemitteilungen an den Wänden, ein abgelaufener Kalender mit Aufnahmen von Wildblumen im Frühling östlich der Ortschaft, ein Tresen, der seinen Schreibtisch, den Computer, Drehstuhl und Aktenschrank vom Wartebereich abtrennte. Allerdings wartete selten jemand. Ab und an geschah ein Verbrechen, Gesetzesbrecher waren unterwegs, doch meistens konnten Anwohner oder Fremde damit rechnen, sofort angehört zu werden – zumindest, wenn Hirsch anwesend war, nicht Streife fuhr oder am Telefon hing. Eine verschlafene Ortschaft auf dem Land. Meistens jedenfalls.

Hirsch saß am Schreibtisch, der Heizstrahler roch nach verbranntem Staub, wärmte ihm aber kaum die Schienbeine; er widmete sich dem Eingangskorb, las Mails und warf einen Blick auf die What-The-Fuck-Seite von Tiverton auf Facebook. Der Wäschediebstahl war dort das vorherrschende Thema, die Kommentare manchmal amüsant, manchmal leicht daneben; gelegentlich wurden sie bösartig. Hirsch nahm an, dass Betty Lidstrom davon wusste. Er konnte sie nicht davor beschützen. Überall kämpfte die Polizei einen aussichtslosen Kampf gegen die sozialen Medien.

Drei interessante Dinge gab es an diesem Vormittag: Fotos vom Razorback mit Schnee auf dem Grat; Meldungen von einem Paar irischer Dachflicker, die sich im Bezirk herumtrieben – eine Betrugsmasche?; und eine anonyme Anfrage bezüglich Quinlan Stock and Station, einem Händler in Redruth, der sich auf den Ankauf von Land, Vieh, Wolle, Agrochemikalien und Landmaschinen spezialisiert hatte: Hat jemand Erfahrungen damit, dass diese Bande die Zahlungen verschleppt?

Das Telefon klingelte. »Paul?«

Hirsch erkannte die Stimme nicht. »Am Apparat.«

»Ich bins, Clara.«

Hirsch nahm an, dass ihm Name und Stimme etwas sagen sollten; aber das war nicht seine Stärke. Nicht gut bei einem Polizisten auf dem Land: Zur Jobbeschreibung gehörte, neben Gesetzeshüter, auch Freund und Ratgeber für alle zu sein. Doch der Name Clara war nur ein Rauchwölkchen in seinem Verstand, weit entfernt in Raum und Zeit.

»Hi.«

Sie erkannte sein Dilemma. »Clara Ogilvie.«

Nichts. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er und konzentrierte sich wie verrückt.

»Caledonian Dreaming?«

Ach ja. Eine lockere Gruppe aus Fiedlern, Gitarristen, Dudelsackspielern, Blechflötenspielern und Sängern beiderlei Geschlechts – schottische Balladen, trendiger Folk, Country, dazu alles, was vage keltisch klang. Alle vierzehn Tage traten sie im Hinterzimmer des Woolpack in Redruth auf, eine halbe Stunde den Highway entlang. Hirsch war zwei Mal dort gewesen, Wendy Street und ihre Tochter hatten ihn mitgeschleift. Beim zweiten Mal, im Juni, hatte er die Augen vor allen bohrenden Blicken im Raum geschlossen und eine kurze, zutiefst unsichere Gesangseinlage gegeben von Dirty Old Town, das er aus seiner Kinderzeit von einer alten Platte der Pogues kannte, die seinen Eltern gehört hatte. Den Text konnte er auswendig; was ihm fehlte, war die kratzige Stimme von Whisky und Zigaretten.

Plötzlich konnte er Clara Ogilvie einordnen. Mitte vierzig, schlank, lebhaft, ständig unter Strom. Sie hatte ihn hinterher am Arm berührt – Wendy hatte mit einem schläfrigen kleinen Lächeln zugeschaut – und gesagt, er hätte eine hübsche Tenorstimme. In einer kleinen Gemeinde war das ein anderer Ausdruck für halbwegs passabel.

»Clara, was kann ich für Sie tun?«

»Ich rufe an, weil …« Sie verstummte. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«

»Ja.«

»Und Sie müssen keine Runde machen?«

Wenn, dann wäre Hirsch schon seit sieben Uhr früh unterwegs gewesen.

»Immer los«, sagte er, und sein Herz verkrampfte sich ein wenig. Sie wollte, dass er noch mal sang, vielleicht auf dem Konzert auf der Redruth Show im September.

»Ich rufe an, weil … hören Sie, es ist etwas kompliziert.«

»Lassen Sie sich Zeit.«

»Ich mache mir um das Wohlbefinden einer Person Sorgen.«

Als Hirsch das letzte Mal bei jemandem vorbeigefahren war, um sich um dessen Wohlbefinden zu kümmern, war er auf zwei Leichen gestoßen: Mutter und Sohn, die bei einem Hauseinbruch erschossen worden waren. Das Blut, die Leichen: Alles stand plötzlich wieder vor seinem geistigen Auge. »Hmhm. Wer?«

»Also«, setzte Clara Ogilvie an. »Ich unterrichte Englisch an der Redruth Highschool – deshalb kenne ich Wendy. Sie meinte, ich solle erst mit Ihnen reden und mich dann an das Jugendamt wenden.«

Ein Kind in ihrer Klasse? Gab es denn in den Schulen keine Sozialbeauftragten? Dieses Gespräch würde wohl noch ewig um den heißen Brei kreisen. »Jemand in Ihrer Klasse? Und Sie glauben, das sei ein Fall für die Polizei?«

»Ich hoffe nicht, aber ich mache mir Sorgen.«

Kindesmisshandlung, dachte Hirsch. Blaue Flecken. Überreaktionen. Vernachlässigung. Auf Drogen. Handelt mit Drogen …

Aber warum rief sie ihn an? Das Polizeirevier Redruth war zwei Minuten von der Schule entfernt, Hirsch aber eine halbe Stunde. »Vielleicht bitten Sie Sergeant Brandl, sich das mal anzuschauen.«

»Sie sind näher.«

»Erzählen Sie mir doch mal die Sachlage.«

Eine kurze Pause, so als habe er sie schroff behandelt. Dann holte die Frau anscheinend tief Luft. »Zu meinem Job an der Highschool arbeite ich nebenbei online mit Grundschulkindern, die zu Hause unterrichtet werden, und überwache deren Fortschritte.«

»Okay.«

»Für das Bildungsministerium.«

»Okay.«

»Das ist eine der Bedingungen, wenn jemand zu Hause unterrichtet wird.«

»Hmhm.«

»Diese Woche bin ich online mit einem Mädchen im letzten Grundschuljahr. Lydia Jarmyn, elf, wird von ihrer Mutter Grace zu Hause unterrichtet.«

»Okay.«

»Also, ein paarmal im Jahr setze ich mich mit diesen Kindern in Verbindung, kontrolliere die Fortschritte in den verschiedenen Fächern und schaue mir den Lehrplan an. Lydia war allerdings die ganze Woche über zerstreut. Sie gähnt viel. Schaltet andauernd ab.«

»Reden wir hier von Skype? Zoom? Sie können sie also sehen?«

»Sie wirkt dünn und blass. Nickt ein, schüttelt sich, als ob sie versucht, sich wach zu halten, nickt wieder ein.«

»Haben Sie mit der Mutter gesprochen? Vielleicht hängt das Mädchen die ganze Nacht am Computer. TikTok, oder was immer heute angesagt ist.«

»Ich glaube, da ist noch was anderes im Busch. Ich habe Lydia gefragt, ob alles in Ordnung sei, und sie antwortete, sie habe die ganze Zeit Hunger. Sie dürfe nur eine kleine Schüssel Reis am Tag essen. Und ihr sei ständig kalt.«

Hirsch ging die möglichen Szenarien durch, falls er beim Jugendamt anrief: der dreißigste Anrufer in der Warteschleife; jemand verspricht zurückzurufen, tut es aber nie; Hirsch bekommt eine Aktennummer, die nächsten Monat bearbeitet werden kann; man verlangt weitere Beweise; sie versprechen zu handeln, tun es aber nie … und dann stirbt das Kind.

Oder aber wir haben es hier mit einem Kind zu tun, das nur rumjammert.

»Wissen Sie, wo die Jarmyns wohnen?«

Er hörte Papier rascheln, dann gab ihm Clara Ogilvie eine Adresse: Hawker Road. Hirsch kannte die Straße: eine Schotterpiste oben in den Tiverton Hills. »Und aus welchem Grund wird sie zu Hause unterrichtet?«

Statt auf die Grundschule in Tiverton zu gehen, die gleich auf der anderen Seite des Polizeireviers lag?

»Wenn die Eltern gewisse Bedingungen erfüllen, dann dürfen sie ihre Kinder zu Hause unterrichten.«

Das war eine Antwort, aber nicht auf seine Frage.

»Okay, danke, ich schaue nach.« Er hielt kurz inne. »Das haben Sie gut gemacht.«

Sein Job bestand zur Hälfte aus Diplomatie.

Ogilvies Stimme veränderte sich, klang leicht und gesprächig. Clara freute sich schon auf das Beisammensein mit Caledonian Dreaming am Sonntagnachmittag; sie nannte ein paar Lieder, die gut zu seiner Stimme passen könnten, wie sie fand. Hirsch schluckte. Schon nach den Titeln zu urteilen, handelte es sich um epische Balladen über Fehden, Überfälle und wohlverdiente übernatürliche Strafen. Er wand sich, erfand Ausflüchte und beendete das Telefonat, ohne sich zu irgendetwas verpflichtet zu haben.

Hirsch heftete seine Handynummer an die Haustür und steuerte seinen Dienstwagen, einen Toyota Hilux, rückwärts auf den Highway. Ein Strom von Autos fuhr durch den Seitenzugang zur Schule, und wieder fragte er sich, warum Lydia Jarmyn zu Hause unterrichtet wurde. Er wartete, dass der Bus von Broken Hill vorbeizockelte, dann folgte er ihm nordwärts durch das Farmland.

Weizen-, Hafer- und Gerstensprösslinge säumten die beiden Straßenseiten in üppigen, sattgrünen Rechtecken und reichten in breiten Pinselstrichen die Hügelflanken hinauf, bis der fruchtbare Boden Felsklippen wich. In der Ferne waren die Dächer von Farmhäusern und Geräteschuppen zu sehen. Hirsch dachte an den Wandel der Jahreszeiten. Als er noch in Adelaide wohnte, hatte er nicht viel davon mitbekommen. Das Wetter war dort heiß, kalt oder irgendetwas dazwischen, mehr nicht. Von Pflanzenwuchs und Vogelstimmen hatte er nichts mitbekommen, auch nicht von Pollen und Blüten, Werden und Vergehen. Wichtig war nur, was man anzog; brauchte er eine Jacke oder war es heiß genug, um schwimmen zu gehen? Hier oben, drei Stunden von der City und höher gelegen, gab es zwei Extreme: kalte, grüne Winter und trockene Sommer.

Ein Fleck am Himmel entpuppte sich als kurzes, stummeliges Sprühflugzeug, dessen Kabine wie eine große Seifenblase über den Flügeln saß; die Maschine schmierte seitlich ab und richtete sich dann wieder aus, um ein Weizenfeld zu überfliegen. Hirsch bremste, blinkte, hielt am Straßenrand und sah zu, wie die Maschine tiefer flog, über die Stromleitung hopste, wieder sank und von Zaun zu Zaun jaulte, wobei sie einen breiten Streifen Chemikalien versprühte; sie zog wieder hoch, bevor sie gegen die Hügelflanke pflügte, kippte über einen Flügel und wendete. Sinkflug, Heckenhopser, Sprühen, Anstieg, Wende.

Hirsch setzte die Weiterfahrt genau so an, dass er keine Ladung Chemikalien abbekam oder das Fahrwerk sich in seiner Dachreling verfing, und zog den HiLux wieder auf die Straße hinaus. Eine Viertelstunde später bog er links ab; die Schotterpiste führte ihn eine Flanke hinauf und dann an ihr entlang. Schließlich kam er zu einer Einfahrt, die von einem doppelflügeligen verzinkten, verschlossenen Eisentor gesichert war.

Hirsch hielt an und stieg aus; mürrisch betrachtete er das Schloss. Die Zufahrt führte zwischen silbrigen Eukalyptusbäumen entlang zu einem hellbraunen, von Kiefern umstandenen Ziegelhaus aus den Siebzigern. Fantastische Aussicht, fand er, drehte sich zur Bestätigung um und sah die Welt durch die Augen der Bewohner hier oben über dem Tal.

Sollte er, sollte er nicht? Bevor Hirsch noch länger zaudern konnte, kletterte er über den Zaun und stapfte zum Haus. Es blies ein eisiger Wind, der ihm bis in die Knochen fuhr, die Eukalyptusbäume bogen sich und wiegten ihre Kronen in einem unablässigen Rauschen. Das Haus wirkte verschlossen, alle Vorhänge waren zugezogen. Keine Fahrzeuge, soweit er sehen konnte. Er klopfte: keine Reaktion. Das gefiel ihm nicht. Am liebsten wäre er wieder verschwunden.

Aber das Haus war nicht vernachlässigt. Die Veranda war sauber, die Topfpflanzen gediehen, die Beete waren frisch gejätet, die Fensterscheiben fleckenfrei. Kein Schimmel an den Fallrohren. Und aus einem Zwinger beobachtete ihn gleichgültig ein Schäferhund. Hühner pickten und scharrten im Hinterhof herum. Im Carport stand ein pinkfarbenes Dreirad. Die Bewohner waren ausgeflogen, nahm Hirsch an. Irgendwann mussten sie ja wieder auftauchen und den Hund füttern.

Sollte er eine Nachricht dalassen? Dann schreckte ihn der Anflug eines leisen Flüsterns oder einer minimalen Bewegung auf, und Hirsch sah sich noch einmal genauer den Wohnwagen an, der in einem offenen Maschinenunterstand am hinteren Ende des Hofs stand.

Hirsch überquerte den Hof. Es handelte sich um einen altmodischen Wohnwagen auf verrottenden Rädern. Und er war Wind und Wetter ausgesetzt, dem Schmutz und Schimmel nach zu urteilen. Ein Schieberiegel war an die Tür montiert worden, alle Fenster waren vergittert. Ein hübsches Gefängnis.

Hirsch klopfte, sagte Hallo, wartete nicht erst, sondern schob den Riegel auf, öffnete die Tür und trat ein.

2

Reflexartig wich er wieder zurück. Er drehte sich um, nahm einen Zug der eisig frischen Luft, die von draußen hereinblies, trat zurück, um die Tür an der Außenseite festzumachen, und versuchte erneut, den Wohnwagen zu betreten, wobei er gegen eine widerliche Flut ankämpfen musste – der Gestank von Urin und Exkrementen bohrte sich ihm in die Stirnhöhlen.

Er atmete nur flach, schob zum Lüften ein paar Fenster auf und sah sich um. Am hinteren Ende befand sich eine Matratze, darauf ein Gewirr aus Decken. Näher bei ihm lagen auf einem verdreckten Klapptisch zwischen zwei Sitzbänken ein Atlas, ein Wörterbuch und Schreibblöcke, daneben steckten Bleistifte und ein Holzlineal in einem Einmachglas. Auf der Spüle an der Seite wartete eine Plastikschüssel darauf, gewaschen zu werden; am Rand klebte wie eine Made noch ein blasses gekochtes Reiskorn.

Hirsch sah sich weiter um. Die Wände – eine dünne Metallhaut, die keinen Schutz gegen winterliche Temperaturen bot – waren voller Fingerabdrücke, ansonsten aber völlig blank, bis auf ein vollgekritzeltes Whiteboard, das auf halber Wagentiefe zwischen zwei Hängeschränken angebracht war. Es handelte sich um eine Liste voller Regeln in Schwarz und Rot; die Wörter rempelten sich gegenseitig wütend an:

Schlechtes Benehmen wird in unserer Familie nicht geduldet

Vergiss nicht, wer hier der Chef ist (Tipp: Du nicht)

Du passt dich uns an, nicht umgekehrt

Was du kaputt machst, musst du wieder heil machen

Du kannst nicht immer deinen Willen durchsetzen

Überraschung: Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt

Respekt erhält, wer Respekt verdient

Hirsch ging einen Schritt weiter und besah sich das Bettzeug. Eine dünne, stinkende gelbe Schaumstoffmatratze, die schief auf dem Bettkasten lag. Zwei fadenscheinige graue Decken mit blauen Paspeln, verdreckt und hier und da durchgescheuert, lagen zusammengeknüllt am Fuß der Matratze; viel Wärme boten sie in der Nacht wohl nicht.

Das Gleichgewicht des Wohnwagens veränderte sich ein klein wenig. So als würde er leben.

Hirsch trat sofort an einen Einbauschrank und öffnete ihn, Gestank wogte ihm entgegen, und dort kauerte, als wolle es im Boden versinken, ein Mädchen und verbarg den Kopf in seinen Händen und Unterarmen. Verfilztes braunes Haar, ein dreckiger Wollpullover, übergroße Arbeitssocken. Doch ihre Beine waren nackt, und eine Wegwerfwindel spannte sich stramm um ihren Bauch.

Hirsch streckte die Hand aus und ließ sie auf der Schulter des Mädchens liegen. Sie zuckte heftig zurück und vergrub sich noch tiefer in den Boden. Hirsch konnte ihr Gesicht nicht sehen. 

»Ich heiße Paul. Ich bin Polizist. Du bist in Sicherheit. Heißt du Lydia?«

Sie erstarrte. Keine stillschweigende Billigung, eher die Bereitschaft zuzuhören? Gab sie ihm einen Vertrauensvorschuss? Er strich ihr über den Oberarm und erzählte ihr ein paar Minuten lang leise und sanft irgendwelches beruhigendes Zeug: Ganz schön kalt heute, nicht? Möchtest du irgendwohin, wo es warm ist? Da drin ist es dir doch bestimmt ungemütlich. Ms Ogilvie macht sich Sorgen um dich. Sollen wir dir warme Kleidung suchen?

Es funktionierte nicht. Bei jedem einzelnen Satz zuckte sie zusammen und rollte sich immer fester zu einem Ball zusammen.

Hirsch fiel auf, wie klein sie war, nur Haut und Knochen. Elf? Sie sah aus wie sechs oder sieben. »Na komm, ich mach es dir etwas gemütlicher«, sagte er und hob sie mit einem Schwung aus dem Schrank. Sie versteifte sich, ohne sich zu wehren. Er zog eine Decke über die Matratze, setzte sie darauf ab und legte ihr die andere über die Schultern.

Sie verbarg ihr Gesicht nicht länger hinter ihren Armen, schaute aber zu Boden und wich seinem Blick aus. Schmutz am Kinn, scharf vorstehende Wangenknochen, offener Mund. Sie schniefte feucht. Und hustete rasselnd. Ihr geht es nicht gut, dachte Hirsch.

Sie fuhr sich mit einem Zeigefinger über die Nasenlöcher. Frischer Schleim legte sich nass auf angetrocknete Reste, ein Ring glänzte am Finger, falscher Rubin, falsches Gold, falsches Silber, was Hirsch unendlich traurig machte. »Ist jemand zu Hause, Lydia?«

Keine Reaktion.

»Ich habe angeklopft, aber es hat niemand geantwortet.«

Diesmal zuckte sie mit den Schultern.

»Sind sie weggefahren?«

Sie schien über die Frage nachzudenken und flüsterte: »Nach Clare.«

»Okay. Zum Einkaufen?«

Pause, dann ein Schulterzucken.

»Möchtest du ins Haus hinübergehen, schön warm baden und die Kleidung wechseln?«

Angesichts dieser Ungeheuerlichkeit wich sie zurück. »Hierbleiben«, antwortete sie.

»Ist das hier dein Zimmer?«

Sie blieb ganz still, dann nickte sie kurz.

»Sollen wir mal schauen, ob wir ein paar frische Sachen finden?«

Nichts.

»Ich könnte etwas Wasser kochen, dann kannst du dich hier waschen und umziehen. Ich warte so lange draußen.«

Sie kauerte sich zusammen und wollte wieder im Boden versinken.

»Vielleicht rufe ich am besten deine Mutter an. Weißt du ihre Handynummer?«

Es war, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Dann schoss ihre Hand an den Kopf und kratzte heftig. Flöhe? Sie hustete, wirkte entkräftet.

»Ich glaube, dir geht es nicht gut«, sagte Hirsch. »Wir fahren zu Doktor Pillai in Redruth. Kennst du sie? Sie ist nett.«

Lydia Jarmyn schüttelte den Kopf. »Hierbleiben.«

»Ich lasse eine Nachricht am Haus zurück und erkläre alles.«

»Hierbleiben«, krächzte sie, dann musste sie wieder husten, traurig, schwach und hilflos. Erschöpft sank sie gegen Hirsch. 

Er nahm sie und die schmutzige Decke fest in die Arme und trug sie hinaus an die Luft und in eine ungewisse Zukunft. Sie wehrte sich wie ein alter Hund, der darauf besteht, selbst zu laufen. Die Luft wirkte belebend, und die körperlichen Ausscheidungen des Kindes rochen nur noch schwach. Als Hirsch aus dem Schatten in die Wintersonne trat, bemerkte er einen winzigen roten Punkt. Eine Überwachungskamera, die auf den Wohnwagen gerichtet war. Tja, dachte er. Ich bin die Polizei, ihr könnt mich mal. Er hoffte nur, dass es auch Aufnahmen von denen gab, die dem Kind Schaden zugefügt hatten, nicht nur davon, wie er sie mitnahm.

Knoten ins geistige Taschentuch: Videoaufnahmen beschlagnahmen.

Er schnallte Lydia Jarmyn auf dem Beifahrersitz an, ließ das Seitenfenster ein paar Zentimeter herunter, dann rollte er den Hügel hinab auf den Highway. Der Himmel über dem flachen Tal wölbte sich weit, ein Adler schwebte dort oben, und die Sonne spiegelte sich in einer weit entfernten Windschutzscheibe. Die Welt war frisch gewaschen.

Immer wieder schaute er zu dem Kind hinüber, derweil er telefonierte und mit einer Hand steuerte. Doktor Pillai im Redruth Medical Centre schlug vor, das Mädchen ins kleine Ortskrankenhaus zu bringen. »Schreiben Sie mir eine Textnachricht, sobald Sie dort sind.«

»Mach ich.«

Dann rief er Sergeant Hilary Brandl in Redruth an, die erheblich mehr Einzelheiten wissen wollte.

Mit einem Auge auf Lydia sagte Hirsch: »Bei passender Gelegenheit, Sergeant.«

Kurze Pause. »Ist sie bei Ihnen? Hört sie mit?«

»Korrekt.«

Wieder eine Pause. »Ich möchte gern den Ort mit eigenen Augen sehen, bevor ich das Jugendamt oder das CIB informiere.«

»Verstanden.«

»Jarmyn, Hawker Road?«

»Ja.«

Hirsch hörte eine Tastatur klappern. »Ich schau mal nach … keine Einsätze unter der angegebenen Adresse. Keine ausstehenden Haftbefehle, keine Strafzettel … nichts.«

»Wir sollten überprüfen, was die Nachbarn dazu sagen.«

»Sehr richtig, Constable Hirschhausen.«

Ach herrje. Ihr vorzuschreiben, wie sie ihren Job zu erledigen hat. Aber sie hatte recht warmherzig geklungen. Sie hatten sich daran gewöhnt, einander zu vertrauen. Es gab noch genügend andere bei der Truppe, die Hirsch keinerlei Vertrauen entgegenbrachten.

»Wie ist Ihr Bauchgefühl?«, fragte sie. »Vernachlässigung oder noch schlimmer?«

Damit meinte sie sexuelle Misshandlung, Sklaverei … »Ich weiß nicht, Sergeant«, antwortete Hirsch. Er schaute Lydia kurz an und fuhr fort: »Ich glaube, dass mindestens noch ein weiteres Kind dort lebt.«

»Auch in dem Wohnwagen?«

»Nicht, dass ich wüsste. Vom Hausinneren weiß ich nichts.«

»Sie haben geklopft? Durch die Fenster gelinst?«

»Es war niemand zu Hause. Sie sind offenbar nach Clare gefahren.«

»Wäre schön, wenn wir vor Ort wären, wenn sie zurückkommen.«

»Allerdings wissen wir nicht, wann das sein wird«, gab Hirsch zu bedenken.

»Hm. Vielleicht hat einer der Nachbarn die Handynummer. Sonst hinterlassen wir eine Nachricht, dass sie sich auf dem Revier melden sollen.«

»Sergeant.«

»Geben Sie mir Bescheid, sobald Sie im Krankenhaus sind.«

Redruth, das sich über sieben kleine Hügel erstreckte, lag eine halbe Stunde südlich von Tiverton. Ein hübsches Städtchen, heutzutage sogar recht idyllisch, ganz anders als gegen Ende der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als aus Cornwall stammende Minenarbeiter Häuserzeilen errichteten, die an die Heimat erinnerten. Die Kupfermine war heute nur noch ein unergründliches, dunkelblaues Wasserloch, umgeben von steinernen Kaminen, Pulvermagazinen und Maschinenhäusern entlang der Hügelflanken. Lydia Jarmyn schlief, sonst hätte Hirsch ihr etwas darüber erzählen können, als er durch die Außenränder des Orts fuhr.

Er kam zum Stadtplatz, einem unregelmäßigen Rasenfleck mit einer rotgelben Rotunde, und nahm die Straße nach Adelaide zum Krankenhaus, einer kleinen, unterbesetzten Station, eher ein Altenversorgungszentrum als alles andere; hier musste man sich ganz darauf verlassen, dass die Ärzte der Umgegend der einzigen Klinik am Ort beisprangen.

Hirsch hielt an, schickte Doktor Pillai und Sergeant Brandl eine Textnachricht, ging zur Beifahrerseite und streckte die Arme aus. Lydia rührte sich, ihre Augenlider flatterten, und sie wehrte sich schwach, als er sie heraushob. Sie machte sich in seinen Armen steif vor Panik, über einen fremden Parkplatz vorbei an fremden Fahrzeugen in ein fremdes Gebäude getragen zu werden. Kampf oder Flucht, doch dadurch wurde sie in Hirschs Armen federleicht.

Als sie in den Eingangsbereich kamen und auf den Empfangstresen zugingen, war Lydia von alldem definitiv überfordert und klammerte sich mit aller Kraft an Hirsch. Die Empfangsdame, eine mürrische Frau mit kurzen grauen Haaren, schaute ihn an, als sei es ihrer Erfahrung oder ihren Vorschriften nach unerhört, dass ein Polizist den Eingangsbereich durchquerte und dann mit einem schmutzigen Kind in den Armen vor ihr stand. Mit einem übelriechenden, schmutzigen Kind. Sie rümpfte die Nase, schaute weg und fragte unhöflich: »Ja?«

»Ich bin mit Doktor Pillai verabredet.«

Die Frau sah zum Wartezimmer hinüber, als könne Hirsch es verdrecken, dann schaute sie den Hauptgang entlang. »Sie ist beschäftigt.«

»Ist sie denn schon hier?«, fragte Hirsch.

»Was geht Sie das an, wenn ich fragen darf?«

Na, raten Sie mal, wollte Hirsch gerade sagen, doch eine Stimme rief: »Paul«, was ihm weitere Zeitverschwendung ersparte.

Er drehte sich um. Doktor Pillai kam mit wippendem schwarzem Pferdeschwanz und blitzender roter Brillenfassung den Flur entlang und schob erst den einen, dann den anderen Arm in einen weißen Arztkittel. Weiße Laufschuhe an den Füßen – was würde die Empfangsdame wohl dazu sagen? –, schwarze Hose und marineblaues Top. Hier und da Gold, an Ohrläppchen, Handgelenken und Fingern.

Ihre Blicke trafen sich für die Dauer der kurzen Begrüßung, dann stand sie nah bei ihm, betrachtete Lydia Jarmyn und legte ihr eine Hand an die Stirn. »Wie alt, sagten Sie?«

»Elf, offenbar.«

»Hm.«

»Hab ich auch gedacht.«

»Ich nehme sie Ihnen ab«, sagte Pillai und streckte beide Hände aus, doch das Kind wand sich, vergrub den Kopf an Hirschs Brust und presste sich an ihn.

»Also gut, sie ist bei Ihnen angewachsen«, stellte Pillai fest. »Kommen Sie mit.«

Sie betraten ein Zimmer, wo Pillai und eine Pflegerin namens Ella das Kind abtasteten und begutachteten, auf eine Waage stellten und eine Blutprobe nahmen. Das kleine Ding wimmerte; Hirsch kam sich nutzlos vor.

Dann meinte Pillai: »Wir müssen sie jetzt baden.«

Was hieß: um zu sehen, was unter all dem Schmutz steckte. »Ich bin draußen im Wartezimmer«, sagte Hirsch.

Doch eine Minute später war Pillai bei ihm. »Tut mir leid, Paul, aber ich glaube, sie würde sich beruhigen, wenn Sie dabei sind.«

Sie führte ihn in ein geräumiges, gefliestes Duschbad mit einer Hubvorrichtung für bettlägerige Patienten. Hirsch stand in einem Spalt des Vorhangs und lächelte Lydia an, während Ella und eine zweite Pflegerin ihr unter Aufsicht von Doktor Pillai Windeln, Socken und Pullover auszogen. Der Gestank nahm zu, Ella entfuhr: »Du armes, kleines Ding«, Hirsch schaute nicht hin, konnte es sich aber vorstellen: verkrustete Exkremente, Wundstellen.

»Die Windel hatte sie schon eine ganze Weile an«, stellte Pillai wie zur Bestätigung fest.

Mit einer Handbrause an einem flexiblen Chromduschschlauch in er einen und einem Waschlappen in der anderen Hand, tupfte Ella die knochigen Gliedmaßen und den Leib ab; Lydia ließ sie gewähren, nahm aber den Blick nicht von Hirsch. Er bemühte sich, ein paarmal zu lächeln; ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sie vertraute ihm, doch Hirsch wusste nicht, ob er ihre Erwartungen erfüllen konnte. Der Seifenschaum wurde braun; darunter tauchte rosige Haut auf.

Haarshampoo, ausspülen, drei Mal, dann meinte Ella schließlich: »Sie ist sauber, aber sie hat Läuse.«

Pillai nickte. »Das behandeln wir später. Jetzt möchte ich sie erst noch abschließend untersuchen, in warme Kleidung stecken und ihr etwas zu essen geben. Hast du Hunger, Schätzchen?«

Lydia, die in ein riesiges Handtuch gewickelt ganz verloren wirkte, wich zurück.

Das Krankenhaus verfügte über einen kleinen gemütlichen Ruheraum: Sofa und Sessel, Fernseher, ein Katzenposter an einer pastellfarbenen Wand. Magazine auf einem Couchtisch, Kinderbücher, eine Kiste mit Plastikkipplastern, weichem Spielzeug und Lego. Hirsch und Pillai standen hinter dem Sofa und schauten zu, wie Lydia, die einen weiten blauen Schlafanzug und einen pinkfarbenen Bademantel trug, einen Turm aus Legosteinen baute. Ständig sprang ihr Blick vom nächsten Legostein zu Hirsch. Ab und an griff sie nach den krustenlosen Sandwiches auf einem Teller, knabberte daran und legte das Sandwich für später zurück, so als würde sie in dem Essen schwelgen und das Ende der Mahlzeit möglichst lange hinauszögern.

Es klopfte, und Hilary Brandl kam herein. Hirschs Vorgesetzte war schlank und drahtig, Typ Frühsport, mit kurzem, pflegeleichtem Haarschnitt. Sie betrachtete das Kind, und Hirsch sah, was sie dachte: Ein Fall für das Jugendamt? Würde Port Pirie CIB die Sache übernehmen? Was für eine Anklage drohte den Eltern? 

Sie gab Pillai die Hand, dann Hirsch. »Tut mir leid, ich bin spät dran. Ihr erster Eindruck, Sandy?«

»Massiv unterernährt«, antwortete Sandali Pillai. »Sie wiegt gerade mal einundzwanzig Kilo, etwa vierzehn Kilo unter dem Durchschnitt in ihrem Alter.«

Brandl murmelte: »Spuren von sexuellen Übergriffen?«

»Nicht unmittelbar erkennbar.«

»Schnitte, blaue Flecken, alte Brüche, Fesselspuren?«

»Nein.«

»Sonst noch etwas?«

»Wir haben versucht, mit ihr zu reden, aber sie ist verängstigt und argwöhnisch. Sie sagt uns nicht, was los ist.«

Brandl sah Hirsch an. Er spürte förmlich die Intensität ihrer Konzentration. »Sie wird zu Hause unterrichtet, es liegt also wohl keine geistige Beeinträchtigung vor?«

»Nicht nach der Online-Tutorin, die sie begleitet.« Er sah sich hilfesuchend nach Pillai um und fügte hinzu: »Aber wenn sie isoliert aufgewachsen ist, dürften sich ihre Sozialkompetenzen nicht sonderlich gut entwickelt haben.«

Doktor Pillai nickte. »Wenn sie weiter unterernährt bleibt, isoliert wird und in unwürdigen Verhältnissen haust, dann wird sie sich nicht entsprechend entwickeln können – körperlich, seelisch und emotional.«

Sergeant Brandl schaute zu dem Kind hinüber. »Ich hasse so etwas. Also gut, Constable, gehen wir an die Arbeit.«

Grausam, das Kind allein zu lassen. Lydia heulte und lag hilflos auf dem Boden, als Hirsch sich hinkauerte, sich verabschiedete und aufstand, um zu gehen. Doktor Pillai musste Ella rufen, die Krankenschwester, die sie gewaschen hatte, einen besseren Ersatz für Hirsch gab es nicht.

3

Später Vormittag. Sie trafen sich an der Hawker Road und teilten sich die Aufgaben: Hirsch sollte bei den Häusern oberhalb der Jarmyns nachfragen, Sergeant Brandl bei den Häusern bis zum Highway. »Doch als Erstes«, sagte sie und kletterte über das Tor, »muss ich mir den Wohnwagen mal mit eigenen Augen anschauen – nichts für ungut.«

»Sergeant«, sagte Hirsch. Er entschied, hügelaufwärts anzufangen und sich nach unten vorzuarbeiten.

Oben lag das Versorgungsdepot für die Windturbinen, die in beiden Richtungen über das Tal marschierten wie berittene Schildwachen. Ein hoher, mit Stacheldraht gedeckter Zaun umgab Geräteschuppen, leere Fässer, schmutzige Land Cruiser und einen Sattelauflieger mit einem Turbinenblatt. Hirsch fuhr hinein. Der Ort wirkte verlassen.

Dann tauchte Graham Fuller aus einem der Schuppen auf, wischte sich die Hände an einem Lappen ab und schaute freundlich fragend. Fuller, ein stämmiger Mann Mitte vierzig, hatte sich zum Windturbinenmechaniker umschulen lassen, als seine kleine Farm nicht mehr für den Lebensunterhalt reichte.

»Howdy«, sagte Hirsch.

Fuller nickte, streckte die Hand aus, überlegte es sich aber anders. Er besah sich die Hand von beiden Seiten. »Möchte ja Ihre zarten Bürofingerchen nicht schmutzig machen.«

»Schon in Ordnung.«

Fuller grinste. »Sind Sie wegen der Graffiti hier?«

Aufgesprühte Slogans und farbkleckernde Totenköpfe auf den weißen Türmen in der ganzen Gegend: Schandfleck; Schweigen ist Gold; Vogelmörder. »Tut mir leid, nein«, antwortete Hirsch.

»Was kann ich dann für Sie tun?«

Hirsch erkundigte sich nach dem Haushalt der Jarmyns – wer lebte dort, gab es irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten, irgendwelche Gerüchte, Telefonnummern –, doch Graham schüttelte den Kopf.

»Ich frag mal die Jungs, wenn Feierabend ist, aber ich kann nur sagen, das Tor ist meistens zu, und ich sehe nie jemanden kommen oder gehen.« Er dachte nach. »Der Mann arbeitet oben in Roxby, hab ich gehört, aber das ist auch schon alles.«

Roxby Downs. Fünfhundert Kilometer nördlich von Adelaide, in der Nähe der Opalsucherstadt Andamooka und der alten Raketenabschussanlage Woomera. Eine moderne Ansiedlung, die in den Achtzigern gebaut worden war, um die Kupfer- und Uranmine bei Olympic Dam zu versorgen. So mancher Mann hier aus der Gegend hatte dort Arbeit gefunden; Fuller selbst hatte eine Stelle als Fahrer angeboten bekommen, aber abgelehnt; die ewige Fliegerei hin und zurück sei nichts für ihn, hatte er Hirsch gesagt; nach Feierabend ging er viel lieber nach Hause zu seiner Frau und einer guten Mahlzeit.

Hirsch bedankte sich und fuhr weiter; als Nächstes hielt er beim Nachbargrundstück neben dem Versorgungsdepot. Ein kleiner gemauerter Bungalow im Schatten von Fichten, Flechtenbewuchs auf den Wind und Wetter ausgesetzten Oberflächen, mit Fichtennadeln verstopfte Dachrinnen. Im Carport stand ein schwarzer Valiant, mehr Rost als Lack, und ein wild gewordener Kelpie wollte ein Stück aus Hirsch reißen, wurde aber bei jeder Attacke von Halsband und Kette zurückgehalten.

»Komm her, du verfluchtes rotes Mistvieh.«

So etwas bekam Hirsch jede Woche zu hören: Sitz! und Komm her, du Töle und Kusch, du nutzloser Köter. Ein älterer Mann trat mit einer Axt in der Hand aus dem tiefen Schatten eines Holzschuppens. Armeemantel über einer am Knie geflickten, ausgebeulten Hose mit Hosenträgern. Ein Gesicht wie ein Hodensack, spärlicher Bartwuchs an Hals und Wangen, dreckige Brille, uralte Gummistiefel. Hirsch stellte sich das Schicksal der mit gelb verfärbten Krallen bewachsenen Zehen vor, falls die Axt ausrutschen sollte.

»Jonas.«

»Herr Polizeipräsident.«

Jonas Heneker kümmerte sich ganz allein um seine meist bettlägerige Frau, die auf eine rührende Weise dement geworden war. Hirsch schaute ein-, zweimal im Monat bei ihm vorbei. Sie schüttelten sich die Hand, und Heneker fragte: »Was verschafft mir die Ehre? Ist doch nicht Ihr üblicher Tag, oder? Wenn ich auch zugeben muss, dass mein Gedächtnis nachlässt.«

Er schüttelte Hirsch mit festem Griff weiter die Hand, hörte nicht auf, als hinge sein Leben davon ab. Ein Mann mit wenigen Besuchern und noch weniger Ablenkung, der auf das Ende wartet, dachte Hirsch.

Schließlich bekam er seine Hand zurück und fragte nach den Jarmyns.

»Sehr zurückgezogen«, sagte Heneker. Er klopfte die Taschen ab, zog Tabak, Papierchen und ein Streichholz heraus und bereitete sich auf ein Schwätzchen vor.

»Wer wohnt denn da genau?«

»Der Mann, aber der ist die meiste Zeit nicht da, arbeitet oben in Roxby Downs, dann ist da die Frau – Grace – und ein kleiner Hosenscheißer.«

»Nur die drei?«

Heneker dachte nach, und seine Zunge war mit einem Tabakkrümel beschäftigt. »Hab gehört, dass sie vor einer Weile das Kind des Mannes zu sich genommen haben.«

»Aus einer früheren Ehe?«

Heneker zuckte mit den Schultern. »Hab gehört, sie ist durchgebrannt, als das Kind noch klein war. Die Jahre vergehen, sie wird vom Bus überfahren, und nun hat er das Kind an der Hacke.«

Hirsch bekam eine erste Vorahnung. Eine verhasste Exfrau und ein Kind, das ihn an sie erinnert. Und das Kind muss es ausbaden.

»Haben Sie je mit ihnen gesprochen?«

»Ich doch nicht. Ich winke, wenn ich mit dem Auto an ihnen vorbeikomme, aber die erstarren nur. So als hätte ich Scheiße an den Stiefeln.« Er schwieg. »Was ja meistens auch stimmt.«

Hirsch grinste. Heneker winkte den Jarmyns wohl aus blanker Freude zu, sie aus der Fassung zu bringen. »Sie sind ziemlich gut informiert.«

»Wenn man nur lange genug stillsteht«, meinte Heneker, »dann kommt alles mal wieder vorbei, und man kriegt alles mit, was man wissen muss. Was macht denn Ihre tolle Freundin so? Hat sie ihren Wagen reparieren lassen?« Sagte er mit einem Augenzwinkern, um zu beweisen, dass er tatsächlich alles weiß.

Anfang der Woche war Wendy Street auf dem Weg zur Redruth High School mit ihrem neuen, gebraucht gekauften Golf fast liegen geblieben. Sie habe nicht schneller als dreißig fahren können, hatte sie Hirsch später berichtet. »Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff: Im Stottergang nach Hause, meinte der Mechaniker.«

»Hab gehört, die Ratten hätten es sich im Motorraum gemütlich gemacht«, sagte Jonas. »Ein paar Schläuche durchgeknabbert? Irgendein Leck?«

»Erstaunlich gut informiert«, sagte Hirsch und gab dem alten Mann zum Abschied die Hand.

Er hielt noch bei drei weiteren Häusern, dann stieß er auf Sergeant Brandl, die vor dem verschlossenen Tor der Jarmyns auf ihn wartete. »Es tut sich was«, sagte sie, ihr Atem dampfte weiß in der eisigen Luft, Ohren und Nasenspitze waren rot. »Doktor Pillai hat mich angerufen. Lydia ist aufgetaut, also haben sie eine Sozialarbeiterin hinzugezogen, und die wiederum hat dem Jugendamt Bescheid gesagt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Richtlinien sind eindeutig. Ich hätte dasselbe getan. Bei dem Zustand, in dem das arme Kind ist, und so, wie der Wohnwagen aussieht.«

»Was hat Lydia gesagt?«

Brandl pustete sich auf die Finger. »Könnte schlimmer sein. Keine Schläge, kein sexueller Missbrauch, aber sie hat nie genügend zu essen bekommen, im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiß, sie durfte nie raus zum Spielen und musste die ganze Zeit eine Windel tragen.«

»Das heißt, das CIB übernimmt die Sache?«

»Ja. Wir sollen hier auf sie warten – oder auf die Jarmyns, wer immer als Erster eintrifft.«

Könnte Stunden dauern, dachte Hirsch. »Irgendetwas von den Nachbarn erfahren?«

Sergeant Brandl sah die Straße entlang. »Beklagenswert uninformiert. Eine Person meinte, das Mädchen sei eine Nichte, eine andere, sie sei geistig zurückgeblieben.«

»Das ist sie nicht«, stellte Hirsch fest.

»Eine dritte Person sagte, Zitat: ›Der Mann steht unterm Pantoffel.‹«

Hirsch sah auf die Hügelflanken hinaus, die in der Wintersonne grün dalagen, und arbeitete diese Tatsache – wenn sie denn eine Tatsache war – in seine Theorie der Familiendynamik bei den Jarmyns ein. Dann klingelte Sergeant Brandls Handy, und er schaute abwesend zu, als sie murmelte: »Warum schickt mir Brian eine SMS?«, und auf dem Bildschirm herumtippte. Als ihr Gesicht erstarrte und weiß wurde, war sein Interesse geweckt: Bestürzung, in Großbuchstaben. »Sergeant?«

Sie schluckte und wich seinem Blick aus; irgendwie wirkte sie kleiner. »Ich muss los.«

»Alles in Ordnung?«

»Ich brauche eine Auszeit. Ein paar Tage.«

»Kann ich behilflich sein?«

Sie wollte weg. »Sie übernehmen. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Wenn Sie möchten, kann ich heute Abend vorbeischauen und – «

»Ich werde nicht zu Hause und nicht auf dem Revier sein. Ich muss nach Adelaide.«

Ihr Ton besagte: Keine weiteren Fragen.

»Sergeant.«

Hirsch schaute ihr nach, wie sie davonraste. Es musste sich offenbar um etwas Dringendes handeln. Etwas Privates.

Er stieg in den Toyota und wartete. Er hoffte, betete, dass das CIB als Erstes eintreffen würde, zusammen mit einer Sozialarbeiterin. Wer wusste, was passieren würde, wenn die Jarmyns zuerst zurückkehrten? Seine Befehle waren eindeutig, festnehmen und auf ihre Rechte hinweisen, aber was, wenn sie aggressiv wurden? Die Flucht ergriffen? Hysterisch wurden? Er war allein.

Das ganze Feld des Kinderschutzes war undurchsichtig. Die klare Vorschrift lautete, Fälle von möglicher Kindswohlgefährdung zu melden, doch häufig war die Art der Gefährdung nicht so klar zu erkennen. Fahrlässige Vernachlässigung, absichtliche Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch, Versklavung? War das ein Fall für die Polizei oder für die Fürsorge? Beides? Wie genau lautete die mögliche Anklage? Hirsch fand es offensichtlich, dass in diesem Fall die Polizei gefragt war – vor allem wegen der Gefangenschaft –, aber war die Absicht der Jarmyns krimineller Natur gewesen oder waren sie einfach arm oder zu ungebildet, waren sie drogensüchtig oder hatten sie psychische Probleme? Also Unterstützung und Beratung statt Prozess und Haft.

Über all das und noch andere Dinge grübelte er nach, warf ab und zu den Motor an, damit ihm nicht kalt wurde, dann tauchte ein weißer Falcon aus den Achtzigern auf und hielt vorsichtig vor dem Tor. Zwei Personen: Hinter der Fahrerin schlief ein kleines Mädchen im Kindersitz. Hirsch stieg aus, die Fahrerin ebenfalls. Sie trug knöchelhohe Stiefel, Jeans und eine Steppweste über einem dunkelblauen T-Shirt. Sie sah ihn mit einem erstaunlichen Mangel an Neugier an, schloss das Tor auf, öffnete die Flügel, stieg wieder ein und passierte das Tor.

Also gut.

Hirsch folgte dem Falcon, bremste, als der Wagen in den Carport setzte, und stellte seinen Wagen direkt dahinter ab. In der Zwischenzeit beugte sich die Frau über den Rücksitz, fummelte an den Gurten herum und hob ein zartes, blondes Kind ganz in Rosa heraus: Stiefel, Strumpfhose, Cordkleid, Jacke und Haarband. Das Kind wachte auf und blinzelte Hirsch und die Welt an. 

»Mrs Jarmyn? Grace?«

Die Frau kümmerte sich nicht um ihn, bewegte sich ganz mechanisch, eine Mutter, die zum zigsten Mal von einem Einkauf nach Hause kam.

»Sind Sie Mrs Jarmyn?«

Sie zeigte keinerlei Gemütsbewegung, war hager und von Enttäuschungen und Entbehrungen geprägt. Sie wirkte wie Mitte vierzig, war aber wohl jünger. Schmerzhaft dürr. Schlanke, gepflegte Hände, fiel ihm auf, als sie ihre Tochter absetzte – und als einzigen Anflug von Eitelkeit hatte sie die Nägel lackieren lassen: silbrig blau, mit Glitzermuster.

Hirsch trat zu ihr hin und sagte: »Bitte, Mrs Jarmyn.«

Sie schaute über seine Schulter hinweg zum Wohnwagen hinüber, kehrte ihm den Rücken zu und führte ihre Tochter an der Hand zu einer Seitentür ins Haus. Dort gab sie dem Kind einen kleinen Schubs, schaute ihm für einen Augenblick hinterher, kehrte dann zum Wagen zurück und öffnete die Heckklappe. 

Hmm, dachte Hirsch, sah zu, wie sie hineingriff und eine Apfelkiste mit Möhren, Kartoffeln und einem Kürbis herauszog. Sie war wohl an einem Straßenstand vorbeigekommen.

Dann trat sie von dem Wagen zurück, wies mit einer Kopfbewegung auf den Rest des Einkaufs: Tüten von diversen Kaufhäusern und ein Flachkarton.

Okay. Er nahm alles und folgte der Frau in die aufgeräumte, saubere, aber müde wirkende Küche. Ein Brandfleck neben dem Gasherd, die Holztischplatte mit Spuren wie von Jahren schwerhändigen Kreuzworträtselns, ein zitternder, rundschultriger Kühlschrank: das alles aufgemuntert durch einen Eukalyptuszweig in einer weißen Vase. Hirsch stellte den Einkauf auf den Tisch, lehnte den Karton an ein Stuhlbein und versuchte die ganze Zeit über, die Frau einzuschätzen. Sie weiß, warum ich hier bin, stellt sich aber dumm; oder aber sie verfügt nicht über die Fähigkeit zu Neugier oder Mutmaßung; oder aber sie ist vom Leben völlig geschlagen.

Dann machte sie endlich den Mund auf. »Eine Tasse Tee?« Eine sanfte, melodiöse Stimme.

»Danke«, sagte Hirsch, »doch zuerst muss ich bestätigt haben, dass Sie Grace Jarmyn sind?«

»Bin ich, ja.«

Hirsch, der die ganze Prozedur hasste, erklärte sie für verhaftet und wies sie auf ihre Rechte hin. »Weitere Polizeibeamte werden demnächst eintreffen. Es wird wohl zu einer formellen Anklage kommen.«

Sie füllte den Wasserkocher auf. »Okay«, sagte sie.

Hirsch, der nicht sicher war, ob sie alles verstanden hatte, wiederholte, was er gesagt hatte. »Ich muss wissen, ob Sie das verstanden haben, Mrs Jarmyn.«

»Ich habe verstanden.«

Sie stellte den Kocher auf den Fuß und betätigte einen Schalter. Der Kocher tat einen überraschten kleinen Hopser und machte sich daran, Wasser zu erhitzen. Grace Jarmyn nahm zwei Tassen aus einem Hängeschrank und Teebeutel aus einer Schublade neben der Spülmaschine. Das Kind, das man durch eine Rundbogentür im Wohnzimmer sehen konnte, beugte sich über ein Malbuch auf dem Couchtisch. Die ganze Szene wirkte überaus bizarr.

»Setzen Sie sich bitte, Mrs Jarmyn, bis das Wasser kocht.«

Sie sah sich besorgt in der Küche um, so als würden wichtige Hausarbeiten auf sie warten, dann schaute sie zu ihrer Tochter hinüber und setzte sich schließlich auf den Stuhl gegenüber von Hirsch. Sie schob die Einkaufstüten zum hinteren Tischende, befeuchtete sich die Spitze des Zeigefingers und wischte an einem Fleck auf dem Tisch.

»Sie haben jederzeit das Recht auf einen Rechtsbeistand, Mrs Jarmyn, und ich habe auch nicht vor, Sie zu befragen, aber es wäre hilfreich zu wissen, wo sich Mr Jarmyn im Augenblick aufhält. Ist er zum Arbeiten im Norden?«

Grace Jarmyn, deren Gesicht sich endlich regte, richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf Hirsch. Ohne ihren knochigen, leeren Gesichtsausdruck wirkte sie eher ironisch. »Was weiß denn ich? Meinetwegen kann er auch am Arsch der Welt sein.«

»Er arbeitet also nicht in – «

»Ich habe meinen Mann seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Vielleicht arbeitet er noch in Roxby; vielleicht ist er sonst wo.«

Na, so viel zum Hawker-Road-Buschtelefon, dachte Hirsch.

Sie hielt den Kopf schräg. »Er hat mich verlassen, und nun habe ich seine Tochter am Hals. Deshalb sind Sie doch hier, richtig?«

»Mrs Jarmyn, Sie sollten wirklich – «

»Er meinte, er würde das nicht packen; das sei alles zu viel für ihn. Alex ist ein Schwächling«, sagte Grace Jarmyn; als der Wasserkocher abschaltete, stand sie auf. Wieder schaute sie zu ihrer Tochter hinüber, dann kümmerte sie sich um den Tee.

»Mrs Jarmyn, wenn Sie vorhaben, etwas zuzugeben, dann muss ich das aufzeichnen.«

Über die Schulter sagte sie: »Ich habe nichts zu verbergen oder zu befürchten.«

Die ganze Situation wirkte unwirklich, wie Hirsch da sein Handy auf den Tisch legte und Uhrzeit, Datum, Ort, anwesende Personen und die Umstände aufsprach, die dazu geführt hatten, dass die South Australia Police eingeschritten war. Reiner Selbstschutz.

Grace Jarmyn stellte die Tassen mit dem Tee, ein kleines Milchkännchen und eine Zuckerdose auf den Tisch. Dann holte sie ein paar Kekse. Sie schaute noch mal ins Wohnzimmer und sagte: »Ich ernähre, kleide und unterrichte Lydia jetzt seit anderthalb Jahren. Sie haben sie irgendwo hingebracht, nehme ich an?« 

»Mrs Jarmyn, Ihnen ist bewusst, als ich sie gefunden habe, da war sie – «

»Hm, ja. Wissen Sie, in welchem Zustand sie war, als ich sie bekommen habe? Nur Haut und Knochen. Ihre Mutter war drogensüchtig. Lex’ erste Frau.«

Gehörte das vielleicht zu ihrer Verteidigung? »Trotzdem, ein Kind in einem Campingwagen einzusperren …«

»Das war nur zu ihrem Besten. Sie ist ständig weggelaufen.«

Deshalb also die Kamera. »Eine Schale Reis am Tag ist nicht sonderlich nahrhaft.«

»Lex hat mich mit Schulden sitzen lassen. Ich mache alles allein, ohne irgendwelche Hilfe. Ich habe keine Familie, und seine Familie taugt nichts. Die Sozialkasse ist der reine Albtraum. Ich esse manchmal nichts, damit meine Tochter, und seine auch, etwas zu essen und anzuziehen haben.«