Bauernsterben - Bartholomäus Grill - E-Book

Bauernsterben E-Book

Bartholomäus Grill

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Beschreibung

Wir sehen das Gras nicht wachsen, wir trampeln nur darauf herum: Wie die globale Agrarindustrie die traditionelle Landwirtschaft und bäuerliche Strukturen zerstört und dabei die ökologische Krise noch verschärft

In diesem großartig erzählten, zornigen Buch beschreibt der legendäre Reporter Bartholomäus Grill den globalen Siegeszug der Agrarindustrie und die fatalen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. Er wuchs als Bauernbub in einer Epoche auf, in der die meisten Höfe noch in natürlichen Kreisläufen wirtschafteten. Später erlebte er den Beginn der »grünen Revolution«, den Modernisierungsschub der Landwirtschaft, die ein beispielloses Bauernsterben auslöste.

Grill beschreibt eine der destruktivsten Kräfte, die die Menschheit je entfesselt hat: die industrielle Landwirtschaft und die ökonomischen, ökologischen und sozialen Schäden, die sie anrichtet. Im Zentrum steht die Plünderung der begrenzten biologischen Ressourcen und die flächendeckende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Es geht um den Krieg gegen die Natur – und gegen uns selbst. Dieses Buch ist ein leidenschaftlicher Appell für eine radikale Transformation unseres Landwirtschafts- und Ernährungssystems.

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Seitenzahl: 234

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Wir sehen das Gras nicht wachsen, wir trampeln nur darauf herum: Wie die globale Agrarindustrie die traditionelle Landwirtschaft und bäuerliche Strukturen zerstört und dabei die ökologische Krise noch verschärft

In diesem großartig erzählten, zornigen Buch beschreibt der legendäre Reporter Bartholomäus Grill den globalen Siegeszug der Agrarindustrie und die fatalen Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. Er wuchs als Bauernbub in einer Epoche auf, in der die meisten Höfe noch in natürlichen Kreisläufen wirtschafteten. Später erlebte er den Beginn der »grünen Revolution«, den Modernisierungsschub der Landwirtschaft, die ein beispielloses Bauernsterben auslöste.

Grill beschreibt eine der destruktivsten Kräfte, die die Menschheit je entfesselt hat: die industrielle Landwirtschaft und die ökonomischen, ökologischen und sozialen Schäden, die sie anrichtet. Im Zentrum stehen die Plünderung der begrenzten biologischen Ressourcen und die flächendeckende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Es geht um den Krieg gegen die Natur – und gegen uns selbst. Dieses Buch ist ein leidenschaftlicher Appell für eine radikale Transformation unseres Landwirtschafts- und Ernährungssystems.

Bartholomäus Grill, 1954 in Oberaudorf am Inn geboren, wuchs auf einem Bauernhof auf, den seine Eltern in der Tradition nachhaltiger Kreislaufwirtschaft führten. Er studierte Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte. Vier Jahrzehnte lang hat er als Korrespondent der ZEIT und des SPIEGEL aus Afrika berichtet und immer wieder über den Siegeszug der globalen Landwirtschaft geschrieben. 2006 wurde er für eine Reportage über den Tod seines Bruders mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Grill veröffentlichte den Bestseller »Ach, Afrika« (2003), außerdem »Um uns die Toten« (2014), »Wir Herrenmenschen« (2019) und zuletzt »Afrika!« (2021). Er lebt in Kapstadt.

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BARTHOLOMÄUS GRILL

BAUERNSTERBEN

Wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Bildbearbeitung: Lorenz+Zeller GmbH, Inning a. Ammersee

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: © Westend61/Getty Images; © Xinzheng/Getty Images

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30218-4V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Prolog – Die Agrarkrieger

Der Duft des Heus

Als ich noch ein Bergbauernbub war

Bauern sterben

Die »grüne Revolution« und der Untergang unseres Hofes

Wachse oder weiche!

Der Irrsinn der europäischen Agrarpolitik

Power to the Bauer!

Die opaken Verflechtungen der Agrarlobby

Vom Bauern zum Ölscheich

Der Streit um Energiepflanzen aus der Landwirtschaft

Vom Winde verweht

Warum der fruchtbare Boden, die biologische Grundlage unserer Landwirtschaft, bedrohlich schnell schwindet

Hoffen auf den lieben Gott

Das Menetekel Afrika: Dürren und Wassermangel bedrohen die weltweite Ernährungssicherheit

Storch und Pflug

Rückständige Landwirtschaft, schnelles Bevölkerungswachstum: Afrika und der ewige Hunger

Heuschreckenplage

Landräuber, Spekulanten, Finanzjongleure: Das Milliardengeschäft mit fruchtbaren Böden und Agrargütern

Fleisch frisst Land

Die katastrophalen Folgen des weltweit wachsenden Fleischkonsums

Holy cow!

Der Agrarkrieg in den USA und die ersten Bauern, die nicht mehr mitkämpfen wollen

Traurige Tropen

Die Erzeugerschlacht im Herzen Brasiliens

Vergesst die Menschenrechte!

Wie kleine Bauern und Bäuerinnen im globalen Süden ums Überleben kämpfen. Das Beispiel Philippinen

Wem gehören die Naturschätze?

Saatgut, Gentechnik und der Kampf um biologische Ressourcen

Was tun?

An alternativen Ideen mangelt es nicht. Aber am Willen, sie zu verwirklichen

Epilog

Wir Osterinsulaner

Plädoyer für eine globale Agrarwende

Dank

Abbildungs- und Zitatnachweis

Quellen

Prolog

Die Agrarkrieger

Ein unheimliches Geräusch durchdringt die frühherbstliche Stille, es hört sich an, als würde sich ein Schwertransporter nähern. Das Dröhnen wird lauter und lauter. Plötzlich taucht das Ungetüm hinter einer Bodenwelle auf: Ein Feldhäcksler, Marke John Deere 9900i, V12-Motor, 970 PS. Die Erntemaschine donnert an den Rand des Ackers, um Treibstoff nachzufüllen. Drei junge Männer bedienen mit flinken Handgriffen die Apparaturen am Tanklaster, sie tragen grün-gelbe Arbeitsanzüge, die Farben von John Deere. 1500 Liter Diesel rauschen durch den Schlauch. Die Szene wirkt wie ein Gefechtseinsatz, erinnert an amerikanische B-52-Langstreckenbomber, die in der Luft mit Treibstoff befüllt werden. Der Tank ist voll, der tonnenschwere Koloss walzt wieder hinaus auf den Acker. Attacke! Die Schneidwerke fressen sich hinein in das Heer der Maisstauden, der Körnerprozessor rauscht. Vom Ausleger, der aussieht wie ein Geschützrohr, wird der geschredderte Mais auf einen dreiachsigen Seitenkipper namens »Gigant« geschossen.

Die Männer in den grün-gelben Uniformen verfolgen das Geschehen vom Feldrain aus, sie fachsimpeln über ihren »Johnny«, diese Wundermaschine, die weit über eine halbe Million Euro kostet. Wie ich sie in ihren klobigen Sicherheitsschuhen so auf dem plattgewalzten Acker stehen sehe, kommt mir eine Erzählung von Vladimir Nabokov in den Sinn: »Sie dachte … an schöne wilde Pflanzen, die sich vor dem Bauern nicht verstecken können und hilflos zusehen müssen, wie sein Schatten, affenartig vornübergebeugt, verstümmelte Pflanzen in den Fußstapfen zurücklässt, da die ungeheuerliche Dunkelheit naht.« Präziser kann man die Fühllosigkeit, ja Grobheit eines der Natur entfremdeten Primaten nicht beschreiben. Genau so kommen mir die Männer am Rande des Maisfelds vor: nicht wie Bauern, sondern wie Agrarsoldaten, Teilnehmer eines Krieges, der zu dieser Jahreszeit in ganz Deutschland tobt. Das Schlachtfeld ist 2,65 Millionen Hektar groß – die bundesweite Gesamtfläche, auf der Mais angebaut wird. Wir befinden uns im Frontabschnitt Oberpfalz, genauer: auf den Winzerer Höhen, hoch über dem Donautal vis-à-vis von Regensburg.

Keine zweihundert Meter entfernt stoße ich auf einen kleinen Flecken, der mit hohen Gräsern und Blumen in den herrlichsten Farben übersät ist. Hier sind sie, die schönen wilden Pflanzen. Grillen zirpen, Bienen und Hummeln fliegen emsig von Blüte zu Blüte, dazwischen flattern Kohlweißlinge herum. Eine von Naturschützern angelegte Blühwiese, deren Schönheit und Vielfalt die martialischen Ernteszenen gleich nebenan noch befremdlicher macht. Die eingehegte Biodiversität auf diesem Flurstück mutet wie ein lächerlicher Ausgleich für das Vernichtungswerk an, wie eine Art Beruhigungsbotanik.

An diesem Oktobertag auf den Winzerer Höhen wurde die Idee zu diesem Buch geboren. Es handelt von einer der destruktivsten Kräfte, die die Menschheit je entfesselt hat: von der modernen Landwirtschaft und den ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Schäden, die sie anrichtet. Im Zentrum stehen die Plünderung unserer begrenzten biologischen Ressourcen und die flächendeckende Zerstörung der Umwelt durch den weltumspannenden agro-industriellen Komplex, der so mächtig geworden ist wie der militärisch-industrielle Komplex. Es geht um den Krieg gegen die Natur – und gegen uns selbst.

Der Krieg wird gelenkt durch die Feldherren des Agrar- und Nahrungsmittelsektors; die Rüstungsgüter liefern Chemie-, Pharma- und Saatgutkonzerne; für die Propaganda sind Landwirtschaftspolitiker, Funktionäre der Bauernverbände und Lobbyisten zuständig. In der Etappe marschieren die Finanzbataillone. Die konventionellen Landwirte bilden das Heer der Fußsoldaten. Ihre Waffen: fossile Energie, tonnenschweres Gerät, Kunstdünger, Pestizide, Kraftfutter, Antibiotika, Wachstumshormone. Ihre Schlachtfelder: bereinigte Fluren, Monokulturen, Agrarsteppen, Mastfabriken. Sie belasten das Klima, beschleunigen den Artenschwund, laugen die Böden aus, vergiften das Wasser, quälen die Tiere – angeblich zum Wohl der Allgemeinheit. Die Folgen ihres Handelns kümmern sie in der Regel nicht, im besten Falle sind sie sich ihrer nicht bewusst. Der moderne Landwirt agiert gleichgültig, rabiat und gierig, »ruachad«, wie man auf Bairisch sagt. Er ist der Prototyp unserer räuberischen Spezies, des Homo sapiens.

Der Mensch belaste die Biosphäre der Erde so schwer wie kein anderes Lebewesen, warnt das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, das alljährlich die Weltlage einschätzt. In 4,5 Milliarden Jahren formten natürliche Prozesse die Erde, erst in den vergangenen sieben Jahrzehnten sei der menschliche Einfluss so prägend geworden, dass wir von einem neuen Erdzeitalter sprechen, vom Anthropozän. Wir erleben gerade die fatalen Folgen dieses Einflusses, die Zerstörung natürlicher Lebensräume und den rapiden Artenschwund. Wissenschaftler sprechen vom sechsten Massenaussterben der Erdgeschichte, das letzte ereignete sich vor 66 Millionen Jahren, als ein gewaltiger Asteroid auf unserem Planeten einschlug und 75 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten ausgerottet wurden. Eigentlich begann das Anthropozän schon in der Jungsteinzeit vor ungefähr 10 000 bis 12 000 Jahren, als der nomadisierende Mensch sesshaft wurde und anfing, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Im Laufe der Jahrtausende entstanden zwischen Euphrat und Tigris, am Nil oder am Indus Hochkulturen, die auf landwirtschaftlichen Überschüssen beruhten. Der israelische Globalhistoriker Yuval Noah Harari zählt die Entwicklung seit der neolithischen Revolution zu den größten Irrwegen der Geschichte. Im Alten Testament wird sie zum ewigen Fluch: Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder Abel, den Hirten.

Heute sind wir jenseits der biblischen Verdammungslehre mit den Auswüchsen der industriellen Landwirtschaft konfrontiert, und man kann Harari nur zustimmen, wenn er die Massentierhaltung als Verbrechen bezeichnet.

In dieses Verbrechen sind wir, die Konsumenten, jeden Tag verstrickt. Denn wir wollen gute und preisgünstige Nahrungsmittel – und verdrängen, wie sie hergestellt werden. Die Milch kommt aus dem Kühlschrank, der Schweinebraten von der Fleischtheke. Doch allmählich rücken die Lieferketten vom Acker zum Teller und die Kollateralschäden der agroindustriellen Produktionsweise ins öffentliche Bewusstsein. Es hat sich herumgesprochen, dass jedes Steak, das wir essen, den Kahlschlag der Regenwälder befördert. Dass unsere Nahrungsmittel Agrargifte enthalten. Dass durch die Erschließung neuer Wirtschaftsflächen und die Massenviehhaltung Viren, Bakterien, Prionen, Pilze und Parasiten von Tieren auf Menschen überspringen und Zoonosen wie Rinderwahnsinn, Vogelgrippe, Kuhpocken oder Covid-19 auslösen.

Je mehr aufgeklärte Verbraucher über diese Zusammenhänge wissen, desto öfter stempeln sie Landwirte als Sündenböcke ab. Aber so einfach ist es nicht, denn unsere Nahrungsmittelproduzenten sind Täter und Opfer zugleich: Sie machen freiwillig mit bei der durch staatliche Milliardensubventionen befeuerten Erzeugerschlacht – und sie bekommen die ökologischen Folgen des Raubbaus unmittelbar zu spüren. Ihre Wirtschaftsweise wird durch zwei Faktoren bestimmt: Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung. Der Konkurrenzkampf auf den nationalen und internationalen Märkten lässt ihnen gar keine andere Wahl: Erpresserische Kartelle von Lebensmittelkonzernen, Supermärkten, Discountern, Molkereien und Großschlachtereien, die die Endverbraucher mit immer billigeren Waren beglücken, drücken die Preise; die Landwirte müssen sich den ökonomischen Zwängen anpassen und die Produktion intensivieren, um immer mehr aus ihren Böden und Tieren herauszupressen. Devise: Wachse oder weiche!

Noch nie wurden so viele Nahrungsmittel wie heute erzeugt, allein in der Saison 2021/22 belief sich die Gesamtmenge des weltweit geernteten Weizens auf 779,9 Millionen Tonnen. Doch nicht einmal die Hälfte dessen, was auf unseren Äckern wächst, wird zu Lebensmitteln verarbeitet, der Löwenanteil geht in die Produktion von Tierfutter, Energiepflanzen und industriellen Rohstoffen. Während nach jüngsten Hochrechnungen der vereinten Nationen weltweit 735 Millionen Menschen hungern und über zwei Milliarden von mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind, leiden 1,9 Milliarden infolge des exzessiven Konsums an Übergewicht und Fettleibigkeit. Heutzutage sterben Menschen eher, weil sie zu viel essen, nicht, weil sie zu wenig auf den Tisch bekommen. Mit der Gesamtmenge der jährlich verschwendeten oder in den Müll geworfenen Lebensmittel – 2021 waren es geschätzte 931 Millionen Tonnen – könnte theoretisch die doppelte Zahl der gegenwärtig hungernden Menschen versorgt werden.

Der Krieg gegen die Umwelt wird nicht nur von der industriellen Landwirtschaft geführt, von Megafarmern, Agrarfabrikanten, Großgrundbesitzern und Plantagenbetreibern, sondern auch von mittleren und kleineren Betrieben, die sich dem agrarökonomischen Diktat unterworfen haben. Die Viehbestände und Nutzflächen sind nur noch wirtschaftliche Assets, gewinnorientierte Produzenten haben jeden Bezug zur Natur verloren. »Das sind keine Bauern«, ärgerte sich mein Freund Matthias Kreuzeder schon bei unserer ersten Begegnung vor 35 Jahren. Der Biobauer aus dem Rupertiwinkel, dem südöstlichsten Teil Bayerns, spricht den Agripreneuren das Recht ab, die Berufsbezeichnung »Bauer« zu tragen. Kreuzeder stand Pate zu diesem Buch, er wird uns in einigen Kapiteln wiederbegegnen. Ich teile seine Urteile, darf aber gleich an dieser Stelle klarstellen, dass ich nicht das in Mode gekommene »Bauernbashing« betreiben und einen ehrenwerten Berufsstand pauschal verunglimpfen will – das liegt mir schon allein aufgrund meiner Herkunft fern. Ich ziehe vor jedem Landwirt den Hut, der umweltverträglich wirtschaftet, sei es auf einem Biohof oder in einem konventionellen Betrieb.

Das Thema Landwirtschaft wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Ich bin auf Bauernhöfen im bayerischen Gebirge und im Voralpenland am Ende einer Epoche aufgewachsen, in der die meisten Bauern noch in natürlichen Kreisläufen wirtschafteten. In den frühen 1960er Jahren habe ich die Initialzündung der sogenannten »grünen Revolution« erlebt, den Modernisierungsschub in der Landwirtschaft, der zu einem beispiellosen Bauernsterben führte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Bundesrepublik nahezu zwei Millionen Betriebe, im Jahr 2022 sind im vereinigten Deutschland noch 256 000 übriggeblieben. In meiner Kindheit und Jugend lernte ich, wann gesät und geerntet wird, wie man Jungvieh auf der Alm hütet und mit der Sense mäht, wie man Traktor fährt, die Trächtigkeit einer Kuh erkennt, eine Melkmaschine bedient oder Geburtshilfe beim Kälberziehen leistet. Ich absolvierte einen Grundkurs über Forstpflege in der Bayerischen Waldbauernschule, beschäftigte mich im Studium mit Agrarsoziologie und wurde in der Kampagne gegen das Waldsterben zum Ökoaktivisten. Als Journalist arbeitete ich mich an den Torheiten der europäischen Agrarpolitik ab. Reisen nach Brasilien, Italien, Polen, Tadschikistan, auf die Philippinen und in die USA öffneten globale Perspektiven; manche Recherchen liegen zwar schon einige Jahre zurück, haben aber nicht an Aktualität eingebüßt. Als Korrespondent in Afrika beschrieb ich die Probleme von kleinen Bauern und Bäuerinnen, die den Kontinent ernähren, und wunderte mich immer wieder darüber, wie die Entwicklung des ländlichen Raumes von der Politik und auch von der Hilfsindustrie vernachlässigt wurde. Kurzum: Die Agrarfrage sollte mich durchs Berufsleben begleiten und mein erkenntnisleitendes Interesse formen, und je länger ich nach Antworten suchte, desto deutlicher traten die Abgründe vor Augen.

Das Agrarwesen ist im wahrsten Sinne des Wortes ein weites Feld, ich habe versucht, ein paar ausgewählte Parzellen zu beackern: Den Untergang des traditionellen Bauerntums. Die globale Erzeugerschlacht und ihre Akteure, die Agrarkrieger. Die Macht des agro-industriellen Komplexes. Die Absurditäten der europäischen Landwirtschafts- und Handelspolitik. Den Verteilungskampf um Land und die Lage von Millionen Subsistenzbauern auf der Südhalbkugel. Es geht um den Klimawandel und die schwindende Biodiversität, um das Bevölkerungswachstum und die Zukunft der Welternährung, um Saatgutmonopole und Gentechnik, Bodenspekulation und Landräuber, Rekordernten und Dürren, Hunger und Brotaufstände, Überkonsum und Lebensmittelvernichtung. Alles hängt mit allem zusammen, das ist eine Binsenweisheit im Zeitalter der Hyperglobalisierung. Jedes einzelne Thema würde eine Bibliothek füllen, jedes ist so hochkomplex, dass es im beschränkten Umfang eines Sachbuches nur angerissen werden kann.

Fest steht: Die moderne Landwirtschaft gehört zu den größten Emittenten von klimaschädlichen Treibhausgasen und ist der Hauptverursacher des Artensterbens. Bis zu vierzig Prozent der weltweiten Landflächen sind laut dem »Global Land Outlook« der Vereinten Nationen bereits degradiert, die Produktivität der intensiv bewirtschafteten Böden sinkt kontinuierlich. Die Art und Weise, wie die Landwirtschaft gegenwärtig betrieben wird und wie wir uns ernähren, hat selbstzerstörerische Dimensionen angenommen – sie droht die begrenzten Naturressourcen unseres Planeten zu erschöpfen. Um diesen verhängnisvollen Prozess aufzuhalten oder wenigstens zu verlangsamen, sind grundstürzende Veränderungen unumgänglich. Der Weltagrarrat, der die globalen Herausforderungen erstmals klar und deutlich benannt hat, mahnt dringlich eine ökonomische und ökologische Transformation der weltweiten Landwirtschafts- und Ernährungssysteme an. Wir müssen bei Strafe des Untergangs die Produktion, Verarbeitung und Verteilung unserer Nahrungsmittel radikal neugestalten: klimakompatibel, ressourcenschonend, nachhaltig, sozial gerecht.

Noch aber verhält sich die Menschheit so töricht wie der gemeine Hefepilz, der zuckerhaltigen Traubenmost in Wein verwandelt. Im Gärungsprozess vermehrt er sich exponentiell, frisst immer schneller seine Nahrungsgrundlage auf und stirbt massenhaft ab, sobald ein bestimmter Alkoholgehalt erreicht ist. Evolutionsbiologisch betrachtet ist unsere Spezies nicht viel weiter gekommen: Wir Menschen agieren wie hirnlose Einzeller, die suizidale Bedrohungen nicht wahrnehmen. Es steht zu befürchten, dass die zerstrittene und konfuse Weltfamilie die Notwendigkeit einer Agrar- und Ernährungswende erst erkennen wird, wenn sich die globalen Krisen in einem ungeahnten Ausmaß verschärfen. Dann kommt es vielleicht zu einer grünen Revolution, die den Namen verdient hat: Sie würde die Agrarkrieger, die tragischen Protagonisten dieses Buches, in die Wüste schicken.

Der Duft des Heus

Als ich noch ein Bergbauernbub war

Der alte Hof mit Blick auf das Kaisergebirge. Ein prächtiges Anwesen erhebt sich vor dem inneren Auge, ein fichtenhölzerner Blockbau, auf dem ein Satteldach mit sieben Pfetten ruht. Es kragt weit aus, um das Gebäude vor den Unbilden des Bergwetters zu schützen. Hinter dem Wohntrakt, der in die wärmste Himmelsrichtung blickt, nach Südost, liegen Stall und Tenne, ein natürlicher Klimapuffer in den rauhen Wintermonaten. Ums Obergeschoss läuft ein Balkon mit geschnitzten Balustern aus Tannenholz, von dem im Sommer eine purpurne, zinnoberrote und violette Geranienpracht wallt.

Ringsum Wiesen voller Kräuter und Wildblumen, ein Acker für Brotgetreide, der Bergwald. Dazu ein Obstanger hinter dem Bauerngarten, das Bienenhaus, der Backofen mit Selche, zwei Dutzend Hühner, im Stall acht Milchkühe, ein paar Schweine und zwei Haflinger, die als Zugtiere dienten. Das Jungvieh graste während des Almsommers im Hochtal hinter dem Brünnstein, rund hundert Tage, in denen es kugelrund wurde. Der Almabtrieb im Frühherbst, angeführt von der mit bunten Bändern, Aufsteckern und einer Glocke geschmückten Leitkuh, war das aufregendste Ereignis des Jahres. Die Nutztiere waren Mitgeschöpfe, in den Raunächten wurden sie mit Weihwasser besprenkelt, um sie vor Viehseuchen und bösen Geistern zu schützen. Gegen gesundheitliche Beschwerden halfen Weizenkleie, Karmelitergeist und Heilpflanzen wie Spitzwegerich, Latschenkiefer oder eine Tinktur aus Arnikablüten, die die Großmutter um Mariä Himmelfahrt sammelte. Der Viehdoktor, ein drahtiges Männlein, das im Goggomobil vorfuhr, war eine Art Kuhflüsterer, der noch nie eine Universität von innen gesehen hatte. Die Landwirtschaft kam ohne Kunstdünger und Chemie aus, wenn man vom Bremsenschutzmittel für Rella und den zweiten Haflinger, dessen Name ich vergessen habe, absah. Das mit Wiesenkräutern vermischte Heu verströmte einen würzigen Duft, wie ich ihn nie wieder gerochen habe.

Höhepunkt des bäuerlichen Jahres: Almabtrieb im Frühherbst

Getty Images/imageBROKER/Adelheid Nothegger

Die Kost war frugal. Hauptsächlich Eintöpfe und Mehlspeisen, Essignudeln, Brotsuppe, Grießbrei, Dampfnudeln, Topfenstrudel, Kartoffelstriezel, Schmalzgebäck, mit Kraut gefüllte Kiachl. Gebratenes höchstens zwei Mal die Woche. Der Haushalt versorgte sich weitgehend selbst mit Fleisch, Speck, Schweinefett, Eiern, Kartoffeln, »Türken« (Mais), Sauerkraut, Eingewecktem, Gemüse, Obst, Marmelade und Honig. In der Küche standen ein Butterfass und eine handbetriebene Zentrifuge, die Vollmilch in Rahm und Magermilch trennte, im Waschhaus wurde Most gepresst und Obstschnaps gebrannt. Der Arbeitsalltag war lang und hart, aber niemand jammerte, schließlich hatte man die fürchterlichen Notzeiten während des Krieges überstanden. Die Menschen waren zufrieden mit dem, was sie hatten.

Es gibt ein Paradies, in dem wir waren und in das wir nicht zurückkehren können: die Kindheit. Wir verklären die frühen Jahre, unsere Erinnerungen werden stets vom Verlustschmerz umweht. So geht es mir, wenn ich an die glückliche Zeit auf dem Bergbauernhof meiner Großeltern zurückdenke – an die letzte Epoche, in der es noch keine Agrarkrieger gab. Die Verlockung ist groß, die untergegangene Welt zu idealisieren, aber sie taugt nicht als Gegenentwurf zu den Verirrungen der Moderne, der Triumphzug der Geschichte rollt unaufhaltsam weiter.

Dennoch hält das alte Landleben ein paar Lektionen für die Zukunft bereit. Die Vorfahren wirtschafteten nachhaltig, auch wenn damals niemand dieses Wort gebrauchte, der schonende Umgang mit den Ressourcen war ein ungeschriebenes Gebot. Für jeden gefällten Baum muss ein neuer gepflanzt werden, sagte Großvater Josef. In den Augen meiner Großmutter Therese war das Bauerntum der edelste Stand, denn es sorgte im Einklang mit der Natur für das tägliche Brot, und als Ehepartner ihrer Kinder kamen selbstverständlich nur Bauern infrage; Tante Lisi, die einzige ihrer fünf Töchter, die »nur« einen Maurer geheiratet hatte, bekam die Geringschätzung der Mutter ihr Leben lang zu spüren.

In der Obhut der Großeltern erlebte ich die Endphase der traditionellen ländlichen Gesellschaft, die durch überlieferte Produktionsweisen im Rhythmus der Jahreszeiten, das bäuerliche Brauchtum und den katholischen Glauben geprägt wurde. Obwohl es ein paar protzige Großgrundbesitzer und Landadelige gab, war es eine egalitäre Gemeinschaft, in der Gier, Geiz und Profitmacherei verpönt waren. Man tauschte Naturalien aus, verlieh Gerätschaften, feierte Erntefeste, musizierte bei der Hoagaschd, fuhr auf dem Zweispänner gemeinsam zur Kirche. Nachbarschaftshilfe war selbstverständlich. Wenn der Kreilbauer sein Heu schon in der Tenne hatte und über den Bergen ein schweres Unwetter aufzog, sprang er dem Nachbarn bei. Natürlich gab es manchmal auch Hader und Streit, Neid und Missgunst, aber die Solidarität und das Gefühl der Zusammengehörigkeit waren stärker.

Anno 1959 gingen meine Tage als Bergbauernbub jäh zu Ende. Denn ich war ein Bankert, ein nichteheliches Kind, und meine Eltern wurden von ihren Vätern zur Heirat genötigt, um, wie es damals hieß, das »g’schlamperte Verhältnis« zu beenden. Ich empfand den Umzug auf den väterlichen Hof im Voralpenland als Zwangsmaßnahme, der zu allem Übel im Jahr darauf die Einschulung folgte, die erste staatliche Freiheitsberaubung. Ich vermisste das Alpenglühen, das Rauschen der Bergbäche, die strengen Winter, das blecherne Läuten der Kuhglocken, die unendlichen Sommertage auf der Alm, und ich sprang an jedem ersten Ferientag in den Schienenomnibus, um »hoam eini« zu fahren, nach Oberaudorf, zurück ins Paradies, aus dem ich vertrieben worden war. Aber meine ursprüngliche Heimat war schon bald nicht mehr wiederzuerkennen. Heute stehen die letzten Bauernhöfe verloren zwischen Gewerbebetrieben, Ferienwohnungen, Kurhäusern, Wellnesshotels, Hallenbädern, Sesselliften, Trachtenmodeboutiquen und alpinem Kitsch herum. Die Zeugnisse der Vergangenheit verstauben im Heimatmuseum: Gerätschaften und Werkzeuge, deren Namen wir nicht mehr kennen; Tätigkeiten wie Wolldatschn, Zwetschgenklauben, Butterrühren, Hanffimmeln, Heuziehen oder Krautstampfen, die niemand mehr ausführt; Geburts-, Ernte- und Todesrituale, die uns befremden.

So endet die kurze Vorgeschichte über eine versunkene Welt. Und es beginnt die eigentliche Erzählung über die Zerstörungswut der modernen Landwirtschaft, die ich in meiner zweiten Heimat erleben sollte.

Bauern sterben

Die »grüne Revolution« und der Untergang unseres Hofes

Gottlob, dass ich ein Bauer bin;

Und nicht ein Advokat!

Und fahr ich wieder zu ihm hin,

So breche mir das Rad!

Matthias Claudius

Wir hatten einen Bauernhof im Voralpenland. 25 Hektar groß, ein Mischbetrieb, Ackerbau und Viehzucht, freilaufende Hühner, vier, fünf Schweine in geräumigen Koben, dazu ein paar Tagwerk Wald. Auf den Wiesen grasten 22 Milchkühe. Im Hausgang hing der Stammbaum mit dem Wappen unserer Familie. Das Füllhorn symbolisiert Wohlstand und Glück, die Grille Emsigkeit, der Löwe Wehrhaftigkeit, die Krone den ehemaligen Adelstitel, der meinen Vorfahren nach einem heimtückischen Mord aberkannt wurde. Die Genealogie reicht bis ins Jahr 1720 zurück, seit Generationen wurden Feld und Flur nach dem Dreifelderprinzip mit jährlichen Fruchtwechseln bewirtschaftet: Sommergetreide, Wintergetreide, im dritten Jahr Brache oder Zwischenfruchtanbau.

Unser Vater, den wir nach dem Patriarchen Ben Cartright in der Western-Serie »Bonanza« Pa riefen, führte die Tradition der nachhaltigen Kreislaufwirtschaft fort. Seine einfachen Leitsätze waren die gleichen wie die meines Großvaters auf dem Bergbauernhof in Oberaudorf: Was du aus den Tieren, Böden und Wäldern herausholst, sollst du in gleichem Maße wieder zurückgeben. Gehe sparsam mit den Ressourcen um. Halte das natürliche Gleichgewicht. Auf das Wohl der Kühe wurde besonders geachtet, denn sie lieferten Milch, unsere wichtigste Einkommensquelle. Alle Tiere hatte ihre Eigenheiten, sie waren duldsam, neugierig oder störrisch, jedes hatte einen eigenen Namen, der vom ersten Buchstaben des jeweiligen Zuchtbullen abgeleitet wurde, also Tanne oder Tulpe, wenn sie von Torro abstammten. Sie hatten im Vergleich zu ihren in der Massenviehhaltung geschundenen Artgenossinnen ein glückliches Dasein. Sie mussten nicht auf Gitterrosten oder Spaltböden stehen, sie schliefen auf Stroh, das jeden Tag frisch eingestreut wurde; sie durften sich von März bis Oktober unter freiem Himmel auf saftigen Weiden bewegen. Die Rinder fraßen ausschließlich selbsterzeugtes Grundfutter, Gras, Klee, Silo, Heu, Krummet und Rübenschnitzel, die Schweine bekamen Küchenreste, Fallobst und Kartoffeln, die im Erdäpfeldämpfer gesotten wurden. Fremdmittel wie importierter Sojaschrot waren noch nicht auf dem Markt.

Ende der 1950er Jahre gab es in Westdeutschland noch 1 390 000 landwirtschaftliche Betriebe.

Der Alltag auf unserem Hof verlief im Rhythmus der Jahreszeiten, die Arbeit war hart und beschwerlich, Urlaub ein Fremdwort. Fleisch kam außer an Sonn- und Feiertagen nur selten auf den Tisch. Kein üppiges Leben, aber sorglose Zufriedenheit, gespeist aus der Gewissheit, dass genug für alle da war.

Abschied für immer: Der verkaufte Hof in Halmberg

Familienarchiv Grill

Dann brach der Fortschritt über die Bauern herein. In meiner Erinnerung beginnt er an einem heißen Augusttag anno 1960. Pa brachte die Weizenernte zur Mühle, ich saß hinten auf dem Gummiwagen. Die Körner wurden gemahlen, anschließend fuhren wir das Mehl zum Verkauf ins Lagerhaus. Dort stapelten sich prallgefüllte Plastiksäcke bis unters Dach, die Aufdrucke konnte ich als Sechsjähriger noch nicht lesen, aber ich hörte die seltsamen Namen: Kali, Thomasmehl, Superphosphat, Ammoniak, Kalkammonsalpeter, Nitrophoska. Im Angebot waren auch feste oder flüssige Produkte mit ebenso erratischen Bezeichnungen: E 605, Falitox CMPP. »Das sind Pflanzenschutzmittel, die kaufen jetzt alle«, sagte der Lagerhauschef. Er versicherte Pa, dass er doppelt so viel ernten werde, wenn er diese Mittel einsetze und reichlich Kunstdünger streue. Wir luden ein paar Doppelzentner Nitrophoska blau und ein Sortiment von Pestiziden auf den Anhänger. Bei der nächsten Aussaat sollten die Zaubermittel zum Einsatz kommen.

Doch zunächst musste ein großes Unheil überwunden werden, das am 13. September 1960 über Halmberg kam: Es war der Tag, an dem unser Hof in Flammen stand und der Stall bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die kriminalpolizeiliche Untersuchung ergab, dass durch kräftige Windstöße dürre Gräser entzündet wurden, die sich um das heiß gelaufene Gewinde des Heuförderbandes gewickelt hatten. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, der Wohntrakt blieb unversehrt, alle Tiere konnten gerettet werden, die Brandschutzversicherung zahlte. Am Ende brachte der Schicksalsschlag sogar unverhoffte Vorteile: Ein neuer Stall wurde gebaut, in moderner Ausführung mit Futtertisch, Milchkammer, Dunstkamin und Kälberboxen. Wir brannten sozusagen auf, nicht ab. Und dank des Kunstdüngers und der chemischen Keulen, die im nächsten Frühjahr zum Einsatz kamen, gedieh das Getreide so üppig wie nie zuvor: die Halme aufgereiht wie ein Heer, die Äcker blaugrün leuchtend, kein Unkraut weit und breit.

Beim Kirchgang zum Erntedankfest protzten die Bauern mit ihren fetten Erträgen. Sie waren jetzt Produzenten, beglückt von den hohen Garantiepreisen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Pa war allerdings ziemlich altmodisch, er legte Wert auf Biodiversität im Wald, auf den Feldrainen und Feuchtwiesen. Er hatte eine kleine Bibliothek mit botanischer und zoologischer Fachliteratur, oft studierte er in Bestimmungsbüchern für Wald- und Obstbäume, Sträucher, Gräser, Blumen, Heilkräuter und Pilze, Reh- und Rotwild, Wiesenbrüter, Singvögel, Süßwasserfische, Reptilien, Schmetterlinge, Käfer und Insekten. Manchmal tauschte er Erfahrungen mit dem ersten und einzigen Biobauern in der Gemeinde aus, einem Anthroposophen mit Rauschebart, den alle für einen esoterischen Simpel hielten. Aber so ganz mochte Pa nicht auf chemische Hilfsmittel verzichten, wie alle Bauern bekämpfte er die hartnäckigen Strumpferwurzen mit einem Herbizid. Und obwohl er Kunstdünger eher zurückhaltend streute, wurde unser Getreideboden allmählich zu klein für die sprunghaft gewachsenen Erntemengen. Auch die Kälber sollten jetzt schneller ihr Schlachtgewicht erreichen, in ihren Trank wurde MK1-Pulver gemixt, ein Aufzuchtbeschleuniger.

Im »Landwirtschaftlichen Wochenblatt«, das wir wie die meisten Bauernfamilien abonniert hatten, wurde allwöchentlich die »grüne Revolution« befeuert. Die Zeitschrift informierte über agrarpolitische Entwicklungen in München, Bonn und Brüssel, listete die Preise für Schlachtvieh, Milch und Getreide auf, warb für Kunstdünger und Pestizide, empfahl die neuesten Betriebsmittel und Gerätschaften, lieferte Kochrezepte und Strickanleitungen für die »lieben Landfrauen«. Das Wochenblatt, schon damals eines der auflagenstärksten Agrarfachmagazine, propagierte grenzenloses Wachstum.

Manche Veränderungen setzten ein wie Donnerschläge, manche geschahen schleichend, zum Beispiel die Ausbreitung der Maispflanze. »Türken« nannte meine Großmutter die goldgelben Kolben, die in der Nachkriegszeit nur in kleinen Mengen in den Hausgärten zu finden waren. Auf den Äckern baute man an, was schon immer angebaut wurde: Weizen, Hafer, Gerste, Roggen, Saubohnen, Runkelrüben, Kartoffeln. Allmählich sprachen sich die Vorzüge des aus Mexiko stammenden Süßgrases herum: Mais bringt mehr Masse und mehr Energie als jede andere Ackerfrucht, erfordert einen geringeren Arbeitsaufwand, ist vergleichsweise pflegeleicht und verbraucht weniger Wasser. Ein wahres Wundergewächs, das nährstoffreiches Grundfutter für die Rindermast und Milchproduktion liefert. Fortan bauten alle Bauern Mais an, um die Fleisch- und Milchleistung zu steigern. Allerdings mussten sie das hochgezüchtete Saatgut jedes Jahr neu kaufen, wodurch sie noch abhängiger vom Agrargroßhandel wurden.

Pa blieb zögerlich, als der Mais seinen Siegeszug antrat. Am 25. Februar 1961 schrieb er eine Postkarte an die Abteilung »Futterpflanzensaatgut« der Zentralorganisation landwirtschaftlicher Genossenschaften in München, um genauere Auskünfte zu erhalten. Schon drei Tage später kam die Antwort. Der Anbau von Mais werde »durchwegs von Weihenstephan empfohlen«, er liefere »höchste Nährstoffmengen«. Die Einschätzungen der Experten von der Landwirtschaftlichen Hochschule in Weihenstephan wurden seinerzeit aufgenommen wie die Hirtenbriefe des katholischen Erzbischofs aus dem benachbarten Freising. Alle Zweifel waren ausgeräumt, Pa kaufte die hochgezüchteten Hybridsorten »Prior« und »Inrafrüh«. Die Monokulturen wuchsen und wuchsen. Zwei Jahrzehnte später löste das Erneuerbare-Energien-Gesetz die zweite Maiswelle aus, und zahlreiche Landwirte verwandelten sich in Energiewirte, die Biogas und Agrosprit erzeugten. Deutschland wurde regelrecht »vermaist«. 2021 betrug die Erntemenge von Silomais knapp 105 Millionen Tonnen, hinzu kamen 4,5 Millionen Tonnen Körnermais.