Ach, Afrika - Bartholomäus Grill - E-Book
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Ach, Afrika E-Book

Bartholomäus Grill

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  • Herausgeber: Siedler
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Eine leidenschaftliche Liebeserklärung an die afrikanische Welt

Afrika ist ein Kontinent voller Widersprüche, geprägt durch die reiche Vorstellungswelt seiner Menschen, ihre sozialen Regeln und Rituale, ihre Träume und Tabus, ihre Machtstrukturen und Glaubenssysteme. Diese Welt erscheint oft roh und gewalttätig, dann wieder zeitlos heiter und gelassen. Bartholomäus Grill hat sie uns mit diesem Buch erschlossen. Ein Standardwerk, das der Autor aktualisiert und um ein neues Kapitel über die atemberaubenden Entwicklungen der letzten Jahre erweitert hat.

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Seitenzahl: 670

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Bartholomäus Grill

Ach, Afrika

Berichte aus dem Inneren eines Kontinents

Pantheon

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Aktualisierte und erweiterte Pantheon-Ausgabe August 2012 Copyright © 2003 by Siedler Verlag, München, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Fotos: © Pascal Maître/Cosmos/Agentur Focus, mit Ausnahme von: Henner Frankenfeld, Johannesburg; Privatarchiv B. Grill; Rui Tavares, Luanda, mit freundlicher Genehmigung des Goethe-Instituts Angola Satz: Ditta Ahmadi, Berlin Karte Vorsätze: Peter Palm, Berlin Reproduktionen: Mega-Satz-Service, Berlin ISBN 978-3-641-13931-5 V002 www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort Das Tor des Janus

Im afrikanischen Wechselbad Annäherungen an einen fragilen Kontinent

Unser innerer Kongo Die Projektionsfläche Afrika

Vorsicht, weiße Elefanten! Die Krise der Wirtschaft und die Kunst des Überlebens

Wirf dein Herz weg! Die Verheerungen des Sklavenhandels und der Kolonialherrschaft

Das Alte stirbt Ein Kontinent, zerrissen zwischen Tradition und Moderne

Die Unsterblichkeit des Krokodils Afrikas große Männer und die Macht

Drei Mahlzeiten oder drei Parteien? Der lange Weg zur Demokratie

Krieg und Frieden Über die blutige Geschichte des postkolonialen Afrika

Die Stille von Ntarama Ruanda oder die Erfindung der Grausamkeit

Das neunte Bild Aids und die Folgen für Afrika

Die große schwarze Hoffnung Südafrika – ein Zukunftsmodell für den Kontinent?

Der Schläfer auf dem Vulkan Afrikanisches und allzu Afrikanisches

Die Löwen brechen auf Wohin geht die Reise Afrikas?

Dank

Literaturhinweise

Personen- und Werkregister

Für Antje und Leo, der in Afrika auf die Welt kam

Vorwort Das Tor des Janus

DIE FELSENKETTE IN DER BUCHT, die wie der Schwanz eines Lindwurms aus der Brandung zackt. Das Gelächter der Götter und Geister im Regenwald. Das rostige Wrack eines Kutters. Die windschiefen Hütten der Fischer. Alles noch da, alles unverändert. Es ist stets die gleiche Anmutung, wenn ich in Limbe am Meer stehe. Ich werde aufgesogen von den verschwenderischen Tropen, von einer Welt voller Müßiggang, Lebenslust und Sinnenfreude, in der die Säuglinge lauter brüllen und die Zikaden schriller sägen und die Vulkane hinaufspeien bis zu den Sternen. »Man geht durch die Jahreszeiten. Man lebt und träumt. Man arbeitet, wann man will«, sagte mein Freund Ewanda Mbu, der Überlebenskünstler, als ich ihn im Jahre 1995 zum ersten Mal traf. Wir saßen, umschmeichelt von der Abendkühle, auf einer abbröckelnden Kaimauer, tranken lauwarmes Bier und schauten auf den Atlantik hinaus. Ein Mann schob seine Radtrage vorbei, auf dem Gefährt stand No event no history. Kein Ereignis, keine Geschichte – als solle der Anschein bestätigt werden, dass hier die Zeit stehen geblieben sei. Aber das ist eine jener Täuschungen, denen wir Europäer oft erliegen. Wir nehmen Afrika als unveränderlichen Kontinent war, als einen vor sich hin dämmernden Teil der Welt, in dem nicht viel geschieht, jedenfalls nichts Weltbewegendes. Afrika ist und bleibt in unseren Köpfen, wie es immer war: zeitlos schön, chaotisch, ein zurückgebliebenes Problemkind, ewig arm und trotzdem frohgemut.

Beinahe zwanzig Jahre sind seit meiner ersten Begegnung mit Ewanda Mbu vergangen. Wenn ich ihn heute besuche, macht seine Heimatstadt an der Küste Kameruns einen ganz anderen Eindruck. Die jungen Leute rennen mit Handys herum, heruntergekommene Läden haben sich in Internet-Cafés verwandelt, es gibt sogar genießbaren Cappuccino. Die Plantagen im Hinterland ziehen plötzlich Investoren an, nebenan, in Douala, wird der Tiefseehafen ausgebaut, und im Offshore-Terminal vor Kribi endet eine tausend Kilometer lange Ölpipeline aus dem Tschad. So wie in Kamerun ist es in vielen Ländern Afrikas, überall sehen wir Zeichen des Umbruchs. Ein vor etlichen Jahren nicht für möglich gehaltener Wirtschaftsaufschwung verändert den Kontinent in einem geradezu atemberaubenden Tempo, sein Außenhandel hat seit 2000 um 200 Prozent zugenommen, die Wachstumsraten mancher Staaten überflügeln die Rekordwerte Asiens. Vor allem die ressourcenreichen Regionen boomen, weil die Preise auf den globalen Rohstoffmärkten explodiert sind. Und weil China, die Supermacht des 21. Jahrhunderts, Afrika wiederentdeckt hat. Der erwachende Riese hat einen schier unstillbaren Appetit auf die Bodenschätze des Kontinents und überschwemmt seine Märkte mit Billigprodukten. Vielerorts treten die Chinesen so großmächtig auf, dass einheimische Intellektuelle schon vor dem »gelben Kolonialismus« warnen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten hingegen begrüßen sie als neue Verbündete, die helfen, ihre Länder in eine bessere Zukunft zu katapultieren. Am Beginn des 21. Jahrhundert wird auch ihr Erdteil vom kapitalistischen Weltsystem durchdrungen. Sie profitieren von der Globalisierung, von der beschleunigten Verteilungsschlacht um die letzten Resssourcen des Planeten: Ihr Kontinent ist eine Schatztruhe, die rund 40 Prozent der Rohstoffe, Wasservorräte und Energiereserven der Welt enthält. Vor einem Jahrzehnt hatte der Economist Afrika noch als »hoffnungslosen Erdteil« abgeschrieben. Unterdessen bedauert das wohl einflussreichste aller Wirtschaftsmagazine seine Untergangsprosa und preist den Kontinent, als sei er von den Toten auferstanden. Auf einem Titelbild vom Dezember 2011 lässt ein kleiner schwarzer Junge einen regenbogenbunten Drachen mit den Umrissen Afrikas in die Morgensonne steigen. Darunter steht: Africa rising.

Wenn es für diese These noch eines Beweises bedurft hätte, so lieferte ihn die Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Zum ersten Mal in der achtzigjährigen WM-Geschichte wurde das Turnier aller Turniere einem afrikanischen Land anvertraut. Die Schwarzseher waren natürlich überzeugt davon, dass dieses Megaspektakel am Kap ein Desaster werden würde, doch die Südafrikaner bewiesen das Gegenteil und organisierten ein rauschendes Sportfest. Dieser Triumph hat das Selbstwertgefühl des ganzen Kontinents gestärkt und dem Rest der Welt gezeigt: Yes, Afri-can! Afrika kann es auch. Eine österreichische Zeitung brachte trotzdem das Kunststück fertig, beim Rückblick auf den Weltcup weder das Land noch den Kontinent zu erwähnen, auf dem er stattfand. Ich erwähne diese Peinlichkeit, weil sie in klassischer Weise die kognitiven Dissonanzen im Blick auf Afrika zeigt: Gute Nachrichten passen einfach nicht in die eurozentrischen Klischees. Wie eh und je dominieren die negativen Schlagzeilen über Afrika, die Berichte über Kriege und Hungersnöte, Armut und Aids. Dass der Kontinent aufs Ganze gesehen im vergangenen Jahrzehnt friedlicher, demokratischer und wohlhabender geworden ist, will niemand wahrhaben.

Auf Lesereisen muss ich mir gelegentlich denn Vorwurf anhören, dass auch ich zumeist nur bad news verbreiten würde. Afrophile Zeitgenossen, die sich für die einzig wahren Freunde Afrikas halten, betrachten uns Auslandskorrespondenten als eine Art postmoderne Kannibalen, die sich nicht viel anders verhalten als weiland die Kolonialherren, nur dass wir nicht Elfenbein, Tropenholz, Diamanten oder Kautschuk plündern, sondern Bilder und Informationen, die das Image vom »verlorenen Erdteil« bestätigen sollen. Zugegeben, es wird viel zu wenig über das andere Afrika berichtet, über das derzeitige Wirtschaftswunder, die Hoffnungsträger, die Fortschritte, die Errungenschaften. Das liegt an einer eindimensionalen Medienindustrie, die solche Geschichten unverkäuflich und langweilig findet, aber auch an einem Publikum, das sie gar nicht lesen will. Vor allem in Deutschland, das sich am liebsten mit sich selbst beschäftigt, schwindet das Interesse an Afrika, nur noch eine winzige Minderheit ist über die Vorgänge auf dem Nachbarkontinent informiert. In der deutschen Außenpolitik ist er zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken, der letzte namhafte Afrika-Politiker war Ex-Bundespräsident Horst Köhler. Von ihm ist ein denkwürdiger Satz überliefert: »Für mich entscheidet sich unsere Menschlichkeit am Schicksal Afrikas.«

Umgekehrt wenden sich auch die Afrikaner zusehends von Deutschland, von Europa, vom transatlantischen Westen ab. Ihre wirtschaftliche Abhängigkeit konnten sie durch neue Allianzen und Handelspartner lockern; hierzu zählen nicht nur China, sondern auch Indien, Brasilien, Russland, die Golfstaaten und Schwellenländer wie Malaysia oder die Türkei. Politisch verliert das Modell der liberalen Demokratie an Attraktivität, die Machteliten orientieren sich infolge der geopolitischen Gewichtsverschiebungen stärker an den Entwicklungsdiktaturen Asiens. Zugleich schauen sie mit großem Unbehagen auf die Volksaufstände, welche die autoritären Regime in Nordafrika hinwegfegten. Die demokratischen Kräfte aber beflügelt der Arabische Frühling, und dank einer ungeahnten Revolution in der Informations- und Kommunikationstechnologie sind sie kontinental und international vernetzt und wissen heute viel mehr über die Geschehnisse jenseits von Afrika. Auch kulturell suchen die Afrikaner nach anderen Leitbildern, die Hegemonie des Westens, seine Deutungsmacht, sein imperialer Werteuniversalismus erodieren; das Meinungsmonopol wurde durch globale Sender wie CCTV aus China oder Al Jazeera aus Arabien ohnehin schon durchbrochen.

All diese Umwälzungen geschahen im vergangenen Dezennium, es gibt also viel nachzutragen, seit die Erstausgabe von Ach, Afrika im Jahr 2003 erschien. Ich habe einige Abschnitte entsprechend ergänzt und aktualisiert und ein neues Schlusskapitel hinzugefügt. Es hätte allerdings den Rahmen dieses Buches gesprengt, wenn ich alle maßgeblichen Veränderungen in den einzelnen Ländern und Regionen in extenso abgehandelt hätte. So musste es am Ende bei einem kursorischen Rückblick bleiben.

Man kann Afrika, diesem großen, widersprüchlichen, faszinierenden Kontinent, niemals gerecht werden, aber man kann ihn anders betrachten: kritisch, ohne ihn zu verdammen, optimistisch, ohne ihn zu verklären. Vielleicht ist das der Grund, warum sich so viele Leser in Ach, Afrika wiedergefunden haben. Sie sehen ihren Zweifel und ihre Zerrissenheit ebenso bestätigt wie ihre unerschütterliche Zuneigung. Sie kennen das Wechselbad der Gefühle, in das uns dieser Erdteil taucht. Er kann uns am Abend die Hoffnung rauben und am Morgen wieder Zuversicht schenken. Er ist launisch und flatterhaft wie der bunte Drachen auf der Titelseite des Economist, wir fragen uns, ob dieses zerbrechliche Fluggerät in der Luft bleiben oder schon bald wieder abstürzen wird. Afrika macht uns oft ratlos und manchmal wütend, es weist uns, wenn wir nicht mehr weiterwissen, neue Wege. Aber kaum glauben wir, etwas verstanden zu haben, gibt es uns das nächste Rätsel auf. Es geht uns in Afrika wie unter dem Torbogen, den der altrömische Gott Janus bewacht. Wir treten hindurch und sind betrübt. Dann gehen wir wieder zurück und sind beglückt. Und nun, liebe Leserin, lieber Leser, folgen Sie mir einfach durch diesen Torbogen!

Bartholomäus Grill Kapstadt, im Sommer 2012

Wer heilt, hat recht: Buschklinik in Bamenda, Kamerun

Im afrikanischen Wechselbad Annäherungen an einen fragilen Kontinent

WELCHEN WEG SOLLEN WIR NEHMEN? Den nach links oder den nach rechts? Oder doch den in der Mitte? Alle Wege sehen gleich aus. Ratlos stehen wir an der Gabelung zwischen Lisala und Gemena, irgendwo im Herzen des Kongobeckens, in einem unermesslichen Waldmeer, das von namenlosen Flüssen durchädert wird.

Wir sind zu fünft in unserer Reisegesellschaft. Adam, der Besitzer des Geländewagens, wohnhaft in Tansania, sein kongolesischer Chauffeur, der behauptet, jede Ecke seines Landes zu kennen, der französische Fotograf Pascal Maître, ein Marabut, ein heiliger Mann aus dem Tschad, der kein Wort sagt und immerzu sardonisch grinst, und, neben meiner Wenigkeit, noch eine hübsche Strahlenschildkröte, die dem Fahrzeughalter gehört. Unser Ziel, Bangui, die Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik, ist noch weit entfernt. Seit frühmorgens um sechs sind wir unterwegs und haben bis hierher knapp 200 Kilometer geschafft. Ungefähr 17 Kilometer pro Stunde. Die Straße, wenn man sie so nennen will, besteht aus Myriaden von Schlaglöchern, Schlammrillen, Kratern und Wasserlachen, die stellenweise zur Größe von Fischweihern angeschwollen sind; sie gleicht einem grünen Tunnel, der schier endlos durch den Urwald mäandert. Wir fahren in dämmrigem Licht und sehen kein Stückchen Himmelsblau. Drei Radfahrer, ein Bierlastwagen, zwei Schlangen – das sind die einzigen Begegnungen des heutigen Tages. Es ist schwül und heiß, die Luft liegt wie eine feuchte Decke auf der Haut. Man schwitzt, der Staub verklebt die Augen, das lauwarme Wasser geht zur Neige. An jeder Kreuzung, jeder Abzweigung, jeder Wegzwille die gleiche Frage: Wohin sollen wir uns wenden? Die Landkarte gibt keine Auskunft, Wegweiser existieren nicht, der Chauffeur ist mit seinem Latein am Ende. Weit und breit findet sich kein Mensch, den wir fragen könnten. Jede Fehlentscheidung kann Tage kosten, denn die Pfade verlieren sich im Wald, enden an einem Sumpf oder stoßen auf einen unüberwindlichen Fluss. Sie führen ins Nichts oder genauer: in das, was wir für das Nichts halten.

So wie im kongolesischen Urwald erging es mir oft in Afrika. Die Wegscheide ist ein Sinnbild der Orientierungslosigkeit: Ich fühlte mich wie ein Elementarteilchen, das durch einen riesigen Kosmos treibt. Ich kam zum ersten Mal in ein großes Land, nach Nigeria, Angola oder in den Sudan, und fragte mich: Wo anfangen? Wie einen Überblick gewinnen, wo ich doch nur ein paar Splitterchen vor Augen bekommen, nur mit einem Dutzend Leute sprechen, zwei, drei Orte besuchen werde? Ich sah ein Ritual, ein Symbol, eine Geste, hörte eine Geschichte, erlebte eine Begebenheit und konnte das Wahrgenommene nicht einordnen oder begreifen. Es fehlten die historischen Kenntnisse, der religionssoziologische Hintergrund, das ethnografische Referenzsystem. Da stand ich dann und tat, was ein kluger Kopf einmal »hermeneutischen Kolonialismus« genannt hat: interpretieren, hineindeuten, spekulieren. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass dabei oft Zerrbilder, Wunschvorstellungen oder Projektionen entstehen, und wir müssen zunächst über uns selber reden, über die Fallstricke der Wahrnehmung und über die Interessen, die unsere Erkenntnisse leiten. Aber ich will dem ersten Kapitel des Buches nicht vorgreifen.

Eine Landmasse, in der Westeuropa zehn Mal Platz fände, 800 Millionen Menschen, vielleicht 900 Millionen oder noch mehr, fünfzig Staaten, Tausende von großen Völkern und kleinen Ethnien, Kulturen und Religionen – ist es nicht vermessen, sich ein Urteil über diesen Erdteil zu erlauben? Und muss es nicht geradezu anmaßend wirken, wenn wir über das »Wesen« der Afrikaner reden und keine einzige ihrer 2000 Sprachen sprechen? Es ist anmaßend – auch wenn man sich seit dreißig Jahren mit ihrem Kontinent beschäftigt. Um also gleich an dieser Stelle falschen Erwartungen vorzubeugen: Dies ist kein enzyklopädisches Werk, keine Monografie über Afrika, sondern die Rückschau eines Korrespondenten, der seit 1980 versucht, diesen Kontinent zu verstehen. Es sind Depeschen aus einer Welt der Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche, Extreme und Enigmata; Momentaufnahmen von einem rauen und sanften, brutalen und feinfühligen, niederschmetternden und beglückenden Erdteil; Sequenzen aus einem schwer lesbaren Text, der immer wieder vor den Augen verschwimmt und sich in der Mannigfaltigkeit afrikanischer Länder und Landschaften, Völker und Kulturen, Menschen und Schicksale, Sprachen und Sitten, Geister und Götter auflöst. Am Ende steht ein unvollständiges Mosaik. Es ist mein Bild von Afrika.

Die weißen Flecken und Unschärfen auf diesem Bild haben mich am Anfang meiner Jahre in Afrika oft gewurmt. Das änderte sich, als ich das Tagebuch von Michel Leiris entdeckte. Der französische Literat hatte an der Dakar-Dschibuti-Expedition des berühmten Ethnologen Marcel Griaule teilgenommen. Am 5. Oktober 1931 notiert er: »Ich verzweifle daran, dass ich in nichts wirklich bis auf den Grund einzudringen vermag.« Der Poet Leiris hat sich mit dem allwissenden Forscher Griaule überworfen, weil er mit schonungsloser Offenheit die Grenzen der völkerkundlichen Erkenntnis beschreibt. Der Dichter will eintauchen in die »ursprüngliche Mentalität« und muss schließlich feststellen, dass er nur ein Afrique fantôme erlebt und ein Gefangener des eurozentrischen Blicks bleibt. Wir können uns nicht selber entfliehen. Die Bekenntnisse des Michel Leiris waren ein erhellender Trost.

Wie könnten wir zum Beispiel verstehen, was in der kleinen Buschklinik von Bâ Tadoh Fomantum vor sich geht? Fomantum ist ein traditioneller Heiler, ein Medizinmann, und seine Wirkstätte liegt im Wald hinter der Stadt Bamenda in Kamerun. Was will uns das merkwürdige Holzschild am Eingang bedeuten, auf dem wir eine Schlange mit Menschenkopf sehen? Sollen wir ernst bleiben, wenn der Wunderdoktor sagt, er müsse erst einmal prüfen, ob wir böse Geister mit uns führen? Wenn er androht, dass uns, falls dem so sei, Killerbienen und Giftnattern töten würden und auf den Fotografien nur Blut zu sehen wäre? Fomantum streut Erde, schaut ins Feuer, sprenkelt Wasser. Wir bestehen die Prüfung. Aber dann gehen die Fragen weiter. Muss diese schmutzige, teerartige Masse, die der Meister in die schwärende Wunde am Unterschenkel eines jungen Mannes kleistert, nicht eine fürchterliche Infektion auslösen? Nein, versichert der Patient, es werde von Tag zu Tag besser; er sei hier, weil man ihm im Krankenhaus von Bamenda nicht mehr habe helfen können. Das leuchtet uns noch halbwegs ein. Aber was soll die seltsame Tortur auf dem Vorplatz? Warum sitzt die alte Frau, gefesselt zwischen zwei Speeren, in einem Kreis von Holzscheiten? »Hexen und Zauberer haben sie irre gemacht«, erklärt Fomantum, gießt Spiritus über die Scheite und zündet sie an. Ein Flammenring lodert um die Patientin. Gelähmt vor Angst starrt sie ins Feuer. Sie zittert, schließt die Augen, betet. Oder dort hinten, ebenso rätselhaft, aber nicht so martialisch, die nächste Behandlungsszene: vier Frauen, nackt und reglos. Helferinnen haben sie am ganzen Körper mit Lehm eingeschmiert. Fomantum beugt sich zu ihnen hinab, murmelt esoterische Formeln und drückt Schilfruten in ihre Hände. Zwei Stunden müssen sie in dieser Haltung verharren, jeden Tag, »bis die Besessenheit aus ihnen fährt«.

Alles nur Mummenschanz? Afrikanische Quacksalberei? In Bamenda erzählt man von den sensationellen Heilerfolgen dieses Mannes. Die Menschen fürchten und verehren ihn. Wenn Schulmediziner mit ihrem Latein am Ende sind, suchen sie seinen Rat. Manchmal schicken sie scheinbar hoffnungslose Fälle zu ihm in den Wald. Das Gerücht, er könne auch Aids kurieren, weist Fomantum allerdings entschieden von sich. »Gegen diese Viren hat niemand ein Rezept.« Wir glauben, einen studierten Weißkittel reden zu hören. Im nächsten Moment führt er uns wieder an die Pforten eines Reiches, das von ätherischen Kräften und kryptischen Gesetzen durchwaltet wird. Es liegt jenseits unserer rationalen Welt, aber wenn wir die Sache vom Ergebnis her betrachten, gilt die alte Medizinerformel »Wer heilt, hat Recht.« Ich erzähle diese Geschichte, weil der Medizinmann in gewisser Weise auch mich geheilt hat. Oder sagen wir: Er hat mir den abendländischen Erkenntniszwang ausgetrieben, den Zwang, alles gedanklich durchdringen und sezieren zu müssen. In Afrika lernt man, mit Fragezeichen zu leben. Man erkennt, was man nicht erkennen kann. Und wird im Laufe der Jahre behutsamer, vorsichtiger, vielleicht auch gnädiger in seinen Urteilen über diesen Kontinent.

*

Ein kleines, fröhliches Negerlein – mein Archetypus von Afrika – stieg aus einem Malbuch. Ich malte das Negerlein aus, gelb die Schnabelschuhe, froschgrün die Pluderhose, himbeerrot den Fes auf seinem Kopf. Als ich des Lesens kundig war, entdeckte ich in einer Holzkiste auf dem Dachboden das Buch Unter Wilden und Seeräubern von Ludwig Foehse. Es enthielt Geschichten aus dem Negerreich Kilema und Bilder von wilden Kriegern, die mit Speeren durch den Busch liefen, von Krokodilen im Mangrovensumpf, von tropenbehelmten Kolonialisten in weißem Kattun. Eine Szene erfüllte mich mit großer Furcht: Ludwig, der wackere Sohn des Baumwollpflanzers, sucht mit dem Fernrohr den Rand des Dschungels ab und sieht, wie Buschiri, der Araberhäuptling und Sklavenjäger, einem Missionar die Ohren abschneidet und mit einer riesigen Keule den Schädel eines wachsbleichen Kindes zertrümmert. »Ach, wenn die Weißen tot und alles zerstört wäre, dann, ja dann dürften sie wieder faulenzen, und das hieß bei ihnen glücklich sein«, seufzt der Erzähler. Er porträtiert natürlich auch folgsame und fleißige Eingeborene wie Sam, den »treuen Neger von Bagamoyo«, der sich gegen die Revolte seiner blutrünstigen Brüder stellt. Nicht alle Mohren haben eine schwarze Seele.

»Weihnachten 1940« stand vorne im Buch. Ein Geschenk meines Großvaters an meinen Vater. Der alte Grill konnte es nie verwinden, dass dem Deutschen Reich nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonien weggenommen worden waren. Er schimpfte wie viele seiner Nazi-Gefährten in der Weimarer Zeit über den »Schandfrieden von Versailles« und über die »Kolonialschuldlüge«. Zurück die deutschen Ostgebiete! Wir wollen unsere Kolonien wiederhaben! Der Revisionismus sollte auch die nationalsozialistische Barbarei überdauern, und so fragte mein Vater mich, wie ihn sein Vater gefragt hatte: Welcher ist der höchste Berg Deutschlands? Die Zugspitze? I wo. Der Großglockner? Auch nicht. Es ist der Kilimandscharo in Deutsch-Ostafrika, und ich lernte, seine beiden Gipfel, den Kibo und den Mawenzi, zu benennen. Winnetou, der edle Apache, war der größte Held meiner Kindheit. Aber Afrika, das lockte noch viel mehr als das Amerika der Indianer. Der Kongo! Timbuktu! Sansibar! Die sagenumwobenen Mondberge! Das waren die Projektionsflächen allen kindlichen Fernwehs, die Inbegriffe der Fremde, der Urnatur, der exotischen Gegenwelt. Und geradezu zwangsläufig sollte mich im Jahre 1980 die erste Reise nach Afrika in das Land unter dem Kilimandscharo führen. Meine Motive waren freilich ganz andere als die der Vorväter: ein bisschen Abenteuer und viel Solidarität mit den »Verdammten dieser Erde«.

Aus dem Staat, der unterdessen Tansania hieß, wurden revolutionäre Dinge berichtet. Wir hörten von einem afrikanischen Sozialismus, von einem Dritten Weg zwischen dem repressiven Sowjetkommunismus und dem räuberischen Kapitalismus. Wir studierten die Texte von Präsident Julius Nyerere, der ehrfürchtig mwalimu genannt wurde, großer Lehrer. Die Schlüsselbegriffe seiner Philosophie hatten den Klang von politischen Mantras: selfreliance, mit eigenen Kräften die Unterentwicklung überwinden, und ujamaa, gemeinsam leben und arbeiten, eine politische Maxime, welche die Traditionen der Dorfgemeinschaft mit einem modernen Genossenschaftswesen verband. Dort unten brannte uhuru, die Fackel der Freiheit, dort mussten wir hin.

Wir, das waren neun junge Leute, Dritte-Welt-Bewegte, die in Longido, einem kleinen Nest nahe der kenianischen Grenze, von der Theorie zur Praxis schreiten und das tansanische Experiment unterstützen wollten. Unser Partner im Dorf war Estomihi Mollel, ein Masai, der in Australien Soziologie studiert und sich für das kleine Longido große Pläne ausgedacht hatte: einen Staudamm, ein alternatives Tourismusprojekt und ein Dorfgemeinschaftshaus, bei dessen Bau wir helfen sollten. Wir machten uns also daran, Lehmziegel zu produzieren. Schon am zweiten Abend entbrannte eine lange Diskussion. Dürfen wir an der Wasserstelle hinter dem Haus duschen oder war das ein europäischer Luxus, der ein knappes Gut verschwendete? Die Streitfrage erledigte sich, nachdem wir feststellten, dass das Wasser an der Viehtränke ununterbrochen lief, ohne dass irgendein Dorfbewohner daran Anstoß genommen hätte. Es war die erste Desillusionierung. Auch der anfängliche Enthusiasmus sollte bald schwinden, denn es erwies sich als ziemlich mühseliges Geschäft, in der Gluthitze der Savanne Lehmziegel zu backen, und die Qualität unserer Produkte ließ zu wünschen übrig. Überdies half uns kein einziger Einheimischer beim Ziegelmachen. Das Ergebnis unserer Mühe war ein schiefer Hühnerstall für Esto und seine Großfamilie. Das Dorfgemeinschaftshaus aber blieb eine fixe Idee.

Anschließend reisten wir durchs Land, besichtigten Projekte, ließen uns von Funktionären die Probleme auseinandersetzen. Und sahen vor lauter Solidarität die Realität nicht mehr, den allgegenwärtigen Mangel, die Misswirtschaft und Korruption, die repressiven Tendenzen. Schuld an den weniger erfreulichen Erscheinungen waren stets finstere Außenmächte, der Kolonialismus und seine Spätfolgen, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, die obstruktive Haltung des Westens. Die schlechten Weißen und die guten Schwarzen – die Misere Afrikas, daran gab es für mich nicht den geringsten Zweifel, war zu 80 Prozent durch exogene Faktoren verursacht. Heute sehe ich es genau umgekehrt: Die Afrikaner selber, namentlich die politischen Eliten, tragen die Hauptverantwortung für den maroden Zustand ihres Kontinents. Als ich 15 Jahre später als Journalist nach Tansania zurückkehrte und ein Modelldorf besuchte, war von ujamaa nicht mehr viel zu spüren. Ich sah brachliegende Nutzflächen, einstürzende Scheuern, grasüberwucherte Maschinen. Das Dorf Kwalukonge – ein Spiegel von Tansania: drei Jahrzehnte unabhängig, friedlich, verschlafen, heruntergewirtschaftet, mit Entwicklungshilfe überschüttet wie wenige andere Länder und trotzdem kein bisschen besser dran als zum Ende der Kolonialzeit. Die Utopie des Aufbruchs war an der Wirklichkeit zerschellt. Rot leuchtete nur noch die Laterit-Erde. Und meinen Freund Esto Mollel hatte ein tragisches Schicksal ereilt; er lag querschnittsgelähmt in seinem Häuschen in Longido – die Folge eines bösen Sturzes.

Bei meinem dritten Besuch in Longido, im Spätherbst 2001, war Esto nicht mehr. Er hatte bis zuletzt an seinem Projekt gearbeitet, ließ sich auf seinem klapprigen Toyota-Pritschenwagen durch den Busch karren, trommelte eine Helferschar zusammen, suchte Sponsoren, sammelte Spenden. Am Eingang des Dorfes stand seine Hinterlassenschaft: ein kleines Informationszentrum über die Masai und den Untergang ihrer Hirtenkultur. Junge Männer und Frauen verkauften Kalebassen, fertigten Schmuck aus Glasperlen oder boten Lehrwanderungen zu den bomas an, in denen die Masai angeblich noch wie ihre Vorväter leben. Estos kühne Visionen hatten sich nicht realisiert, aber da waren immerhin ein paar Arbeitsplätze und eine Handvoll selbstbewusster junger Leute. Ich ging an sein Grab im Schatten der großen Schirmakazie, unter der wir einst unsere misslungenen Lehmziegel gebacken hatten. Dieser Mann hat meine Affäre mit Afrika eingefädelt. Er verkörpert den unerschütterlichen Optimismus der Afrikaner, ihren Humor und ihre Schlitzohrigkeit, ihren Müßiggang und die Kunst, mit einfachsten Mitteln zu überleben. Esto Mollel war mein mwalimu, mein erster afrikanischer Lehrer. Auch seinem Andenken ist dieses Buch gewidmet.

*

Dürre, Hunger und Seuchen, Krieg und Massenelend – will das denn in Afrika nie aufhören? Es gibt Tage auf diesem Erdteil, da wird man unweigerlich vom Pessimismus befallen, ja von einer lähmenden Depression. Man fährt durch die endlosen Slums in der Ebene vor Kapstadt. Verläuft sich in einem Bidonville von Dakar oder in einem Flüchtlingslager im Kongo. Sieht in Malawi ein Kind am Hunger sterben, das so alt ist wie der eigene Sohn. Steht fassungslos an einem Massengrab in Ruanda. Trifft in Sierra Leone einen Mann, dem Rebellen beide Arme abgehackt haben. Man möchte verzweifeln an der unsäglichen Grausamkeit dieses Kontinents und kann dem Leid Afrikas und dem der Afrikaner nichts mehr entgegensetzen. Man kapituliert. Und hört das Geraune der Untergangspropheten. Africa nigra, verfluchter, verlorener Kontinent. Schwarzes Unheil.

Dann gibt es die anderen Tage, Tage, die heiter und hoffnungsfroh stimmen, weil sie die unbändige Lebenslust und verschwenderische Schönheit des Kontinents offenbaren. Wir haben das Glück, bei den Dogon den Tanz der Masken zu erleben oder eine prächtige Initiationsfeier der Bamiléké. Beobachten, wie sich ein gewöhnlicher Urnengang in Mosambik in ein Volksfest der Demokratie verwandelt. Hören von einem Regenmacher in Guinea die verrücktesten Geschichten über die Wettergötter. Begreifen in einer schwülen Nacht in Kinshasa, was Tanzen wirklich bedeutet. Bewundern allerorten die Kreativität der Armut, den Erfindungsreichtum der Menschen. Lernen ihre Langsamkeit, ihren unerschütterlichen Gleichmut schätzen, den afrikanischen Amor Fati, den Alltagswitz, die Lust am Palaver, am Spiel, das Lachen und Lächeln, das über die Not triumphiert. Oft kommt es uns vor, als ob gerade die Kargheit und der Mangel die größte Schönheit hervorbrächten. In der monotonen Graubräune der Halbwüste sehen wir die fröhlichsten Kleiderfarben, im dunklen Regenwald die wundervollsten Skulpturen, im langweiligsten Dorf die grazilsten Tanzfiguren.

Die Schönheit kann allerdings auch täuschen. Wir stehen im milchigen Frühlicht, die ersten Sonnenstrahlen fallen in die Fluchten eines Palmenhains, handtellergroße Falter steigen aus dem Gras – eine Szene, so unwirklich und zauberhaft wie in einem Gemälde von Antoine Watteau. Denken wir. Aber der Nebel weicht, es wird hell und heiß, zwischen den Baumreihen entdecken wir Männer mit Macheten. Es sind Lohnsklaven, und das Idyll ist eine Plantage. Die Kokospalmen wirken jetzt wie Soldaten, die getrimmt wurden für die Erzeugerschlacht auf dem Weltmarkt.

Oft ärgern wir uns auch über die Afrikaner, über die Impertinenz von Amtspersonen, über die Allgegenwart von Abzockern und korrupten Beamten, über die Grobheit und Brutalität in den Metropolen, über die Faulheit, die Schlampigkeit und die unbeschreibliche Gleichgültigkeit. Wir behausen ein schäbiges Zimmer, Wasser tropft durch die Decke, die Toilette ist zugeschissen, und am Morgen erfrecht sich der Hotelmanager, den Preis zu verdoppeln, weil über Nacht angeblich der Umtauschkurs gestiegen ist. Es kommt zu einem lautstarken Disput, und wir sind froh, dass uns niemand dabei beobachtet, denn sonst könnten wir für üble Rassisten gehalten werden. Aber irgendwann ist das Problem gelöst. Wir warten in der Frühstücksbaracke, Tropenregen hämmert auf das Blechdach, nach einer Stunde des Wartens sind wir glücklich, weil ein Spiegelei kommt und eine Tasse braunes Wasser, das hier Kaffee genannt wird. Unser Blick fällt auf das kleine Aquarium neben der Anrichte. Es ist ausgetrocknet, auf dem Grund liegen Glühbirnen. Wir müssen hellauf lachen.

Afrika ist ein Kontinent, der nicht zur Ruhe kommt und zugleich in ewiger Starre gefangen scheint, der sich irgendwo auf dem Weg zwischen Tradition und Moderne befindet und am Rande dieses Weges verwirrte Menschen zurücklässt. Wir erleben den Stupor der Provinz, das immer gleiche, bewegungslose Dorf, die Stille, die der Krieg gebiert, und die verheerende Aids-Pandemie. Wir sehen andererseits gewaltige Bewegungen, Millionen von Entwurzelten, die von irgendwo nach nirgendwo irren, Völkerwanderungen vom Land in die großen Städte, verrohte Milizen und Horden von Kindersoldaten, die ganze Staaten terrorisieren. Im Bergland von Abessinien begegnete mir einmal ein Heer von Kriegsgefangenen, hunderttausend Männer in Lumpen, hunderttausend leere, schicksalsergebene Gesichter – es war wie eine surreale Erscheinung, die meine Generation nur aus den Geschichtsbüchern über den Zweiten Weltkrieg kennt.

Manchmal möchte man glauben, der Kontinent führe ein Doppelleben, ein verdammtes, über das wir Korrespondenten berichten, und ein gesegnetes, das wir beschweigen. Aber Afrika ist immer beides, es schleudert uns wie auf einer Achterbahn der Gefühle zwischen den Extremen hin und her, und manchmal sind diese Extreme nur ein paar Minuten oder Kilometer voneinander entfernt. Gerade haben wir noch Kanenge inspiziert, ein zerstörtes Viertel der burundischen Hauptstadt Bujumbura; wir sahen die Ergebnisse einer »ethnischen Säuberung«, niedergebrannte Häuser, verwüstete Gärten, menschenleere Straßen, und um ein Haar hätten uns Tutsi-Soldaten, die ihr Vernichtungswerk vor fremden Blicken abschirmen, zusammen mit unserem Fahrer, einem Angehörigen des Mehrheitsvolkes der Hutu, festgenommen. Nun sitzen wir erleichtert in einer Bar und hören ein Lied, das von einer zauberhaften Stimme gesungen wird, einer Stimme, die in dieser unseligen Stadt geradezu erlösend klingt. Die Stimme gehört Khadja Nin, einer Tutsi, einem Star in Afrika. In Europa ist sie nur Liebhabern afrikanischer Popmusik bekannt, und wer sie live erlebt hat, kann sich gar nicht vorstellen, dass sie aus dem hasszerfressenen Burundi kommt. Khadja Nin und ihre Lehrerin Miriam Makeba, Angelique Kidjo, Dorothy Masuka, Cesaria Evora, Sathima Bea Benjamin oder Lebo Mathosa – das ist die Sinnlichkeit und Lust des Kontinents. Aber wenn wir lange genug in der Bar von Bujumbura sitzen bleiben, dann kehrt der Horror zurück. An diesem Tag nimmt er die Gestalt eines Zahntechnikers an, eines Tutsi, der erzählt, dass er auch für einen minderwertigen Hutu eine Goldkrone anfertigen würde – man könne sie ja wieder herausreißen, wenn die Stunde der Abrechnung gekommen sei.

Andauernd sind wir diesem Pendelschlag der Empfindungen ausgesetzt. Abscheulich und traumschön. Gewalttätig und friedfertig. Bösartig und gutmütig. Lebensprall und selbstzerstörerisch. Geheimnisvoll und banal. Offenherzig und heimtückisch. Man wird einwenden, dass uns derartige Gegensätze auf jedem Kontinent begegnen. Aber auf keinem sind sie so scharf ausgeprägt wie in Afrika. Nirgendwo werden die Wunden so tief geschlagen, nirgendwo verheilen sie so schnell, lehrt der Volksmund. Die Kraft des Vergebens und der Mut zur Versöhnung – das sind vielleicht die wichtigsten Lektionen, die wir von Afrika lernen können.

Die Fahrt in das verbotene Viertel von Bujumbura war lebensgefährlich für den neugierigen Korrespondenten, aber noch viel mehr für den Taxifahrer, der zufällig zur »falschen« Ethnie gehörte. Er zitterte am ganzen Leib, denn beinahe hätten uns die misstrauischen Soldaten an der Straßensperre aus dem Fahrzeug gezerrt, und es wäre uns in ihrem Gewahrsam vermutlich ziemlich übel ergangen. Solche prekären Momente lassen sich in den Kriegs- und Krisengebieten Afrikas nicht immer vermeiden. Man schaut in den Lauf einer Maschinenpistole, wird umringt von zornigen Milizionären oder vom aufgepeitschten Mob, gerät in einen Schusswechsel und weiß nicht, ob man selber das Ziel ist. Der Berichterstatter wird verdächtigt, ein Agent oder Schnüffler zu sein, er ist von Berufs wegen ein unliebsamer Augenzeuge, und wie man in Afrika mit solchen Leuten umgeht, zeigt die Zahl der Kollegen, die in den Gefängnissen darben. Manchmal schützt uns die weiße Haut vor Übergriffen, manchmal wird sie zum Nachteil, denn wir können uns nicht verstecken, unser bleiches Gesicht fällt überall auf. In Afrika werden wir uns jeden Tag unseres Weißseins bewusst.

Oyibo! rufen uns die Kinder im nigerianischen Yoruba-Land nach, bei den Fon in Benin hören wir das Wort jovo, in Kisuaheli nennt man uns mzungu und in Lingala, der Hauptsprache des Kongo, sind wir mundele. Es bedeutet überall dasselbe: ein Weißer, ein Fremder, eine Sensation. Warum besucht er ausgerechnet uns? Was führt er im Schilde? Aber schon nach ein paar Sätzen weicht der Argwohn einer überwältigenden Freundlichkeit und Gastfreundschaft, die wir in einem deutschen Dorf schwerlich fänden und schon gleich gar nicht, wenn unsere Haut dunkel wäre. Wir werden in eine Hütte gebeten, trinken Hirsebier oder Palmwein, das frugale Nachtessen wird geteilt, ein Schlaflager angeboten. Wir sind gut aufgehoben in Afrika. Es schenkt uns Urvertrauen.

Ich habe in all den Jahren nur ganz selten Furcht oder richtige Angst empfunden. Sie befallen den Korrespondenten nur in Extremsituationen, wenn er zwischen die Fronten eines Bürgerkriegs gerät, wenn eine Revolte ausbricht und niemand weiß, wer gerade gegen wen kämpft. Normalerweise ist er mit den Unberechenbarkeiten des Alltags beschäftigt, mit Problemen der Fortbewegung, der Verständigung, der Versorgung. Er bleibt eine Woche in einem Urwaldnest stecken und kann keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Er wartet auf ein Flugzeug, das nie kommt, oder auf ein Visum, das ihm der Grenzbeamte aus unerfindlichen Gründen verweigert. Er versucht tagelang, seine Zentrale zu erreichen, aber die Telefone funktionieren nicht, und ein Handy ist mangels Funknetz so nützlich wie ein Pelzmantel in der Wüste. Er strandet irgendwo im Busch, weil der Motor des Taxis sich festgefressen hat. Er teilt seine schäbige Herberge mit Ratten, Sandflöhen, Kakerlaken oder Skorpionen und wird von Moskito-Geschwadern traktiert. Manchmal geht ihm das Wasser aus, das Essen oder, weil er krank wird, die Kraft.

»Keine Sorge«, sagte der Lastwagenfahrer, der mich nachts in einem Bergdorf in der äthiopischen Provinz Tigre absetzte, »hier kommen viele Autos vorbei.« Ich schlief in einem Ziegenstall und erwachte frühmorgens im Fieber. »Autos?« Der Dorfälteste lachte. »Die kommen hier nur selten durch.« Ich war in einem abgelegenen Nest gestrandet. Der Mann sah meinen jämmerlichen Zustand und führte mich zu einer Holzpritsche in seiner Hütte. Das Fieber kletterte auf 39 Grad, dazu kam ein schwerer Durchfall; im flüssigen Stuhl war Blut – die Anzeichen einer Amöben-Ruhr. Diese Infektion ist normalerweise kein Problem, wenn ein Arzt zur Verfügung steht; unbehandelt führt sie binnen 48 Stunden zur Dehydration, zum völligen Austrocknen des Körpers. Das nächste Hospital lag in Kassala, einer sudanesischen Stadt jenseits der Grenze. Sie war 300 Kilometer oder zwei Tagesreisen entfernt – vorausgesetzt, man verfügte über ein geländegängiges Automobil. Aber es gab überhaupt kein Fahrzeug, und die Temperatur stieg weiter. In meinen Fieberphantasien sah ich mich schon vertrocknen. Aber da war einer dieser Engel, die einem zur rechten Zeit in Afrika begegnen: der siebenjährige Enkel des Dorfältesten. Er saß auf der Kante der Pritsche, brachte Wasser, erzählte Geschichten, malte Bilder. Panzer, Maschinengewehre, Düsenbomber, Gestalten des Bürgerkrieges, die seine kindliche Vorstellungswelt besetzt hatten. Am Spätnachmittag kam er vom Wasserloch zurück und rief ein Wort, das so ähnlich klang wie kawatscha. Ein Weißer, unten am Graben! Wir brachen sofort auf. Der Knirps schleppte meinen Rucksack, ich schleppte mich hinterher. Am Wasserloch hatte zufällig Hermann Rast gemacht, ein Reporter der ARD, den ich in Khartum kennengelernt hatte. In zwei Tagen waren wir in Kassala.

In solchen Notlagen reisen wir zu uns selber. Wir setzen uns mit existenziellen Fragen auseinander, mit unseren Wünschen und Ängsten, mit der Gesundheit, dem Alter, der Zukunft. Wir sind allein auf einem großen Kontinent. Aber wir sind nie einsam. Thomas Mann hat einmal geschrieben, das Hauptingrediens aller Reiselust sei »die vibrierende Neugier nach nie erfahrener Menschlichkeit«. Diese Menschlichkeit ist der kostbarste Schatz der Afrikaner.

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Zurück in den Kongo, zur Wegscheide im Regenwald. Wir wählen, einer Eingebung des Marabuts folgend, den Abzweig nach rechts. Es ist der richtige Weg. Irgendwann tauchen die ersten Hütten von Gemena aus dem Dämmerlicht. Eine düstere, triste Stadt. Windböen treiben mehlfeinen Staub durch die unbeleuchteten Straßen. Am Rande flackern Ölfunzeln und kleine Feuer. Die erste Herberge ist voll, die zweite hat vor Jahren zugemacht. Keine Tankstelle, keine Unterkunft, kein Abendbrot. Unsere Mägen knurren. Seit drei Tagen haben wir nichts Vernünftiges gegessen. Ein paar Biskuits, zwei, drei Kochbananen, ein bisschen Trockenfisch, das war alles. Sollen wir die Schildkröte, unsere treue Begleiterin, verspeisen? Niemals! Wir kaufen zwei lebende Hühner. Auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem wir sie schlachten und braten können, fallen Adam alte Freunde ein, die hier irgendwo wohnen müssen. »Es sind Glaubensbrüder. Sie werden uns aufnehmen.«

Der Hausherr, ein dicker Mann in einem himmelblauen Kaftan, empfängt uns so herzlich, als hätte er uns schon lange erwartet. Seine Frauen und Töchter decken eine lange Tafel im Innenhof, reichen Waschwasser und saubere Tücher, tragen klebrig-süßen Pfefferminztee auf. Ein paar neugierige Nachbarn gesellen sich zu uns. Woher? Wohin? Man unterhält sich. Erst über die Familien, die Zahl der Kinder, die Gesundheit, dann über die Politik des großen Mobutu Sese Seko und den erbärmlichen Zustand Gemenas. Es vergeht keine Stunde, da dampft auf dem Tisch ein Berg Reis mit Ziegenfleisch. Zwei Stunden später befinden wir uns in der Betriebswohnung des Managers einer Seifenfabrik. Hier schlaft ihr, keine Widerrede! Er bietet uns das Ehebett an, frisches Leinen wird aufgezogen, zwei Scheffel mit Waschwasser stehen bereit. Die Frau des Managers schlachtet, rupft und kocht unsere zwei Hühner, damit wir morgen eine Wegzehrung haben. Sans Souci, der jüngste Sohn, zwickt in meinen Arm, um die Farbe der Haut zu prüfen. Man trinkt noch ein lauwarmes Bier, geht zu Bett und denkt an der Schwelle von Tag und Traum: Ach, Afrika!

Frauen schleppen Feuerholz: trügerisches Idyll vor Ouagadougou, Burkina Faso

Unser innerer Kongo Die Projektionsfläche Afrika

A WIE AFRIKA. Am Anfang war nur der Name für eine unbekannte Landmasse, und deren Bewohner hatten sich noch nicht einmal selber entdeckt; sie wussten nicht, dass sie Afrikaner waren. Auf den Atlanten der Römer finden wir in den Regionen jenseits der Sahara nur den Vermerk: Hic sunt leones. Hier sind Löwen. Aber irgendwann kamen die weißen Herren und deklarierten die Landmasse zu einem Kontinent und seine dunkelhäutigen »Eingeborenen« zu Afrikanern. Afrika wurde erfunden als Objekt der Eroberung. So richtig afrikanisch wurde der Erdteil freilich erst als Objekt der Befreiung – die Afrikaner errangen im Kampf gegen die Europäer ihre kontinentale Identität. Und dennoch: Afrika als einheitliches Ganzes, das gibt es immer noch nicht. So wird es jedenfalls in Europa dargestellt. Und trifft es etwa nicht zu? Wir begegnen irgendwo im Sudan einem einfachen Bauern, der meint, Johannesburg liege in Deutschland. Wir spazieren durch Dakar und glauben, in Marseille zu sein. Wir sprechen mit einem Beamten in Südafrika, der den Unterschied zwischen Guinea, Äquatorialguinea und Guinea-Bissau so wenig kennt wie ein Beamter aus England. Dieser wie jener weiß nicht, dass im ersten Land Französisch, im zweiten Spanisch, im dritten Portugiesisch gesprochen wird. Von Harare nach Lomé fliegt man am schnellsten über London und Paris, weil der Kontinent in zwei große Sphären zerfällt, in die anglophone und die frankophone, die umständlich oder gar nicht miteinander vernetzt sind. Man möchte der Behauptung zustimmen, dass Afrika eine Fiktion oder allenfalls ein gedachtes Konglomerat von schwarzhäutigen Völkern sei. Aber nicht einmal die Lehre von den Farben ist rein, denn neben Schwarzafrika – also der subsaharischen Region ohne den Maghreb – gibt es auch Weißafrika und eine Reihe von kreolischen, mulattischen, afroasiatischen und farbigen Mischkulturen. In der Übergangszone liegen Staaten wie Mauretanien oder Sudan, in denen sich Afrika und Arabien vereinen oder bekriegen. Der Kontinent wird auch nicht durch das Phänomen zur Einheit, dass jedes Schulkind schon einmal den Namen Nelson Mandela gehört hat. Also doch: Afrika gibt es nicht?

Ich habe diesen Erdteil stets als Ganzheit empfunden, aber vielleicht ist das auch nur eine Projektion, eine Kopfgeburt des Korrespondenten, der »seinen« Kontinent als zusammenhängendes Berichtsgebiet sehen will. Doch in der enormen Vielfalt der afrikanischen Völker und Kulturen stieß ich stets auf ubiquitäre Merkmale, auf Zeichen und Stile, Kultobjekte, Werkzeuge, Sitten und Verhaltensmuster, die sich im Laufe der Jahre zu einem panafrikanischen Panorama verdichteten. Die drei Steine der Feuerstelle, die Utensilien des Alltags von der Haue bis zum Säuglingstragetuch, die Technik des Feldbaus oder des Lastentransports auf dem Kopf, die Bauweise der Hütten und die Anlage der Siedlungen, die Rolle der Ältesten und die Bedeutung der Masken, die Schöpfungsmythen, der Ahnenkult und die Fruchtbarkeitsrituale, der Aberglaube und die Zauberei, die Regenmacher und Medizinmänner, das Zeitempfinden, der Humor, die Musik und der Tanz, das Spielzeug der Kinder. All diese Elemente verbinden sich zu einem geografischen, historischen und kulturellen Kosmos, den ich Afrika nenne. Aber es bleibt ein Unterfangen, diesen Kosmos in seiner Ganzheit erfassen zu wollen, und es ist allemal einfacher zu beschreiben, was Afrika nicht ist, also zu unterscheiden zwischen dem, was wir in den Kontinent hineindeuten, und dem, was jenseits aller Projektionen steht. Projektionen sind, wie wir seit Sigmund Freud wissen, innere Bilder, die wir auf die äußere Welt werfen, Bilder, die sich aus unseren verdrängten Bedürfnissen und unerfüllten Wünschen, Obsessionen, Vorurteilen, Ängsten und Sehnsüchten zusammensetzen. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Geburt der Psychoanalyse und der Beginn des Kolonialismus, also die Erkundung der dunklen Seele und die Erforschung des dunklen Erdteils, zeitlich nicht weit auseinanderliegen: Es sind die zwei großen unbekannten, unheimlichen Kontinente, das äußere Afrika und »dieses wahre innere Afrika«, wie der Dichter Jean Paul fabuliert. Beginnen wir also bei der Arbeit des Journalisten, der heute an die Stelle des Forschungsreisenden, Missionars oder Kolonialschreibers getreten ist und maßgeblich die populären Vorstellungen prägt, die man sich jenseits von Afrika über Afrika macht.

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Stahlgewitter über Somalia. Mordbrennende Kindersoldaten. Hunger, Seuchen, Massenelend. Die Krisenreporter befinden sich im Anflug auf Mogadischu. Es sind verwegene Kerle, jung und furchtlos, die von den Heimatredaktionen in den Bürgerkrieg entsandt werden. Im Flugzeug überfliegen sie noch schnell ein paar Agenturmeldungen und Wikipedia-Weisheiten. Dann landen sie. Und betreten ein Land, das ihnen so vertraut ist wie die Nachtseite des Mondes.

Was sehen sie? Spindeldürre Gestalten, Ruinen, Gewaltexzesse. Die Menschen: eine amorphe Masse. Ihre Sprache: kehlig. Ihr Glaube: archaisch. Ihr Zorn: unbegreiflich. Eine Welt voller Bösartigkeit, beherrscht von ruchlosen Warlordsund islamistischen Terroristen. Aber da ist auch diese andere Welt, die farbenfrohen Kleider, das Lachen der Kinder, der heiße Wüstenwind, die Kamele, die Arabesken. Und vor allem die jungen Somalierinnen, die wie Modigliani-Figuren dahinschreiten. Haben sie nicht auch die überirdisch schönen Supermodels Iman und Waris Dirie hervorgebracht? Die Krisenreporter schwärmen. Ihre Blitzanalysen verblüffen all jene Landeskenner, die sich in der fein verästelten Sozialstruktur Somalias erst nach vielen Lehrjahren zurechtfinden. Da zerfällt dann eine ethnisch homogene Bevölkerung in undefinierbare Sprengel, da werden Sippen zu Clans und Clans zu Stämmen, auch wenn es in Somalia gar keine Stämme gibt. Geschenkt. Wen interessiert schon so genau, ob es Hawardle, Hawadle oder sonst wie heißt? Was wäre der Unterschied zwischen Issa und Issak? Rahanwejn – kann man den trinken? Nein, das ist auch irgendein Stamm, irgendwo in Afrika. Man stelle sich den umgekehrten Fall vor: Ein Afrikaner schreibt über Deutschland und nennt den Stamm der Schwiben einen Subclan der Frunken.

Quid novi ex Africa? Es gibt nichts Neues, nur Altbekanntes: Afrika in Agonie. Entscheidend ist die Wahrnehmung des Erdteils, nicht dessen Wirklichkeit. Gestern Haiti, heute Afghanistan, morgen Libyen. Krisenreporter streichen wie ein Wolfsrudel um den Globus. Vorneweg marschiert Christiane Amanpour von CNN, die Jeanne d’Arc des Katastrophenjournalismus, hinterdrein folgt der Rest der Weltmedien. Im Konkurrenzkampf um Einschaltquoten und Auflagen darf der Sonderberichterstatter »vor Ort« nicht fehlen. »Es gibt eine Unzahl Newcomer im professionellen Journalismus … diese Journalisten haben keine Ahnung, wo sie sich kulturell befinden, sie arbeiten ohne historisches Hintergrundwissen«, kritisiert Ryszard Kapuściński am Beispiel der Berichterstattung über Ruanda. Jeder fängt einmal an – möchte man dem Polen Kapuściński, einem der feinfühligsten Korrespondenten, die je über Afrika schrieben, entgegenhalten. Man kennt aus eigener Erfahrung die Fallstricke bei der Beurteilung eines äußerst komplizierten Landes wie Ruanda. Man erinnert sich an peinliche Fehler, die in zornigen Leserbriefen gegeißelt wurden. Und wird vorsichtiger in seinen Urteilen, weil das eigene Unwissen und Ungenügen stärker ins Bewusstsein rücken. Weil be-kannt noch lange nicht er-kannt heißt und man merkt, wie oft man selber den eigenen Projektionen auf den Leim geht.

Den Kollegen von der schnellen Eingreiftruppe scheint der Skrupel weniger zu plagen, ganz abgesehen davon, dass ihm die Zeit zu gründlicher Vorbereitung und gewissenhafter Recherche fehlt. Was auf dem »schwarzen« Erdteil außer Katastrophen geschieht, will man in Europa ohnehin nicht so genau wissen. Afrikas Anteil am Welthandel ist marginal, sein geopolitisches Gewicht wiegt nicht schwer. Das andere Afrika, das heitere, gelassene, erfinderische, ist uninteressant. Andernfalls würde man herausfinden, dass Hungersnöte nicht an der Tagesordnung sind. Oder dass es in weiten Regionen friedlicher zugeht als, sagen wir, in den Banlieues von Paris. Aber solche Nachrichten würden nicht ins präformierte Bild vom verlorenen, verzweifelten, moribunden Kontinent passen, das sich so vorzüglich verkauft. »Die Reportage soll bestätigen, was evident ist: alles läuft schlecht da unten, seit wir nicht mehr da sind«, schreibt Frantz Fanon, der Philosoph der Befreiung. Als ich 1987 zum ersten Mal im Pressetross eines Bundespräsidenten durch Afrika reiste, verging kein Tag, der nicht reichlich Belege für diese These geliefert hätte. Bei der Landung in Lagos, Nigeria, erfrechte sich ein Zollbeamter, das Gepäck zu inspizieren. »Polizeistaatsmethoden«, knurrte ein Fotograf, »aber der Schwatte weiß sowieso nicht, was er da checkt.« Er unterhielt sich mit einem Vertreter der schreibenden Zunft. Wie heißt doch gleich der Präsident hier? Banana oder so? Der Präsident hieß Babangida. Aber mit afrikanischen Namen kann man sich schon einmal vertun. Hatte nicht auch unser unvergesslicher Bundespräsident Heinrich Lübke – der offenen Sinnes für Afrika war – beim Staatsbesuch in Madagaskar den Namen der First Lady mit dem der Hauptstadt Antananarivo verwechselt?

Es mangelt keineswegs an Berichten aus Afrika. Der Erdteil ist öfter in den Schlagzeilen als Südamerika oder Australien. Und warum sollte aus europäischer Sicht einem Land wie Togo mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden als dem randständigen Portugal? Das Kardinalproblem ist nicht die Quantität, sondern die Qualität der Berichte, die Art und Weise, wie sie im Wechselspiel von Vermarktungsinteressen und Wahrnehmungsrastern zustande kommen. Gefragt ist in der Regel die oberflächliche, flinke Depesche, die Sensationsmeldung oder die impressionistische Katastrophenstory, nicht die nachdenkliche Analyse oder die gelassen erzählte Geschichte. Im globalen Infotainment wird die Ware Information in kleinen, scharfen Bissen verabreicht. Manche Medienhäuser gehen aus Kostengründen dazu über, den klassischen Korrespondenten gegen den »fliegenden Redakteur« auszutauschen. Oder gegen den VJ, den Video-Journalisten, der gleichzeitig filmt, fotografiert, schreibt und rundfunkt und nach dem Prinzip Selbstausbeutung noch preiswerter liefert. Wo immer diese Mehrzweckgeschosse aufschlagen – ihre Wirkung ist verheerend. Zum Beispiel in der kongolesischen Stadt Kikwit. Erst fiel das Ebola-Virus ein, dann die mediale Luftlandetruppe. Vermutlich produzierte sie über die unheimlichen Erreger aus dem Urwald in zwei Wochen mehr Berichte, als in zwei Jahren über den gesamten Kongo erschienen sind. Das Land, in dem die Epidemie ausbrach, seine Leute, die Politik, das Gesundheitssystem wurden in den Nebensätzen abgehakt. Es ging um den Stoff, aus dem die Urängste des Europäers sind. Beim Stichwort Afrika denkt er an Malariakranke und Aids-Tote. An Seuchen wie Cholera und Pest, die nach Mittelalter stinken. An bösartige Bakterien, die auf Injektionsnadeln und Bananenblättern, in Fischköpfen und an den Händen der Eingeborenen lauern, die mit den Moskitos fliegen oder in irgendwelchen Tümpeln gründeln. Er denkt an die tödliche, unfassliche Bedrohung, die aus den finsteren Tiefen Afrikas kriecht und via Weltverkehrsnetz die keimfreie Zivilisation des Nordens heimsucht: Afrika unterm Mikroskop, reduziert auf ein Virus. Dass am Ebola-Erreger weniger Menschen starben als bei einer durchschnittlichen Grippewelle in London, war nur in medizinischen Fachjournalen nachzulesen.

Aber mit den Zahlen und Fakten muss man es nicht so genau nehmen. Niemand kann sie überprüfen, und oft sind die Statistiken tatsächlich so verzerrt, dass ihr Aussagewert nur mehr gering ist. Wir Korrespondenten haben die Bevölkerungszahl von Nigeria lange Zeit erheblich überschätzt – um dreißig Millionen Menschen. Dann fand man heraus, dass die Bundesländer die Zahlen frisiert hatten, um höhere Zuwendungen aus dem nationalen Öltopf zu erhalten: Laut Zensus von 1988 lebten nicht 120 Millionen, sondern nur knapp 90 Millionen in Nigeria (unterdessen sollen es nahezu 160 Millionen sein). Im Zweifelsfall wird die höchstmögliche Zahl verwendet, denn sie unterfüttert das Bedrohungsszenario von der Bevölkerungsexplosion. Auch humanitäre Organisationen schrauben ihre Schätzungen von Flüchtlingen oder Hungeropfern gern nach oben – das rüttelt die Spendenmüden wach. Manchmal drückt sich in der Übertreibung die Selbstbezichtigung aus: Die Not ist so gewaltig, weil wir Afrika so schlimme Dinge angetan haben. Andererseits muss ein Mindestwert auf der Skala der Unglücke erreicht werden, damit man sie überhaupt für nachrichtentauglich hält. »Der Wert unseres Lebens wird niedrig eingestuft – auch von uns selber«, erklärte mir die kenianische Intellektuelle Wambui Mwangi während des Krieges im Kosovo. »Um eine vergleichbare Aufmerksamkeit zu erwecken, sind viele afrikanische Menschenleben nötig. In dieser Indolenz verbirgt sich etwas zutiefst Rassistisches.« Als zum Beispiel im November 2011 nach Terrorattacken der islamistischen Sekte Boko Haram im Nordosten Nigerias über hundert Tote gezählt wurden, war das der Tagesschau keine Meldung wert. »Wir brauchen 500 Tote plus, erst dann kommen die internationalen Medien«, stellte ein deutscher Diplomat in Burundi resigniert fest.

Afrika wird wie durch ein umgekehrtes Fernglas betrachtet: Das Objekt rückt in die Ferne, die Feinstrukturen werden unkenntlich. »Schreiben Sie so über Afrika!«, empfiehlt Binyavanga Wainaina den Journalisten aus Europa. »Verwenden Sie im Titel die Worte Finsternis, Trommel, Stamm … In Ihrem Text sollten sie Afrika als ein einziges Land behandeln. Es sollte heiß und staubig sein, mit … dürren Menschen, die Hunger leiden … Ihre Kinder haben Fliegen in den Augenwinkeln und Hungerbäuche … Beschreiben Sie detailliert nackte Brüste … verstümmelte Genitalien … Und Leichen … am besten: nackte, verwesende Leichen.« Dass das Gros der Korrespondenten bereitwillig den Anleitungen des kenianischen Schriftstellers folgt, belegt eine Studie von Lutz Mükke über die Afrika-Berichterstattung deutscher Leitmedien. Der an Joseph Conrads Klassiker angelehnte Titel fasst das Ergebnis zusammen: »Journalisten der Finsternis«. Der Kontinent befinde sich in einer »Dramatisierungsfalle«, schreibt Mükke. Afrika schreit. Afrika weint. Afrika stirbt. Es ist immer die gleiche Botschaft. Manches Klischee wurde so oft wiederholt, dass es Eingang in unsere Alltagssprache fand. Wenn wir ein dünnes, rachitisches Kerlchen sehen, sagen wir: Das sieht ja aus wie ein Biafra-Kind.

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Ganz unten, dem Tier am nächsten, steht der Neger. Knapp über ihm rangiert der braune, rote und gelbe Mensch, allesamt Exemplare der mongolischen Rasse. Sodann folgen die hellhäutigen Kaukasier, unterteilt in minderwertige Slawen und höherwertige Kelten, deren edelste Sorte die Germanen, insbesondere die Teutschen, sind. So klassifizierte der Göttinger Professor Christoph Meiners die Menschheit. Er sah sich im Jahre 1790 genötigt, seine Lehre von den »Racen« niederzuschreiben, alldieweil die durch die Französische Revolution aufgestachelten »Adels-Stürmer« und »hitzigen Freyheits-Freunde« immer frecher nach der Gleichheit aller Erdenbürger schrien. Und, horribile dictu, die »Neger-Freunde« wollten gar die »Sclaverey« abschaffen. Gegen derart obszöne »Aufklärerey« musste hochwissenschaftlich bewiesen werden, dass Bantus »wegen ihrer Dummheit zur Knechtschaft geboren« und »Schläge gleichsam ihre Nahrung seyen«. Das Schrumpfhirn von »Blödsinnigen«, die Geilheit des Affen, der hündische Übelgeruch. Keine Schrift, keine Historie, keine Rechenkunst. Stattdessen Kannibalismus, Vielweiberei, dumpfes Dahinvegetieren.

Derlei Erkenntnisse sollten Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain zur modernen Rassenlehre vertiefen. Sie befruchteten den kolonialen Abenteuerroman, den Missionsbericht, die Safari-Geschichte. Sie werden trivialisiert im Bilderbuch, Kinderlied oder Abzählreim (»Zehn kleine Negerlein …«). Und man pflegt sie bis zum heutigen Tage in aller Welt, besonders engagiert in deutschen Städten, wo schwarze Migranten von Neonazis totgeschlagen werden. In einem Brief, den ich von einem Herrn Karl aus Kapstadt erhielt, stand folgende Analyse: »Da sind ein paar Gene anders, da fehlen ein paar Jahrhunderte Entwicklung, und deshalb scheint der Schwarze für einige Dinge ungeeignet, wie z.B. Demokratie, geordnete Verwaltung, planendes Wirtschaften, Wissenschaft und Kunst … Ein Rassist ist jemand, der die Kaffern mehr hasst als notwendig. In diesem Sinne bin ich bestimmt kein Rassist.« Niedergeschrieben in Südafrika, drei Jahre nach dem Ende der Apartheid, zwei Jahrhunderte nach Christoph Meiners. Fürwahr, die Weltweisheiten des Professors aus Göttingen sind hochaktuell, und sie stehen in einer langen abendländischen Denktradition.

Aristoteles begründet das Recht der Griechen, über die Barbaren zu herrschen, mit deren angeborener Servilität. Er liefert gleichsam die Folie, auf die alle nachfolgenden Projektionen fallen. Beim französischen Aufklärer Montesquieu lernen wir, dass die Afrikaner faule Wilde ohne Fertigkeiten seien. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat Afrika in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte immerhin fünfzig Seiten gewidmet, obwohl es dort, wie er feststellt, eigentlich gar keine Geschichte gebe. Am Ende dekretiert er: »Wir verlassen hiermit Afrika, um späterhin seiner keine Erwähnung mehr zu tun. Denn es ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen …« Der Weltgeist habe sich nach dem Bau der Pyramiden aus Afrika verabschiedet. Man müsse, wenn man den Neger richtig auffassen wolle, abstrahieren »von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt … es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.« Der geschichtslose, tiernahe Afrikaner und der biologisch, geistig und moralisch höherwertige Europäer – Hegel gehört zu den geistigen Vätern der kolonialen Ideologie. Die Reiseberichte der Araber, die den Kontinent seit dem 8. Jahrhundert erkundet hatten, waren dem schwäbischen Universalgelehrten offenbar nicht bekannt. Sie brachten Kunde von großen blühenden Handelsreichen jenseits der Sahara. Als Ibn Battuta nach Mali kam, war er erstaunt über die Kultiviertheit der Einheimischen. »Von allen Menschen sind die Neger diejenigen, welche die Ungerechtigkeit am meisten verabscheuen.«

Der weiße Mann aber sieht sich als Krone der Schöpfung, und nicht nur Afrika wird zum Exekutionsgelände seines Allmachtwahns. Europa sei auf dem »Schweiß und den Leichen von Negern, Arabern, Indern und der gelben Rassen« gebaut worden, schreibt Frantz Fanon, ja es sei eine »Kreation der Dritten Welt«. Die Projektionen des Inferioren, Primitiven, Rückständigen sind Bausteine seiner Selbstkonstruktion als überlegene Kultur. Europas Kolonialreiche waren also keineswegs nur auf politische, ökonomische und militärische Macht gegründet, auf diktatorischen Verwaltungsapparaten, Arbeitszwang und Maxim-Maschinengewehren, sondern auch auf einem kulturimperialistischen Programm, das die Unterwerfung fremder Völker als zivilisatorische Mission verbrämte. In seiner bahnbrechenden Studie Culture and Imperialism analysiert Edward W. Said den Anteil der Kulturschaffenden, die sich gerne auf ihre künstlerische Autonomie beriefen – als wären sie gleichsam nur feuilletonistische Zaungäste beim »Great Game« der kapitalistischen Welteroberung gewesen. In Wirklichkeit, befindet Said, lieferten die Gemälde von Eugène Delacroix, die Opern von Verdi oder die Romane und Schriften von Daniel Defoe, Edmund Burke, Jane Austen, Thomas Carlyle, Honoré de Balzac, John Stuart Mill oder Rudyard Kipling den geistigen Überbau dieses Unternehmens; sie hätten jene Gefühls- und Vorstellungswelten geschaffen, welche die »Praxis des Imperiums« stützten, verfeinerten und konsolidierten. Die Dichter, Denker, Maler und Literaten marschierten im Heer der Kolonialsoldaten, Beamten, Händler und Missionare, Ethnologen und Menschenforscher, Historiker, Geografen und Philologen, Abenteuerreisenden und Glücksritter. Sie alle arbeiteten mit an jener Wahrnehmungsmatrix von der außereuropäischen Welt, jenem Imaginarium namens Afrika, das sich in den Köpfen der Europäer verfestigte. Die Afrikaner erschienen darin stets als Sklaven, Knechte, Diener, Domestiken, bestenfalls als exotische Wesen, die man öffentlich besichtigen konnte.

Carl Hagenbeck, der Begründer des Hamburger Zoos, präsentierte den staunenden Hanseaten nicht nur Tiere, sondern auch Menschen aus Afrika. In Brüssel, anlässlich der Weltausstellung 1897, wurde ein authentisches Urwalddorf nachgebaut und mit lebendem Inventar ausgestattet, mit 267 »Wilden« aus dem Kongo. Den Pygmäen Ota Benga stellte man 1906 im Tierpark des New Yorker Viertels Bronx zur Schau – im Haus der Affen. Schon in der napoleonischen Zeit werden Afrikaner auf Jahrmärkten und Freakshows vorgeführt. Das berühmteste Schaustück im schwarzen Bestiarium ist vermutlich Saartjie Baartman, eine Ureinwohnerin aus der Volksgruppe der Khoikhoi, die vom Kap der Guten Hoffnung verschleppt wurde. Am 20. September 1810 lesen die Londoner eine Anzeige in der Morning Post: »Soeben eingetroffen aus Kaffraria … Vorführung 1 pm – 5 pm, 225 Piccadilly Street. Eintritt: Zwei Shilling.« Die Frau werde in einem Käfig ausgestellt wie ein wildes Tier und vom Publikum mit Bambusstöckchen getriezt, berichtet ein Journalist der Times. Die ausladende Beckenpartie und der hypertrophe Steiß der Unglücklichen erregen besonders die Männerwelt. Saartjies Dompteur verdient gut an ihr, ehe sich ihre Spur für ein paar Jahre verliert. Im September 1814 taucht sie in Frankreich wieder auf. Als Saartjie in der Pariser Rue Neuve du Petichant No. 15 nackt tanzt, ist sie 24 Jahre jung. Knapp anderthalb Jahre später wird sie nicht mehr leben. Gleichwohl sollte sie es in Paris zu großer Popularität bringen. Man nennt sie »Hottentotten-Venus«; Vaudevilles werden geschrieben, Komödien für den Boulevard, voller Kabale und Sex.

Georges Cuvier, der prominente Naturforscher und Leibarzt von Napoleon, will die Khoikhoi untersuchen, vor allem ihren sagenhaften Vaginalschurz, aber die schamhafte »Wilde« sträubt sich und presst ihre Schenkel zusammen. Nach drei Tagen Inspektion berichtet Cuvier an die Akademie, das Objekt wirke wie eine Äffin mit Menstruationsbeschwerden; es handele sich um ein Lebewesen in der Grauzone zwischen Mensch und Tier, klassifiziert er. Afrika war in europäischen Männerphantasien stets auch eine Metapher für das bedrohliche Weib: die Negerin mit der unbezähmbaren Sexualkraft, verlockend und verschlingend, eine riesenbrüstige Wiedergängerin Brunhildens, aufgetaucht aus dem Urschlamm. Das kontinentale Weib, der weibische Kontinent musste vom Kolonialherrn niedergerungen, unterworfen, vergewaltigt werden. Ein Rückstand dieser sexistischen Projektion äußert sich in der Angst des weißen Mannes vor der Geilheit des schwarzen Mannes, im Mythos von Long Dong John, dem »Bimbo« mit dem Riesenpimmel. Der koloniale Blick begleitet selbst heutzutage noch Delegationen, die nach Afrika reisen, um Gutes zu tun. Was fällt etwa einem deutschen Minister zu den Ruinen von Great Zimbabwe ein, einem der bedeutendsten Zeugnisse einer mittelalterlichen Stadtkultur im Süden der Sahara? Er steht auf der Felsenburg und sagt: »Das wär’ doch ein schöner Biergarten hier oben, ned wahr?« »Harr, harr, harr«, lacht der Oberreporter eines bekannten Revolverblattes. Der Minister steigert sich: »Die Weiber jodeln schon!« Der Oberreporter schließt auf: »Ja genau, schwarze Kellnerinnen, oben ohne, harr, harr, harr …«

Am Neujahrstag des Jahres 1816 stirbt Saartjie Baartman, heimatlos, verzweifelt, zerfressen vom Alkohol und von der Syphilis. Der Medicus Georges Cuvier schneidet die Geschlechtsteile und das Gehirn aus ihrer Leiche und legt sie ins Formalinbad. Bis 1974 werden die Präparate im Musée de l’Homme zu Paris zur Schau gestellt, dann verstauben sie in einem Hinterzimmer. Zwanzig Jahre später, nach dem Untergang der Apartheid, verlangt Südafrika die sterblichen Überreste zurück. Die »wissenschaftlichen« Exponate in europäischen Sammlungen sind eine rassistische Beleidigung für jeden Afrikaner; in ihrem Naturglauben kommt die Seele eines Menschen erst zur Ruhe, wenn sein Körper in der Heimaterde begraben wird. Aber die Franzosen sträuben sich, sie wollen keinen Präzedenzfall schaffen. Denn die Völkerkundemuseen Europas wären schnell leer, wenn alles, was seine Forscher einst zusammengestohlen haben, zurückgegeben werden müsste. »Wir haben die Überreste von Saartjie Baartman nicht in unserer Sammlung … ich weiß nicht, was mit ihnen geschah«, versichert André Langaney. Mehr sagt der Professor der Presse zunächst nicht; er leitet seit 1987 das zuständige Laboratoire d’Anthropologie. Meine wiederholten Anfragen aus Südafrika bleiben unbeantwortet. Als ich persönlich im Musée de l’Homme am Place du Trocadéro vorspreche, lässt er sich verleugnen. Im Archiv entdecke ich eine E-Mail, die Langaney 1996 an eine amerikanische Anthropologin schickte. Die Bibliothek des Museums verfüge über keinerlei Unterlagen zu Saartjie Baartman; ihr Skelett und die fraglichen Körperteile werden seit zwanzig Jahren nicht mehr gezeigt und seien für niemanden zugänglich. Nach einem langen diplomatischen Gezerre geben die Franzosen nach. Im Sommer 2002, 186 Jahre nach ihrem Tod, werden die sterblichen Überreste von Saartjie Baartman von Paris nach Kapstadt überführt und im Lande ihrer Ahnen beerdigt.

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Aber die im Zeitalter der »Hottentotten-Venus« geprägten Zerrbilder sind unauslöschlich. In den frühen 1960er Jahren, in der Phase der Dekolonialisierung, hat sich eine ganze Alterskohorte von Afrika-Korrespondenten um ihre Auffrischung verdient gemacht. Wie sollten denn Schwarze, die nur über einen kindlichen Verstand verfügten, je unabhängige Staaten regieren können? »Der Busch überwuchert die Straßen, die Barbarei die Seelen«, dichtet etwa Hans Germani in seinem Landserbüchlein Weiße Söldner im schwarzen Land. Auch in Peter Scholl-Latours Mord am großen Fluß – eines der meistverkauften Afrika-Bücher der Nachkriegszeit – wird uns kein Klischee erspart. Da lesen wir von kriegerischen Rassen und wilden Stämmen, die kaum der Urexistenz entsprungen seien, von halb nackten, mit barbarischem Schmuck behangenen Negerinnen, von den entfesselten Mächten der Steinzeit. Als mir vor zwei Jahren in einem guineischen Flüchtlingslager eine merkwürdige Geschichte zu Ohren kam, fiel mir unwillkürlich ein Artikel des Star-Reporters ein. Man hatte am Rande des Camps ein totes Kind mit aufgeschlitztem Bauch gefunden, und über Nacht sprachen alle von Menschenfressern. Scholl-Latour berichtet von der Wiederkehr des Kannibalismus im Kongo; sein Gerücht verbreitete sich allerdings nicht in einem Flüchtlingslager, sondern unter den Lesern einer großen deutschen Tageszeitung. Was tut es schon zur Sache, dass bis heute noch keine einzige menschenfressende Kultur in Afrika entdeckt wurde? In Fachkreisen mag man Scholl-Latours Veteranenprosa belächeln, doch ihre nachhaltige Wirkung auf die Wahrnehmung des Kontinents kann niemand bestreiten. Die 2001 erschienene Afrikanische Totenklage, sein zweites Buch zum Thema, wurde wiederum zum Bestseller. Es hat sogar in antiimperialistischen Kreisen neue Leser gewonnen, weil die durchaus zutreffende Beschreibung der neokolonialen Plünderung des Kontinents mit diversen Verschwörungstheorien garniert wird.

Aber unterdessen war das Werk eines Amerikaners ins Deutsche übersetzt worden, und gegen dessen Grabgesänge unter dem Titel Jenseits von Amerika sollten sich die Totenklagen eines Scholl-Latour geradezu melancholisch ausnehmen. Sie stammen aus der Feder von Keith Richburg, der von der Washington Post an die afrikanische Front entsandt wurde und, wie er es ausdrückt, drei Jahre zwischen Leichen herumlief. Mogadischu erinnerte ihn an ein »nukleares Inferno«, Ruanda an eine »krankhafte Version der Steinzeit«. Somalia wurde zu einem Prisma, »durch das ich den Rest Afrikas sah«. Richburg hypostasiert einen Konflikt auf den ganzen Kontinent, als handele es sich hierbei um eine einzige wabernde Katastrophenmasse. So hat er in drei Jahren en passant geschafft, was unsereinem in deren dreißig nicht vergönnt ist: den »Wahnsinn Afrikas« zu begreifen.

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