Beben in uns - Jakub Małecki - E-Book

Beben in uns E-Book

Jakub Małecki

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Beschreibung

Kurz nach Kriegsende verweigert Jan Łabendowicz einer vor der Roten Armee fliehenden Deutschen seine Hilfe. Sie verflucht ihn. Wenig später bringt seine Frau einen Jungen zur Welt – weiß wie Schnee. Als bei der Explosion einer Granate aus dem Zweiten Weltkrieg seine Tochter schwere Verbrennungen erleidet, erinnert sich Bronek Gelda mit Schrecken an den Augenblick, als eine Roma seine Tochter verfluchte. Die sich schicksalhaft kreuzenden Wege der beiden Familien Łabendowicz und Gelda bettet Małecki in die Landschaften und Lebensweisen der polnischen Provinz ein und verwebt die historischen Verwerfungen im Land mit den Obsessionen und Schwächen seiner Figuren. Während im Hintergrund die ›große Geschichte‹ vorbeizieht – der Zweite Weltkrieg, die Volksrepublik Polen, die demokratische Wende – führt uns Małecki immer tiefer in die Abgründe eines Familiengeheimnisses, das erst Sebastian, der Sohn der verfluchten Kinder, lüften wird. Unaufgeregt und fern jeder Sensationslust, fein und poetisch, erzählt Małecki von Menschen, die mit sich und der Welt hadern und deren ländliches Leben vom Wechselgang der Geschichte tief beeinflusst wird. Mit dem für ihn typisch empathischen Blick lässt uns Małecki seinen Figuren nahekommen und in ein Land eintauchen, das auf ein Jahrhundert dramatischer Veränderungen zurückblickt.

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Jakub Małecki

Beben in uns

Roman

Aus dem Polnischen übersetztvon Joanna Manc

Jakub Małecki

Beben in uns

Die Veröffentlichung dieses Buches wurde durch

©Poland Translation Program unterstützt.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Dygot.

© 2015 Wydawnictwo SQN, Krakau

Erste Auflage

© 2023 by Secession Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Joanna Manc

Lektorat: Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz: Eva Mutter, Barcelona

Umschlagsbild: Nach Snow Field, Morning, Roxbury, von John La Farge, 1864

Gesetzt aus Crimson Text und Blaak

Printed in Germany

ISBN 978-3-96639-075-0

Inhalt

TEIL I: 1938 – 1969

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

TEIL II: 1969 – 1973

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

TEIL III: 1973 – 2003

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

TEIL IV: 2003 – 2004

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

TEIL V: 2004

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Er lernte sie auf demselben Feld kennen, auf dem er sechsundzwanzig Jahre später unter dem aufgefressenen Mond sterben sollte. Seit ein paar Stunden goss es in Strömen. Er ging langsam, gab acht, um die Blasen an den Füßen nicht aufzureißen. Spürte den emporsteigenden Gestank unter seinem Hemd.

Sie lag in einer seichten Pfütze. Hatte die Arme ausgebreitet. Blinzelnd schaute sie zum Himmel und fing die Tropfen mit den Lippen auf.

Er setzte sich neben sie und kramte eine durchweichte Zigarette aus der Hosentasche. Beugte sich vor, verdeckte die Kippe mit der Schulter und irgendwie gelang es ihm, sie anzuzünden. Er reichte sie ihr, sie wollte nicht. Rauchend schaute er auf ihren Körper im enganliegenden, nassen, schmutzigen Kleid. Er stellte sich ihr vor, woraufhin sie nur lächelte. Er sagte, er wohne in Piołunowo und komme von der Ernte bei seinem Onkel, der sich mal wieder betrunken habe. Und dass er noch ein ganzes Stück Wegs vor sich habe und solchen Unsinn.

Er legte sich neben sie. Am Rücken spürte er die klebrige, kühle Erde. Die scharfen Feldstoppeln schnitten ihm in die Unterarme. Im bewölkten Himmel sah er nichts Schönes. Die Wassertropfen krochen in seine Nase. Kalt. Das Mädchen schloss die Augen und so lagen sie lange da, ohne ein Wort, und wurden nass. Vier Jahre später heirateten sie.

Anfangs sprach sie kaum. Und wenn sie es schon musste, schien sie deswegen böse auf sich zu sein. In den ersten Jahren ihres gemeinsamen Lebens legte sich Janek nach dem Mittagessen manchmal hin. Mit geschlossenen Augen lauschte er, wie sie die Töpfe gegeneinanderschlug, in die Hände klatschte, um die Katzen zu vertreiben, und mit dem Feuerhaken im Ofen scharrte. Schnell gewöhnte er sich an ihr Schweigen und die Geräusche, die sein Haus erfüllten, das gar nicht seines war. Bevor er aufs Feld ging, das ebenfalls nicht ihm gehörte, umarmte er sie von hinten, legte ihr die Hände auf den Bauch und drückte sein Gesicht an ihren schlanken Hals. Sie roch nach sich selbst und ein wenig nach Milch, wie ein Welpe.

Die blassen Sommersprossen rieselten von ihrer Nase auf die Wangen. Die kupferfarbenen Haare flocht sie zu einem langen Zopf. Manchmal knabberte sie in Gedanken an dem Zopfende, was sie sich bis zu ihrem Tod nicht abgewöhnte.

Sie stand vor Morgengrauen auf, wobei sie ihn nie weckte. Wenn er zerzaust, wie mit einem Strohbündel auf dem Kopf, in der Küche erschien, winkte sie ihm vom Hof aus zu. Sie brachte Eier, die sie dann langsam in eine Kiste legte, und er bat sie, etwas für ihn zu singen. Normalerweise antwortete sie nicht darauf, nur manchmal, dass er keinen Unsinn reden solle. Dann zog er an der flachen Schublade unter der Tischplatte, nahm die an den Rändern ausgefranste Heilige Schrift im schwarzen Ledereinband heraus und las laut und langsam eine Seite daraus. Wenn er vom Feld zurückkam, las er sie noch einmal, bei Kerzenlicht und diesmal im Stillen.

Zum Frühstück aß er zwei Brote. Am Sonntag trank er dazu ein Glas warme Milch, die sie in einer Kanne aus dem Stall brachte. Sie schaute gerne zu, wie er aß. Stützte dabei ihr Kinn in die Hände und schob die Ellbogen langsam zur Tischmitte. Sie mochte es, mit geschlossenen Augen und über der Brust gekreuzten Armen in der Sonne zu sitzen. Dann legten sich die Katzen um ihre Füße und schliefen leise schnurrend.

Sie sagte, ihre Eltern seien vor langer Zeit gestorben. Die Einzelheiten kannte Janek nicht.

»Da war so ein Musikant, der hat auf der Flöte gepfiffen, war aber eine Missgeburt; krumme Beine und überhaupt ganz schief«, sagte einmal der Sohn des Ortsvorstehers zu ihm, während er mit dem Dreschflegel aufschlug und eine Staubwolke aufsteigen ließ. »Brennnessel wurde er genannt, weil er nix anderes wollte als im Gebüsch schlafen. Wir alle haben über ihn gelacht, weil er auch so Dinge erzählt hat, dass er die Heiligen im Himmel besucht und mit dem Teufel schwätzt und solches Zeug. Der hat so Ausdrücke benutzt, als ob er sie sich selbst ausgedacht hätte. Er hatte so große Pusteln, wie als ob sie ihm auf dem Rücken rausgewachsen wären, lief immer gebückt und spielte immer die gleichen Melodien, die er sich selbst beigebracht hat. Angeblich ist er ertrunken, aber Vater sagt, dass ihn die Bauern erschlagen haben.«

»Und die Mutter?«

»Was?«

»Wie ist die gestorben?«

»Die? Die lebt doch noch.«

Irenas Mutter war angeblich Dojka, die Verrückte, die im Dorf herumlief und für ein paar Schlucke Milch die Tiere versorgte. Sie hatte langes graues Haar, das auf ihrem Rücken zusammenklebte, und so abgearbeitete Hände, als hätte sie schon hundert Jahre oder länger gelebt. Normalerweise saß sie unter einem Holzdenkmal, das einen Engel darstellen sollte, aber eher an ein Huhn erinnerte, vielleicht an einen Fasan. Sie zog die Knie an ihr Kinn und ihr riesiger Busen floss unter dem losen, schlichten Hemd auf beiden Seiten herunter. Wenn jemand an dem Denkmal vorbeiging, lächelte sie oder schrie unverständliche Flüche und schlug mit den Fäusten auf die Erde.

Von den Eltern des Mädchens erzählten ihm der Sohn des Ortsvorstehers, die älteste Tochter der Paliwodas und der blinde Kalucha. Ihre jeweiligen Versionen unterschieden sich zwar voneinander, doch Brennnessel wurde von allen als ein verrückter Sonderling beschrieben, der behauptete, er würde mit den Teufeln und Heiligen reden. Angeblich hatte er Dojka vergewaltigt, als sie noch ein junges Mädchen war. Seitdem waren sie fast unzertrennlich. Sie bettelten um Essen, schliefen in Büschen und zerwühlten Heuschobern. In Piołunowo sagten die einen, Brennnessel sei ertrunken, andere erzählten, ein paar betrunkene Bauern hätten ihn umgebracht. Angeblich wurde er beschuldigt, für eine Reihe von Plagen im Dorf verantwortlich gewesen zu sein. Nach seinem Tod schnitzte Dojka in einen vertrockneten Baumstamm eine scheußliche Figur mit Flügeln.

Nur die älteren Leute erinnerten sich an Brennnessel, und über Dojka sprach man im Dorf überhaupt nicht. Diese korpulente Frau mit den irren Augen war wie ein alter herrenloser Hund, den du jeden Tag siehst, aber nicht bemerkst. Janek hatte seine Frau nie nach ihr gefragt. Doch seit dem Gespräch am Dreschflegel grüßte er Dojka, was bei ihr ein hysterisches Lachen auslöste.

* * *

Bevor sie heirateten, hatte Janek Łabendowicz den Krieg gebaut.

Er kaufte in Radziejów eine Spule, einen Detektor und einen Kondensator, und lieh sich zwei Kopfhörer von Paliwoda. Dann bastelte er ein paar Tage lang im Stall, wühlte in Regalen, klebte, umwickelte, montierte, baute wieder auseinander und montierte erneut, bis er schließlich ein Rauschen hörte, aus dem Worte herausströmten.

Er erkundigte sich auf dem Markt und erfuhr dort, man würde Warschau auf Wellenlänge zweihundertfünfzig empfangen, Vilnius auf fünfundsiebzig und Posen auf fünfzig. Er trug den Kristallempfänger zu den Tkaczs, bei denen Irena damals wohnte, stellte ihn auf den Tisch und nahm feierlich die Kopfhörer in die Hand.

»Heute Morgen um fünf Uhr vierzig haben die deutschen Truppen die polnische Grenze überschritten und damit den Nichtangriffspakt gebrochen«, erklärte eine knisternde Stimme. »Es wurden mehrere Städte bombardiert.«

Tkacz erhob sich, wobei er den Stuhl umwarf, seine Frau stieß ein nervöses Lachen hervor. Irenka stand mit einem Kornsieb in der Hand daneben und schaute auf das Gerät, als ob sie darauf wartete, dass der Sprecher aus ihm herauskäme.

Auf Tkaczs Bitten zerstörte Janek am selben Abend das Radio, aber der Krieg, den er im Stall gebaut hatte, dauerte an. Einige Monate später betrat ein hochgewachsener, sorgfältig gekämmter Mann in Uniform das Haus der Łabendowiczs, setzte sich auf die Bank und seufzte, als ob er nicht nur dieses Von-Haus-zu-Haus-Gehen satt hätte, sondern alles andere auch.

Drei Wochen später wurden Janeks Eltern und seine beiden Schwestern ausgesiedelt. Janek blieb durch reinen Zufall. Er hatte wieder einmal seinem Onkel bei der Ernte in Kwilno geholfen, und da sein Name nicht auf der dortigen Einwohnerliste stand, hatten sie ihn nicht mitgenommen. Irena war auch geblieben, weil sie auf keiner Liste stand.

Kurz darauf zog im Haus der Tkaczs eine Frau Eberl mit drei Töchtern ein. Janek und Irena wurden ihr zugewiesen, um auf dem Hof zu helfen.

Die Deutsche wusste von dem Irrtum bei der Aussiedlung, doch sie erlaubte den beiden, in einem separaten Haus zu wohnen, ein paar hundert Meter von ihrem neuen Hof entfernt. Sie brachte ihnen Deutsch bei. Manchmal lud sie sie zum Essen ein. Janek arbeitete weniger und aß besser als früher. Irena half Frau Eberl in der Küche und mit den Töchtern.

Im leeren Schweinestall auf dem Hof, der den Brzyziaks gehört hatte, begann Janek heimlich Schweine zu züchten, die er auf den Feldern einfing. Er vermutete, dass einer der Bauern, wütend über die Aussiedlung, sie herausgelassen hatte, um – man weiß nicht wen – damit zu ärgern. Nachts kümmerte er sich um sie. Als er das erste Schwein schlachtete, biss es ihm so tief ins Bein, dass er nur mit Mühe mit ihm fertig wurde.

Bis ans Ende seines Lebens konnte er sich an diese Nacht und den scharfen Gestank des Todes erinnern. Er würgte das Schwein mit einer Kette, durch deren Ösen er einen Metallstab geschoben hatte. Er drehte ihn und zog so die Schlinge am bebenden Hals des Tiers immer fester zusammen. Panik und Gestank. Über zwei Zentner traten um sich, der Kopf schlug verzweifelt nach allen Seiten. Janek sah, wie die Adern an seinen Unterarmen anschwollen. Plötzlich spürte er Zähne, die weich in sein Fleisch eindrangen. Der Schmerz ergoss sich übers Bein und wanderte bis zum Kopf, wo er explodierte und seinen ganzen Körper durchschüttelte. Die Stallwände bogen sich nach innen, die Flamme der Kerze, die er in die Ecke gestellt hatte, wurde immer größer. Als vor Janeks Augen schwarze Schmetterlinge auftanzten, fiel das Schwein mit einem schweren Schlag auf die Tenne. Janek ließ die Kette los, sackte auf einen Baumstamm und zündete sich eine Zigarette an. Der ganze Stall atmete mit seiner Lunge. Blut pulsierte in den Wänden.

Drei Stunden später fuhr er auf dem von Frau Eberl geliehenen Fahrrad, das in der schwarzen Stille knirschte. Der über den Vorderrahmen geworfene Sack schaukelte hin und her und schlug gegen seine Oberschenkel. Sein rechtes Bein schwoll unter dem Hosenbein an und wurde steif. Der graue Mondstreifen kroch hinter den Wolken am Himmel entlang. Die Schlaglöcher waren jetzt größer als am Tag. Alles war jetzt größer.

Janek spürte, wie ihm das warme Blut in den Schuh rann. Auf beiden Seiten des Weges schwammen schwarze Gestalten. Sie lösten sich auf, wenn er hinsah. Bei sich zu Hause kannte er jeden Baum, jeden Stein – hier war alles fremd.

Die Dunkelheit vor ihm vermengte sich zu Stimmen. Das Knirschen der Fahrradkette verstummte, die Schuhsohlen klatschten in eine seichte Pfütze. Er wartete. Wartete und starrte in die gefiederten Gespenster der Büsche und in das sich dahinter ausbreitende große Nichts, aus dem ihm jemand entgegenkam.

Janek sprang vom Fahrrad und tauchte in den Roggen ein. Seine Füße versanken im Schlamm. Er ging immer schneller, rannte schließlich, trotz Schmerz. Die scharfen Ähren kratzten am Gesicht und an den Schultern. Die Gliedmaßen des toten Schweins schlugen gegeneinander und brachten das Fahrrad zum Schaukeln. Mittlerweile war seine Hose von Blut und Schweiß völlig durchnässt.

Er ging in die Hocke, drückte das Fahrrad an seinen Bauch und erstarrte. Zusammengekauert lauschte er auf die Schritte und Worte, die auf Polnisch gesagt wurden:

»In so einer Nacht sollte niemand allein herumlaufen.« Janek war sicher, dass er diese hohe, schrille Stimme schon öfter gehört hatte, doch jetzt konnte er sie keinem ihm bekannten Gesicht zuordnen. »Und schon gar nicht eine Frau in der Blüte ihrer Jahre.«

Der Stimme antwortete ein lautes, hysterisches Lachen, dann verstummten die Schritte für einen Augenblick, doch gleich hörte er sie wieder. Schließlich wurde es ganz still. Janek wartete noch ein paar Minuten, dann ging er weiter, wobei er bis zu den Knöcheln im Matsch versank.

Beim Holzdenkmal von Brennnessel betrat er wieder den Weg. Hinter der entmenschten Figur mit den ausgebreiteten Flügeln erstreckte sich ein Feld, das früher den Tkaczs gehört hatte. Er schob das Fahrrad in Richtung seines Hauses, dessen buckliges Dach sich in der Ferne dunkel abzeichnete. Die Nacht platschte im Rhythmus seiner Schritte.

Mit einem Bindfaden nähte Irenka sein Bein zusammen. Vier Tage später, als die Schwellung bereits übers Knie gewandert war und die Haut die Farbe von Moos angenommen hatte, setzten sich beide an den Tisch und sie sagte:

»Wir werden ein Kind haben.«

Sie schaute ihn an und knabberte dabei am ausgefransten Ende ihres Zopfes. Er nickte nur und legte seine Hand auf ihr Knie. Dann ging er schlafen und stand zwei Tage nicht auf. Frau Eberl sagten sie, ein Hund habe ihn gebissen. Als er nach vielen Stunden endlich unter der Bettdecke hervorkroch und in die Küche kam, wobei er vorsichtig mit dem rechten Bein auftrat, saß Irenka am Tisch und stopfte ein Jackett.

»Die Paliwoda hat es uns geliehen«, sagte sie, als er sie auf den Kopf küsste. »Für die Hochzeit. Ich denke, es wird dir passen.«

Sie frühstückten und schauten dann nach seinem Bein.

Die Schwellung war zurückgegangen. Nur eine lange violette Narbe blieb, vom Knie über die ganze Wade. Sie erinnerte an ein Fragezeichen.

* * *

Einen Monat, nachdem er das Schwein getötet hatte, fuhr er zum Pfarrer.

Die Räder der Britschka knirschten auf dem Weg. Er hatte sich die hellen Haare gekämmt und mit der Hand über die glatt rasierte Wange gerieben. Der Hochzeitsanzug von Paliwoda war ein wenig zu eng, aber wer würde schon auf so eine Belanglosigkeit achten. Die Ärmel gebürstet, die Juchtenstiefel glänzten, eine Omega am Handgelenk, geliehen. Die Britschka auch geliehen, von Frau Eberl, von der lieben Frau Eberl, ohne die es nichts geben würde: weder Janek noch diese ganze Hochzeit.

Weit vor ihm schlug die Luft Wellen in der Hitze. Der Wind glitt über seine Wangen und sein Haar. Janek streckte das Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen. Kurz darauf fuhr er an der heruntergekommenen Holzkapelle und dem verlassenen Bauernhof der Konwents vorbei. Vor dem leeren Haus atmete er tief den Duft des blühenden Flieders ein und schaute auf das weite Feld, auf dem er viele Jahre später sterben sollte.

Er fuhr in Richtung Osięciny. Pfarrer Szymon, der ihn und Irena am Samstag vermählen sollte, hatte entschieden, die Trauung vorzuziehen, obwohl sie dann auf einen Dienstag fiel und obwohl am Tag darauf Fronleichnam war. Szymon Wach war ungefähr siebzig Jahre alt und hatte graues, gescheiteltes Haar. In der rechten Tasche seiner Soutane steckte immer eine Tüte mit verklebten Karamellbonbons.

Janek drehte sich um und schaute nochmal nach dem Sack mit dem Geschenk. Heimlich geräucherter Schinken von dem Schwein, das ihn fast umgebracht hätte. Er hatte beschlossen, ihn mitzubringen, obwohl er wusste, dass der Pfarrer den Schinken wahrscheinlich sowieso an seinen Präfekten weitergeben würde.

Der Weg bog nach rechts ab. An dem mit Unkraut übersäten Graben standen zwei Personen.

Eine davon war ein molliges Mädchen, das auf dem ehemaligen Hof der Brzyziaks aushalf. Die zweite war der Polizeichef Johann Pichler, der angeblich zehn Pfarrer aus Bytoń verhaftet und dann erschossen hatte. Er lehnte an einem Motorrad und rauchte. Lächelnd.

Janeks Atem versickerte in den Lungen. Gegrüßet seist Du Maria, voll der Gnade, hier werde ich sterben, im Anzug, ein paar Tage vor der Hochzeit, ich werde sterben, weil er schon so neugierig schaut, ich glaube, seine Augenbraue ist angehobenen, aus dieser Entfernung sieht man es nicht genau, aber er schaut, das ist sicher, der Herr ist mit Dir, Du bist gebenedeit unter den Frauen, Janek drosselt nicht das Tempo, hält es, das Pferdchen trabt lustig weiter, Trabb-Trrabb-Trabb-Trrabb, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus, die Sonne scheint immer noch, Heilige Maria, Mutter Gottes, Pichler entfernt sich vom Motorrad, bitte für uns Sünder, streckt sich, die Hand wandert zu seinem Gurt, jetzt und in der Stunde unseres Todes, doch nicht zum Gurt, zur Stirn, Pichler salutiert, Amen.

Janek salutierte zurück und trieb das Pferd an, Trabb-Trrabb-Trabb-Trrabb, im Kopf nur die eine Frage: Was macht Pichler, wenn er erfährt, dass er einem Polen salutiert hat?

Als er in Osięciny ankam, war er schweißgebadet. Er ging ins Pfarrhaus, wo er, umgeben von Heiligenbildern, noch lange zitterte. Vier Tage später zog er im selben Pfarrhaus an seiner Krawatte, zog am Jackett und an der Hose, als ob er Angst hätte, irgendeine Falte am Anzug könnte alles verderben.

Alles ging gut. Nach der Vermählung fuhren sie zurück nach Piołunowo, wo Irenka Fleischbrühe und Koteletts mit Kartoffeln und Gurkensalat auftischte. Frau Eberl fragte nicht, woher sie das Fleisch hatten, so wie sie schon viele Male nicht gefragt hatte. Bevor sie ging, gab ihr Janek die Uhr wieder, worauf sie sie ihm zurückgab.

»Lasst es euch gut gehen. Nehmt das als Andenken«, sagte sie auf Deutsch.

Drei Tage später tötete Pichler den Pfarrer. Er kam morgens zu ihm in Begleitung eines gewissen Daub und eines Haack. Daub war beschränkt, laut und groß und Haack nur beschränkt. Sie packten den Pfarrer in einen wunderschönen, glänzenden Opel und während der Fahrt erzählten sie lange, was sie am liebsten mit Frauen machten. Daubs Fantasien waren am malerischsten. Sie hielten zwischen Samszyce und Witowo, an einer Stelle, über die man vor dem Tod des Pfarrers nicht viel hatte sagen können, vielleicht sogar nichts. Pichler schoss ihm drei Mal in den Hinterkopf. Die erste Kugel zerfetzte das halbe Gesicht. In diesem Moment saß Präfekt Kurzawa in Unterwäsche in der Sakristei, summte etwas vor sich hin und schnitt den Schinken vom Brautpaar auf.

Den Pfarrer, der bäuchlings in einer Pfütze aus Blut und Regenwasser lag, fand am nächsten Tag ein Bauer aus Samszyce. Er erkannte ihn an der Soutane, weil man Szymnon Wach an nichts anderem mehr erkennen konnte.

Später hieß es, er habe sich mit irgendeiner Predigt verdächtig gemacht, aber alle im Dorf wussten, dass man sich mit nichts verdächtig machen musste, um in einer roten Pfütze zu enden. Vor allem nicht, wenn Pichler seinen Finger am Abzug hatte.

* * *

Der Sommer war trocken und die Ernte beträchtlich. In den folgenden sechs Monaten tötete Janek noch zwei Schweine, das letzte direkt vor der Geburt des Kindes. Bei der Entbindung half Frau Eberls älteste Tochter Hedwig.

Der Junge war schmächtig und wog nicht viel. Da war etwas in seinen Augen, als ob er gleich Unfug treiben wollte. An seinem Kopf klebten weiche, helle Haare. Janek und Irena gaben ihm den Namen Kazimierz.

Frau Eberl war immer um ihn: »Kaschu, Kaschu, mein lieber Junge!«

Sie überschüttete ihn mit Geschenken und ging mit ihm spazieren. Sie drückte ihn an sich, obwohl er das nicht mochte, und erlaubte Irena weniger zu arbeiten.

Die Monate vergingen, doch Janek hatte keine Zeit, seine Mutter, den Vater und die Schwestern zu vermissen. Von Zeit zu Zeit schickten er und Irena ihnen ein Foto, das sie auf der Rückseite beschrifteten. Sie hofften, dass in dem fernen Land, wohin Janeks Verwandten gebracht worden waren, überhaupt noch jemand war, der die Fotos anschauen konnte.

Ehe sie sich versahen, rappelte sich Kaziu von allen Vieren auf und aus seinem Mund purzelten die ersten Worte. Papa, Mutti, lala, Hund.

Manchmal kam Irena in Frau Eberls Stube und griff nach ihrer Hand. »Ich zeige Ihnen etwas.«

Dann führte sie sie auf den Hof, wo Kaziu mit einem Reifen spielte oder Zick-zacks auf die Erde kritzelte.

Irena beugte sich zum ihm herunter: »Sag der ciocia, der Tante, was du gelernt hast.«

Der Junge hob die Augen, spannte sich an und sagte langsam, mit Mühe auf Deutsch:

»Tan-te!«

»Po-len!«

»Hit-rrerrr!«

Frau Eberl schlug die Hände unterm Kinn zusammen und dann umarmte sie ihn und hob ihn hoch über ihren Kopf.

»Mein lieber Junge!«

Kurz darauf wurde Irena wieder schwanger. Als in ihr ein neuer Mensch zu wachsen begann, endete der Krieg. Frau Eberl ging im Haus herum, schüttelte den Kopf und murmelte Worte, die keiner von ihnen verstand. Als sie erfuhr, dass man sie wieder nach Deutschland übersiedeln würde, betrank sie sich zum ersten Mal, seit sie die fremde Erde betreten hatte, und dann kotzte sie zum ersten Mal auf dieser fremden Erde. Zur selben Zeit saß Irena mit Frau Eberls Töchtern zusammen und alle vier weinten. Jede in ihrem Sessel.

Janek ging zu Paliwoda und sagte, er habe Angst.

»Wir haben doch alle Angst!« Paliwoda hatte einen grauen Backenbart, sein Kopf war kahl wie ein Ei. Er hinkte auf einem Bein, war etwas taub und anstatt zu reden, schrie er.

Sie setzten sich auf die Treppe und rauchten. Mirka Paliwoda brachte eine Flasche Selbstgebrannten und füllte die Gläser. Ein schmuddeliger Junge und ein noch schmuddeligeres Mädchen schossen mit einem Bogen auf einen Apfel, der an einem Seil hing. Jedes Mal verfehlten sie das Ziel.

»Ich kann mich nicht erinnern, wie das früher war«, sagte Janek und pulte Tabakreste von der Zunge.

»Quatsch! Wir war’n im Arsch, genauso wie jetzt!«, schrie Paliwoda.

Sie tranken aus. Und dann tranken sie noch einen. Als sich Janek die nächste Zigarette drehte, merkte er, dass seine Hände zitterten.

»Aber vielleicht ist das noch gar nicht das Ende?«

»Schau ihn dir an, bis zum beschissenen Tod will er den Krieg!«, schrie wieder Paliwoda und goss den nächsten Wodka ein. »Vergiss es!«

Schnell kam der Herbst und Kaziu schwatzte wie ein Großer. Mit erhobenem Köpfchen lief er auf dem Hof herum und rezitierte aus vollem Hals auf Polnisch:

»Kuh!«

»Fasan!«

»Hase!«

Und auf Deutsch:

»Henne!«

»Ente!«

»Schwein!«

Schließlich mussten die Deutschen fliehen. Frau Eberl packte die wertvollsten Dinge ein und sprach fast gar nicht mehr.

»Du bringst mich nach Hause«, sagte sie eines Abends zu Janek in einem ankündigenden Ton, als er am Wagen arbeitete.

»Ja«, erwiderte er und nickte, worauf sie ins Haus ging und die Tür hinter sich zuschlug.

Vor der Abfahrt wälzte er sich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere, schwitzte unter dem dicken Federbett, stand auf und ging in die Küche, wo er am Fenster rauchte. Dann kehrte er wieder ins Bett zurück und wälzte sich hin und her, hin und her.

Er stand früh auf, rasierte sich, zündete sich eine Zigarette an. Zwei Stunden später umklammerte er mit den Händen fest die Zügel und schaute auf den langen Weg, der sich vor ihm bis hin zu dem fremden Land erstreckte.

Sie fuhren an Skibin, Radziejów und Czolowo vorbei, dann an Chelmce, Janocin und Grodztwo. In der Ferne konnte man Kruszwica erkennen. Sie hatten ungefähr dreiundzwanzig Kilometer zurückgelegt, bis zur Grenze waren es zehn Mal so viel. Vielleicht noch mehr.

Und dort werden sie mich töten, dachte Janek.

Frau Eberl saß mit ihren Töchtern inmitten von Möbeln, Teppichen und Säcken voller Kleidung hinten auf dem Wagen. Sie erzählte den jüngeren Mädchen Märchen, Janek verstand nur jedes zweite Wort. Von seinen eigenen Gedanken verstand er auch nicht viel. Er schaute hinter sich und zur Seite, wischte die verschwitzten Hände an der Hose ab. Versuchte zu pfeifen und hörte sofort auf. Fühlte sich so, als ob ihm jemand die Eingeweide aus dem Bauch herausgezogen und sie an einem Baum hinter seinem Haus festgebunden hätte. Mit jedem Kilometer war von Janek immer weniger da. Ihm war übel. Er zitterte.

In Kruszwica hielt er die Pferde an, drehte sich um und sagte, komme was wolle, aber er müsse seine Notdurft verrichten, seine sehr große Notdurft.

»Nein!«, rief Frau Eberl und erhob sich. »Lass mich hier nicht allein sterben!«

Janek erklärte, er müsse, er würde es nicht aushalten, zeigte auf seinen Schritt und verzog leidend das Gesicht.

»Du willst davonlaufen …«

»Nein …«

»Geh! Komm aber zurück! Verstehst du? Du sollst zurückkommen.«

Als er weglief, hörte er noch, wie die Frau ihn verfluchte, wie sie ihm den Tod wünschte, ihm und Irena, und dass deine Frau einen Teufel zur Welt bringt und kein Kind, Satan, nicht dziecko, schrie Frau Eberl, während Janek weglief.

Er rannte durch den Wald, der sich entlang des Weges zog, stolperte und keuchte, doch er rannte immer schneller, übersprang umgehauene Baumstämme, zerriss mit dem Kopf Spinnennetze. Nach ein paar Kilometern wurde er müde und verlangsamte. Vier Stunden später sah er das Schild »Kwilno«, setzte sich in einen Graben und blieb lange dort. Als er sich seinem Haus näherte, erkannte er Irena, die auf dem Hof stand. Hinter ihr flatterte beim Brunnen die Wäsche auf der Leine.

Langsam ging er auf sie zu, umarmte sie und atmete tief den Milchgeruch ihrer Haut ein. Er griff nach ihrem Zopf, steckte sich das Ende in den Mund und biss darauf. Sie wischte ihm das Gesicht ab, all das, wessen er sich später schämen würde, und lächelte so, wie sie ihn früher nie angelächelt hatte. Im Haus ertönte das Getrappel kleiner, nackter Füße. Kaziu rannte auf den Hof hinaus und blieb kerzengerade vor seinem Vater stehen. Er schaute nach oben, spannte sich an und rezitierte:

»Schwaajn!«

* * *

Janek erfuhr nie, ob Frau Eberl in Deutschland angekommen war. Oft träumte er von ihr, wie sie auf dem Wagen stand und ihn, Irena und ihr ungeborenes Kind verfluchte. Gekrümmt erinnerte sie aus der Ferne an die missratene Skulptur von Brennnessel. Über ihrem Kopf wanden sich dichte, schwarze Rauchschwaden. Er versuchte, sich genau an die Worte zu erinnern, die sie ihm nachgeschrien hatte, aber je mehr er es versuchte, umso verworrener wurde alles.

Kurz darauf kam ein kleines, farbloses Ungeheuer zur Welt. Seine Geburt dauerte dreißig Stunden und es brachte Irena, die vom Schreien keine Stimme mehr hatte, fast um. Dieses Mal half die alte Paliwoda bei der Entbindung.

Der Junge war von den Augenbrauen bis zu den Fußnägeln weiß. Unter der Haut zeichneten sich hier und da dünne rosa Streifen ab. Nur die Pupillen waren rot, als ob das Innere des Kopfes durch sie hindurchscheinen würde. Er warf sich hin und her und strampelte. Janek versuchte, ihn nicht anzuschauen. Die alte Paliwoda, deren Hände bis zu den Ellbogen mit Irenas Blut verdreckt waren, starrte mal zum Kruzifix, das an der Wand hing, mal zum Eimer mit dem schmutzigen Wasser. Schließlich ging sie raus in die Küche und schloss leise die Tür hinter sich.

Janek schaute zu seiner Frau. Sie musterte ihn lange mit einem herausfordernden Blick. Schließlich näherte er sich dem Kind und berührte vorsichtig seine Hand. Der Körper war warm. Die Hand weich. Er fuhr mit den Fingern über seinen Bauch und dann berührte er seine Stirn. Langsam schob er die eigene Hand unter den Jungen und hob ihn an, direkt vor sein Gesicht. Zwischen den kleinen Beinen schaukelte schlaff ein Stück blau-violetter Nabelschnur.

»Erwürg ihn, Janek«, sagte Irena, während sie ihre Wange an das vom Schweiß durchnässte Kissen drückte.

Schweigend nickte er. Dann legte er das Kind zwischen die auf dem Boden liegenden Stofffetzen und schaute aus dem Fenster. Blasse Wolken flüchteten langsam hinter den Horizont. Eine der Katzen schlug gelangweilt immer wieder mit dem Schwanz auf die Erde.

»Man muss ihn waschen«, sagte Janek und drehte sich zur Tür. »Und in etwas einwickeln.«

Stille. Nur das Dröhnen des Pendels im Gehäuse der Standuhr.

»Mach es aber warm«, stöhnte Irena. »Das Wasser.«

»Was?«

»Mach das Wasser warm, sonst erkältet er sich.«

Er nickte und ging.

Sie gaben ihm den Namen Wiktor. Nach Jahren wussten sie nicht mehr, wer das entschieden hatte. Wiktor Łabendowicz. Sie glaubten, er würde kein Jahr überleben.

Manchmal hatten sie den Eindruck, er gewinne an Farbe. Sie beobachteten ihn aus den verschiedensten Winkeln und bei unterschiedlichem Licht, rieben an der blassen Haut, betrachteten den Flaum auf seinem Kopf und nickten sich dann zu. Ja, er wird wohl etwas rosiger. Ja, es sieht so aus, als ob die Haare an der Fontanelle dunkler wären. Die Augen ein wenig blau. Nach ein paar Monaten hörten sie damit auf.

Kurz nach der Ernte kamen Janeks Eltern und seine zwei Schwestern aus Deutschland zurück. Aniela war sichtbar gewachsen, und die Haare reichten ihr fast bis zur Taille. Sie sprach schnell und undeutlich, genauso wie vor dem Krieg. Wanda, die sonst immer als die Hübschere gegolten hatte, besaß jetzt eine schiefe Nase, was ihrem Gesicht etwas Hexenartiges verlieh. Angeblich war sie ihr während der Gefangenschaft von dem Sohn des deutschen Bauern gebrochen worden.

Mutter und Vater waren stark gealtert. Als sie alle vier auf dem Hof in Piołunowo standen, hatte man den Eindruck, sie würden bis zu ihrem Tod so stehen bleiben. Sie drehten sich nach allen Seiten, als ob sie sichergehen wollten, dass alles wirklich noch stand. Janek lief um sie herum, drückte sie an sich, rief etwas von einer wunderschönen Zukunft, von wunderschönen Ernten, von einer wunderschönen Ehefrau und dass ab jetzt überhaupt alles nur noch gut werden würde.

Sie zogen gemeinsam in das alte Haus der Łabendowiczs. Vater, Mutter, Aniela, Wanda, Janek, Irena, Kaziu und der farblose Junge. Mutter schlief schlecht. Vater hatte sich während des Krieges eine Bauchkrankheit zugezogen und stöhnte nachts. Die Mädchen hatten Alpträume. Kaziu nörgelte, Wiktuś zahnte. Als Janek begriff, dass er das nicht länger aushalten würde, kam die Erlösung.

Am 6. September gab das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung ein Dekret heraus, kraft dessen eine Reform durchgeführt wurde, die unter anderem die »Gründung neuer, selbstständiger Bauernhöfe für landlose Bauern, Arbeiter und Landwirte« vorsah, was bedeutete, dass Janek und Irena aus dem nicht allzu großen Haus ausziehen konnten. Aber nur theoretisch, denn das Komitee hatte ihnen zwar neun Hektar Land zugesprochen, doch darauf gab es nicht einmal ein Loch zum Wohnen, geschweige denn ein Haus. Während der nächsten zwei Jahre mühte sich Janek vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung mit dem Pflug an der unwilligen Erde ab, erntete, was sie ihm zu ernten erlaubte und verkaufte dann den Ertrag zusammen mit den Schweinen, die er beim Vater züchtete. Nachts grub er Lehm aus, mit dem er im Licht eines Lagerfeuers die Wände seines zukünftigen Hauses hochzog.

Als er in der Stube, die vom Atem seiner Nächsten erfüllt war, einschlief, träumte er einzig von Frau Eberl, wie sie auf dem Wagen stand, umgeben von schwarzen Gestalten, die sich um ihren Kopf wanden. Sie zeigte mit dem Finger auf den Weg, auf dem sein kleiner Teufel kroch, sein kleines, farbloses Ungeheuer, das er versuchte zu lieben. Das Kind lächelte ihn an und robbte immer schneller, und als er es schon hochheben wollte, wachte er auf, in die völlig schwarze Nacht, um nicht mehr einzuschlafen.

Die vom Komitee geschenkte Erde spuckte immer weniger aus. Obwohl sie von Dürre oder von übermäßigem Regen unberührt blieb, schien sie abzusterben. Paliwoda klagte über das Gleiche.

»Wenn das so weitergeht, werden wir vor Hunger sterben!«, schrie er, wenn sie sich bei Sonnenuntergang mit einem Glas Selbstgebrannten hinsetzten.

Die Seuche breitete sich in ganz Piołunowo aus. Auf dem Weg in die Stadt waren immer seltener Wagen mit Geerntetem zu sehen, und ein Lächeln sah man fast gar nicht mehr. Dojka, die in den letzten Jahren stark gealtert war, brachte außer Geschrei und Gelächter immer öfter auch Worte heraus.

»Sterben, sterben wird alles Wurmgesindel, sterben, weil es sich mit dem Schwarzen eingelassen hat«, sagte sie zu den Passanten, die an dem Holzdenkmal vorbeigingen. »Sterben wird es und die Welt wird verbrennen, weil das Schwarze auf ihr herumläuft und rennt und herumläuft. Und dann wird das Schwarze alles auffressen, wird die Welt auffressen, die Sterne auffressen und den Mond auffressen und alles andere auffressen, weil das Schwarze nur frisst, frisst und frisst!«

Einmal hörte Janek, wie Dojka die alte Biniasowa ansprach und zu ihr sagte: »Wenn sie den farblosen Jungen nicht umbringen, dann wird alles vorbei sein«.

Am nächsten Tag stellte er sich vor das Holzdenkmal und wartete, bis Dojka wach wurde. Sie rieb sich das Gesicht und setzte sich hin, wobei sie ihre Beine umarmte.

»Ihr werdet damit aufhören, diesen Unsinn über meinen Jungen zu erzählen«, sagte er und ging vor ihr in die Hocke.

»Dein Sohn wird groß, oh, so groß sein, aber nur, wenn er kalt sein wird«, sagte Dojka nickend und brach in lautes Gelächter aus. »Dann zieh ihm die Eingeweide aus dem Bauch und reiß das Herz raus und schmier damit den Pflug ein, dann wirst du so eine Ernte haben, dass sie so wunderschön und so groß sein wird. Flechte sein Haar ins Netz und du wirst so viele Hasen fangen, dass den ganzen Winter was zu fressen ist und der Ranzen vollgeschlagen und so ein Fressen, so eins. Trink mit Irena sein Blut und ihr werdet gesund sein und werdet niemals sterben, niemals sterben, niemals!«

Janek kam näher, beugte sich zu Dojka herunter und packte sie an der Gurgel. Er schmiss sie auf den Rücken und drückte sie gegen die Erde. Sie schauten sich lange an, doch keiner der beiden sagte noch etwas. Schließlich stand Janek auf, klopfte seine Kleidung ab und ging nach Hause. Auf der Hälfte des Weges hörte er immer noch ihr wildes, abgehacktes Gelächter.

* * *

Wiktuś und Kaziu wuchsen in einem Haus voller schöner Frauen, Ritter auf Pferden und sich im Tanz drehender Paare heran. Pistolenschüsse und der Widerhall von Schwertkämpfen weckten sie, der Gesang exotischer Vögel und die Klänge teurer Klaviere wiegten sie in den Schlaf.

Irena wurde süchtig. Nachdem ihr Janek das Lesen beigebracht hatte, stürzte sie sich mit einer Unersättlichkeit auf Bücher, als ob die Jahre der Leseabstinenz bei ihr einen Hunger ausgelöst hätten, der nicht mehr zu stillen war. Das, was sie tat, konnte man nicht einmal als Lesen bezeichnen – sie berauschte sich und verfiel in einen Wahn. Sie knetete die Wirklichkeit wie einen Teig und formte daraus neue Welten. Sie stand noch vor dem Morgengrauen auf, versorgte die Kühe der Schwiegereltern, setzte sich auf die Bank vor dem Haus und verschwand zwischen den Buchseiten. Dann kehrte sie wieder ins Bett zurück und erzählte Janek, was sie gelesen hatte, wobei sie den Klang der Kämpfe, Duelle und Feste nachahmte. Wenn sie durchs Haus ging, durchschritt sie in Wirklichkeit die Flure eines Schlosses. Sie lebte in Piołunowo und zugleich an tausend anderen Orten.

Sie borgte die Bücher von der Tochter des ehemaligen Gutsherrn, der weit weg, an der Landstraße, wohnte. Während sie in der Küche beschäftigt war, blätterte sie immer wieder zur nächsten Seite. Man hätte den Eindruck haben können, dass es für sie keinen Unterschied machte, was sie gerade las. Sie schlug eins der bereits angefangenen Bücher auf und in der Wohnung erschienen plötzlich Teresa Sikorzanka, Michał Wołodyjowski, Der rote Narr, Winnetou, Boruch, Huckleberry Finn, Karol Borowiecki, Jean Valjean, Mikołaj Srebrny, Izabela Łęcka, Różycki und Kwiryna.

Indessen kam der April, und mit ihm tauchten tote Hühner auf. Man fand sie mit aufgeschlitzten Hälsen, fast ohne Bissspuren. Schnell stellte sich heraus, dass in der Gegend ein tollwütiger Hund sein Unwesen trieb. Manchmal wurde er gesehen, wie er von einer Seite zur anderen schwankend auf den Feldern herumlief oder um die Gebäude kreiste. Die Bauern machten mehrere Male Jagd auf ihn, doch jedes Mal kamen sie mit leeren Händen zurück. Kurze Zeit später zeigte er sich ihnen endlich in geringer Entfernung.

Die Ersten, die an diesem Tag aus der Kirche traten, bekreuzigten sich ein paar Mal mehr als sonst. Die struppige Kugel Dreck, an der eine ovale Schnauze hing, schleppte sich langsam in Richtung des Gotteshauses und markierte die Erde mit gelbem Schaum. Die Männer, die sich inzwischen durch die Menschenmenge nach vorne geschoben hatten, schielten nach etwas, womit sie das Tier hätten verjagen oder am besten erledigen können. Der Küster, ein mürrischer Mensch mit großem Herzen und einem Rattengesicht, kehrte ins Pfarrhaus zurück, um die Heugabel zu suchen, mit der er sonst die hohen Fenster öffnete.

Bevor er es geschafft hatte, die Kirche zu umkreisen, sprang plötzlich aus der Menge der zusammengedrängten Gläubigen Wiktuś Łabendowicz, der mit über den Kopf erhobenen Armen hüpfend nach vorne eilte. Janek schrie ihn an, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Der Junge blieb vor dem Hund stehen, beugte sich nach vorne und knurrte, wobei er die Arme bewegte. Die gelben Augen starrten ihn einen Moment lang an, und dann drehte sich das Tier um und trottete weg. Als es schon hinter der Ecke des Pfarrhauses verschwinden wollte, tauchte neben ihm der Küster auf, der ihn mit der Heugabel an drei Stellen durchbohrte. Das gegen die Erde gepresste Tier jaulte auf und krepierte zuckend.

Irena näherte sich Wiktuś, legte ihn vor aller Augen übers Knie und gab ihm drei Klapse auf den Hintern. Kaziu stand hinter Janek und starrte auf seine Mutter und den jüngeren Bruder. Pfarrer Kurzawa bekreuzigte sich schnell und kehrte zurück in die Kirche. Die Gläubigen gingen wieder nach Hause.

Später erklärten die Łabendowiczs ihren Söhnen, warum man sich tollwütigen Hunden nicht nähern sollte.

»Und woher weiß man, dass sie Tollwut haben?«, fragte Kaziu.

»Er war nicht tollwütig, ihm war nur traurig zumute und er hatte weh«, erklärte Wiktuś, bevor die Eltern irgendetwas antworten konnten.

Außerdem hatte Janek ganz andere Sorgen. Die Ernten fielen immer schlechter aus. Auf den Feldern wurden die schwarzen Stellen, auf denen nicht einmal Unkraut wuchs, immer größer. Alle paar Wochen landete einer der Bauern im Gefängnis von Radziejów, weil er seine Ablieferungspflicht nicht erfüllen konnte. Sie bezog sich anfangs nur auf Getreide und Kartoffeln, wurde aber schnell ergänzt durch Milch und Schlachttiere. So wie andere bestach auch Janek den Gemeindevorsteher, führte mit den Nachbarn komplizierte »Transaktionen« durch und handelte mit Spekulanten. Doch die Mathematik blieb unerbittlich.

Die Einwohner von Piołunowo befürchteten, dass die Erde schließlich nur noch Steine gebären würde.

* * *

Zdobysław Kurzawa, der zu Lebzeiten von Pfarrer Szymon die Funktion des Präfekten innehatte, wurde Priester; und zwar mit Leib und Seele. Angeblich hatte er ganz aufgehört zu essen, und an den Abenden schlug er seinen Körper so lange mit einem nassen Riemen, bis er steif wurde und Gott erblickte. Angeblich kannte er seitenlange Absätze aus der Heiligen Schrift auswendig, und alles, was er besaß, stiftete er für den Bau eines Gotteshauses in Radziejów. Seine Predigten, die er an jedem Sonntag mit leidenschaftlicher Stimme auf die in den Bänken dicht nebeneinander sitzenden Gläubigen niedersandte, wurden während der ganzen Woche auf den Feldern und in den Küchen besprochen.

Eines Sonntags stieg er hinauf zur Kanzel, ließ einen Moment lang schweigend seinen Blick über die Versammelten schweifen und donnerte dann los, wobei er seine Finger in das Rednerpult presste:

»Geliebte im Herrn! Ihr schreitet durchs Leben und tragt dabei das Kreuz, das in eure Schultern den Splitter der menschlichen Sünde bohrt, und ihr tut, was immer ihr könnt, damit euer Herr, Jesus Christus, in der Wärme seines Herzens auch für euch einen Platz findet, wenn für euch die Zeit der ewigen Ruhe gekommen ist. Geliebte. Jeder von euch öffnet an jedem von Gott gesegneten Tag seine Augen, um zu dem Allerheiligsten Herrn sein Gebet zu erheben und ihn zu bitten, er möge in seiner unendlichen Liebe ihm die Gnade der fruchtbaren Erde und der ertragreichen Ernte gewähren. Wonach sehnt ihr euch noch? Ihr sehnt euch nach Ruhe. Nach einem Leben im Einklang mit der Heiligen Schrift. Ihr sehnt euch nach der Liebe des Nächsten und nach Glück. Was aber, wenn euch auf dem Weg ein Hindernis begegnet, das ein Engel selbst – der Engel, der vom Firmament gestoßen wurde – aufgestellt hat, diese Bestie, die aus dem Höllenschlund gekrochen kommt, der Satan, der sich zwischen unseren Häusern herumtreibt und Ausschau hält nach einem Leck in unseren Gewissen, durch das er in unser Inneres hineingleiten könnte? Was macht ihr dann, oh ihr Geliebten im Herrn, unserem Herrn Jesus Christus? Weicht ihr dem Hindernis aus?«

Die Augen des Priesters bohrten sich in Wiktuś, der sich die größte Mühe gab, nicht einzuschlafen.

»Was aber, wenn die Höllenbestie in ihrer Gerissenheit jenes Hindernis heimtückisch als etwas Sanftmütiges und Unschuldiges erscheinen lässt? Was, wenn ihr auf eine schwere Probe gestellt werdet, wie bei der Versuchung Christi in der Wüste? Lasst ihr euch von der Schlange täuschen? Lasst ihr euch von dieser grauenvollen Bestie, die euch eine Höllenlüge nach der anderen ins Ohr flüstert, irreführen? Nein! Aus dem Samenkorn eures Glaubens sollen mächtige Bäume erwachsen, deren Frucht die göttliche Liebe preisen wird und die sich dem Sturm der Machenschaften der farblosen Diener Satans nicht beugen werden! O göttliche Stachelbeere! Durchbohre mit deinem Stachel die Heuchelei und die Sünde! Du birgst die Hoffnung, dass die dunklen Höllenhindernisse vernichtet werden, du birgst die Hoffnung, dass der Name von Jesus Christus geheiligt wird. Brüder und Schwestern, lasst euch nicht unterkriegen von den Dienern der finstersten Abgründe, lasst es nicht zu, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Göttliche Weinrebe! Lass es nicht zu, dass der Sturm der teuflischen Zweifel deine Triebe abreißt! Verstehe endlich und erkenne die Wahrheit in Christus dem Herrn. Erkenne das wahre Antlitz der Schlange, die direkt neben dir kriecht! Geliebte. Lasst eure Gewissen über unser Dorf wachen und schaut tief in eure Herzen, um in ihnen die Wahrheit zu finden, die unser himmlischer Vater in sie gesät hat. Ich sehe euch alle, sehe euch in Christus, weil eure Seelen eine starke Farbe haben, die euch unser Herr geschenkt hat. Ich sehe euch alle in eurem täglichen Bemühen, die Schwierigkeiten des irdischen Daseins zu bewältigen und euch die Belohnung der Ewigkeit mit euren müden Händen zu erarbeiten! Ich sehe euch, weil die Liebe von Jesus Christus euren Seelen Farbe verliehen hat. Doch hütet euch, Brüder und Schwestern, weil die Schlange direkt vor eurer Tür kriecht. Hütet euch, denn unter euch wandern solche, deren Seele völlig farblos ist. Schöpft also eure Kraft aus der Allerheiligsten Maria und erlaubt nicht, dass die Diener Satans euch eure Ernten wegnehmen, die ihr seit Generationen im Schweiße eures Angesichts einsammelt, um den Herrn zu ehren. Die unmenschlichen Bestien mit den farblosen Seelen sind fähig, alles zu zerstören, was Jesus Christus euch durch seinen Tod am Kreuz geopfert hat. Doch ich vertraue, dass ihr – gestärkt durch das Wort – imstande seid, die Angriffe der Finsternis abzuwehren. Ich vertraue, dass ihr die Diener der Bestie erkennen werdet, und dass eure Hand im wichtigsten Moment nicht zögert, so wie Abrahams Hand nicht gezögert hat.

Amen.«

* * *

Wiktuś wuchs heran. Er krabbelte in alle Ecken, in die er nicht krabbeln sollte, plapperte ohne Unterlass, wurde krank und gleich wieder gesund, biss seinen Bruder und ließ sich von ihm beißen, weinte nachts, schlief am Tag, jagte Hühner und verschluckte alles, was sich verschlucken ließ.

Im frühen Herbst beendete Janek den Bau seines Hauses. Es hatte vier Stuben, die miteinander verbunden waren, einen kleinen Keller und ein Strohdach.

Im selben Jahr, als die 1. Internationale Radfernfahrt für den Frieden stattfand, das staatliche Gesangs- und Tanzensemble Mazowsze entstand, sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei gründete und die Lebensmittelmarken für Artikel des täglichen Bedarfs abgeschafft wurden, zogen die Łabendowiczs in ihr neues Haus. Vier Tage später landete Janek im Gefängnis.

Er wurde wegen der Schweine eingesperrt; um genau zu sein, weil sie fehlten. Man brachte ihn nach Radziejów, wo er zwei Wochen im Arrest absitzen musste.

In der überraschend geräumigen Zelle lernte er die Scham, die Schlaflosigkeit und den Friseur Krzaklewski kennen. Von all dem war Friseur Krzaklewski am schwersten zu ertragen. Er hatte einen Sohn in Wiktors Alter, der mit schier unzähligen Talenten gesegnet war. Friseur Krzaklewski hatte beschlossen, die Zeit der Unfreiheit zu nutzen, und erzählte dem Mitgefangenen von seinem Dreijährigen. Nach zwei Tagen kam Janek zum ersten Mal der Gedanke, er könnte verrückt werden.

Am achten Tag hatte sich Krzaklewski heiser geredet. Am neunten verstummte er, und abends brach er in Tränen aus. Am elften gestand er, dass sein Sohn gar nicht außergewöhnlich war, dass er krank war und höchstwahrscheinlich nie würde sprechen können.

»Sie wissen nicht, was das für ein Gefühl ist«, flüsterte Krzaklewski mitten in der Nacht, und dann sagte er nichts mehr.

Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck und dem Versprechen, sich irgendwann wiederzusehen.

Janek kehrte nach Hause zurück. Mit neuer Kraft stürzte er sich auf seine widerspenstigen neun Hektar Land und beschloss: entweder er oder sie. Er stand lange vor der Morgendämmerung auf und ging lange nach Einbruch der Dunkelheit schlafen. Er schwor sich, dass er sich nie wieder wegen irgendeines Schweins, beziehungsweise Schweinemangels, einsperren lasse. Trotz des Hungers wuchsen die Jungen schnell heran. Irena lächelte häufiger als früher. Das Leben begann geordneter zu verlaufen.

»Jetzt wird alles gut«, hörte er sie eines Abends sagen.

»Ich weiß«, antwortete er, schmiegte sich an sie und sog den Milchgeruch ihrer Haut ein.

Einen Monat später starb ihr farbloser Sohn zum ersten Mal.

Zweites Kapitel

Bronek Gelda konnte sich an seinen Vater fast nicht mehr erinnern. Wenn er an ihn dachte, sah er nur eine in Rauch gehüllte Gestalt in der Ecke der Stube; dunkel und gebeugt. Dafür erinnerte er sich daran, wie er mit schmerzenden Beinen losrannte, um Machorka zu besorgen.

Der Vater rauchte viel. Jeden Tag, bevor er aufs Feld ging, drehte er sorgsam seine Zigaretten und steckte sie dann in einen Lederbeutel, den er am Gürtel festband. Machorka kaufte man gegenüber der Kirche, in einem Laden mit Ausschank, den der geschwätzige Herr Belter führte.

Ein paar Mal im Monat schaute Bronek auf dem Heimweg von der Schule bei Herrn Belter vorbei, und der gab ihm einen kleinen Beutel. Das Geld vom Vater war genau abgezählt. Bronek steckte den Beutel in den Schulranzen und legte die übrigen vier Kilometer zurück, die ihn noch von Zuhause trennten.

Nach dem Unterricht verlor er sich manchmal in Gedanken. Er ging von Koło nach Lubiny und betrachtete jeden Tag dieselben Häuser und Bäume. Bronek überlegte, wie viele Häuser und Bäume es auf der Welt noch gab. Es kam vor, dass er in seiner Zerstreutheit vergaß, bei Herrn Belter vorbeizuschauen. Gewöhnlich wartete der Vater auf einer Bank unter dem alten, bemoosten Pflaumenbaum auf ihn. Als Bronek den Hof betrat und seine – jetzt in seiner Vorstellung nur noch dunkle und verschwommene – Gestalt erblickte, erinnerte er sich plötzlich wieder.

»Bitte Vater, bitte sei nicht böse …«, setzte er an, doch der Vater erhob sich nur schweigend von der Bank und ging zum Haus. Bronek folgte ihm. Sie traten in die Diele, Vater schloss die Tür und befahl Bronek, sich an die Wand zu stellen.

»Hosen«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Langsam, gemächlich nahm er die Zügel von der Wand und stand lange hinter seinem Sohn, wobei er immer wieder die harten Lederriemen durch die Finger zog. Ssst, sssst. Er schlug auf die Beine und Pobacken. Bronek entschuldigte sich, flehte, doch er wusste, dass es nichts nutzte. Fünfzehn Schläge, nie mehr, nie weniger. Nach fünfzehn Schlägen kamen die Zügel wieder an die Wand, Bronek zog die Hosen hoch und raste zu Herrn Belter.

Manchmal erinnerte er sich bereits beim Anblick seines Hauses in der Ferne an die Machorka. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte zum Laden, während ihm der Vater nachschaute. Die Strafe erfolgte danach. Fünfzehn Schläge, nie mehr, nie weniger.

Als sein Vater starb, war Bronek dreizehn Jahre alt. Er wusste, dass er sich besser an ihn erinnern sollte. Es hätte in seiner Erinnerung etwas mehr bleiben müssen als nur die dunkle Gestalt, die Zigaretten drehte, und die Hiebe auf der Haut. Doch wenn Bronek Gelda an seinen Vater dachte, war da nur dessen Wut und die Rennerei, um die verdammte Machorka zu holen.

Er selbst zündete sich nie eine Zigarette an. Bronek hatte andere Laster. Er war ein leidenschaftlicher Zeitungsleser, schnitzte kunstvolle Steinschleudern aus Holz und maß seine Kräfte beim Armdrücken. Dank Letzterem lernte er seine zukünftige Frau kennen.

Er trat normalerweise gegen seinen besten Freund aus der Schulzeit an, Felek Szpak aus dem nahgelegenen Ochle. Bronek war kein guter Verlierer. Er ärgerte sich, seufzte, verlangte Revanche, führte genau Buch über die Duelle.

Eines Tages – er notierte gerade mal wieder das Ergebnis eines Kampfes – bemerkte er in der Küche Hela, die ihm bis dahin nie ins Auge gefallen war. Sie war eher klein, schüchtern, unscheinbar und nicht gesprächig. Als ob sie befürchtete, überhaupt irgendwie zu sein. Seitdem beobachtete er sie aufmerksamer. Eine Zeit lang war er davon überzeugt, dass – wenn man nur kräftig pustete – sie in Stücke zerfallen würde.

Damals war Bronek sechsundzwanzig und seit mindestens fünf Jahren auf der Suche nach einer Ehefrau. Bis dahin war es jedoch bei der Suche geblieben.

»Glaubst du, sie würde mich nehmen?«, fragte er Felek Szpak an dem Tag, als dessen Vorsprung auf fünf Siege geschmolzen war. Er zeigte dabei mit dem Kopf auf Hela, die gerade Hühner in einen Holzschuppen scheuchte.

»Komm schon … Du wirst doch nicht Hela schöne Augen machen wollen?«, wunderte sich Felek, während er seinen Ellbogen massierte.

Bronek schwieg und beobachtete das Mädchen, das jetzt versuchte, eine eigensinnige Legehenne aus dem Gebüsch zu vertreiben. Ihre Schürze flatterte im Wind.

»Und wieso nicht?«, fragte Bronek schließlich.

»Mensch … Pass bloß auf, sie ist ein wenig seltsam. Einmal war sie schon verliebt. Lieber Gott! Sie hätte es fast nicht überlebt. Weiß nicht, vielleicht solltest du’s versuchen.«

»Und was müsste ich denn so …?«

»Schenk ihr Blumen. Ich glaube, sie mag Blumen.«

»Blumen«, wiederholte Bronek, als ob er das Wort zum ersten Mal in seinem Leben gehört hätte.

Helas Bruder neigte den Kopf zur Seite und sah aus dem Fenster. Er erzählte, wie seine Schwester einmal beinahe durchgedreht wäre. Es begann im Sommer 1915. Hela war sechs Jahre alt und verrückt nach Blumen. Sie lief im Dorf herum und pflückte alle Blumen, die sie sah. Dann trocknete sie sie, band sie zu Sträußen und flocht Kränze aus ihnen. Damals kam über die Ferien die geheimnisvolle Basia Chałupiec mit ihren wilden schwarzen Augen in das nahegelegene Dorf Brdów. Angeblich wurde den Männern schwindelig, wenn sie in diese Augen blickten. Eines Tages sah Hela das Mädchen in Koło. In Begleitung einer Freundin lief sie die Straße entlang; hochgewachsen, chic, anders als alle anderen. Sie kam aus irgendeinem Märchen, denn aus der Gegend war sie bestimmt nicht.