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Ludwig van Beethoven war zweifellos einer der größten Komponisten aller Zeiten, sein einzigartiges musikalisches Erbe dominiert nach wie vor die Konzertsäle der Welt. Und er war ein enorm politischer Künstler. Als Zeitzeuge turbulenter Epochen – Französische Revolution, Napoleonische Kriege, Wiener Kongress, die Ära Metternich – bezog er gegenüber den Mächtigen selbst dann klare Position, wenn er finanziell auf sie angewiesen war. William Kinderman, Pianist, Musikwissenschaftler und ausgewiesener Beethoven-Kenner, macht sich in seiner brillanten Analyse auf die Spuren von politischer Realität und Utopie im OEuvre Beethovens und setzt beides in Beziehung zu den sozialpolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Auf diese Weise wirft Kinderman ein völlig neues Licht auf so grandiose Werke wie Fidelio, Egmont, Eroica und die 9. Sinfonie.
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Seitenzahl: 368
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Cover
Titel
Vorwort
EINS
Eine Geschichte aus zwei Städten – von Bonn nach Wien
ZWEI
Das Erhabene und das »umgekehrte Erhabene«
DREI
Beethoven in Heiligenstadt
VIER
Der Weg zur Eroica
FÜNF
Leonore, der »Engel der Freiheit«
SECHS
Von Grätz über Wagram nach Leipzig
SIEBEN
Ein doppeltes Frösteln: Beethoven im Wien Metternichs
ACHT
Damals und heute: Die neunte Sinfonie
Anhang
Impressum
Seit Langem gilt er als einer der größten Komponisten aller Zeiten: Ludwig van Beethoven. Übersehen wurde dabei oft, dass er auch ein ausnehmend politischer Künstler war. Die Französische Revolution, die Schreckensherrschaft, Aufstieg und Fall Napoleon Bonapartes, die Schlachten bei Wagram und Leipzig, der Wiener Kongress und die darauffolgende Ära politischer Unterdrückung: Es waren einige der turbulentesten Epochen europäischer Geschichte, die Beethoven miterlebte. Er war von der großzügigen Unterstützung adeliger Mäzene abhängig, dennoch zertrümmerte er 1806 eine Büste seines Förderers Fürst Lichnowsky und hielt kühle Distanz zu Kaiser Franz I. von Österreich. Eine Aussöhnung mit Napoleons Absolutismus oder jenem in Österreich unter Metternich, der bis über den Tod des Komponisten 1827 hinaus andauerte, war für Beethoven undenkbar.
Heute, zwei Jahrhunderte später, erfreut sich Beethovens musikalisches Vermächtnis einer erstaunlichen Strahlkraft. Während wir 2020 das Beethovenjahr feiern und bereits wieder darüber hinausdenken, scheint es an der Zeit, die politische Bedeutung des Komponisten genau zu untersuchen. Denn es ist das politische Narrativ seiner Werke, das zu deren bemerkenswerter Beständigkeit beiträgt. Im Zusammenhang steht das mit Ereignissen, die größer sind als jeder Einzelne. Beethoven, der im politisch progressiven Bonn aufwuchs, immatrikulierte sich 1789 an der neu gegründeten Bonner Universität – genau in jenem Jahr, als im nahen Frankreich die Revolution ausbrach. Als er 1792 seine Karriere als Musiker in Wien fortsetzte, traf er dort auf eine künstlerisch reiche, politisch jedoch extrem reaktionäre Situation. Beethovens in diesem Umfeld riskante Bewunderung für Napoleon Bonaparte, der damals Erster Konsul der Republik Frankreich war, kühlte bald ab. Trotzdem faszinierte ihn der spätere Kaiser der Franzosen weiterhin und in seiner kulturellen Welt sah er sich als eine Art Rivale – als ein »Generalissimus« im Reich der Klänge. In späteren Jahren, als seine Welt mit dem zunehmenden Gehörverlust immer stiller wurde, schuf er jene Werke, die bis heute nachhaltigen Einfluss haben. Darunter die neunte Sinfonie, deren Ursprünge bis in Beethovens Jugendjahre in Bonn zurückreichen.
J. S. Lyser: Beethoven in Heiligenstadt. Zeitgenössische Zeichnung. © akg-images/picturedesk.com
Wie Mozart war auch Beethoven ein versierter Improvisator, für den sprunghafte Spontaneität, dramatische Überraschungen und ästhetische Risikobereitschaft wesentlich waren. Beethovens Ziel war es, starke Gefühle im Hier und Jetzt zu vermitteln. Die Glut des Augenblicks, die Momentaufnahme intensiver menschlicher Empfindungen erscheinen in jeder Hinsicht ewig. Wenn Leonore dem schändlichen Pizarro die Worte »Töt erst sein Weib!« entgegenschleudert, wenn der Bariton die orchestralen Turbulenzen der Neunten mit »O Freunde, nicht diese Töne!« beruhigt, dann tragen diese Gesten eine weit über den unmittelbaren Kontext hinausreichende, substanzielle Geisteshaltung in sich.
Wie konnte ein Komponist »Symbole des Vortrefflichen« (um es mit Schillers Worten zu formulieren) ersinnen, die eine Freiheit und soziale Reformen abbilden, die sich in der damaligen Realität kaum erreichen ließen – weder in den autokratischen deutschsprachigen Ländern noch in der chaotischen Republik Frankreich und wahrscheinlich nicht einmal in unserer Gegenwart? Wie konnte die fünfte Sinfonie zum Widerstand gegen den Faschismus wachrütteln und die Pastorale, die sechste Sinfonie, in den Dienst unserer zeitgenössischen Umweltschutzbewegung treten?
Die Globalisierung der Gesellschaft lässt der Musik Beethovens eine neue, frische Wahrnehmung angedeihen. Seit Adrian Leverkühn, der Protagonist aus Thomas Manns Doktor Faustus, versucht hat, das Versprechen, das Beethovens Neunte birgt, zu zerstören, ist viel Zeit vergangen. Mann, der sein Buch nach der Flucht vor Hitlers Regime im kalifornischen Exil schrieb, platzierte seine verzweifelte Botschaft vor dem Hintergrund von Beethovens leuchtender letzter Sinfonie. Wie wir noch sehen werden, nahm Beethoven in seinen Entwürfen positiver Symbole (unter denen An die Freude das am meisten gefeierte ist) diese dystopischen Schatten bereits vorweg. Seit damals hat der Traum der Neunten den Globus umschlungen – von den rituellen Masseninszenierungen Japans bis zu einem Flashmob im katalonischen Sabadell, dessen Videoaufzeichnung mittlerweile mehr als 85 Millionen Menschen auf YouTube gesehen haben. Dieser aufregende Weg, der noch lange nicht zu Ende ist, ist ein Resultat unserer Historie, eine sehr menschliche, von Schmerz und Opfer, Standhaftigkeit und Mut geprägte Geschichte.
»Es steckt was Revolutionäres in der Musik!«
Diese Reaktion auf Beethoven stammt angeblich von jenem habsburgischen Monarchen, der während der gesamten Zeit, in der Beethoven in Wien lebte – von 1792 bis 1827 –, regierte. Kaiser Franz spürte etwas in Beethovens Musik, das ihm verdächtig erschien und sein Misstrauen weckte. »Es steckt was Revolutionäres in der Musik!« weist auf eine Qualität in der Musik, die dem Kaiser Unbehagen verursachte.
Auf derartige Beiklänge reagierte der Monarch alarmiert. Immerhin war er der Neffe von Marie-Antoinette, jener österreichischen Erzherzogin, die als Ehefrau König Ludwigs XVI. Königin von Frankreich wurde. Im Jahr 1793, vier Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und bald nach Beethovens Ankunft in Wien, waren Ludwig und Marie-Antoinette eingekerkert worden, bevor man beide in Paris enthauptete. Angesichts dieses Schreckens war es vordringliche Priorität des Habsburgerkaisers, während seiner Regentschaft jede derartige Revolution in Österreich zu verhindern.
Mit starrköpfiger Beharrlichkeit überdauerte Franz schließlich seinen weitaus brillanteren französischen Rivalen Napoleon Bonaparte. Anders als der erbliche Kaiser von Österreich war der Korse aus bescheidenen Verhältnissen gekommen und hatte sich während der Aufstände im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution nach oben gearbeitet. Seine bemerkenswerten militärischen Erfolge machten Napoleon berühmt, 1799 wurde er Erster Konsul der Französischen Republik.
Leidenschaftlich hoffte Beethoven zu jener Zeit, der Einfluss dieser französischen Leitfigur würde positiv auf Politik und Kultur wirken. Doch so viel Zuversicht war in Österreich nicht realistisch. Anders als sein Vorgänger Kaiser Joseph II. in den 1780er-Jahren war Kaiser Franz kein progressiver Lenker seines Staates, sondern fühlte sich durch Napoleons soziale und politische Reformen bedroht. 1794 war des Kaisers »Grauen vor ›Demokratie‹ ebenso krankhaft geworden wie seine Feindseligkeit gegenüber jeder Art von Veränderung«. Ein Historiker wies darauf hin, dass der Kaiser »überall Verschwörung roch« und sich seine Angst vor Revolution zu einer »institutionalisierten Paranoia« verfestigte.
Dieser politische Hintergrund steckt den Rahmen für unsere Erkundung der politischen Überzeugungen Beethovens ab. Der junge Komponist hatte den Geist der Aufklärung in den 1780er-Jahren förmlich aufgesogen – Immanuel Kants »Kritiken«, liberale Reformen, kultureller Tatendrang –, aber auch den Schrecken und die Polarisierung erlebt, die auf den Ausbruch der Französischen Revolution 1789 folgten. Erstaunlich, wie kraftvoll sich das Erbe eines Musikers im Jahr 2020 zeigt – immerhin ein Vierteljahrtausend nach seiner Geburt. Diese Tatsache lässt sich teilweise mit der universellen Sprache der Musik erklären. Sie macht es zum Beispiel möglich, dass das »Freude«-Thema der neunten Sinfonie die Hymne der Europäischen Union wurde, während Friedrich Schillers Verse selbst nie offiziell übernommen wurden. Ein anderer Faktor ist die zunehmende Polarisierung der Politik des 21. Jahrhunderts. Es sind merkwürdige Parallelen, die die Ära Beethovens mit unserer Gegenwart verbinden. Viele, die den Ausbruch der Französischen Revolution begrüßt hatten, waren bald desillusioniert. Das ähnelt dem 1989 beginnenden Zusammenbruch der Sowjetunion, der zu einem fehlgeleiteten Optimismus über ein bevorstehendes Zeitalter der Demokratie führte.
Beethovens Welt zu erkunden bedeutet, sich Spannungen und Widersprüchen gegenüberzusehen – den über weite Strecken erfolglosen Reformen des aufgeklärten Absolutismus unter Joseph II. und dem prekären Reiz des revolutionären Frankreichs, dem deutschen »Flickenteppich« aus Klein- und Mittelstaaten, den Beethoven in jungen Jahren erlebte, und der autokratischen Habsburgermonarchie, der französisch-deutschen Grenzregion am Rhein und der Hauptstadt des ausgedehnten vielsprachigen Reiches an der Donau. Außerhalb der verwirrenden Komplexität historischer Voraussetzungen formt der Künstler Visionen seiner Vorstellungskraft. Es ist aufregend, sich mit dem Bestreben des Komponisten auseinanderzusetzen, auf das ganze Durcheinander einer turbulenten Epoche zu reagieren. Während Napoleon Bonapartes Aufstieg und Fall auf der Bühne der Welt nichts als längst vergangene Geschichte ist, haben Beethovens musikalisches Vermächtnis und damit seine Reaktion auf die politischen Umstände seiner Zeit bis heute unvermindert Bestand, auch wenn das Potenzial seines Werks nach wie vor nicht ausgeschöpft ist. Verständnis und Wertschätzung profitieren vom Wissen um den Zusammenhang. Wie wir sehen werden, vermitteln die kontrastreichen Erzählstränge der Werke Beethovens weitaus mehr als ein neutrales Abspielen von Tönen.
Wie war es für den sechzehnjährigen Hofmusiker Beethoven, im Jahr 1787 für drei Monate von Bonn nach Wien zu reisen? Welche Erfahrungen machte er, als er im Revolutionsjahr 1789 an der Bonner Universität inskribierte? Wie formte sein Aufwachsen im Rheinland während einer Schlüsselära seine Einstellungen gegenüber Ästhetik und Politik? Welche Rolle spielten seine musikalischen Vorgänger Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn für seinen künstlerischen Weg?
Die Regentschaft Kaiser Josephs II. brachte eine Welle von Reformen von oben, die der Vernunft folgen wollten: die »weiße Revolution« des aufgeklärten Absolutismus. Joseph II. nahm für sich in Anspruch, die französischen Revolutionäre von 1789 hätten etwas angestrebt, das er längst zustande zu bringen versucht hatte. Im Jahr 1783 verkündete er: »Ich habe die von Vorurteilen und eingewurzelten alten Gewohnheiten entsprungenen Umstände durch Aufklärung geschwächt und mit Beweisen bestritten.« Er dämmte die Macht der Kirche ein, förderte religiöse Toleranz, war ein Verfechter des Gedankens menschlicher Gleichheit, hob die Leibeigenschaft ebenso auf wie viele Privilegien von Adel, Hof, Klerus, Zünften und Städten. Unzähligen Bittstellern gewährte Joseph II. eine persönliche Audienz. Als Herrscher befürwortete er Kants Definition der Aufklärung als einen »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Er reformierte die Volksschulen, ließ Krankenhäuser errichten und trat Obskurantismus und religiösem Aberglauben entgegen.
Die soziale Revolution erwies sich als zerbrechlich, stammte sie doch von einem Herrscher, der umgeben war von Ministern aus altem Adel. In welchen Fallstricken sich Josephs II. Tugenden verfangen konnten, illustriert seine Unterstützung von Mozarts Oper Le nozze di Figaro. Der Kaiser verstand etwas von Musik und hatte 1782 bereits Mozarts deutsches Singspiel Die Entführung aus dem Serail gefördert. Vier Jahre später arbeitete Mozart mit dem Librettisten Lorenzo da Ponte zusammen, der das zweite Stück der Figaro-Trilogie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais adaptiert hatte. Im Paris des Jahres 1784 war das Stück, das aristokratische Vorrechte und soziale Ungleichheit angreift, eine Sensation gewesen. Da Joseph II. 1785 seine Erlaubnis für eine Aufführung des Dramas in Wien verweigert hatte, begann eine Rezension von Mozarts Figaro in der Wiener Realzeitung mit der Feststellung, man würde heutzutage eben singen, was auszusprechen verboten sei. Da Ponte hatte zwar ein paar revolutionäre Frechheiten von Beaumarchais ausgelassen, dafür jedoch eigene hinzugefügt. Obwohl der aufgeklärte Kaiser der Aufführung der Oper zugestimmt hatte, beschädigte sie Mozarts Position innerhalb des Adels. Die Subskriptionslisten für seine Instrumentalkonzerte, bislang von Mitgliedern des Hochadels gezeichnet, schmolzen im Nachhall des Figaro, der ja auf dem die Aristokratie kritisierenden und eigentlich verbotenen Beaumarchais-Stück beruhte, rasch zusammen.
Es gibt Parallelen zwischen Mozarts 1786 einsetzenden Schwierigkeiten und den politischen Problemen, die den zunehmend isolierten Kaiser plagten, dessen Reformen nach seinem Tod 1790 vielfach revidiert wurden. Dieses außergewöhnliche Jahrzehnt, in dem die Macht dem Volk zu dienen versuchte, sollte mit Don Giovanni noch eine weitere Mozart-Oper sehen: mit drei Gesellschaftsklassen auf der Bühne, deren jede von einer eigenen Musik dargestellt wird. Alle drei Schichten treffen im selben Ballsaal aufeinander, wo sie von ihrem aristokratischen Gastgeber Don Giovanni im Namen der Freiheit begrüßt werden.
Beethoven besuchte Wien erstmals in der Zeit von Januar bis April 1787. Als er eintraf, wurde Mozart gerade in Prag gefeiert, wo sein Figaro so enorm erfolgreich war, dass er den Auftrag zum Don Giovanni erhielt, der im Oktober 1787 in der böhmischen Hauptstadt uraufgeführt werden sollte. Zu dieser Zeit residierte Mozart noch in repräsentablen Wiener Wohnungen, bevor er aufgrund finanzieller Engpässe aus der Inneren Stadt wegzog. In den Wochen zwischen Mozarts Rückkehr aus Prag am 12. Februar und Beethovens Abreise im April gab es hinreichende Gelegenheiten für eine Begegnung der beiden Komponisten, zumal es seine Verbindungen zum Adel waren, die dem Jüngeren den Besuch ermöglicht hatten. Berichten zufolge hörte Beethoven Mozart spielen. Anekdoten darüber, dass Beethoven für Mozart improvisiert hätte, sind zwar plausibel, aber nicht belegt. Beethovens Beschäftigung mit Don Giovanni spiegelt sich in verschiedenen Werken – von der Mondscheinsonate bis zu den Diabelli-Variationen – wider. Und zu jener Zeit, als ein Aufeinandertreffen möglich war, konzentrierte sich Mozart ganz auf diese Oper.
Joseph Haydn auf der anderen Seite lebte damals nach wie vor isoliert in Eisenstadt, wo er dem Fürstenhof der Esterházy diente. Erst nach dem Tod seines Dienstherrn Fürst Nikolaus im Jahr 1790 war er frei und kam dank seiner Englandaufenthalte zu beachtlichem Wohlstand. Bereits 1785 war in einer Londoner Zeitung das Ansinnen zu lesen, man möge Haydn, diesen »Shakespeare der Musik«, im Namen der Freiheit kidnappen und nach England bringen: »Käme es für manche aufstrebende Jünglinge nicht einer erfolgreichen Pilgerfahrt gleich, ihn vor seinem Schicksal zu retten und nach Großbritannien zu verpflanzen, jenes Land, für das seine Musik gemacht zu sein scheint?« Da sich Bonn auf Haydns Route befand, unterbrach er dort seine Reise von Wien nach London im Dezember 1790 ebenso wie seine Rückfahrt im Juli 1792. Zu diesem Zeitpunkt trafen einander Haydn und der junge Beethoven, der ihm anscheinend seine bis dahin eindrucksvollste Komposition zeigte: die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., eine Hommage auf den erst kurz zuvor verstorbenen österreichischen Monarchen.
Die Lebensläufe des großen musikalischen Triumvirats Haydn–Mozart–Beethoven erstrecken sich über die Ära der Französischen Revolution, wobei sich der umwälzende Einfluss dieses politischen Ereignisses besonders stark im Werk des jüngsten der drei niederschlug. Der jugendliche Beethoven sog den Geist der Aufklärung förmlich auf. Zu seinen Bonner Lehrern und Mentoren gehörten viele, die eng mit aktiven Organisationen jener Zeit verbunden waren – mit Freimaurern, Illuminaten und der Lesegesellschaft. Beethovens Umzug nach Wien bald nach dem Ausbruch der Revolution in Frankreich brachte ihn in ein kulturell reiches Umfeld, die Politik in den habsburgischen Landen nahm nun jedoch eine reaktionäre Richtung. Die Stadt, in der sich Mozart 1781 und Haydn 1790 niedergelassen hatten, wurde 1792 Beethovens Heimat. Es war jenes Jahr, in dem der Konflikt eskalierte und Krieg ausbrach zwischen dem revolutionären Frankreich und absolutistischen Staaten wie Österreich, wo man die Entwicklung in Frankreich beklommen verfolgte. In seinem Tagebuch hielt Beethoven jenen Moment fest, in dem er auf seiner Reise nach Österreich dem Postkutscher ein Trinkgeld gab, als dieser »wie ein Teufel« durch den enger werdenden Frontbereich zwischen französischen und hessischen Truppen fuhr.
Dieser ereignisreiche historische Hintergrund ist essenziell für das Verstehen von Beethovens turbulenter politischer Gegenwart und er hilft uns auch die Art und Weise zu begreifen, in der seine Musik kulturelle Werte ausdrückt. Die Hoffnungen und unerfüllten Versprechen der Französischen Revolution spielten für die schöpferische Arbeit Beethovens eine große Rolle. Seine Skepsis gegenüber Kaiser Franz und seine Ambivalenz gegenüber Napoleon spiegeln seine Reaktion auf weitreichende Ereignisse wider. Die unerschütterliche Begeisterung des Komponisten für die Prinzipien der Französischen Revolution existierte parallel zu seiner Geringschätzung repressiver absolutistischer Herrschaft. Zentrale Aspekte seiner ästhetischen Auffassung und seiner musikalischen Inhalte sind untrennbar damit verbunden. Kunstwerke müssen äußere Umstände nicht unbedingt widerspiegeln, können jedoch antagonistische Werte darstellen. Wie wir sehen werden, bezieht sich die Schilderung von Heroismus in der Eroica auf einen mythischen Zusammenhang, der Bonapartes Versagen, zum Helden zu werden, bloßstellt. Die Idee einer transformierenden Kraft der Kunst, wie sie von Künstlerkollegen – darunter Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Jean Paul Richter – propagiert wurde, übte großen Einfluss auf Beethovens Schöpferkraft aus.
Dokumente aus Beethovens letzten Jahren zeugen davon, dass er nach wie vor über politische Belange nachdachte und häufig enttäuscht von den Herrschenden war. Im September 1825 unterhielt sich Beethoven mit seinem Pariser Verleger Moritz Schlesinger, der seine Antworten und Kommentare für den tauben Komponisten in ein Konversationsheft schrieb. Schlesinger hielt fest, »wäre [Napoleon] statt unersättlicher Welteroberer 1ter Konsul geblieben, so wär er einer der größten je existierenden Menschen«. Beethovens Antwort ist zwar unbekannt, doch Schlesingers Replik »Der Ehrgeiz« benennt wohl jenen charakterlichen Makel, der Napoleon in Beethovens Augen als wahren Helden disqualifizierte. Über den österreichischen Kaiser Franz spottete Schlesinger während dieser Unterhaltung: »Der Kaiser ist aber ein dummes Vieh, er sagt, ich brauch kein’ Gelehrten, gute Bürger will ich.«
Ein anderer Kommentar, der Aufschluss über Beethovens konfliktbehaftete Haltung gegenüber Napoleon gibt, stammt von Johann Doležalek, und zwar aus dem Februar 1827, als der Komponist im Sterben lag. Nachdem er sich über das französische Königsgeschlecht der Bourbonen beschwert hatte, sagte Beethoven über Napoleon: »In dem Scheißkerl habe ich mich geirrt.«
Beethovens Bekenntnis, er hätte falsche Hoffnungen in Napoleon gesetzt, stimmt mit unterschiedlichen Quellen überein, die seine Karriere und seine künstlerischen Errungenschaften in neuem Licht erscheinen lassen. Der Komponist war weit davon entfernt, sich der Politik gegenüber indifferent zu verhalten. Seine Affinität zum Werk Schillers und zu dessen Ideen vom affirmativen Kunstwerk, das Widerstandspotenzial hat, und vom Streben nach »Symbolen des Vortrefflichen« waren von enormer Bedeutung. Der Stoff für Beethovens Oper Fidelio, für den er ein düsteres reales Ereignis aus der Zeit der Schreckensherrschaft in Frankreich wählte, ist von bestechend aktueller politischer Relevanz. Außergewöhnlich ist auch der Einfluss, den Beethovens letzte Sinfonie mit dem Chorsatz nach Schillers Gedicht An die Freude hat – ein Werk, das den Komponisten lange beschäftigt hatte und über das er, wie sich aus den Manuskripten ablesen lässt, einige Zweifel hegte, da er auch einen rein instrumentalen Schlusssatz skizzierte.
Allerdings haben einige zeitgenössische Kommentatoren skeptischere, alternative Sichtweisen auf Beethovens kulturelles und politisches Format entwickelt. In einem dieser Zugänge wird auch der Versuch unternommen, jene Stücke des Komponisten, die besonders propagandistisch waren – darunter die für den Wiener Kongress geschriebene Kantate Der glorreiche Augenblick – zu rehabilitieren. Eine andere revisionistische Herangehensweise verknüpft Beethovens späten musikalischen Stil mit der reaktionären Ausrichtung der österreichischen Politik Metternichs. In einem radikaleren Ansatz wird der Wert der Freiheit an sich angezweifelt, indem Autonomie als leere Hülle oder getarnte Autorität demaskiert wird. Reduktionistische Sichtweisen verweisen auf den Reiz des Neuen oder den Anschein von Raffinesse – beides würde auf Kosten der ästhetischen Substanz und der historischen Genauigkeit gehen. Weit vielversprechender erweist sich da die Suche nach einem schöpferischen Potenzial jenseits konventioneller Auffassungen.
Um 1814, während des Wiener Kongresses, als Beethoven mehr Aufmerksamkeit erhielt und mehr Geld verdiente als jemals zuvor oder danach, erklärte der Komponist, lieber als alle Monarchen und Monarchien sei ihm das »geistige Reich«: »Mir ist das geistige Reich das liebste, und die oberste aller geistigen und weltlichen Monarchien.« Vor dem Hintergrund von Beethovens ereignisreichem Leben unternimmt der folgende Essay eine Erkundungsreise durch dessen künstlerisches »geistiges Reich«.
Während Beethovens prägender Jugendjahre war das Rheinland alles andere als ein beschaulich-friedvoller Ort. Der in Bonn wehende politische Wind unterschied sich radikal von jenem, dem Beethoven in Österreich begegnen sollte. Als junger Hofmusiker profitierte er von einem glücklichen Zusammenwirken anregender Entwicklungen. Da Erzherzog Maximilian Franz, Kaiser Josephs II. jüngster Bruder, seit 1784 als Kurfürst in Bonn residierte, bestanden enge Verbindungen zwischen der kleinen Stadt am Rhein und der fernen, zehnmal so großen Residenzstadt an der Donau. Maximilian Franz setzte jenes Reformwerk, das sein Vorgänger Kurfürst Maximilian Friedrich begonnen hatte, fort – ein Reformwerk, nicht unähnlich jenem Josephs II. in Wien. Der Klerus wurde an die Kandare genommen, die Kunst und ihre Institutionen wurden neu organisiert und gefördert, die Akademie Bonn 1785 in den Rang einer Universität erhoben. Johannes Neeb wurde engagiert, um die Philosophie Immanuel Kants zu lehren, Männer wie der spätere Revolutionär Eulogius Schneider und Friedrich Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich unterrichteten griechische Literatur, Ästhetik, Ethik und Rechtswissenschaften.
Im Laufe der 1780er-Jahre wurde Bonn zu einem Zentrum der Aufklärung, jener fragilen und doch so enorm produktiven Geistesströmung, die liberale Reformen von oben und nicht aufgrund drohender Revolutionen von unten auslöste. Bonn hätte ein zweites Weimar werden können. Doch die Umwälzungen im Gefolge der französischen Okkupation spülten Maximilian Franz’ Regentschaft 1794 hinweg, weniger als zwei Jahre nach Beethovens Abreise. Niemand jedoch hätte diese Ereignisse ein paar Jahre zuvor prophezeien können.
Als ältester überlebender Sohn eines Alkoholikers – seine geliebte Mutter war bereits 1787 gestorben – schlug Beethoven psychologisch betrachtet den Pfad in Richtung Kompensation durch außergewöhnliche Leistungen ein. Andererseits dürfte das tyrannische, verletzende Verhalten seines Vaters Beethovens Widerstandskräfte gestählt haben. Insgesamt schufen seine schwierige Vaterbeziehung und der frühe Verlust seiner Mutter eine Leere, die von Freunden, Vorbildern, Kunst und Ideen gefüllt wurde. Um 1784 geriet Beethoven über seine enge Freundschaft mit Franz Gerhard Wegeler in den Einflussbereich der kultivierten Familie von Breuning, die ihn mit deutscher Literatur und Poesie vertraut machte. Während der Sommer dieser Jahre dürfte er immer einige Zeit auf dem Landsitz der von Breuning in Kerpen westlich von Köln verbracht haben, wo die verwitwete Helena von Breuning eine schützende Mutterrolle gegenüber Beethoven einnahm. Wegeler wiederum studierte während der 1780er-Jahre in Wien Medizin und half, den Weg für Beethovens Rückkehr nach Wien zu ebnen. Jahre später, als ihn die Symptome seiner unheilbaren Taubheit quälten, bekannte Beethoven Wegeler gegenüber dieses Problem.
Ein bedeutendes Vorbild war der Komponist und Hoforganist Christian Gottlob Neefe, ein aus Sachsen stammender Protestant, der in Leipzig studiert hatte. Neefe war ein begeisterter Bewunderer Johann Sebastian Bachs und eifrig bemüht, dessen Vermächtnis weiterzugeben. Auch seine ersten Begegnungen mit der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Mozart verdankte Beethoven Neefe. Unter Neefes eigenen größeren Kompositionen befinden sich zwölf beeindruckende Serenaden nach Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Jahr 1782 vertonte Neefe mit Dem Unendlichen (für vier Chorstimmen und Orchester) eine weitere Ode Klopstocks. Dieses Stück ist Teil jenes größeren Ganzen, aus dem acht Jahre später Beethovens gewichtige Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. hervorgehen sollte.
Neefe war Freimaurer, übernahm später einen Part im Illuminatenorden und trat schließlich der Lesegesellschaft bei – allesamt der Aufklärung nahestehende Organisationen. Die beiden letztgenannten Vereinigungen erfüllten in den 1780er-Jahren weitgehend die Aufgaben der 1776 in Bonn gegründeten Freimaurerloge, die sich infolge der Repressalien Kaiserin Maria Theresias aufgelöst hatte. Zu den Mitgliedern des 1781 gegründeten Bonner Kapitels des Illuminatenordens gehörten viele, die Beethoven eng verbunden waren, darunter der Hornist und spätere Verleger Nikolaus Simrock sowie der Geiger Franz Ries, der Vater von Beethovens Schüler und Freund Ferdinand Ries. Neefe war ein Anführer dieser Gruppe. Als der Illuminatenorden 1785 aufgelöst wurde, setzte der Bonner Zirkel seine Aktivitäten in der Lese- und Erholungsgesellschaft fort. Zu ihren Mitgliedern zählten viele der Schlüsselfiguren rund um Beethoven während seiner letzten Bonner Jahre, auch Graf Ferdinand Waldstein, der Beethoven in Wien wesentliche Kontakte vermittelte und in das Stammbuch des jungen Komponisten schrieb: »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens [sic] Händen.« Welche Bedeutung die Lesegesellschaft für Beethoven hatte, mag man an der Tatsache ermessen, dass sie die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. in Auftrag gab.
Eine weitere wesentliche, vielfach noch unterschätzte Figur in einer prägenden Phase von Beethovens Erziehung war der »Säkularkleriker« Eulogius Schneider, der sich dem Prinzip der Volksaufklärung verschrieben hatte: Die Grundsätze der Aufklärung müssten öffentlich verkündet werden, um solcherart die Freiheit der Gedanken, die Menschenrechte, die Überwindung der Aristokratie und die Zurückweisung der kirchlichen Autorität zu fördern. Liberté, égalité, fraternité – mit Vehemenz vertrat Schneider die Ideale der Französischen Revolution und versuchte diese praktisch umzusetzen. Doch sein leidenschaftliches Eintreten für die Prinzipien der Aufklärung ließen Schneider auf jeder seiner Karrierestufen Grenzen der Konvention und der Autorität überschreiten, was immer wieder Konflikte verursachte.
Links: Eulogius Schneider: »Gedichte«. Titelseite. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Eine Seite aus »Gedichte«, die Beethoven als Abonnenten ausweist: Hr. van Be[e]thoven, Hofmus[ikus]. Privatsammlung Luigi Bellofatto
Im Jahr 1789, am Vorabend der Revolution, erhielt Schneider seine Berufung zum Professor der Ästhetik und der Kunst an der Bonner Universität. Gleichzeitig begann Schiller Geschichte an der Universität von Jena zu unterrichten. Und es war exakt dieses Revolutionsjahr, in dem sich der um eine Generation jüngere Beethoven an der Universität von Bonn einschrieb. Dieses zeitliche Zusammentreffen war durchaus dazu angetan, den jungen Komponisten zu beeindrucken, sah er es doch als Beispiel dafür, wie Ideen das menschliche Schicksal ganz real beeinflussen konnten. Unter all seinen Lehrern war Schneider derjenige, an dessen Karriere bald höchst anschaulich sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren politischen Handelns abzulesen waren.
Viele seiner Texte stellte Schneider in dem Band Gedichte zusammen, der 1790 publiziert wurde. Auf der Subskriptionsliste für das Buch stand auch »Hofmusikus Bethoven« [sic] (Abb. S. 19). Eine ganze Reihe von Belegen zeugt davon, wie bedeutsam Schneider für Beethoven in jener Zeit war. Es war Schneider, der – als Mitglied der Lesegesellschaft – den Vorschlag machte, Kaiser Josephs II. Tod mit einem musikalischen Werk zu gedenken, womit er die Joseph-Kantate initiierte. Schneider selbst verfasste eine poetische Elegie auf den Tod Josephs II., die in seine Gedichte Eingang fand. Teile des Kantaten-Textes, darunter die Phrase »Ungeheuer des Fanatismus«, widerspiegeln Schneiders Einfluss, dessen Interesse für zeitgenössische Poeten wie Klopstock oder Gellert sich mit jenem Beethovens deckt. Zweifellos hinterließ der talentierte Redner Schneider mit seinem Gespür für rhetorisches Pathos einen tiefen Eindruck bei dem jungen Komponisten. Besonders nachhaltig dürfte Schneiders scharfe Kritik am katholischen Ritus und an der strengen kirchlichen Lehrmeinung im Verband mit seinen deistischen oder pandeistischen Überzeugungen gewirkt haben. Eine der Dichtungen, in denen Schneider seine Gesinnung darlegte, ist An die Theologie:
Lebe wohl Theologie!
Lange hast du mich gequälet,
Weibermärchen mir erzählet,
Und gedacht, ich glaubte sie.
Speise, wen du willst, mit Luft,
Hülle dich in falschen Schimmer:
Lebe wohl! Uns trennt auf immer
Eine himmelweite Kluft.
Ganz anders klingt, was Schneider über die Natur schrieb:
Heilige Mutter Natur!
Bist du denn stiefmütterlich mit
Dem katholischen Deutschlande umgegangen? Nein! Wer dies behauptet, der
Ist ein Undankbarer, ein Lästerer wider dich …
Heilige Mutter Natur!
Beethovens Unwille, sich dem Dogma zu fügen oder eine Messe zu besuchen, ist ebenso gut dokumentiert wie seine leidenschaftliche Hingabe an die Natur. Oft zog er während der Sommermonate aus Wien in eines der nahen ländlichen Dörfer, eine langjährige Gewohnheit, die mit seinem sechsmonatigen Aufenthalt in Heiligenstadt 1802 ihren Anfang nahm. Wahrscheinlich erinnerte ihn die Landschaft um Heiligenstadt an das Rheinland, ist die Lage von Bonn mit dem Rhein und dem Siebengebirge doch jener von Wien an der Donau mit dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg durchaus vergleichbar, auch wenn sich Bonn und Siebengebirge an gegenüberliegenden Rheinufern befinden.
Aufgrund seiner unverblümt geäußerten Ansichten und scharfen Attacken auf den Katholizismus wurde Eulogius Schneider 1791 in Bonn entlassen, fand jedoch eine neue Wirkungsstätte im nahen Straßburg in Frankreich, wo er unter dem Revolutionsregime schnell berühmt wurde. Schneider war führend am Sturz von Bürgermeister Philippe Friedrich Dietrich beteiligt und übersetzte 1792 als erster die Marseillaise für die vorwiegend Deutsch sprechenden Elsässer. Etwa zur selben Zeit entwickelte der aus Deutschland stammende Pariser Klavierbauer Tobias Schmidt den Prototyp einer Hinrichtungsmaschine, die bald zur Anwendung kommen sollte. Schmidts Guillotine-Patent stellte sich als weitaus profitabler heraus als der Verkauf seiner Musikinstrumente.
Schneider trug entscheidend dazu bei, dass Joseph II. in Beethovens Joseph-Kantate als Bezwinger des »Ungeheuers des Fanatismus« dargestellt wurde. Die Ironie daran ist, dass Schneider in glühender politischer Leidenschaft selbst Grenzen überschritt und als öffentlicher Ankläger während der Schreckensherrschaft 1793 dreißig Menschen auf die Guillotine schickte. Kurz danach wurde auch Schneider ein Opfer des Regimes von Maximilien de Robespierre: Er wurde verhaftet und im April 1794 enthauptet (Abb. S. 22). Beethoven hat Schneider auch in späteren Jahren nicht vergessen, was an einer Eintragung in einem seiner Konversationshefte abzulesen ist.
Links: Porträt Eulogius Schneider. Aus: »Gedichte«. Privatsammlung Luigi Bellofatto Rechts: Christian Wilhelm Ketterlinus: »Eulogius Schneiders Hinrichtung am 1. April 1794 in Paris«. Kupferstich. Historisches Museum Straßburg.
Leben und Karrieren standen in den Jahren nach der Revolution nicht selten auf des Messers Schneide. Ein Beispiel dafür ist auch Georg Forster, der bekannte Naturforscher, Ethnologe und Reiseschriftsteller, der seinen Vater Johann Forster auf James Cooks zweiter Weltumsegelung begleitete. Georg Forsters Buch, das 1780 unter dem Titel Reise um die Welt auf Deutsch erschien, machte ihn berühmt und beeinflusste Goethe, Johann Gottfried Herder und Alexander von Humboldt. In einem Tagebuch, das Beethoven 1812 zu schreiben begann, kopierte er Ausschnitte aus Forsters deutscher Übersetzung von Sakontala, einem Sanskrit-Drama aus dem 5. Jahrhundert von Kalidasa, der dafür alte indische Quellen verwendet hatte. Dieselbe Übersetzung faszinierte in den 1790er-Jahren Goethe und auch Schiller, der festhielt, »dass es im ganzen griechischen Altertum keine poetische Darstellung schöner Weiblichkeit oder schöner Liebe gibt, die nur von Ferne an die Sakontala reichte«. Forster, prominenter Freimaurer und wohl auch Illuminat, wurde 1788 Oberbibliothekar an der Universität Mainz, vier Jahre, bevor die Franzosen diesen Teil des Rheinlands besetzten. Als Anhänger der Revolutionsideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schloss er sich den Bestrebungen an, auf deutschem Boden eine Republik nach französischem Modell zu gründen. Nach der Gründung der Mainzer Republik reiste er 1793 als deren Abgesandter nach Paris. Am 30. März – zwei Tage, bevor Eulogius Schneider enthauptet wurde – nahm der Nationalkonvent das Ansuchen der Delegierten zur Angliederung des jungen Freistaates Mainz an Frankreich an. Zu Forsters Leidwesen wurde das Gebiet der Mainzer Republik bald darauf wieder von österreichisch-preußischen Koalitionstruppen erobert. Forster, nun zum Verräter erklärt, starb Anfang 1794 einsam in Paris.
In den von Schiller und Goethe gemeinsam verfassten Xenien, satirischen Epigrammen von 1797, bezogen sich die beiden sowohl auf Schneider als auch auf Forster. Das Epigramm mit der Nr. 337 trägt den Titel Unglückliche Eilfertigkeit und kritisiert Schneiders unermüdlichen Ehrgeiz und jähen Fall:
Ach, wie sie Freiheit schrien und Gleichheit, geschwind wollt’ ich folgen, Und weil die Trepp’ mir zu lang deuchte, so sprang ich vom Dach.
Ein weiteres Beispiel für die prekäre Lage nach der Revolution ist von Beethovens engem Freund Franz Wegeler überliefert. Als er, Rektor der Bonner Universität und versierter Arzt, den Studenten jeden Kontakt mit infizierten französischen Soldaten während der Besetzung untersagte, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, wurde Wegeler in einem Artikel der Pariser Tageszeitung Moniteur bezichtigt, fanatischer Gegner der Republik Frankreich zu sein. »Damals«, hielt er später fest, »war noch la queue de Robespierre kaum weniger giftig, als sein Kopf es gewesen, und es galt den meinigen zu retten.« Vernünftigerweise folgte er darauf hin Beethoven 1794 nach Wien.
Wie findet der von politischen Idealen inspirierte Künstler inmitten polarisierender Ideologien und wiederkehrender Kriegswirren seinen Weg? In Beethovens Augen brachte kein Künstler durch Vernunft gebändigte politische Überzeugungen so gut zum Ausdruck wie Friedrich Schiller, dessen Ideen einer ästhetischen Erziehung großen Einfluss auf den Komponisten hatten. Eine Studie über Schillers Wirkung auf Beethoven in Bonn macht darauf aufmerksam, wie zeitgenössische Dramatik und Literatur die Ansichten des jungen Komponisten geformt haben und wie er später mit eigenen Werken auf die Denker und Schriftsteller seiner Zeit reagierte.
Schiller bekundete keine besondere Affinität zur Revolution in Frankreich. Doch aufgrund des Renommees, das ihm sein frühes Drama Die Räuber (1781) in revolutionären Kreisen eingebracht hatte, erhob der Nationalkonvent »Monsieur Gille« zum Ehrenbürger der Republik. Eine Ironie ist das insofern, als dieses Drama eine gnadenlose Darstellung von reinstem Besitzindividualismus ist: Karl Moor, Idealist, Kopf einer Räuberbande und von Schiller in einem Kommentar einmal als Ungeheuer bezeichnet, teilt die Macht nicht, sondern schwelgt in gewalttätiger Kriminalität – der Zweck heiligt die Mittel, lautet das Prinzip. Die Räuber sind kein Drama über Rebellion an sich, sondern eine Kritik am Ethos der Rebellen und an der anmaßenden Ambition Karl Moors.
Friedrich Schillers Don Carlos, 1787 – noch vor seinem Umzug nach Jena und später nach Weimar – vollendet, vermittelt, dass individuelle Selbstkultivierung vor jedem revolutionären Idealismus steht. Signifikant taucht dieses Werk in Beethovens Bonner Stammbuch, aber auch in anderen Quellen auf. Von der intensiven Beschäftigung des Komponisten mit diesem Werk zeugen zwei Zitate, die er in den 1790er-Jahren Freunden übermittelte:
Ich bin nicht schlimm, mein Vater – heißes Blut
Ist meine Bosheit, mein Verbrechen Jugend.
Schlimm bin ich nicht, schlimm wahrlich nicht – wenn auch
Oft wilde Wallungen mein Herz verklagen,
mein Herz ist gut.
(2. Akt, 2. Auftritt)
Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen,
die Schönheit für ein fühlend Herz. Sie beide
gehören für einander.
(4. Akt, 21. Auftritt)
Das erste Zitat stammt von dem verzweifelten Carlos, dessen geliebte Elisabeth von Valois seinen Vater, König Philipp, geheiratet hatte. Im zweiten Zitat spricht Marquis de Posa eben jene Königin Elisabeth an. Er tritt für die Einheit von Denken und Fühlen, von Kopf und Herz ein, was Schiller und Beethoven gleichermaßen überzeugt befürworteten. Aus derselben Szene im 4. Akt stammt ein weiteres Zitat in Beethovens Bonner Abschieds-Stammbuch. Er hält einen Gedanken Marquis de Posas fest, den dieser kurz vor seinem freiwilligen Opfertod an Carlos und die Nachwelt richtet:
Sagen Sie ihm, dass er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
Nicht öffnen soll dem tötenden Insekte
Gerühmter besserer Vernunft das Herz
Der zarten Götterblume – dass er nicht
Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.
Im Januar 1793, ein paar Wochen nach Beethovens Eintreffen in Wien, berichtete Schillers Freund Bartholomäus Ludwig Fischenich aus Bonn Charlotte Schiller, dass der junge Komponist daran denke, ein anderes bekanntes Werk des Poeten zu vertonen, und zwar eine Ode aus der Entstehungszeit des Don Carlos. Fischenich beschrieb Beethoven als einen »jungen Mann, dessen musikalische Talente allgemein angerühmt werden und den nun der Kurfürst nach Wien zu Haydn geschickt hat. Er wird«, fuhr Fischenich fort, »auch Schillers ›Freude‹, und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas Vollkommenes, denn so viel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.«
Erst Jahrzehnte später, mit der neunten Sinfonie, erfüllte Beethoven sein jugendliches Vorhaben, Schillers An die Freude zu vertonen. Mit dieser späten Verwirklichung demonstrierte Beethoven wahrlich, dass er »die Träume seiner Jugend« geachtet hat, während er nach dem »Großen und Erhabenen« suchte, und dass er nicht daran »irre« wurde, wenn er hörte, dass »des Staubes Weisheit / Begeisterung, die Himmelstochter, lästerte«. Schiller selbst hatte sich in einem Brief an seinen Freund und Mäzen Christian Gottfried Körner aus dem Jahr 1800 von der Ode distanziert. Er bezeichnete sie als »von der Realität abgewandt« und dass der Wert, den das Gedicht hat, »auch nur für uns und nicht für die Welt, noch für die Dichtkunst« gilt. Wie erstaunt wäre wohl Schiller gewesen, hätte er erlebt, wie später dieses Gedicht durch Beethovens Musik die ganze Welt umschließen und Millionen auf beispiellose Weise in seinen Bann ziehen sollte.
Das literarische Engagement des jungen Beethoven zeigt sich auch in der erhaltenen Skizze einer Vertonung von Mephistopheles’ Flohlied, einer Schlüsselszene in Auerbachs Keller aus Goethes Faust. Es ist beeindruckend, dass der junge Komponist Goethes Faust, ein Fragment bereits kurz nach dessen Veröffentlichung 1790 kannte und darauf musikalisch antwortete, auch wenn die definitive Realisierung der Vertonung erst 1809 vollendet werden sollte. Auerbachs Keller, in dem in Goethes Drama das Flohlied gesungen wurde, ist sowohl ein realer Ort in Leipzig als auch fiktive Kulisse, vor der sich Leben und Kunst mischen. Er entspricht sowohl dem Gasthaus Zehrgarten auf dem Bonner Marktplatz, einem bevorzugten Treffpunkt in Beethovens Jugendjahren, als auch den Wirtshäusern und Weinlokalen, in denen sich der Komponist mit Freunden in seinen späteren Wiener Jahren traf. Goethe besuchte Auerbachs Keller als Student in den Jahren zwischen 1765 und 1768, was dem hochpolitischen Lied – eine scharfe Kritik an Nepotismus und Günstlingswirtschaft – eine autobiografische Note verleiht.
Im Faust ist Mephistos Flohlied eines aus einer Handvoll derber Trinklieder, die in Auerbachs Keller gesungen werden. Das Lied beginnt mit »Es war einmal ein König, der hatt’ einen großen Floh« und mündet in einem eindringlich-lauten Chorrefrain, mit dem die letzten Zeilen, in denen es um diese enervierenden Parasiten geht, betont werden: »Wir knicken und ersticken / Doch gleich, wenn einer sticht.« Das abschließende, von allen trinkfreudigen Gästen gesungene Couplet fasst die politische Bedeutung zusammen: Der nutzlose Floh ist der spezielle Günstling des Königs – fein gekleidet und Empfänger unverdienter Ehren. Der Floh steigt in den Rang eines Ministers auf, womit auch dessen Verwandte reiche, großspurige Höflinge und immun für jedwede Kritik werden. In der geschützten Distanz, die Auerbachs Keller darstellte, mussten die Gäste ihre Missachtung jedoch nicht verbergen. Im sechsten Kapitel kehren wir nochmals zu diesem Lied zurück, das 1810, als es gedruckt erschien, eine kontextbezogene Bedeutung hatte, deren Relevanz bezogen auf unwürdige politische Zustände bis heute anhält.
Chorgesang von etwas erhabenerer Art findet sich in Beethovens Vertonung von Der freie Mann, ein Lied aus seinen letzten Bonner Jahren, das später, wie Wegeler belegte, von den Freimaurern verwendet wurde. Der Text von dem blinden französisch-deutschen Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel war im Hamburger Musenalmanach von 1792 erschienen. Die Eröffnungszeilen hatte Wegeler für Freimaurer-Zeremonien adaptiert. Sie lauteten nun: »Was ist des Maurers Ziel?« Die Phrase »freier Mann« war von großer Aktualität und tauchte auch am Ende von Eulogius Schneiders Ode an die Französische Revolution auf: »Ein freier Mann ist der Franzos!«
Im ersten Entwurf Beethovens beginnt Der freie Mann mit vier Männerstimmen in geradem Takt in C-Dur (Abb. unten). Die ersten sechs Noten – sie umreißen das melodische Muster mit einem ansteigenden C-Dur-Dreiklang, der schrittweise abwärts geführt wird, während die dritte Note verlängert, die vierte aber verkürzt ist – erinnern an den Beginn des letzten Satzes der fünften Sinfonie, ein Werk, das fast zwanzig Jahre später vollendet wurde (Abb. S. 26). Diese thematischen Parallelen – umfassendes Motiv, Rhythmus, Tonart und Charakter – sind zu signifikant, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Es zeigt einmal mehr, wie ein musikalisches Kernstück aus Beethovens Jugendzeit zu einem Ehrenplatz in einer seiner berühmtesten Kompositionen kam. Dabei ist die Idee nicht allein auf Der freie Mann und das Finale der Fünften beschränkt. Eine Parallelpassage findet sich in jenem bewegenden Abschnitt des Trauermarsches der Eroica, wenn die Oboe die Melodie übernimmt und die Musik von c-Moll in C-Dur verschiebt, womit das steigende Schema C–E–G zu hören ist und das gehaltene G einem ausdrucksstarken schrittweisen Abstieg nachgibt. Die dritte Strophe von Der freie Mann lautet:
Skizzenvergleich: »Der freie Mann« und das Finale der fünften Sinfonie
Wer, wer ist ein freier Mann?
Dem nicht Geburt noch Titel,
Nicht Samtrock oder Kittel
Den Bruder bergen kann;
Der ist ein freier Mann!
Der ist ein freier Mann!
»Samtrock« und »Kittel« beziehen sich auf die Kleidung von Aristokraten und Geistlichen, deren Stand sie nicht über andere Bürger erheben sollte. Beethovens musikalisches Narrativ verstärkt Pfeffels egalitäre Botschaft, wonach sich kein freier Mensch einer Willkürherrschaft unterordnen dürfe. Die Kernaussagen Brüderlichkeit und Gemeinschaft, die sich auch in der Entscheidung für ein Chorlied widerspiegeln, werden im Finale der fünften Sinfonie noch erhöht, wenn das gesamte Orchester – erweitert um zusätzliche Instrumente wie Posaunen und Piccoloflöte – in einem Tutti seine eindringliche Wirkung entfaltet.
Ein Klangvokabular mit rhetorischen Assoziationen zu Befreiungsideen entwickelte sich zur umfangreichsten kompositorischen Einzelleistung aus Beethovens Bonner Jahren: seine Joseph-Kantate von 1790. Erst im Jahr 1884, beinahe ein ganzes Jahrhundert, nachdem Beethoven Bonn verlassen hatte, tauchte die Partitur der Kantate auf, die in breiteren Kreisen auch heute noch eher unbekannt ist. Zur Aufführung kam das Werk 1790 nicht, was wahrscheinlich daran lag, dass es die Musiker technisch überforderte. Dabei hätte Beethoven auf die Kantate – eine bemerkenswert prophetische Einzelkomposition seiner Bonner Jahre – mit Berechtigung stolz sein können. Nach der Entdeckung des Werks bemerkte Johannes Brahms begeistert: »Es ist alles und durchaus Beethoven. Man könnte, wenn auch kein Name auf dem Titelblatt stände, auf keinen anderen raten.«
Ein Blick auf die Partitur verrät, weshalb Beethoven die Kantate auch in späteren Jahren nie veröffentlichte, hatte er doch zwei der außergewöhnlichsten Passagen seiner Oper Fidelio aus dem Kantatenmaterial destilliert. Ein Vergleich zwischen der Kantate und der Oper (die 1805, also fünfzehn Jahre später, auf die Bühne kam) macht uns auf eine universale Qualität in Beethovens Kunst aufmerksam, die verbindende Kraft gigantischer Schlichtheit, die in der besten Musik seiner Bonner Jahre bereits präsent ist.
Strukturiert ist die Joseph-Kantate symmetrisch aus sieben Nummern. Die Chorstücke zu Beginn und am Ende betrauern den Tod des Kaisers: »Tot! Tot! Tot, stöhnt es durch die öde Nacht, die öde Nacht.« Dieses Wehklagen in c-Moll wird von einer Reihe von Rezitativen und Arien eingerahmt, in deren Zentrum eine Sopranarie mit dem Text »Da stiegen die Menschen ans Licht« positioniert ist. Es sind die mit dem verstorbenen Kaiser gleichgesetzten positiven Werte der Aufklärung, die mit dieser ambitionierten Musik vermittelt werden.
Dunkelheit und die Leere des Todes werden Licht und Hoffnung gegenübergestellt. Die musikalische Symbolkraft ist derart unstrittig, dass Beethoven die Motive und die Orchestrierung später vollständig für seine Oper übernehmen konnte. Auch im Fidelio tritt die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod in Erscheinung: Florestans Gefängnisarie beginnt mit »Gott! Welch Dunkel hier!« und wird mit den Worten »Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir« fortgesetzt. Das durchdringende hohe G auf »Gott!« weicht der tieferen, resignierenden Phrase »Welch Dunkel hier«, womit die Dualität aus Hoffnung und Verzweiflung in eine einzige Äußerung zusammengefasst wurde.
In der Kantate trauert der Chor in c-Moll, für die Gefängnisszene in seiner Oper wählte Beethoven hingegen die um eine Quinte tiefere Tonart f-Moll. Das ermöglicht den leuchtenden Wechsel zu F-Dur für Florestans Delirium und seine Visionen von Leonore, was wiederum tonal zur späteren Sostenuto-assaiPassage in derselben Tonart passt, wenn Volk und befreite Gefangene gemeinsam Zeugen davon werden, wie auch Florestan seine Ketten verliert. Ein durchdringender Aufschrei weist auf eine innere Vision hin, die ihrerseits eine erlösende Szene kollektiver Befreiung von Tyrannei andeutet – solche Erzählformen verleihen der Musik psychologische Tiefe.
Beethovens c-Moll-Pathos ist ein langer roter Faden, der seinen Anfang mit den Neun Variationen auf einen Marsch von Ernst Christoph Dressler nahm, die der Zwölfjährige 1783 komponierte. Auch die Joseph-Kantate findet sich an einem Punkt dieser Linie, die sich über die Sonate Pathétique, den Trauermarsch der Eroica und die fünfte Sinfonie bis zur letzten Sonate op. 111 verlängert. Eine kurze Vorschau auf Beethovens Oper illustriert die Verflochtenheit von Ästhetik und Ethik, die den Großteil seines Werks prägt. Trotz eines anderen Notenschlüssels geistert die dunkle Rhetorik der Joseph-Kantate durch die Orchestermusik zu Pizarros Kerker. Tiefe, weiche Oktaven auf F wechseln mit hohen, durchdringenden Akkorden in den höheren Registern, gekennzeichnet durch Holzbläser und Hörner. Die beiden hohen Anfangsakkorde steigen vom C zum Des – eine Phrase, die sich darauf bei den Streichern umkehrt, um zu einem bewegten Gestus zu werden, einem Seufzen voll des menschlichen Leides. Mit dem Wissen um die Kantate können wir diese Eröffnungsakkorde – beide forte – als etwas erkennen, dessen Sinn durch seine Vorgeschichte geprägt wurde. Beethoven hörte diese krassen Klänge sicherlich als einen Widerhall der »Tot, Tot«-Stimmung aus dem Eingangs- und Schlusschor seiner Kantate.
Der letzte Akt des Fidelio umfasst – vor dem Hintergrund der Befreiungsidee – eine ansteigende klangliche Polarität von f-Moll nach C-Dur. Beethovens Wahl von f-Moll, das eine perfekte Quinte unter C liegt, hilft in diesem Zusammenhang mit, die Ahnung von Tiefe zu vermitteln. Innerhalb der Grenzen eines einzigen Schauplatzes entfaltet sich das Drama über den Zeitraum eines einzigen Tages – die Komprimierung von Zeit und Ort bündelt die Handlung des Fidelio. Pizarros Gefängnis wirft seinen Schatten auf die Behausung Roccos, des Kerkermeisters, und seiner Tochter Marzelline. Aufgrund des moralisch kompromittierten Umfelds, wie es ein politisches Gefängnis darstellt, bewegen sich ihre Existenzen in den engen Grenzen von Eigeninteresse und ambivalentem Verhalten. Unter all jenen, die hier eingekerkert sind, ist es Florestan, der im tiefsten Verlies weggeschlossen wurde – buchstäblich lebendig begraben, und zwar direkt unter den Wohnräumen von Rocco und Marzelline.
Leonores Odyssee – ihr Abstieg in die dunklen Verliese, gefolgt vom Aufstieg in ein helles Licht, das für die Aufklärung steht – wird deutlich in jenen symbolischen musikalischen Elementen angekündigt, die Beethoven aus seiner Joseph-Kantate extrahierte. Das Misslingen von Josephs Reformen, der Verrat an den Prinzipien der Französischen Revolution oder Napoleons Rückkehr zur Tyrannei – all das ist Teil eines spannungsreichen Prozesses, der bis heute fortdauert. Der Aufstieg der Menschen zum Licht mag als politischer Vorgang problematisch bleiben, doch die negativen historischen Beispiele wie Despotismus und repressiver Machtmissbrauch erinnern daran, dass es unerlässlich ist, Zynismus zu zügeln und ethische Normen im Auge zu behalten.
Der hymnische, feierliche Klang der Sopranarie in seiner Kantate erinnert an die beharrliche Standhaftigkeit des humanistischen Geistes in Beethovens Kunst. »Da stiegen die Menschen ans Licht« besteht aus aufsteigenden Quarten: eine sinnbildliche Form, die mit Themen in seinen späteren Instrumental- und Vokalwerken vergleichbar ist. Die steigenden Quarten sind das thematische Muster für eine Musik, die den Widerstand gegen Konflikte thematisiert. Es findet sich nicht nur im Fidelio, sondern auch im Adagio cantabile der Sonate Pathétique, in der Fuge der vorletzten Klaviersonate (As-Dur op. 110) und im »Dona nobis pacem« der Missa solemnis. Jedes dieser Themen ist unverwechselbar. Der geschmeidige Rhythmus steigender Quarten, gefolgt von schrittweisen, dolce fallenden Sequenzen, die in der Kantate eine größere Klangfolge umfassen, steht stellvertretend für die Verwirklichung einer erneuerten Gemeinschaft.
Die sowohl für den Fidelio als auch für die Joseph-