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Ella C. Schenk

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Beschreibung

Wieder stehe ich zwischen zwei Brüdern, die meine Liebe nicht verdienen. Und doch laufe ich nicht weg, obwohl ich es verdammt noch mal sollte. Remy brachte meine große Liebe zurück. Und mit ihr auch schreckliche Offenbarungen, die tiefer gehen als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Sie führen in das unmoralische, geldgetriebene Netz der High Society, in dem es weder Würde noch Bedauern gibt. Zwischen all diesen Geheimnissen kann ich mein eigenes nicht länger verbergen. Und inmitten all der Lügen weiß ich nicht, wem ich trauen kann. Bis zu dem Tag, an dem der Feind nicht nur mich, sondern auch mein naives Herz in die Finger bekommt – bereit, es endgültig zu zerreißen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Danksagung

Ella C. Schenk

 

Before I Kissed The Devil

(Band 2)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Before I Kissed The Devil

Copyright © 2025. VAJONA Verlag GmbH

 

 

Lektorat: Patricia Buchwald

Korrektorat: Patricia Buchwald und Susann Chemnitzer

 

Umschlaggestaltung: Stefanie Saw

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

Für die beste Schwester, die man sich nur

wünschen kann.

Hinweis

 

 

Ihr Lieben,

 

vielen Dank, dass ihr auch zu Band zwei der Today & Before – Reihe gegriffen habt. Wie schon in Band eins gibt es hier sensible Themen, auf die ich euch gerne aufmerksam machen würde. Band zwei wird noch intensiver, herzzerreißender und wir bewegen uns in sehr dunklen und teils fragwürdigen Abgründen. Wieder aufzutauchen, könnte dauern. Daher entscheidet sorgfältig, ob ihr euch mit den genannten Triggern auf Seite 336 auseinandersetzen möchtet. Wenn ja, wünsche ich euch viel Vergnügen beim Lösen der Rätsel der Upper East Side. Und bitte passt gut auf, dass ihr nicht den Falschen in die Hände lauft. Haltet die Augen offen! Denn die Bösen haben sich gut getarnt …

Jedes Ende ist der Anfang von etwas Neuem

 

Ich fühle mich nackt.

Manchmal, wenn die Zweifel in mir schreien und nur ich es bin, die sie hört, fühle ich mich ihnen ausgeliefert.

Denn manchmal sind sie so laut und grausam, dass es mich innerlich zerreißt, und mein letzter Funke Kontrolle schwindet.

Und manchmal … ja manchmal, da rütteln sie so fest an mir, dass ich gezwungen bin, mich ihnen zu stellen.

 

Das ist nicht, was ich will.

Ich will diesen Schmerz, dieses Leid, diese Schuld nicht fühlen.

Alles, was ich will, ist eine Leere.

Daher verdränge ich.

Schon so lange ziehe ich das Unterdrücken meiner Gefühle der Wahrheit vor und das scheint mich zu zersplittern.

 

Mein Herz will weitergehen, aber mein Verstand verharrt – in einem Zustand, wo ich weder ganz dort noch hier bin.

Aber wenigstens existiere ich. Denn wo wäre ich, ginge ich weiter?

Ich weiß, meine Tage sind gezählt. Mein Körper ist schwach.

Und ich weiß, es ist an der Zeit, mutig zu sein und loszulassen.

Doch das ist so schwer.

 

Das einzig Beständige im Leben ist die Veränderung. Ob wir dazu bereit sind oder nicht.

Wir alle werden irgendwann diese Welt verlassen und diese eine Hürde nehmen, die so weit weg erscheint.

Und es ist gerade diese Vergänglichkeit, die dem Leben einen Sinn einhaucht, oder?

Aber wir hadern schon mit kürzeren Wegen, obwohl wir nie wissen, wohin sie uns führen.

 

Warum?

Ich denke, weil wir Angst haben.

Angst vor unseren Entscheidungen.

Angst vor der Verantwortung.

Angst vor Fehlern.

Anstatt weiterzugehen, bleiben wir stehen und unsere Träume wandern weiter – ohne uns.

Und irgendwann verblassen sie und wir können uns nicht einmal mehr an sie erinnern.

Ist das ein Leben: zu sehen, wie alles, was man sich wünscht, zerplatzt wie eine Seifenblase, nur weil man nicht bereit war, sich zu wandeln?

 

Vielleicht sollte ich endlich mutig sein.

Auch, wenn es das eine bedeutet – das Ende.

Ein Ende in dieser Welt.

Aber vielleicht der Beginn in einer neuen?

Ein neuer Anfang, mit neuen Träumen?

 

Ich fühle, dass ein Teil in mir dazu bereit wäre.

Aber noch kann ich es nicht gänzlich zulassen.

Jetzt bin ich einfach ein Mädchen, das dem Schicksal grollt.

Aber irgendwann werde ich eines dieser Mädchen sein – eines, das akzeptiert und weiß:

Die Hoffnung stirbt nicht.

Wohin wir auch gehen.

 

Joey

 

 

 

 

 

 

1 Today

 

Ich sitze hier und führe den Stift in einem Heft, welches dir gehört und nicht mir.

Dein blumiger Duft steigt mir in die Nase und ich stelle mir vor, wie du mir aufmunternd über die Wange streichelst.

Einmal.

Zweimal.

Und jedes Mal, wenn ich dir hier schreibe, dir deine Gedanken beantworte, springe ich in diesen einen Traum.

In diese eine heile Welt, wo du lächelst, atmest, lebst. Wo wir uns an den Händen nehmen und uns unsere Zukunft ausmalen – schillernd und bunt.

Ganz im Gegensatz zu der realen Welt.

Denn diese ist düster und grau.

 

Olivia

 

Die Zeit stand still. Es war eine seltsame Ruhe vor dem Schmerz, der mich gleich voll erfassen würde. Er pulsierte bereits in meinen Nervenbahnen, bereit, mich zu vernichten. Ich blickte in diese grünen Augen, die weder zu Remy noch zu Megan gehörten, und das machte mich bewegungsunfähig.

Diese Augen, die mich vor Jahren in ihren Bann gezogen und denen ich alles von mir offenbart hatte. Augen, die mich nun ansahen, als wäre ich ein Geist.

Oh, wie sehr wünschte ich mir, dass es jetzt so wäre.

Dann könnte ich mich unsichtbar machen, einfach verschwinden und diese beiden Brüder, denen ich mein Herz geschenkt hatte, zurücklassen.

Ohne ein Wort, ohne ein Gefühl, ohne einen Streit. Dazu hatte ich einfach nicht mehr die Kraft. Nicht nach allem, was in letzter Zeit passiert war.

Aber ich tat es nicht – ich löste mich nicht in Luft auf, denn ich war kein verdammter Geist.

Ich blinzelte ein paar Mal, um auch den letzten Zweifel an einer Illusion zu beseitigen.

Jon stand immer noch vor mir und ließ mich in den Abgrund fallen, der sich schon lange in mir aufgetan hatte.

Seine braunen Haare hingen ihm nicht mehr so ins Gesicht wie früher, und ein leichter Bartschatten zeichnete sich auf seiner unteren Gesichtshälfte ab.

Er sah verändert aus.

Älter.

Reifer.

Und obwohl er die Augen nicht zusammenkniff, hatte sich in der Mitte seiner Stirn eine tiefe Furche gebildet, die im Kontrast zu den Lachfalten um seine Mundwinkel stand. Dabei zeigte er nicht die Spur eines Lächelns.

Was ihn einerseits so zum Lachen brachte und andererseits diese nachdenkliche Falte zwischen seinen Augenbrauen entstehen ließ?

Ich hatte absolut keine Ahnung. Was daran lag, dass ich ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Schreckliche Erinnerungen wirbelten durch meine Gedanken, als seine jadegrünen Augen langsam jeden Winkel meines Gesichts erforschten.

Das erste Jahr war das schlimmste gewesen. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemanden aus tiefstem Herzen hassen könnte. Aber Jon hatte dieses Gefühl nicht nur in mir geweckt, nein, er hatte es zu einem lebendigen Wesen gemacht, das sich in jede meiner Zellen gefressen hatte. Mein Herz war in tausend Stücke zersprungen, und jedes fühlte sich an wie ein Giftpfeil, der mich innerlich aufspießte.

Ich lernte, dieses Gefühl zu ertragen. Es brauchte viele Weinkrämpfe und Wutausbrüche, bis ich diesen Groll langsam loslassen konnte, aber ich hatte es geschafft.

Und das mit seiner Hilfe.

Ich schaute zu ihm.

In Remys Gesicht spielten die Emotionen verrückt. Nackte Panik lag in seinen Augen, die ebenso grün waren, aber mit ein paar goldenen Sprenkeln. Er hatte sie weit aufgerissen, und der Tränenfilm darin würde bald die ersten Perlen über seine stoppeligen Wangen schicken. Die Ader an seinem Hals pochte wie getrieben. Er brauchte nichts zu sagen. Sein ganzer Gesichtsausdruck signalisierte mir Schuld, Verrat, Wehmut und dass es ihm verdammt leid tat.

Als ich seine sinnlichen Lippen betrachtete, die mich schon so oft in den Wahnsinn geküsst hatten, öffnete er sie einen Spalt.

Ich hörte nicht, was er sagte. Das Rauschen in meinen Ohren verschluckte seine gehauchten Worte. Alles, was ich hörte, waren dumpfe Wellen, die kamen und gingen.

Und ehrlich gesagt? Ich wollte gar nichts verstehen. Keine Entschuldigung konnte wiedergutmachen, was er mir die letzten Monate angetan hatte: diese ständige Geheimniskrämerei, dieses unhöfliche, besitzergreifende Verhalten. Und vor allem seine vernichtenden Worte, die mich nur allzu oft erniedrigt und mir das Gefühl gegeben hatten, nichts wert zu sein.

Ich ertrug das alles, weil ich ihn liebte. Mein Herz war wie ein Nadelkissen, auf das er immer wieder einstach.

Und damit war jetzt endgültig Schluss.

Sein Mund bewegte sich ein wenig schneller, und als ich bemerkte, dass er seine rechte Hand nach mir ausstreckte, erwachte ich endlich aus dieser Starre des Entsetzens.

Er durfte mich nicht berühren.

Nie, nie, nie wieder.

Dass er Jon mit nach Hause gebracht hatte, brachte das Fass zum Überlaufen.

Es gab keine Hoffnung mehr für uns. Nicht in den letzten Monaten, nicht heute und schon gar nicht in der Zukunft.

Die Stille brodelte hoch, kochte über. Ich verabscheute seine Besorgnis.

»Fass mich nicht an.« Ich sprach leise, betonte aber jedes Wort mit einer Schärfe, über die ich mich selbst wunderte, dass ich sie in diesem Moment aufbringen konnte.

Er schnaubte nur, drückte mich einfach an sich. So fest, dass mir im ersten Moment die Luft wegblieb. Natürlich war ihm meine Bitte egal. Das war sie immer.

»Olivia«, hauchte er und strich mir über den Rücken, versuchte einen Rhythmus zu finden. Er scheiterte kläglich. Sein massiger Körper bebte an meinem.

»Liv?«, flüsterte er wieder, als ich mich weder bewegte noch antwortete.

Mit einem Mal platzierte er einen Kuss auf meinen Scheitel. Diese intime Berührung war zu viel.

»Lass mich los, Remy. Sofort.«

»Nur, wenn du versprichst, nicht wegzulaufen. Ich erkläre dir alles, versprochen.« Er vergrub seine Nase an meiner Wange, holte tief Luft und zitterte immer stärker. Seine dunkelblonden Bartstoppeln kitzelten mein Ohr. Verdammt, ich hielt diese Nähe nicht mehr aus.

»Ich sage es jetzt zum letzten Mal: Lass mich sofort los!« Seine Versprechungen konnte er sich sonst wo hinstecken. Am besten in seine Kehle, die vor Lügen kochte.

Remy versteifte sich, atmete gepresst aus und ließ schließlich los. Der Muskel in seiner rechten Schläfe zuckte unkontrolliert. Ich trat ein paar Schritte zurück und zog die Mauer wieder hoch, die wir beide in den letzten Wochen mühsam ein Stück weit eingerissen hatten.

Wieder öffnete er den Mund, um weiter auf mich einzureden, doch Jon kam ihm zuvor. »Lass es gut sein, Bruder.«

Es beutelte mich durch … diese vertraute, tiefe Stimme, die es auch nach Jahren noch schaffte, mir eine Gänsehaut auf die Arme zu zaubern. Etwas schien in meiner Brust zu knacken und zu zerbrechen. Ein Ruck ging durch mich hindurch und es war wie ein Startschuss.

Unkontrolliert bahnte sich ein Lachen seinen Weg durch meine Kehle – laut, verrückt, heftig. Ich krümmte mich, hielt mir sogar den Bauch.

Das ist einfach zu viel!

Ich lachte nicht, weil ich die Situation zum Schreien komisch fand, sondern weil ich gerade völlig überfordert war.

Kichernd richtete ich mich wieder auf und wischte mir über die Augen, denn meine Sicht trübte sich immer mehr.

Remy und Jon bewegten sich keinen Zentimeter, gaben keinen Laut von sich. Sie starrten mich nur an, durchdringend und als wäre ich dieser Situation nicht gewachsen. Tja, das war ich auch nicht. Remy wischte sich eine Träne weg, die sich in seinen langen Wimpern verfangen hatte.

Der nächste Lachanfall, der sich bereits anbahnte, blieb mir im Hals stecken. Die Türglocke schallte durch den Flur, gefolgt von einem nervtötend lauten Klopfen.

»Hallo? Liv? Bist du das? Was ist denn so lustig? Mach auf, ich glaube, die Tür klemmt! Hilf mir mal!«

Megan.

Ich keuchte und schielte zu Jon hinüber, der sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür stemmte. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich von Bestürzung zu Freude, während Megan munter weiter schimpfte. Er drehte sich um und öffnete die Tür. Das Nächste, was ich hörte, war ein gellender Schrei. Es war, als würde ein metallenes Glockenspiel in meinem Kopf explodieren. Das Nächste, was ich sah, war meine beste Freundin, die sich ihrem Bruder in die Arme warf und ihn wie ein Affe umklammerte. »Was machst du denn hier? O mein Gott! Ist Missy auch gekommen?«, versuchte sie zu flüstern. Aber sie war so aufgeregt, dass die Worte deutlich zu hören waren. Eifersucht kroch mir in den Nacken. Ich konnte dieses abscheuliche Gefühl einfach nicht unterdrücken.

Missy? Wer zum Teufel ist das?

Schnell beugte sich Jon zu seiner Schwester hinunter und hauchte ihr etwas zu, was ich diesmal nicht verstand.

Missy war wohl seine Freundin. Natürlich war sie das! Er sah besser aus, denn je. Es war anzunehmen, dass er in einer Beziehung steckte.

Großartig!

Ein furchtbarer Groll, so groß wie ein Basketball, breitete sich in meinem Magen aus und passte perfekt zu den anderen beschissenen Gefühlen, die in mir waberten und mich jeden Moment zu zerreißen drohten.

Megan nickte schwach, dann sah sie mich an. Sie ließ ihren geliebten Bruder los und kam hüpfend wie ein kleines Kind auf mich zu. Ihre langen blonden Haare flogen von einer Seite zur anderen.

»Liv. Jon ist wieder da«, sprach sie das Offensichtliche aus und ihre Augen funkelten aufgeregt wie an einem berauschenden Weihnachtsmorgen.

»Ist mir klar.« Meine Augen mussten rot und geschwollen sein.

Sie nahm meine Hände und drückte sie fest. »Jetzt wird alles wieder wie früher. Jetzt, wo Jon bleibt. Nicht wahr?«

Megan drehte sich blitzschnell zu ihm um, und er nickte zögerlich. Aber er konnte das nervöse Zucken in seiner Wange nicht verbergen. Machte er sich nach all den Jahren etwa Sorgen um mich? Wie ich damit umgehen sollte?

Wie schön!

Nur kamen diese Gefühle viel zu spät. Er konnte mich mal – und zwar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ich schnaubte verächtlich.

»Hey. Jetzt sei doch nicht so.« Megan ließ mich abrupt los. »Du hättest ihn schließlich über die Jahre besuchen können. So wie wir alle. Genug geschmollt, Olivia.« Die letzten Worte kamen ihr nicht mehr so unbeschwert über die Lippen.

Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln.

Megan hatte ja keine Ahnung, was Jon und ich miteinander geteilt hatten, welche Gefühle und Erfahrungen uns verbanden.

Ich löste meinen Blick von ihr und sah wieder zu Remy, der prompt den Atem anhielt.

Sie hatte noch weniger Ahnung von der tiefen Liebe und Leidenschaft, die ich mit ihm geteilt hatte, und von den erschütternden Ereignissen, die unser Innerstes zerrissen hatten. Sie glaubte immer noch, dass das letzte halbe Jahr nur eine Farce einer Beziehung zwischen uns gewesen war, und sie hatte ja irgendwie recht. Schließlich hatte mich dieser Mistkerl erpresst, seine Freundin zu spielen.

Nein, es waren die Jahre davor gewesen, in denen er mir gezeigt hatte, zu welch tiefen Gefühlen er fähig war. Er hatte mich damals gerettet, nachdem Jon verschwunden war. Und ich ihn nach seinem Drogenentzug. Uns verband etwas, das niemand je verstehen würde – ein Seil, das den anderen am Leben hielt. Verwoben mit unseren Herzen, die wir einander geschenkt hatten.

Wieder kam ein verzerrtes, groteskes Lachen über meine Lippen, welches ich schnell hinunterschluckte.

All das war doch zum Kotzen.

Trotzdem riss ich mich ein wenig zusammen und fragte: »Geht es dir gut, Megan?«

»Ja, natürlich«, antwortete sie spitz. »Warum?« Ihr Gesichtsausdruck war immer noch fröhlich, aber gleichzeitig wirkte sie skeptisch. Wahrscheinlich meinetwegen.

»Wegen Hodge.«

Ihre Mundwinkel rutschten kurz nach unten, aber sie hatte sich gleich wieder unter Kontrolle. »Er ist selbst schuld. So ein Idiot. Soll er doch mit seiner neuen Freundin glücklich werden.«

Sie drückte ihren Rücken durch, wandte sich wieder Jon zu und himmelte ihn an. Remy beachtete sie nicht einmal – wie so oft.

Es schien, als bräuchte sie mich nicht als Trösterin, weswegen ich überhaupt hier auf sie gewartet hatte. Hodge – ihr Chef – hatte Megan in den letzten Monaten schöne Augen gemacht, nur um sie von einem Tag auf den anderen gegen ein tätowiertes, unfreundliches Bargirl einzutauschen.

Aber sie war damit klargekommen.

Gut.

Denn ich wusste nicht, ob ich es noch länger hier aushalten würde. Ich streichelte Megan über den Arm und ohne einen weiteren Blick auf Jon oder Remy zu werfen, huschte ich durch die Tür und rannte die Treppe hinauf, die unsere beiden Wohnungen verband.

Niemand stoppte mich. Einerseits genau das, was ich wollte. Andererseits … Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Remy würde mich nicht aufhalten. Er konnte mich nur erpressen und betrügen.

Als unsere Haustür ins Schloss fiel, rutschte ich an ihr entlang und presste meine Stirn gegen meine angewinkelten Beine. Mein dunkles Haar breitete sich wie eine schützende Mauer um meinen Kopf aus. Ein Stöhnen verließ meine Lippen.

»Kind?«

Erschrocken blickte ich auf. Ich hatte niemanden in der Wohnung erwartet und zuckte zusammen. Rosa kam langsam von unserer hölzernen Küchenanrichte in der Mitte des Zimmers auf mich zu.

»Rosa!« Schnell sprang ich auf und lief ihr entgegen. Mein Gefühlschaos begrub ich im selben Atemzug unter einer Decke aus Verdrängung, die schon seit Jahren in mir hauste. Wenn ich etwas konnte, dann wohl das. Auch wenn sich meine Eingeweide diesmal dagegen zu wehren schienen, denn alles schmerzte und zerrte an mir – allen voran mein bescheuertes Herz.

»Olivia, meine Liebe. Was ist los, dass du so traurig auf dem Boden sitzt?« Sie sah mich besorgt an und strich mit der linken Hand sanft über mein braunes Haar.

»Es ist nichts. Mach dir bitte keine Sorgen.« Ich legte meine ganze Konzentration in mein Lächeln. Rosa schüttelte den Kopf, und ein angenehm fruchtiger Orangenduft stieg mir in die Nase.

Sie seufzte. »Du solltest dich jemandem anvertrauen, Olivia. Mir gefällt nicht, wie du in den letzten sechs Monaten abgenommen hast und dich immer mehr zurückziehst.« Sie strich mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Das macht mir wirklich Sorgen.«

Nein, bitte nicht auch noch Rosa!

Ich hatte schon genug Schuldgefühle auf meinen Schultern. Und die wogen schwer. Wenn Dad nur wüsste, dass es meine Schuld war, dass Mum in der Klinik war. Oder von der Schwangerschaft … Nicht einmal Megan wusste davon. Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung davon, dass ich mit Jon zusammen gewesen war.

Das wird sie mir nie verzeihen.

Ich atmete flach ein. »Bitte, Rosa. Mach dir um mich keine Sorgen. Auf der Uni ist gerade viel zu tun. Das ist alles.«

Rosa glaubte mir nicht, das sah ich ihr an der Nasenspitze an. Ich fing an, wie ein kleines Kind zu zappeln.

Sie räusperte sich. »Du weißt doch, dass du immer zu mir kommen kannst. Egal, um was es auch geht. Ich bin für dich da.« Ohne meine Antwort abzuwarten, gab sie mir einen mütterlichen Kuss auf die Stirn und ging auf die weiße Sofaecke zu, auf der sie sich ächzend niederließ.

Ich folgte ihr und setzte mich neben sie. »Das weiß ich. Nur fällt mir das alles nicht so leicht, weißt du?« Ich krallte die Finger in meine grauen Leggings und fummelte an dem Stoff herum.

Rosa lächelte nachsichtig. »Du warst schon immer ein bisschen verschlossen. Und seit Joey tot ist … Ich hoffe, dass du eines Tages jemanden findest, dem du dich bedingungslos und ganz öffnen kannst. Du hättest es verdient.«

Eine Zange umklammerte meine Lunge. Denn diesen jemand hatte ich schon getroffen und lieben gelernt, aber er hatte mich angelogen.

Mehrmals.

Ihr Blick wanderte an mir vorbei, und ich wusste, an wen sie dachte.

»Bald ist Richards Todestag. Brauchst du etwas oder kann ich dir an diesem Tag irgendwie helfen?«, fragte ich unsicher. Richard – ihr verstorbener Mann, der Dad und Harold seine Firma vererbt hatte.

Rosa schloss die Augen. »Das ist lieb gemeint, aber Maria und die Kinder haben den Tag schon verplant. Aber du könntest doch vorbeikommen und uns Gesellschaft leisten?« Sie nickte mir aufmunternd zu.

»Was macht ihr denn so?«

»Kochen, essen, Spiele spielen …« Wieder öffnete sie ihre faltigen Lider. Diesmal schienen ihre Augen sogar ein wenig zu strahlen.

»Ja, warum eigentlich nicht?«, sagte ich achselzuckend. Die Ablenkung würde mir sicher guttun. Denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die nächste Zeit alles andere als harmonisch werden würde. »Ach, und Rosa?«

»Ja, mein Kind?«

»Geht es dir denn gut?«

Ihre rechte Hand zitterte und sie versuchte offensichtlich, ein Husten zu unterdrücken. Rosa strich sich über die Oberschenkel, die in einer violetten Stoffhose steckten. »Ich muss wohl einsehen, dass ich zu alt bin, um weiter in der Kanzlei zu arbeiten.« Sie kniff kurz die schmalen Lippen zusammen und fuhr sich mit der linken Hand über den grauen Dutt, als suche sie dort nach Antworten. Sie setzte ein paar Mal zum Sprechen an, sagte aber nichts mehr. Ich ließ ihr Zeit.

»Aber mir gefällt nicht, in welche Richtung sich die Kanzlei entwickelt. In mehr als der Hälfte der Fälle geht es um Drogen, Missbrauch und Dealerei. Und dieser Richter Reynolds erst … ich weiß nicht, es entwickelt sich nicht so, wie Richard und ich es uns gewünscht hatten.«

Ich wusste nicht, dass Rosa auch so dachte. Meine Augen mussten groß gewesen sein, denn sie fuhr eilig fort: »Versteh mich nicht falsch, mein Kind, ich vertraue deinem Vater hundertprozentig, aber …«

»Aber?« Ich glaubte zu wissen, was jetzt kommen würde und spannte mich an.

»Aber Harold nicht – nicht mehr. Er –«

Sie brach mitten im Satz ab, weil die Türklinke heruntergedrückt wurde und Dad eilig eintrat. Wie so oft traf sein Blick meinen nur flüchtig, obwohl er in diesen Sekunden viel Zuneigung hineinlegte. Seit Joeys Tod waren seine Gedanken und Kräfte fast ausschließlich auf die Kanzlei gerichtet, die er von Richard geerbt hatte. Seine Art, diesen Verlust zu bewältigen.

»Na, ihr zwei Süßen? Besprecht ihr Mädelskram?« Er zwinkerte uns zu, während er in die Küche ging und die Kaffeemaschine anstellte. Er schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort: »Rosa, ich habe jetzt alles zusammen. Soll ich den neuen Vertrag mit dir durchgehen?«

»Das wäre wunderbar, Peter. Danke. Je eher wir damit fertig sind, desto besser.« Worüber sprachen die beiden?

Dad machte sich einen Espresso. Rosa gab mir inzwischen die gewünschte Erklärung: »Ich werde von Richards Vertrag Gebrauch machen und die Kanzlei vollständig an deinen Vater übergeben. Wir haben vor seinem Tod ein Schreiben aufsetzen lassen. Und dieses gibt mir die volle Entscheidungsgewalt darüber, wer die Kanzlei führen darf. Dein Vater bekommt zu seinen jetzigen einundfünfzig Prozent noch Harolds neunundvierzig dazu.«

Okay … Damit hätte ich nie und nimmer gerechnet. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Dabei war das die beste Nachricht, die ich seit Langem gehört hatte! Der Knoten in meinem Magen begann sich ein wenig zu lösen.

Ich schmunzelte leicht.

»Glaub mir, es war keine leichte Entscheidung, Kind. Und um ehrlich zu sein«, sie seufzte kurz, »hätte ich nie gedacht, dass ich dieses Recht jemals in Anspruch nehmen müsste. Aber ich tue es für Richard. Ich möchte, dass seine Vision von der Kanzlei wieder auflebt. Daher wird es zudem noch weitere Veränderungen geben.«

»Soll heißen?« Ich rutschte ein wenig auf dem Sofa hin und her.

»Soll heißen, dass Richter Reynolds die Kanzlei verlassen muss. Seit er da ist, ist Harold nicht mehr er selbst.«

Grauenhafte, verdrängte Bilder kamen hoch und mir wurde schlagartig kalt, als ich an die letzten Wochen zurückdachte. An das, was er zu mir nach Ians Tod im Bad gesagt hatte, wie er mich unsittlich berührt hatte. Dieser Mann war ein Monster.

Ich schielte auf meine ineinander verschränkten Hände auf meinem Schoß. Rosa hob meinen Kopf an. »So wird sich alles wieder zum Besten fügen.«

Ich nickte schwach, war mir aber nicht sicher. Harold war ein durchtriebener Narzisst. Der Teufel im Anzug, höchstpersönlich. Ob er das einfach so hinnehmen würde? Wohl eher weniger.

Dad kam auf uns zu, diesmal mit einem Espresso in der rechten und einem Glas Wasser in der linken Hand. »Komm, Rosa.«

Sie nahm seinen ausgestreckten Unterarm und gemeinsam gingen sie in Richtung Arbeitszimmer.

»Ach ja, und Liv!« Dad drehte sich noch einmal um und stieß gleichzeitig mit dem Fuß die Tür zum Arbeitszimmer auf. »Wann wolltest du mir eigentlich erzählen, dass Jon zurück ist?« Ein freches Lächeln stahl sich auf sein wettergegerbtes Gesicht. So wie man es nur selten bei ihm sah. »Ich habe ihn vorhin im Flur gesehen.«

Rosa drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen ebenfalls zu mir um. Ob sie nun ahnte, warum ich vorhin am Boden zerstört war? Und da war er wieder, dieser Druck auf meiner Brust. Mein linker Fuß begann nervös zu wippen und ich schmeckte einen Hauch von Blut auf meinen Lippen, als ich meine Schneidezähne darin versenkte.

»Liebes?« Dad schüttelte lächelnd den Kopf. »So nervös, weil dein bester Freund wieder da ist? Du musst dich doch riesig freuen. Dein Jon ist wieder da! Endlich!« Das letzte Wort betonte er besonders laut. Ich blieb stumm und fragte mich gleichzeitig, warum er manche Tatsachen so vehement ignorierte: nämlich, dass ich Jon nicht einmal in Oxford besucht hatte. Es war offensichtlich, dass unser Verhältnis nicht mehr das von früher war. Aber ja … so war Dad nun mal. Er versuchte, sich an den mit Hoffnung getränkten wenigen Fäden festzuhalten, denen das Schicksal uns gewährte.

Dann riss er panisch die Augen auf. »Ach herrje, du hast es noch nicht gewusst, oder? Jetzt habe ich dir die Überraschung verdorben. Ich Dummkopf!«

»Nein, Dad. Ich habe ihn schon gesehen. Es ist alles in Ordnung, okay?« Schnell stand ich auf. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Es wurde nicht besser, als ich mich auf den Weg zu meinem Wohnabteil machte. Ich wollte einfach nicht mehr über Jon reden.

»Dann ist ja gut«, rief Dad mir hörbar erleichtert hinterher. Ich antwortete ihm nicht, sondern öffnete und schloss die Tür. Dann rutschte ich an ihr hinunter. Wieder einmal. Und erneut versteckte ich meinen Kopf zwischen meinen Knien.

Absolut nichts war gut!

Dass Jon jetzt aufgetaucht war, machte alles nur noch schlimmer. Ich war Remys Geheimnis auf der Spur und er brachte nur noch mehr Verwirrung in mein Leben. Denn ich wusste bis heute nicht, warum Jon mich damals einfach verlassen hatte.

Verflucht noch mal! Diese verdammten Brüder! Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und schlug ein paar Mal auf den Boden. Doch der Sturm in mir wollte sich nicht legen. Im Gegenteil – er verwandelte sich in eine chaotische, wilde Bestie mit Krallen und Fängen. Blieb nur zu hoffen, dass ich sie im Griff behielt.

2 Before Ein Jahr zuvor

Ich erkenne kaum noch Farben, die Konturen werden zu einem Meer aus tanzenden Schatten.

Je weniger ich sehe, desto fester wird der Griff um das Papier.

Es gibt noch so viel zu sagen.

So viele Gedanken, die niedergeschrieben werden wollen.

Ein Wort, ein Satz, eine Geschichte.

Anfang und Ende.

Dazwischen ein Leben, von dem ich träume.

Indem ich existiere.

 

Joey

 

»Warum habe ich dem noch einmal zugestimmt?« Quentin starrte skeptisch an die Wand des Arztzimmers, an der sich zahlreiche Babyfotos aneinanderreihten. »Willst du mir etwas sagen, Liv?«

Ich schüttelte nur den Kopf und wich seinem fragenden Blick aus, obwohl ich ihn wie heiße Pfeile auf meinem Gesicht spürte. Zwei Wochen waren vergangen, seit mir diese junge Mutter in Berlin diesen unglaublichen Schrecken eingejagt hatte. Zwei katastrophale Wochen, in denen ich es nicht wagte, einen Schwangerschaftstest zu machen, obwohl meine Periode ausblieb. Das war dumm und unverantwortlich, das wusste ich. Die schreckliche Angst war in der ersten Woche so stark gewesen, dass sich mein bis dahin immer vorhandener Appetit ins Gegenteil gekehrt hatte.

Von der ständigen Übelkeit ganz zu schweigen! Alles Anzeichen, die ich verdrängte.

Aber vielleicht bildete ich mir vieles nur ein? Angst hatte viele Gesichter. Oder?

O Gott, wie verdammt hoffte ich das. Ich betete im Stillen. Hier zu sitzen war so angenehm wie Stecknadeln zu schlucken.

Die zweite Woche war leichter, denn Weihnachten und die Feiertage hatten mich abgelenkt. Ich begann wieder etwas zu essen und schickte meine Ängste jeden Tag ein bisschen mehr zum Teufel.

Vor allem, weil es Mum immer besser ging. Ihre Stimmung war stabil, schwankte kaum, die Schwermut war wie weggeblasen. Ich klammerte mich wie eine Ertrinkende an sie.

Mum konnte Rosa sogar an manchen Tagen als zweite Empfangsdame in der Kanzlei unterstützen. Außerdem waren wir mit Aurelia und Tina sogar mehrmals Schlittschuhlaufen.

So konnte ich das Thema Baby weitestgehend verdrängen.

Bis wir einen Shopping-Tag einlegten und uns in der Mall in die Schwangerschaftsabteilung verirrten. Die süßen Strampler, das Spielzeug und die vielen Fläschchen brachten mich fast um den Verstand. Das war der Moment, in dem ich meine Frauenärztin anrief und panisch um einen Termin bat. Verdrängen war keine Lösung. Das musste ich einsehen.

Besser spät als nie. Und dieser Termin war heute.

Ein Tag vor Silvester.

Vierundzwanzig Stunden bevor Remy für eine Woche nach Hause kam. Die Gedanken an ihn fühlten sich in letzter Zeit an wie ein Eimer eiskaltes Wasser. Was, wenn ich wirklich schwanger wäre? Wie würde er reagieren? Gerade hatte er sein Leben in den Griff bekommen, da kam ein Baby völlig ungelegen. Die Folgen eines geplatzten Kondoms wurden erschreckend greifbar. Und dann ging ich auch noch zur Uni, um Himmels willen!

Scheiße, war das heiß hier. Ich wischte mir den Schweiß von der Oberlippe.

»Hallo?« Q schnippte ein paar Mal mit den Fingern vor meinem Gesicht hin und her. »Erde an Liv?«

»Was? Was ist los, Quentin?« Ich wusste, dass er nicht die geringste Schuld an meinem Gefühlschaos hatte, trotzdem antwortete ich bissiger, als es sich gehörte.

»Junge Dame!«, echauffierte er sich. »Schalte einen Gang zurück. Schließlich bin ich derjenige, der allen Grund hat, sauer zu sein. Ich wurde ohne weitere Informationen zum Gynäkologen mitgeschleppt. Und ganz ehrlich? So richtig wohl fühle ich mich hier nicht.« Er schüttelte sich sogar kurz.

»Dann geh wieder.« Stur verschränkte ich die Arme vor dem Oberkörper und krallte die Finger in meinen weinroten Kapuzenpullover.

Er beugte sich näher zu mir. »Weißt du was? Du sagst mir jetzt sofort, von wem du denkst, schwanger zu sein, okay? Seit deinem letzten Besuch in Berlin bist du wie ausgewechselt, und das nicht im positiven Sinne. Du schleppst mich hierher, also willst du es mir auch sagen.« Q klatschte schnell und laut in die Hände.

Gott, musste er immer so ein Drama veranstalten? Ich selbst konnte meine Panik kaum noch zurückhalten, und seine Neigung, alles zu übertreiben, machte es auch nicht besser. Und doch hatte er recht. Ein Teil von mir wollte ihm meine Ängste anvertrauen.

Aber der andere hielt mich zurück. Ich schob meine Unterlippe vor und sah mich in dem kleinen, hellen Raum genauer um. Nur noch eine junge Frau saß mit uns im Warteraum. Sie achtete nicht auf uns, sondern nur auf ihr Smartphone. Zwei Palmen standen zwischen uns und schirmten uns ein wenig von ihr ab.

»Ich bin nicht schwanger. Und könntest du etwas leiser sein?«, zischte ich.

»Nein? Und noch mal nein.«

»Ich. Bin. Nicht. Schwanger«, fauchte ich und versuchte, meinen Atem zu kontrollieren, der kurz davor war, auszusetzen.

»Dann nimmst du mich jetzt zu jedem deiner jährlichen Abstriche mit? Gut zu wissen«, antwortete er und rollte mit den Augen.

Ich holte gerade Luft, um eine schroffe Antwort zu geben, als meine Gefühle mir einen Strich durch die Rechnung machten. Meine Kehle war wie zugeschnürt, mein dummes Herz hämmerte wie ein schwerer Klotz in meiner Brust. Tränen liefen mir so plötzlich über die Wangen, dass ich keine Chance hatte, sie zurückzuhalten.

Verflixt und zugenäht!

»Hey«, hauchte Quentin versöhnlicher und rückte gleichzeitig ein Stück näher, sodass sich unsere Oberschenkel berührten. »Remy ist der Vater, oder?«

Ich zuckte nur kurz mit den Schultern und starrte auf den Boden, als läge dort die Antwort auf alle Fragen.

Q schnappte zitternd nach Luft. »Liv, er liebt dich abgöttisch. Alles wird gut.« Er strich mir sanft über den Hinterkopf und massierte dann kurz meinen verspannten Nacken. Die vermeintlich beruhigende Geste scheiterte. Ich wurde nur noch unruhiger.

»Er hat dich schon geliebt, als du noch mit Jon zusammen warst.«

»Was weißt du schon von mir und Jon?« Ich fuhr mir mit der rechten Hand über die feuchten Augen und drehte mich keuchend zu ihm um.

Q lächelte leicht. »Ich habe Augen im Kopf.«

Mit gerunzelter Stirn strich er sich einen Moment lang mit Daumen und Zeigefinger über das spitze Bärtchen an seinem Kinn.

Ich starrte ihn weiterhin nur fassungslos an und versuchte, den Schreck unter Kontrolle zu halten, der eine Übelkeit auslöste, die ich gar nicht gebrauchen konnte. Ich schluckte dagegen an. Es half nicht wirklich. Mein Herzschlag war nicht mehr gleichmäßig, sondern holprig.

Q seufzte. »Liv, es war offensichtlich, dass du und Jon euch geliebt habt. Ihr habt wegen Harold nichts gesagt, oder? Deshalb habt ihr versucht, es geheim zu halten, nicht wahr? Weil er ein kontrollierender Tyrann ist?«

Ich nickte und fühlte mich seltsam ertappt.

»Keine Sorge, niemand ist böse auf dich. Warum auch? Es ist dein Leben, dein Herz.« Jetzt strich Q mir mit dem Handrücken über die Wange und verteilte das Salzwasser darauf. »Und dass du mit Remy zusammen bist … Ich glaube, außer Mike und mir ahnt das niemand. Und ich glaube, das ist auch gut so. So wie ich Remy kenne, wird er einen Berg von Schuldgefühlen abarbeiten müssen, bevor er mit Jon redet und ihm alles erklärt. Er macht sich das Leben oft sehr schwer. Jon würde euch sicher nur das Beste wünschen.«

Kopfschüttelnd sank ich stöhnend in mich zusammen. Ich wollte einfach nicht mehr über Jon reden. Ich hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Und über Remy wollte ich auch nicht sprechen. Alles, was ich im Moment wollte, war Gewissheit darüber, was mit mir los war.

»Wir schaffen das, Olivia. Du bist nicht allein. Vergiss das nicht.«

Ein leises »Danke« murmelnd, legte ich meinen Kopf auf Quentins Schulter und versuchte, tiefer als je zuvor zu atmen, um meiner Übelkeit Herr zu werden, die nicht besser wurde. »Danke. Wirklich.«

»Keine Ursache.« Q positionierte seine Hand auf mein Knie und begann, beruhigende Kreise darauf zu malen.

Doch der innige Moment zwischen uns wurde gestört, als das Smartphone des Mädchens anfing, den neuen Song von Justin Timberlake zu dudeln. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit nahm sie ab und flüsterte ein »Komm hoch, ich warte noch« in ihr Handy. Sie würdigte uns weiterhin keines Blickes, obwohl sie unser Gespräch mitgehört haben musste.

Wen auch immer sie erwartete, man hörte es schon im Treppenhaus.

Klack, klack, klack.

Die Absätze der Stöckelschuhe mussten mindestens zehn Zentimeter hoch sein.

Klack, klack, klack.

Bald würde diese Person hereinstolzieren. Und aus irgendeinem Grund beschlich mich ein seltsames Gefühl.

Die Türklinke wurde heruntergedrückt. Gleichzeitig betrat meine Gynäkologin das Wartezimmer und nannte meinen Namen. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und ging auf sie zu. Q begleitete mich, den Arm fest um mich geschlungen, wofür ich sehr dankbar war.

»Olivia Jefferson? Habe ich mich also nicht verhört?« In mir zog sich alles zusammen vor bodenloser Erschütterung. Diese quietschvergnügte Stimme gehörte definitiv nicht der Ärztin, die in den Untersuchungsraum zurückgekehrt war. Sie ließ die Tür offen. Ich ging nicht hindurch. Ich war wie erstarrt.

Diese verdammte Stimme gehörte zu jemandem, an den ich keine guten Erinnerungen hatte. Q fluchte. Auch er erkannte sie. »Geh hinein. Los«, flüsterte er mir ins Ohr und stieß mich leicht an. Ich stolperte vorwärts, bewegte mich aber keinen Zentimeter mehr weiter.

»Hey, ich bin’s. Warte, Olivia!«

Klack, klack, klack.

Ich spürte ihren durchdringenden Blick förmlich in meinem Rücken und mir wurde heiß und kalt zugleich.

Bitte, bitte nicht sie.

Sofort kamen mir die Bilder von diesem schrecklichen Halloweenabend in den Sinn, als sie auf dem Boden gekauert hatte, weil Remy und sie … Ich kniff kurz die Lider aufeinander. Gott, es schien eine Ewigkeit her zu sein. Damals war er ein ganz anderer Mensch gewesen.

Meine ohnehin schon vorhandene Nervosität legte sich mit noch größerer Wucht auf meinen Magen, und ich spürte, wie sich eine ätzende Schärfe in meinem Mund sammelte.

So schnell wie möglich drehte ich mich um und lief an Quentin vorbei in Richtung Toilette. Doch da hatte ich die Rechnung ohne meinen Highschool-Albtraum auf zwei Beinen gemacht.

Cameron stellte sich mir in den Weg und hielt mich an den Schultern fest. Ein Duft von Puderzucker umgab sie und kroch mir in die Nase.

Ich unterdrückte ein Würgen.

»Liv, Liv, Liv. Du siehst nicht gut aus und –«

Mein aufgestauter Mageninhalt entleerte sich auf ihre sicher sündhaft teuren Modestiefel. Angewidert sprang sie zurück und schrie wie am Spieß. Mir war es egal. Mit der Hand vor dem Mund rannte ich zu den Toiletten. Der nächste Schwall wartete schon darauf, losgelassen zu werden.

3 Today

 

Geschichten erzählen die größten Wunder.

Sie entführen uns in Träume, die wir auch am Tage leben können.

Fabelhafte Welten, in denen wir mit Leib und Seele alles sein, tun und machen können, was wir wollen.

Ein Leben führen, nach dem unser Herz begehrt.

Ich frage mich, wieso diese Geschichten nicht real werden können.

Was hindert uns daran, die unendliche Fantasie des Geistes umzusetzen?

Wahrscheinlich ist es die Furcht vor dem Ungewissen.

Aus Angst bleibt man am Ufer sitzen, ohne es je versucht zu haben.

Und dann wird der Traum plötzlich zum Albtraum.

 

Olivia

 

Ich hielt es nicht mehr aus.

Meine Gefühle tobten in mir, aber ich konnte ihnen keinen freien Lauf lassen. Irgendwie fühlte ich mich von mir selbst abgeschnitten. Es war mir unmöglich, körperlich angemessen auf das Geschehene zu reagieren. Zum Beispiel mit Tränen, die förmlich hinter meinen Augen auf mich warteten. Diese grollende Bestie in mir hielt sie auf.

So viele Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum und ich konnte keinen davon richtig fassen. Holprig stand ich auf und wankte ins Badezimmer. Doch auch der eiskalte Wasserstrahl auf meine Handgelenke und Schläfen vertrieb die verwirrende Trance nicht. Also ging ich in mein Zimmer.

Ich band mein dunkles Haar zu einem lockeren Knoten und zog mir ein schwarzes Strickkleid an, dazu eine dicke Strumpfhose, denn der Herbst zeigte sich seit Tagen von seiner windigsten Seite. In meine braune Ledertasche steckte ich Joeys Tagebuch, ein paar leere Blätter und Stifte.

In Situationen wie diesen half mir nur eines: meine rasenden Gedanken zu Papier zu bringen und nicht allein zu sein. Schreiben war in diesen Momenten mein einziger Filter, um mein Innerstes nach außen zu kehren. Und das musste ich jetzt tun, bevor ich durchdrehte und ich innerlich explodierte.

Ich kannte mich.

Schon zweimal hatten mich Situationen so aus der Bahn geworfen, dass ich unüberlegt gehandelt hatte.

Und davor hatte ich Angst.

Große Angst.

Ich hatte den Menschen, den ich liebte, in den Abgrund gestürzt, obwohl er nichts dafürkonnte. Die Liebe zu mir hatte sie innerlich umgebracht – Mum.

Meine Schultern sanken hinab, und mein Blick glitt zu dem dicken Lederband an meinem linken Handgelenk.

Manchmal wünschte ich mir wirklich, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Dann hätte ich Joey zum Arzt geschleppt, bevor ihre Kopfschmerzen anfingen. Und Richard hätte ich auch ins Krankenhaus gebracht, damit er nie einen Herzinfarkt erleidet.

Jon hätte ich gar nicht erst an mein Herz gelassen. Und Remy sowieso nicht. Und Harold, dieses Arschloch … In meinem Kopf spielten sich so viele Szenen ab, und keine davon war legal.

In einer gerechten Welt hätte dieser Mistkerl sterben müssen, nicht Joey oder Richard. Aber das wirkliche Leben war kein Wunschkonzert, das hatte ich längst begriffen.

Ich betrachtete meinen kleinen Wandspiegel, der so gar nicht in mein Schlafzimmer passte. Sein Rahmen bestand aus abgeblättertem, hellem Holz, auf dem in jeder Ecke mindestens zwanzig bunte Perlen klebten, die sanft schimmerten. Das Einzige, was dem Spiegel in meinem sonst so minimalistisch eingerichteten Zimmer Konkurrenz machte, war der grün gepunktete Vorhang an meinem Erkerfenster.

Widerwillig lächelte ich, als ich an den Tag zurückdachte, an dem Joey mir diese beiden »Antiquitäten« aufgehängt hatte. Sie meinte, mein Zimmer könnte etwas mehr Farbe vertragen. Sie hatte recht – wie so oft.

Ich schüttelte den Kopf und betrachtete mich in diesem Spiegel voller Erinnerungen. Doch als meine braunen Augen auf meine Zahnlücke fielen, erstarb mein Lächeln sofort, denn ich musste an Jon denken, der sie einst geliebt hatte.

Jon. Um Himmels willen.

Brodelnde, unangenehme Hitze kroch mir in den Nacken.

Was zum Teufel hatte er hier zu suchen?

Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem mein Leben ein einziges Chaos war.

Anscheinend reichte es nicht, dass Remy mich seit Monaten erpresste, mir aber bis heute keinen Grund dafür genannt hatte. Oder dass dieser Julian Reynolds mir auflauerte und mir drohte, wenn Remy sich nicht aus seinen Angelegenheiten heraushielte.

Ich schloss meinen Mund zu einer starren Linie.

Was glaubte er? Als ob Remy auf mich hören würde! Ich mutierte eher zu einem Gänseblümchen, als dass dieser herrische Idiot das tat!

Ich hatte absolut keine Ahnung, worum es hier eigentlich ging.

Niemand sagte mir etwas. Niemand vertraute mir. Ich nickte mir selbst zu. Also musste ich die Antworten, die ich brauchte, wohl selbst finden.

Spontan entschloss ich mich, ins Pine’s zu gehen. Von Aaron wusste ich, dass die Jungs dort heute Mase Junggesellenabschied feiern würden. Und egal, wie laut mein blutendes Herz schreien würde, ich würde mir Remy heute vorknöpfen.

Entweder erzählte er mir alles oder ich würde zur Polizei gehen. Nicht alle waren korrupt, verdammt.

Nun denn.

Mal sehen, wie dieser Mistkerl auf Erpressung reagierte.

 

 

 

 

 

Im Pine’s war die Hölle los.

Da die hintere Hälfte der Bar, in der sich das Diner befand, wegen des Gedränges schon nicht mehr zugänglich war, musste ich direkt an der Theke Platz nehmen. Ich schälte mich aus meiner Lederjacke und presste sie an mich.

Joeys Tagebuch ließ ich in meiner Tasche, denn die Theke war über und über mit leeren Tequilagläschen bedeckt. Ab und zu lagen angebissene Zitronenscheiben dazwischen. Aber Hodge, der bärtige Barkeeper, hatte offensichtlich alle Hände voll zu tun. Eine Gruppe junger Frauen neben mir schien heute den Geburtstag einer Freundin zu feiern. Alle trugen eine Schärpe mit einer roten Einundzwanzig. Und das Geburtstagskind selbst trug dazu einen roten, glitzernden Zylinder. Bei ihrem Anblick taten mir die Augen weh.

Denn zu diesem roten Accessoire trug sie ein knallgelbes Minikleid. Diese Farbkombination war eindeutig zu viel des Guten.

Blinzelnd ließ ich meinen Blick weiterwandern und hoffte, dass meine Netzhaut keinen Schaden nehmen würde.

Hodge warf gerade eine Flasche in die Luft und fing sie gekonnt wieder auf. Eine andere Mädelsgruppe, die seitlich hinter mir stand, kreischte auf vor Entzücken. Hodge antwortete mit einem koketten, schiefen Lächeln. Als er auch noch passend zu dem gerade laufenden Rocksong mitsang, grölten sie mit. Die dunkelhaarige Kellnerin schnaubte direkt vor mir. Ob das seine neue Flamme war, wegen der er Megan nicht mehr wollte?

Mit einem Lappen in der Hand gestikulierte sie wütend in seine Richtung. Doch er bemerkte es nicht einmal, obwohl sie nicht weit von ihm entfernt stand. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, Süßholz zu raspeln.

An meiner Unterlippe nagend, beobachtete ich die beiden und fragte mich, was den tätowierten Barkeeper an ihr so faszinierte. Im Gegensatz zu Megan strahlte sie überhaupt keine Wärme aus. Sie sah eher aus, als würde sich in ihrem kantigen Gesicht ein Gewitter zusammenbrauen – mit Donner und Hagel und anschließender völliger Verwüstung.

Plötzlich sah sie mich an. Der Jähzorn in ihren Augen ließ mich etwas aufrechter sitzen. »Willst du was, oder was glotzt du mich so an?« Ihre Stimme klang, als würde sie alle fünf Minuten an einer Zigarette hängen.

»Äh, nein. Doch! Und … äh ich habe dich nicht angestarrt, ich … ich meine, ich hätte gerne einen Orangensaft«, stammelte ich total erwachsen.

Aber nach meinem »nicht angestarrt« drehte sie sich von mir weg, öffnete mit einem lauten Knall den Geschirrspüler und fing an ihn auszuräumen. Sie hatte mir gar nicht mehr zugehört.

Wow.

Es war eindeutig an der Zeit, mich woanders hinzusetzen. Hoffnungsvoll blickte ich durch die Bar. Und einige Verrenkungen später hatte ich Glück. Ein Pärchen legte Geld auf den Tisch, schlüpfte in seine Jacken und stand auf. Keine zwei Atemzüge später saß ich auf der Holzbank neben dem Eingang.

Megans freundliche Kollegin Amy nahm sogleich meine Bestellung auf und ging mit hochrotem Kopf weiter. Heute war wirklich viel los. Trotzdem kramte ich Stift, Zettel und Joeys Tagebuch hervor und rutschte an die Fensterscheibe.

Kaum hatte ich alles vor mir ausgebreitet, schlug mein Herz gegen die dicke Eisschicht, die ich in Gedanken darüber gelegt hatte. Ich atmete tief durch und stellte mir vor, dass diese eisige Wand all meine Gefühle wie Schmerz, Demütigung und Trauer vom Rest meines Körpers fernhielt, damit sie mich nicht ganz von innen auffraßen.

Den ganzen Weg bis hierher hatte ich mir diesen Schutzwall aus klirrender Kälte in Gedanken aufgebaut. Ich wusste noch nicht, was passieren würde, wenn sie zerbrechen und etwas zum Einsturz bringen würde. Was ich aber wusste, war, dass ich dem Ganzen etwas Luft verschaffen musste. Und das würde ich jetzt tun, indem ich schrieb – in Gesellschaft, denn so war die Gefahr des Zusammenbruchs geringer.

Ich schlug ein Bein über das andere, senkte den Kopf und begann zu schreiben, ohne viel nachzudenken.

 

Es ist dein Schmerz, dein Leiden, dein Groll und dein Klagen der Seele.

Doch wieso umkreist mich deine Schwärze, nimmt mir meine Atemluft, verschnürt mir meine Kehle?

Du gehst fort, wendest dich ab, von dem Ort der Trauer.

Doch noch so weit weg umkreisen mich deine Gefühle wie eine erstickende Mauer.

 

Ich versuche, mich zu wehren, vor dieser Angst, die sich verbreitet in meinem Herzen.

Ich will mich endlich abschotten vor deinen erschütternden, zerreißenden Schmerzen.

Doch du lässt mich nicht. Greifst nach mir mit Fingern, die sich in mein Innerstes schneiden.

Was willst du nur? Siehst du nicht, dass ich deine Probleme nicht tragen kann? Sie lassen mich nur eines: Leiden.

 

Erkennen heißt, wachsen und lernen. Leben heißt, Herzblut zu vergießen.

Doch in einer Weise, die dir Harmonie schenkt, nicht etwas, das dich lässt verdrießen.

 

»Bist du depressiv, oder was?«

Ich zuckte zusammen und legte sofort meinen rechten Unterarm auf das, was ich gerade geschrieben hatte.

Spöttisch zusammengekniffene, bernsteinfarbene Augen fixierten mich.

Ich räusperte mich kurz und versuchte, den Puls zu beruhigen, der durch meinen Körper donnerte. »Sydney, richtig?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Olivia, richtig?«, erwiderte sie kühl.

Ich nickte, griff hastig nach meinem Zettel und steckte ihn zurück in meine braune Ledertasche, die auf dem Boden an meinen Beinen lehnte. Als ich den Kopf wieder hob, knallte ich vor lauter Ungeschicklichkeit gegen die Tischkante. »Autsch!« Ich rieb mir die pochende Stelle.

Sydney hatte sich in der Zwischenzeit einfach mir gegenüber hingesetzt und sah mich weiterhin mürrisch an. »Bist du in Aaron verknallt?«, stellte sie mir die absurde Frage.

Ich musste fast lachen. »Wie bitte? Und ja, du darfst dich hier hinsetzen, du kleine Schleicherin.« Ich versuchte ein freundliches Lächeln, ließ es aber schnell wieder, denn der Gesichtsausdruck meines Gegenübers war alles andere als charmant. Sie würde sich bestimmt gut mit Hodges neuer Freundin verstehen. Schließlich waren sie beide im Team mürrisch.

»Erstens habe ich mich nicht angeschlichen, du warst nur so in deine frustrierten Worte vertieft«, sie zuckte mit den Schultern, »und zweitens musst du doch Liebeskummer haben, oder warum schreibst du so etwas? Und drittens, da es um meinen Bruder geht, ist die Frage berechtigt, oder? Schließlich bist du neulich ganz aufgelöst mit Herzchen in den Augen vor seiner Tür aufgetaucht?« Sie zog fragend eine Augenbraue hoch und lehnte sich frech ein Stück näher zu mir.

Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus. Von dieser Göre würde ich mich bestimmt nicht provozieren lassen.

Amy kam zurück und stellte meinen Orangensaft vor mich, während Sydney sich ein Glas Wasser bestellte. Ich musterte das scharfzüngige Mädchen. Sydneys blondes, seidiges Haar reichte ihr bis zu den Schultern und umrahmte ihre feinen Züge. Abgesehen von den hohen Wangenknochen und den Sommersprossen auf dem Nasenrücken war sie Aaron wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie trug ein blauschwarzes Flanellhemd, das ihr etwas zu groß war und das sie immer wieder bis zu den Ellbogen hochschob.

Sie schnaubte. »Das Hemd ist aus meinem Lieblingsladen in Texas. Ich habe nur ein paar mitgebracht. Also würde ich dich bitten, mir meins zu lassen und es nicht mit den Augen auszuziehen. Du bist nicht mein Typ, tut mir leid.«

Es kostete mich große Mühe, ihr nicht die Leviten zu lesen. Aber ich knirschte dennoch mit den Zähnen, bevor ich meine Hände auf den Tisch legte und ganz langsam den Kopf neigte. »Ich habe dich nicht gebeten, dich zu setzen, und schon gar nicht lasse ich mich von dir anstänkern. Wir kennen uns kaum und –«

»Ja, schon gut!« Sie unterbrach mich und setzte plötzlich ein Lächeln auf, das ich so verschmitzt nur von Aurelia kannte.

Ich kniff die Augen zusammen: »Hast du mich gerade absichtlich ärgern wollen?«

Sie schielte an mir vorbei. Natürlich. Also wirklich!

»Tut mir leid, Olivia. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich langweile mich nur zu Tode.« Die Kellnerin brachte ihr das Glas Wasser, an dem sie kurz nippte, dann fuhr sie fort: »Aaron geht mir größtenteils aus dem Weg, seit ich bei ihm eingezogen bin«, sagte sie seufzend. »Was ich auch irgendwie verstehen kann, denn ich weiß, dass ich manchmal eine kleine Nervensäge sein kann. Aber hey, so bin ich nun mal.« Sie kratzte sich an ihrem etwas abstehenden rechten Ohr und wirkte ein wenig verloren.

»Hast du ihm schon gesagt, warum du aus heiterem Himmel bei ihm aufgetaucht bist?« Das würde mich selbst nämlich auch brennend interessieren.

Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. »Ähm, nein. Wieso auch?« Jetzt fummelte sie auch noch an ihren viel zu langen Ärmeln herum.

»Aber deine Familie weiß, dass du hier bist, oder?«

»Ich habe sie vom Flughafen aus angerufen, ja.«

Ihre Wangen färbten sich jetzt tiefrot. Gut so. Das war schließlich eine grauenhafte Aktion.

Ich schüttelte den Kopf. »Nichts für ungut, Sydney, aber das ist wirklich eine beschissene Nummer, die du da abgezogen hast.«

Sie runzelte die Stirn und wurde prompt launisch. »Na und? In ein paar Wochen ist alles vergessen, dann gehe ich hier auf die Highschool und trete wieder den Cheerleadern bei. Zu Hause war ich schließlich Captain! Dann wird alles wieder gut. Punkt. Aus.«

Sie wusste selbst, dass das überhaupt nicht passte. Und ob das alles so einfach funktionieren würde, sei dahingestellt.

Aber ich hielt mich mit meiner Meinung zurück. Das war schließlich nicht meine Familiengeschichte.

Und im Grunde war sie selbst nur höchst verunsichert, das spürte ich. Was wohl in Texas passiert war, dass sie so etwas abzog? So schnell würde die Kleine nicht mehr abreisen, da war ich mir sicher.

Und irgendwie tat sie mir auch leid.

Dann fiel mir etwas ein, um es Sydney hier vielleicht etwas leichter zu machen, falls sie tatsächlich bleiben durfte.

»Wenn du willst, stelle ich dir zwei Freunde von mir vor.

---ENDE DER LESEPROBE---