Schleier der Welten - Verlorene Unendlichkeit (Band 3) - Ella C. Schenk - E-Book

Schleier der Welten - Verlorene Unendlichkeit (Band 3) E-Book

Ella C. Schenk

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

*Eine Fehde, älter als die Zeit. Ur-Maya, in einem Kampf um Leben und Tod. Ein Feind, der alles aus der unendlichen Dunkelheit beobachtet. Und eine Auserwählte, die versucht, die Prophezeiung zu erfüllen.* Nach dem verheerenden Kampf im Totenpalast ist die Ur-Maya Estella mit Lucys Mutter wie vom Erdboden verschluckt. Lucy will nach ihr und ihrer ebenso verschollenen Liebe suchen, doch der Bluterbe des Totenvolkes zwingt sie, sich der unheilvollen Dunkelheit hinter den Schleiern zu stellen. Da Lucy nicht weiß, wie sie ihn von seinem Wahnsinn abhalten soll, vertraut sie auf die Flüche der Königsstädte. Aber die haben ihre eigenen Pläne. Und Lucy wird immer klarer: Ihr Schicksal scheint nur ein weiterer Zug in einem Spiel des ewigen Kampfes zwischen uralten Mächten zu sein, fernab jeder Zeit. Und doch wird Lucy über Rettung oder Untergang entscheiden. Der finale Band einer magischen und sagenumwobenen Reihe von ELLA C. SCHENK...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Was bisher geschah ...
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Epilog
Danksagung

Ella C. Schenk

 

SCHLEIER DER WELTEN

Verlorene Unendlichkeit

(Band 3)

 

 

 

SCHLEIER DER WELTEN: Verlorene Unendlichkeit

 

 

Copyright

© 2024 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags

wiedergegeben werden.

 

 

Lektorat: Sandy Brandt

Korrektorat: Aileen Dawe-Hennings und Susann Chemnitzer

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von 123rf

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Für dich – bist du furchtlos genug, die Illusionen um dich herum zu durchschauen?

Glaub mir, du kannst es.

Was bisher geschah ...

Statt ihrer großen Liebe Deanel musste Lucy Ethan, den Bluterben des Totenvolks, heiraten. Eine ausgeklügelte List, ausgeheckt von der Ur-Maya Estella. Damit hofft sie, die Gefühle zwischen ihrem Sohn Deanel und Lucy, die sich hinter ihrem Rücken entzündet haben, einzudämmen.

Doch Ethan hat seine eigenen Pläne. Ihm geht es nicht darum, Lucy die Kräfte der drei erwachten Male zu entreißen, damit die Ur-Maya ihre Unsterblichkeit wiedererlangt. Er will eine dunkle Energie in der Galaxie vernichten, die alle Welten verschlingen soll. Seit Jahren steigt Ethan in den Weiher der toten Seelen hinab und nimmt unschuldige Seelen in sich auf. Mit dieser zusätzlichen Kraft kann er Maya trotz ihrer Unsterblichkeit auslöschen. Ethan will Lucy helfen, die Ur-Maya zu vernichten, wenn sie ihm verspricht, die allumfassende Dunkelheit aufzuhalten.

Eine Dunkelheit, aus der selbst die Schleier der Welten stammen und von der Ethan besessen zu sein scheint. Lucy weiß seit ihrer Hochzeit, dass der Weiher ihm diese Horrorszenarien in den Kopf setzt, als Strafe dafür, dass er Seelen stiehlt.

Mit Lucys Mutter als Geisel hat Estella noch ein Ass im Ärmel, das sie noch nicht ausgespielt hat.

Deanel, Lucys große Liebe, wurde im Kampf von einem Vomár verwundet. Seine Ex-Verlobte Romina hat ihn gefasst und ist mit ihm verschwunden. Niemand weiß, wohin. So sucht Lucy nach neuen Verbündeten und findet sie in den Flüchen der Königsstädte.

Kilian, der Bluterbe des Sonnenvolks, regiert nach dem Fall der Ur-Maya Le Frey und Lexus über Rívera und rüstet sich für einen Krieg mit den noch lebenden Mischlingen und den Kämpfern des Eisreiches.

Und was hat es mit der entrissenen Seite des Tzolkiens auf sich, mit der Estella, Lantos und Sir Umbas verschwunden sind?

Auch stellt sich die Frage, welcher Feind zuerst angreifen wird? Ist es Estella? Oder die Finsternis, die Ethan heraufbeschwört? Und wird es den Flüchen gelingen, Lucy ihren Vater zurückzubringen, der einst mit seiner Schattengabe aus dem Gefängnis Tranváraz fliehen konnte? Denn er muss Lucy diese Gabe beibringen, damit sie aus der Totenstadt fliehen und ihre Freunde retten kann. Wie auch sich selbst. Denn Ethan wird sie niemals freiwillig gehen lassen …

Prolog

 

London

 

Ich bin die ewig fließende Quelle der Dunkelheit.

Grenzenlos.

Ich bin überall, werde nie aufhören, zu sein.

Leben und Tod, alles vereint sich in meinem formlosen Schlund.

Meine Finsternis steht hinter allem Leben, welches ich gewähre.

Mach mich dir nicht zum Feind.

Wecke nicht mein Interesse.

Spiele nicht mit mir, wie die Schleier der Welten es nur zu gern tun.

Sie lasse ich gewähren – einstweilen.

Aber nur sie. Hörst du, Prinzessin?

 

 

Estellas mickriger Laut zerschneidet die angespannte Stille in dem halbdunklen Raum.

Was für eine Farce.

Mittlerweile kenne ich die Ur-Maya gut genug, um jegliche feine Note ihres wässrigen Schauspiels zu durchschauen. Jeden Moment wird ihr Gemüt ins wahrhaftige Böse umschlagen, wie in den letzten zehn Tagen. Ach was, wie in den letzten sechs Jahren, in denen sie mich im Gefängnis unter dem Totenberg gefangen hielt.

So unauffällig wie möglich ziehe ich mich in den Schatten der Vorhänge zurück und spähe hinaus auf die Straßen von London. Wenn diese Menschen nur wüssten, welches Schicksal ihnen droht, sollte es Estella gelingen, Lucy ihre Kräfte zu entreißen.

Der Kummer nagt an mir. Ich hätte meine Tochter besser auf ihre Bestimmung vorbereiten sollen.

Einen Moment sacke ich nach unten und muss mich an diesem dunklen, raschelnden Stoff festhalten. Das Material traktiert meine Sehnen. Sehnen, die gestern noch von rosafarbenem Fleisch umgeben waren. Verdammt, tut das weh.

Bald werde ich in der Welt der Menschen zu Staub zerfallen – in dieser Wohnung, nahe dem College des Sonnenvolks, welche Estella und ihre Handlanger als Versteck nutzen.

»Öffne das Fenster, wenn du schon dort herumlungerst. Dein Gestank ist ja kaum auszuhalten.«

Innerlich zucke ich zusammen. Doch ich gebe Lantos nicht die Genugtuung, zu sehen, wie er mich aufregt.

Mit einem aufgesetzten Spinnenlächeln blicke ich über die Schulter zu diesem Halunken, der mir meine Existenz in den letzten Jahren zur Hölle gemacht hat. Der General der Totenarmee schlägt ein Bein über das andere. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, öffne ich das Fenster.

Die Schmerzen donnern sturmgepeitscht mit jeder Bewegung durch meinen vergehenden Körper. Ich lasse es mir nicht anmerken.

Eine frische, vom Sommer durchzogene warme Brise bahnt sich ihren Weg durch Schmutz und Zwielicht. Doch sie vertreibt die faulige Süße nicht, die mich außerhalb von Zsumara wie ein lästiger Schatten umgibt. Ich müsste zurück in diese magische Welt, um nicht zu vermodern.

»Na, besser?« Ich lasse mich nicht unterkriegen von der urtümlichen Wut, die in seinen Augen aufblitzt. Davon habe ich mich im Gefängnis unter dem Totenberg auch nicht einschüchtern lassen.

Tage, Monate, Jahre hat er es versucht.

Vergeblich.

Angewidert greift er nach seinem silbernen Talisman, in dem meine Seele eingesperrt ist. So gefühllos und grausam wie möglich halte ich seinem Blick stand, wenngleich alles in mir vor Verlangen summt – nach meinem Inneren, welches mir vor sechs Jahren entrissen wurde. Wir beide benötigen den Weiher der toten Seelen, um in ein nächstes Leben ziehen zu dürfen. Unabhängig von jeglichen Verstrickungen, die mich hier festhalten. Meine Zeit ist seit Jahren abgelaufen. Dass ich noch hier bin, gleicht einer Unnatürlichkeit, die es nicht geben sollte. Meine Seele, mein Körper, selbst mein Bewusstsein wissen das.

»Seid verdammt noch mal still«, presst die Ur-Maya des Feuervolks mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Der pure Wahnsinn lodert in ihren violetten Augen. Seit ihr Plan gescheitert ist und ihr geliebter Prutus getötet wurde, ist selbst ihre jugendliche Körperhälfte dem Alterungsprozess zum Opfer gefallen. Von ihrer einstigen Schönheit ist nur noch ein Abglanz übrig. Ihre Haut ist fahl, die Falten in ihrem Gesicht unnatürlich tief. Erste graue Strähnen ziehen sich durch ihr lavendelfarbenes Haar.

»Ich muss nachdenken. Also. Haltet. Euren. Mund.« Sie krallt die Nägel in den weinroten Seidenmantel. Anschließend stiert sie wieder aus dem kleinen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen.

Wie so oft frage ich mich, was sie zu sehen hofft.

Die Ur-Geschwister Le Frey und Lexus sind nach Sir Umbas' Informationen wie vom Erdboden verschluckt. Sie werden nicht hier am College auftauchen und uns angreifen.

Lantos erhebt sich von der schwarzen Couch. Wie ein Wolf umrundet er den niedrigen Tisch, um nach der Karaffe zu langen, die auf dem Kamin steht. Sodann wende ich meinen Blick von ihm ab. Ich kann diese glücklichen Porträts nicht ansehen, die dort stehen. Ich wage zu bezweifeln, dass die junge Familie auf den Bildern freiwillig ihre Wohnung verlassen hat.

Das Plätschern des Alkohols reißt Estella aus ihrer verbissenen Starre. Brüsk dreht sie sich um. »Wir brauchen deine Totenarmee auf unserer Seite. Du musst sie überzeugen, für uns zu kämpfen, verstanden?«

Jeden Tag die gleiche Leier. Wieder frage ich mich, warum sie ihn ständig nach Zsumara schickt, wenn die Barriere des Bluterben undurchdringlich ist. Obwohl … ist sie das? Sie reden andauernd so, als hätten sie ein Ass im Ärmel. Mit pochenden Schläfen lehne ich mich mit dem Hinterkopf an die Raufasertapete. Meinen von Fleischwunden überzogenen Rücken wölbe ich vor.

»Wie du wünschst.« Lantos leert seinen mit drei Fingerbreit eingeschenkten Whiskey in einem Zug. »Und gewiss sind sie mir noch treu ergeben. Wir müssen nur einen Weg finden, sie vom Berg zu befreien. Ethan wird sie im Blick haben.« Sie tauschen ein verschmitztes Lächeln aus.

»Wie man hört, ist er zunehmend von etwas anderem besessen als vom Herrschen über die Königsstädte. Irgendwann wird der Junge einen Fehler machen. Und dann holen wir uns Lucy«, sagt Estella.

»Das werde ich nicht zulassen.« Mein Puls überschlägt sich. »Du wirst meiner Tochter nichts zuleide tun.«

Diesmal sieht Estella zu mir. »Deine Abgebrühtheit in allen Ehren, aber du hast hier nichts zu sagen.«

»Lucy wird euch vernichten, wie die Schleier es prophezeit haben«, antworte ich.

Mit mörderischem Tempo eilt Lantos auf mich zu, bleibt aber kurz vor mir stehen.

So, so lächerlich.

Er ekelt sich davor, meinen verwesenden Körper zu berühren. Aus Gewohnheit ballen sich meine Hände zu Fäusten. Der Schmerz lässt mich wimmern.

Im Halbdunkel des Raumes formt sich ein dunkler, funkelnder Schatten. Sir Umbas materialisiert sich. So ein kleiner Mensch und dennoch voller Niedertracht und Hinterlist. Er hat seine Spione überall. Auch im Volk Zsumaras, das ihm außerhalb der Mauern Informationen liefert. Amüsiert zwirbelt er an seinen aufgerichteten Bartspitzen und sieht auf meine zum Angriff geformten Fäuste. »Es lohnt sich nicht, so kurz vor dem Ende eine Szene zu machen, Honigtäubchen.« Breiter grinsend dreht er sich zu Estella um, die stirnrunzelnd sein gelbes Hemd mustert.

»Sprich«, fordert sie.

Als hätte er alle Zeit der Welt, schenkt er sich selbst ein Glas ein. Die tiefe Zufriedenheit in seinem Blick gefällt mir nicht. Er sollte nervös sein – sie alle. Schließlich sind sie auf der Flucht.

Er nimmt den ersten Schluck. »Romina war erfolgreich.«

Schmunzelnd greift Estella in ihre Manteltasche und zückt dieses seltsame Stück Papier. Der Zauber, der davon ausgeht, ist eigen. Meine Nackenhaare stellen sich bedrohlich auf. Eine Welle der Magie strömt durch den Raum. So stark, dass sie mir kurzzeitig die Luft zum Atmen nimmt. Auch wenn es nur eine herausgerissene Seite dieses Tzolkiens ist, mit dem Estella und Enzo einst mit den Schleiern der Welten kommuniziert haben, so ist diese Magie regelrecht verzehrend.

»Ich wusste, auf diese Schlange ist Verlass«, sagt Estella. »Sie hatte immer eine Begabung dafür, Deanel ihren Willen aufzuzwingen. Er hatte nie eine Chance.«

Der Schock rast durch meinen Körper. Soweit ich es mitbekommen habe, waren Romina und Deanel jahrhundertelang ein Paar. Zuletzt jedoch hatte sich Deanel für Lucy entschieden. Was bedeutet das also?

»Ihre Talente sind wahrlich unangefochten.« Das letzte Wort dehnt Sir Umbas und zwinkert Lantos zu, der sich daraufhin in Richtung Estella verbeugt.

»Dann werde ich mich nach Zsumara aufmachen.« Schon verschwindet Lantos in einem Gemisch aus schwarzen Wirbeln. Mein Magen verkrampft sich. Warum dieses gefährliche Unterfangen? Weshalb riskieren sie, von Ethan an der Stadtgrenze gefangen genommen zu werden?

Estella faltet das leicht vergilbte Papier auseinander.

»Passt auf.« Mit erbleichtem Gesicht starrt Sir Umbas auf das Pergament.

Die Luft wird immer dünner und der Druck auf meiner Brust stärker. Ich möchte die Unterhaltung der beiden nicht verpassen, doch ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten.

Estella sieht zu mir: »Verschwinde. Die weiteren Worte sind nicht für deine lauschenden Ohren bestimmt.«

Ich zeige Zähne, hangle mich dennoch zum Türrahmen meines mir zugewiesenen Zimmers. Noch bevor ich hindurchschlüpfe, lacht Estella glockenhell und voller Hoffnung, sodass mir speiübel wird.

»Keine Sorge, mein Lieber. Für das, was ich hiermit vorhabe, brauche ich Sola und Sibilla. Ich bin nicht so dumm, um es allein zu versuchen.«

Um was zu versuchen?

Ich habe keine Ahnung und das macht mich verrückt vor Sorge. Ich bleibe stehen. Sofort lässt Estella einen Schwall ihrer Magie auf mich los. Mein Rücken brennt. Ich stöhne vor Schmerz auf. Mit letzter Kraft verschwinde ich in mein schmuckloses Zimmer. Die Tür hinter mir schließt sich mit einem Knall und ich werde mal wieder von weiteren Gesprächen ausgeschlossen.

Frustriert taste ich mich zum Fenster hinüber und sehe hinaus. Wie so oft in den letzten Tagen stimme ich ein Gebet an. Ich weiß nicht einmal, an wen ich es richte. Und doch hoffe ich, dass Holland oder Prida die Straße dort unten entlanglaufen. Ich könnte versuchen, die Aufmerksamkeit der Mischlingsanführer auf mich zu ziehen, könnte …

Das wird nicht passieren. Sie sind zu vorsichtig, um sich vor dem College des Sonnenvolks umherzutreiben. Dabei hätte Lucy mit ihnen eine Chance, gegen Estella anzutreten. Ich weiß, dass Holland die Armee der Mischlinge in den letzten Jahren zielsicher weiter ausgebaut hat. Er ist ein überlegter und gerechter Anführer. Dem, was seine eigenen Leute ihm einst angetan haben, zum Trotz.

Mein Herz zieht – so sehr, dass ich kurz Sorge habe, es könnte stehen bleiben.

Seufzend frage ich mich, ob das wirklich so schlimm wäre. Ich werde ohnehin bald sterben, wenn sie mich nicht zurück in die Welt der Maya bringen.

Und das wissen sie.

Die Zeit läuft nicht nur gegen mich.

Denn ich bin ihr Trumpf in einem Plan, von dem ich leider absolut keine Ahnung habe.

 

 

 

 

 

 

 

 

TEIL 1

 

 

 

Liebe ist alles

Kapitel 1

Das Totenreich Zsumara

 

Die wundersame Magie des Nebelwesens überlagert meine Sinne wie ein dicker, dreckiger Film aus Öl.

Eine feuchte Kälte dringt bis in meine Knochen, sodass selbst die Schatten erschaudern, die mich hierhergeführt haben. Der graue Nebel verschluckt meinen Körper vor dem V-förmigen Durchgang, welcher hinab zum Weiher und dem Totenkreis führt.

»Königin der Schatten«, wispert die geisterhafte Stimme des Nebelwächters.

Doch ich habe keine Angst – nicht mehr. Der Fluch ist ein Verbündeter, der mir seine Geheimnisse singt.

»Nenne mich Lucy. Das reicht völlig«, bitte ich ihn.

Er antwortet mit einem orakelhaften Lachen – definitiv nicht von dieser Welt. Stattdessen von einer fernen Sphäre, in die alle Flüche der Königsstädte zurückkehren wollen. Aber sie sind hier gefangen. Estella, Madame Le Frey und Sibilla haben sie vor Jahrhunderten hierhergezogen, nachdem sie ihre Magie missbraucht hatten, um noch mehr Macht zu erlangen.

Was haben diese Flüche in ihrer Welt getan, sodass die Schleier sie hier vermodern lassen?

»Meine Fluchschwester in Rívera hat die Schatten deines Vaters einmalig auf dem Weg zum Gefängnis erhascht. Er war aber zu schnell weg, um ihm deine Nachricht zu übermitteln.«

Nervös verknote ich die Finger ineinander. »Er war also in Tranváraz«, überlege ich laut, wissend, dass das Nebelwesen nicht nur meine Gestalt, sondern auch meine Stimme hier im Nordviertel verschluckt. »Dann bitte ich dich darum, dass deine … Schwester vermehrt ihr Augenmerk auf das Gefängnis wirft.«

Ich brauche meinen Vater. Selbst in meinen Gedanken hört sich diese Bezeichnung fremd an. Denn das ist er. Wann hat Estella ihn nach Tranváraz gesperrt und warum? Wie sieht er aus? Hat er mich jemals zu Gesicht bekommen? Als Baby?

Ob Kil mehr weiß? Er hat sich zweimal mit meinem Vater unterhalten, bevor dieser aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und Kil dort zurückgelassen hat. Meine Sonnensymbole kribbeln und die Unsicherheit schlägt Wellen. Macht es überhaupt Sinn, ihn aufzuspüren? Was, wenn dieses Gefängnis ihn gebrochen hat? Das darf ich gar nicht denken.

Einen Moment reibe ich mir die pochenden Schläfen. Vater muss mich lehren, wie ich mit meinen Schatten durch Ethans Schutzwall aus der Stadt komme. Schließlich ist er selbst mit seinen Schatten aus Tranváraz geflohen, obwohl die dortige Magie es verhindern sollte. Deshalb könnte ich auch Ethans Zauber umgehen.

Meine bisherigen Versuche sind gescheitert.

»Natürlich, Königin.«

Einen Moment bin ich wie vor den Kopf gestoßen, so versunken war ich in meinen Gedanken.

»Danke.« Ich räuspere mich. »Was ist mit dem Erben des Feuervolks? Haben die anderen Flüche ihn gesehen?«

Deanel.

Allein seinen Namen zu denken, reißt meinen Brustkorb auf. Die Sehnsucht nach ihm gleicht einem alles verzehrenden Sturm. Aber auch die Sorgen kommen dazu. Lässt er sich von Romina beeinflussen? Wo ist er? Hält Estella ihn fest? Zuletzt war er durch den Biss eines Vomárs verwundet worden. Leidet er noch?

»Den aufbrausenden Prinzen und seine einstige Verlobte konnte keiner meiner Geschwister erblicken.«

Ein kurzes Zusammenzucken ist die einzige Schwäche, die ich mir erlaube. Und diese einsame, verflixte Träne, die sich aus meinem Augenwinkel stiehlt. Eine salzige Perle voller Befürchtungen der ganz großen Sorte.

Holland konnte ich bisher nur einmal erreichen, und das vor wenigen Tagen. Seit Ethan mich täglich zum Weiher und dem Totenkreis schleppt, ist meine Magie erschöpft, ebenso wie ich. Es kostet mich jegliche Konzentration, meinen Geist von der Schwärze fernzuhalten.

Nicht das, was Ethan will. Denn ich sollte mich mit dieser mächtigen Dunkelheit hinter den Schleiern vertraut machen, die er so fürchtet. Ich müsste mir ihre Magie einverleiben und sie kennenlernen, um Schwachstellen zu erkennen. Als könnte man das. Ich möchte nicht mehr in diesen Schlund der Dunkelheit starren, vor dem sogar die Flüche und die Schleier der Welten erzittern. Diese Dunkelheit hat einst alles im Universum erschaffen und nun soll ich sie auf uns aufmerksam machen, nur weil Ethan zunehmend verrückter wird und sie als Bedrohung ansieht? Nein, danke.

Noch bevor ich nach Estella fragen kann, ächzt das Wesen wie eine sterbende Krähe.

»Der Erbe kommt. Halte dich weiterhin von dieser Dunkelheit fern.«

Die Flüche fürchten auch Ethan mit seiner neu gewonnenen Kraft. Seit er in den heiligen Weiher hinabsteigt und Seelen raubt, ist er unfassbar mächtig. Dadurch wird seine Magie nicht nur stärker, sondern er selbst immer unzurechnungsfähiger. Und das ist alles andere als optimal. Manchmal scheint er völlig neben sich zu stehen.

Das Nebelwesen zieht sich zurück und nimmt den Schutz der Unsichtbarkeit mit sich. So stehe ich für jeden gut sichtbar im Nordviertel und starre wie gebannt auf die edlen blauen Steinchen am Torbogen. Nicht, dass ich den Durchgang jemals durchschritten hätte. Ethan bevorzugt es, mich rüpelhaft am Arm zu packen und mich mithilfe seiner Magie direkt zum Weiher der toten Seelen zu bringen.

Ich spüre ebenfalls seine nahende Präsenz.

Der eingebrannte, dornige schwarze Ring an meinem linken Oberarm schmerzt und flackert wie die zahlreichen Öllampen auf den Fensterläden dieser zweistöckigen Herrenhäuser.

Die Luft vor mir vibriert, verdichtet sich von obsidianschwarzen Glitzerfäden zu meinem Ehemann.

Maya. Wie ich ihn hasse.

Typischerweise schnalzt er mit der Zunge. Seine mondweißen, zurückgegelten Haare leuchten im Dunkel der Nacht. Diese Ausläufer der rabenschwarzen Himmelsdecke erdrücken alles mit einer hoffnungslosen Finsternis, die immer näher zu kommen scheint. Manchmal frage ich mich, ob sie uns eines Tages verschlingen wird.

»Entschuldige die Verspätung, Lucy, meine Teuerste. Ich musste nach meinem Vater und Tante Sibilla sehen.«

»Die du wo versteckt hältst?«

»Das möchtest du gern wissen, nicht wahr?«

Ich recke mein Kinn vor. »Warum misstraust du mir immer noch? Ich habe dich geheiratet, begleite dich jeden verdammten Tag unter den Berg. Du wirst über alles regieren. Kilian und … und …« Ich stocke, bringe seinen Namen nicht über die Lippen. Schnell sehe ich auf den dunklen Kies und versuche, meine hektische Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. In meinen Ohren rauscht es leicht und die zurückhaltenden Geräusche des feinen Nachtwindes verstummen.

Maya.

»Deanel«, sagt Ethan beschwingt und greift unter mein Kinn, sodass ich ihn wieder ansehen muss. Sein Name aus Ethans Mund ist wie ein Peitschenschlag. »Du meinst Deanel, der mit seiner ersten großen Liebe Romina verschollen ist? Wie auch Estella und ihr Zwilling Enzo, den ich nicht finden kann.« Ethan presst die Kiefer aufeinander und in mir zieht sich alles zusammen vor Kummer.

»Und meine Mum«, ergänze ich.

»Ein weiteres Übel, mit dem dich Estella noch erpressen wird. Es bleibt abzuwarten, was sie will.« Ethan runzelt die Stirn und nimmt die Hand zurück. »Sie kann dir deine Magie nicht mehr entziehen. Le Frey hat gute Arbeit geleistet. Fast bin ich neidisch, dass unser Blut nie so eine Besonderheit hervorgebracht hat. Diese Jäger-Fähigkeit war nicht sonderlich herausragend.«

Ich schnaube. Diese furchtbare Gabe, die es ihm ermöglicht hatte, unzählige Mischlinge mit zwei Blutlinien zu finden und abzuschlachten. Maya sei Dank hat er nicht alle erwischt und diese Fähigkeit wirkt nicht mehr. Sonst könnte er Holland, Prida und den Rest der Mischlinge problemlos hier im Königreich der Maya aufspüren. Das wäre katastrophal, da er bis jetzt noch nichts von ihnen weiß.

Und das soll auch so bleiben.

»Ich frage mich, was Estella mit deiner Mutter vorhat und wo die zwei Ur-Geschwister des Sonnenreichs hin verschwunden sind? Der Zauber wird ihnen vermutlich ihre letzte Energie gekostet haben, nehme ich an. Du hast keine Ahnung, Lucy, meine Gemahlin?«

So nennt er mich nur, wenn er in Streitlaune ist. Dabei ist das gar nicht notwendig. Das bedrohliche Funkeln in seinen aschgrauen Augen reicht mir als Hinweis vollkommen.

Holland berichtete mir, dass Madame Le Frey und Lexus in einem komatösen Zustand im Eisreich verweilen. Davon werde ich Ethan nichts erzählen. Er ahnt nicht, dass sich Enzo und die Mischlingsarmee dort befinden. Ich habe ihm erzählt, Enzo sei in der Welt der Menschen untergetaucht.

Kopfschüttelnd weiche ich zurück, doch Ethan schlingt seinen Arm um meine Taille.

»Lass mich los.« Ich schubse ihn von mir.

Lachend tut er, was ich fordere, nur um provozierend den Kopf schief zulegen. »Du weißt, wie fuchsteufelswild ich bin, dass du dich weigerst, mit deinem Geist in den Totenkreis zu wandern. Sprechen wir also darüber.«

Ertappt kringle ich die Zehen ein. »Es funktioniert nicht.«

»Lüg mich nicht an.« Der ungehaltene Ausdruck auf seinem Gesicht spricht Bände. Sein Geduldsfaden reißt mit jedem Tag, an dem ich mich weigere, ein wenig mehr. Barsch greift er erneut nach mir, zieht mich so fest an sich, dass sich unsere Nasenspitzen berühren. Irgendwann werde ich sie ihm noch brechen!

Und da sehe ich es – mal wieder. Hinter dem boshaft glänzenden Blick liegt nackte Angst vor dieser Dunkelheit. Diese unendliche Dunkelheit, die nicht unser Gegner ist.

Noch nicht.

Wenn er sie nicht in Ruhe lässt, wird sie es werden.

»Mach dir keine Feinde, wo keine sind, Ethan. Der Weiher setzt dir diese Bilder von zerstörten Welten in den Kopf – als Strafe, weil du diese Seelen raubst. Eine Mahnung, sie in Ruhe zu lassen.« »Und wenn nicht? Wenn es Bilder dessen sind, was diese Dunkelheit bereits mit anderen Welten angerichtet hat? Vielleicht ist es meine Aufgabe, sie davor zu beschützen.«

»Ist es nicht, Herrmayanochmal.« Ich kralle die Hände in seine Schultern. »Ich habe es gesehen, als Aurora uns ihren Segen bei der Trauung gab. Der Weiher schickt sie dir als Strafe für diesen unverzeihlichen Raub! Die Schleier der Welten werden sich uns nie mehr annehmen, wenn du weiterhin Seelen nimmst. Sie gehören dir nicht!«

Sofort lässt er mich los und nimmt etwas Abstand. Ich atme auf.

»Ich brauche diese Seelen, um an Macht zu gewinnen …« Frustriert fährt er sich über das kantige Gesicht. »Warum diskutiere ich überhaupt mit dir? Wenn dein letztes Mal erwacht, werden wir uns gegen diese Dunkelheit wappnen. Um das zu tun, musst du sie kennenlernen. Wir müssen sie verstehen lernen.« Er fasst so schnell wieder nach mir, dass ich nicht ausweichen kann. Diesmal legt er beide Hände an meine Wangen. Die Geste könnte liebevoll gemeint sein, wäre da nicht dieser maßlos abscheuliche Blick. »Mal sehen, wie du den Weiher der toten Seelen wahrnimmst, Lucy, meine Teuerste. Denn heute werden wir beide darin eintauchen.«

Ich soll in dieses Mysterium hinabtauchen? Unsichtbare Schnüre legen sich um meinen Brustkorb.

»V-vergiss es.«

»Das war keine Bitte.« Seine gewaltige Kraft hüllt mich ein, reißt mich in einen mächtigen Strudel der Magie und zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich habe das Gefühl, zu fallen und gleichzeitig zu schweben. Wie ich es hasse.

Kapitel 2

 

 

»Siehst du sie? Spürst du etwas?« Ethans Fingerkuppen fahren über meinen Nacken. Die Magie, die er dort hinterlässt, triezt mein Mal. Es rast, sticht und kribbelt gleichermaßen. Das tut er absichtlich!

»Nein, verdammt. Und es wird nicht besser, wenn du mich zwingst.« Ich winde mich von ihm fort.

Meine Stimme bebt. Der Totenkreis würde meinen Geist nur zu gern in sich aufnehmen. Also ziehe ich innerlich die Wand um mich höher. Schweißperlen sammeln sich vor Anstrengung auf meiner Oberlippe.

Schimpfend schubst mich Ethan nach vorne. Fast stolpere ich in den Weiher, dessen Oberfläche von den bunten Fäden der Seelen durchzogen wird. Immer wieder ploppt eine auf, um daraufhin im Totenkreis zu verschwinden.

»Du kostest mich echt Nerven, weißt du das?«, wagt Ethan zu sagen.

Zorn lodert durch meine Venen. Wutentbrannt sehe ich über meine Schulter zu ihm. »Du kostest mich mein Leben, weißt du das? Im Gegensatz zu dir bin ich nicht unsterblich! Täglich hier zu sein, macht mich fertig, Ethan! Abends komme ich kaum noch vor Erschöpfung in mein Bett!« Dass ich jeden zweiten Tag das Abendessen erbreche, sage ich ihm nicht. Vermutlich hat Aurora ihm das bereits erzählt. Diese Schlange von Priesterin scheint Buch über meinen Tagesablauf zu führen. Wahrscheinlich notiert sie auch meine Toilettengänge. »Gönne mir eine Auszeit. Meine Reserven sind maßlos erschöpft. All das«, ich fuchtle zum Totenkreis, der zischt und zündelt, »die Sorgen um Mum, Deanel …«

»Okay.«

»Okay? W-was? Habe ich mich verhört?«

Ethan rollt mit den Augen. »Du bekommst deine Auszeit. Ich vergesse manchmal, dass du sterblich bist. Ist das nicht anstrengend?«, schnarrt er und begutachtet seine Fingernägel.

Geht es noch überheblicher? Einen Moment lang weiß ich nichts zu sagen. Mit diesem Zugeständnis hätte ich nach den vorhergegangenen Drohungen nicht gerechnet. Ich muss den Drang unterdrücken, vor Verblüffung den Kopf zu schütteln.

Perplex öffne ich den Mund jedoch für einen Dank, da grinst er böse und ich schlucke meine Worte hinunter. Ich ziehe die Schultern höher, sammle die Magie in den Sonnenmalen.

»Aber vorerst: Versprochen ist versprochen.«

»Was meinst du?« Meine Sonnensymbole leuchten warnend auf, reagieren von allein auf diese Durchtriebenheit in diesen honigsüßen Worten. Ich krümme die Finger, bereit, ihn zu kratzen, sollte es notwendig sein.

»Dass du den Weiher kennenlernst. Vielleicht kann seine Energie dein Mal erwecken.«

»Verdammt noch mal, nein! Akzeptiere meine Entscheidung gefälligst.« Jetzt reicht es mir aber!

Ich blende ihn mit meinem Licht und marschiere auf den Durchgang zu. »Wir sind fertig für heute, Ethan.« Ahnend, dass ich nicht mal die erste Stufe erreichen werde, die mich aus diesem Berg hinausbringt. Aber widerstandslos tauche ich nicht in dieses schwarze Mysterium hinab.

»Na, na, na! Das hast du lange nicht mehr gemacht.«

Weil ich meine Energie dafür benötige, meinen Geist von diesem Totenkreis fernzuhalten. »Ich sollte das ändern.«

»Einspruch, Euer Ehren!«

Nicht mal neun lächerliche Schritte weit komme ich, da preschen Ethans graue Schlieren an mir vorbei und versperren mir jegliche Weiterbewegung. »Noch ein Schritt und deine Seele wird leiden, Lucy, meine Teuerste.«

Ich beiße mir in die Wange. Ich bin absolut nicht überrascht. »Drohungen über Drohungen. Diese Sprache sprichst du fließend, nicht wahr?« Mit zusammengepresstem Kiefer drehe ich mich zu ihm um. Jedoch nicht, ohne seine Magie mit meinem Licht zu durchtrennen.

»Sie ist meine bevorzugte, ja. Wie gut wir uns schon kennen. Ich bin begeistert.« Er wippt auf den Zehenballen vor und zurück. Dabei setzt er das dämlichste Schmunzeln des Jahrhunderts auf. Eines, das mich ärgern soll. Oh, und wie es ihm gelingt. Hitze kriecht in meine Wangen vor Wut. Aber auch vor Nervosität. Was wird mich in diesem Weiher erwarten? Mein Magen zieht in gefühlt alle Richtungen. Aber ich kann der Situation nicht entfliehen, das weiß ich. Ethan wird nicht lockerlassen. Und auf eine Folter meiner Seele kann ich verzichten. Das Blut in meinem Gesicht schwindet rasant in Richtung meiner Beine, wenn ich an diese Qualen zurückdenke. Höllische Qualen, die dieser abscheuliche Ehemann mir zugefügt hat, weil ich nicht gehorcht habe. Aufmüpfig bin ich dennoch: »Das wirst du büßen, Ethan.«

»Wir werden alle büßen, wenn du nicht bald stärker wirst, dein letztes Mal erwacht und diese Dunkelheit uns verschlingt.« Er blinzelt mehrmals, als hätte er eine zündende Idee gehabt. »Vielleicht solltest du eine Seele in dich aufnehmen.«

Fast weiche ich zurück bis zum Ausgang. »Spinnst du komplett?« Mein Kreischen hallt an den hohen, steinigen Wänden wider, ehe das dunkle Geröll meine Worte verschluckt. Ich kralle die Finger in meinen Rock. Meine Sonnensymbole lodern hoch, die Magie des Feuermals pulsiert vor Empörung.

»Ein Vorschlag: Wir machen es gemeinsam.«

»Nein.«

Er streckt mir eine Hand entgegen. »Halsstarrig wie immer. Dann will ich mal nicht so sein. Heute brauchst du keine Seele aufzunehmen. Dennoch möchte ich sehen, wie du auf diese Magie im Weiher reagierst.«

»Nicht heute, nicht morgen, und auch nicht in irgendeiner Zukunft werde ich eine Seele schlucken, so wie du es tust.« Das Licht meiner Male durchdringt die gesamte Höhle. Als es den Totenkreis erreicht, zischt dieser. Ethan zuckt zusammen und keine Sekunde später hält er die magischen Fesseln in der Hand, die er mir schon zweimal angelegt hat, um meine Magie einzudämmen. »Komm mit und zieh die Magie zurück, sonst wirst du diese hier wieder tragen müssen.«

Ich zeige ihm meine Handgelenke. »Na und? Dann zerstückle ich sie eben wie die alten.«

Er verzieht den Mund. »Auch wieder wahr.« Sie verschwinden und er tippt sich auf das Kinn. »Planänderung. Du gehst jetzt da rein, sonst werde ich meine Vomárs nach Eradaz oder Rívera schicken, verstanden?«

Furcht übermannt mich. Es ist noch nicht lange her, da hat mich ein Vomár verletzt. Fast hätte ich den Angriff nicht überlebt. Automatisch schaue ich auf die blassrosa Male auf meinem linken Handrücken. Sie ziehen sich bis zur Wange. Die einzigen Überreste dieser Vergiftung. Die Schmerzen waren unbeschreiblich gewesen. Niemand soll dies jemals erleiden müssen. »Deine Erpressungen hängen mir zum Hals raus.«

»Und doch sind sie effektiv. Vor allem, weil du weißt, dass ich es tun würde. Meine Geduld schwindet.«

»Gerade hasse ich dich wie die Pest.« Fluchend ziehe ich meine Magie zurück und gehe zum Rand des Weihers. Ethan stellt sich dicht an meine Seite. Die Vorfreude in seinem Gesicht ekelt mich an.

»Immer wieder dasselbe alte Lied.« Er greift nach meiner Hand. Und ich verdamme mich dafür, dass sie bebt. »Wir machen es zusammen.«

»Nein. Das werden wir nicht.« Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, entziehe ihm meine Hand und springe in das dunkle Nass. Was immer er sich erhofft, mein Mal wird nicht erwachen. Das lasse ich nicht zu. Es wäre zu früh. Ethan meinte einst, er würde diese Macht kontrollieren. Solange wir keinen Plan haben, wie wir ihn aufhalten können, darf ich das nicht riskieren. Verdammt, die Flüche müssen meinen Vater finden. Ich muss mich mit meinen Freunden beraten.

Mit diesen Gedanken versinke ich in dieses ölige, heilige Gemisch der Seelen. Beschmutze es mit meinem Eindringen. Mein Herz rast vor Scham. Denken die Seelen, dass ich sie ebenso stehlen will, wie Ethan es immer tut? Ich hoffe nicht.

Es tut mir so, so leid, dass ich hier eindringe. Ich will euch nichts Böses.

Ich wiederhole diese Gedanken im Geiste.

Ein Gemisch aus leidvollem Heulen und unsanften Wellen schlägt auf mich ein, je tiefer ich sinke. Wild rudere ich mit den Armen und versuche wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Aber egal, wie sehr ich es versuche, ich kann nicht. Etwas zieht mich in die Tiefe. Mal warme, mal kalte Ströme wirbeln nach rechts, dann nach links, doch nie nach oben.

Ich fühle mich wie ein sinkendes Fähnchen im Wind.

Panik kommt hoch. Meine Kehle wird eng.

Und mit jedem Hinabsinken schreien die Stimmen lauter und brüllen mich an, als wäre ich ihr Feind.

Aber das bin ich nicht!

O Maya!

Ich strample mit den Beinen und rudere wie getrieben mit den Händen. Ich werde ertrinken.

Mit jedem weiteren Untergehen dreht sich alles in mir, obwohl ich die Augen fest geschlossen halte.

»Öffne die Lider.«

Fast hätte ich aufgeschrien bei dieser alterslosen Stimme, die mir bekannt vorkommt. So glaube ich. Denn meine Gedanken wirbeln ungezähmt. Ich sterbe, sterbe, sterbe. Meine Lunge brennt und sticht, verlangt nach Sauerstoff!

Nein, denke ich mir dennoch und versuche erneut, nach oben zu gelangen. Lange halte ich es nicht mehr aus.

»Öffne die Augen und du wirst atmen können.«

Das Feuer in meinem Brustkorb schwillt an. Bevor ich den Mund aufmache, Seelen aufnehme und vermutlich mein Todesurteil besiegle, öffne ich die Lider. Mein Überlebensinstinkt ist sowieso schneller als mein Gewissen. Sogleich dehnt sich mein Brustkorb aus. Das glühende Sengen weicht, obwohl ich nicht einmal Luft hole. Meine Erleichterung ist grenzenlos. Aber die Angst bleibt. Mit weit aufgerissenen Augen blicke ich um mich – in diese Finsternis, die keine ist. So viele Lichter – bunt, weiß und golden – surren wie Glühwürmchen um mich herum, ohne mir nahezukommen. Das Geschrei in meinem Kopf verstummt, nicht jedoch diese Stimme.

»Finde einen Mykonen und sperre die Flüche in ein Gefäß«, sagt sie bestimmend.

Bitte, was soll ich? Ich bin noch völlig durcheinander, kann nicht glauben, dass ich nicht ertrinke. Was ist hier los?

Aufgebracht drehe ich mich um meine eigene Achse. Es gelingt problemlos. Ich werde nicht mal mehr in die Tiefe gezogen. Meine langen, dunklen Haare wirbeln umher wie Tinte. Mehrmals streiche ich sie mir aus dem Gesicht. Woher kommt diese Stimme? Was hat sie zuvor noch gesagt? Wo ist Ethan?

»Finde einen mächtigen Mykonen und sperre die Flüche in Gefäße, sagte ich.«

Rasende Kopfschmerzen breiten sich aus und ich beginne, zu zittern. Ich balle die Hände so sehr zu Fäusten, dass meine Fingernägel sich in die Innenflächen graben. Das hilft mir, nicht durchzudrehen.

»Die Flüche haben eine unfassbare Macht, die sie nicht nutzen können, weil sie in den Königsstädten festgehalten werden. Befreie sie mit magischen Gefäßen und nimm ihnen den Schwur ab, die Welt der Maya und die der Menschen nicht anzugreifen. Die Macht ist ihnen einst zu Kopf gestiegen, weshalb sie von ihren Welten hierher verbannt wurden. Du bist mächtig, sie werden dich anhören und respektieren.«

Die Flüche haben bereits zugestimmt, zu helfen. Aber der Nebelwächter hat nichts davon gesagt, dass sie die Städte nicht verlassen könnten. Auch nicht, dass sie hier eine Strafe absitzen. Ich muss vorsichtiger ihnen gegenüber sein. Mehrmals fahre ich mir über das Gesicht. Ich brauche einen klaren Kopf, denn die Flüche sind unerlässlich für unser Unterfangen, Ethan zu stürzen. Und wie mir scheint, weiß der Weiher dies.

»V-von wem wurden sie verbannt? Den Schleiern?« Obwohl ich keine Luft hole, füllt sich meine Lunge mit Sauerstoff.

»Von uns, ja.«Schnell schlage ich mir die Hand auf den Mund, bevor ich ihn vor Schreck öffne. Wäre ich nicht unter Wasser, wäre ich schweißgebadet. Maya! Meine Sonnenmale flackern ein wenig auf, schicken mir jedoch keine Gefühle der Vorsicht.

»Die Flüche können der Kraft des Bluterben des Totenvolks standhalten. Du wirst sie brauchen, um ihn zu bekämpfen. Dann schicke die Flüche nach Hause. Sie haben ihre Strafe zur Genüge erhalten.«

»S-sie haben mir bereits versprochen, zu helfen.«

»Das wissen wir. Aber sie sind nicht ehrlich. Du musst ihnen einen Schwur abringen. Das ist die einzige Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Sie werden sich daran halten.«

Dafür müsste ich die Stadtmauern überwinden. Ich brauche Vater dringender denn je. »Nichts leichter als das.« Ein hysterisches Glucksen entfährt mir.

»Unter keinen Umständen darf die Dunkelheit auf euch aufmerksam werden. Es ist nicht das Schicksal eurer Welten, sie zu bekämpfen. Ihr müsst die Ur-Maya besiegen und das Ewigkeitsgefüge der Seelen wieder in Einklang bringen. Mehr nicht.«

»Mehr nicht?«, spucke ich mental aus. »Helft uns!« Meine Gedanken sortieren sich immer mehr. Machen Platz für Unverständnis und aufkeimenden Zorn. »Ihr seid die Schleier der Welten. Ihr solltet eingreifen.«

»Das tun wir in diesem Moment. Auch vor zweiundzwanzig Jahren, als wir dein Schicksal mithilfe des Tzolkiens prophezeiten.«

In meinem Hinterkopf sticht es. Gleich platzt mir eine Ader. Nicht nur wegen meiner verdammten Bestimmung. »Seelen sterben, Kriege stehen bevor, Menschen werden versklavt. Ihr solltet das unterbinden. Und zwar sofort.«

»Wir tun, was wir können.«

»Das ist nicht genug.«

»Das ist es nie, nein. Egal, in welcher Welt.« Der Seufzer, der folgt, ist voller Erschöpfung.

Einen Herzschlag lang herrscht eine Grabesstille.

Dann schlägt das Jaulen der Stimmen erneut auf mich ein, sodass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde. Auch merke ich, wie die Luft wieder aus meiner Lunge weicht.

Instinktiv weiß ich, die Schleier sind weg. Obwohl, waren sie jemals hier? Ist der Weiher ähnlich dem Tzolkien und ihrem Tor in Rívera, wo sie mit uns kommunizieren können?

Darüber kann ich mir jetzt keine weiteren Gedanken machen. Ich muss nach oben.

Das brüllende Orchester begleitet meine hektischen Schwimmbewegungen. Diesmal hält mich nichts und niemand zurück, und dennoch wird der Drang, Luft zu holen, fast schon unerträglich.

Wie weit ist es noch? Dort ist kein Licht an der Oberfläche.

Ich kann mich nicht orientieren.

Selbst die umherschwirrenden bunten Fäden verblassen, wie auch dieses quälende Geschrei.

Panik flutet mich erneut, meine Kräfte versagen. Meine Beine und Hände werden schwächer.

Etwas packt mich an den Handgelenken. Keine Sekunde später breche ich würgend durch die Oberfläche. Harsch lande ich auf den Knien und falle fast nach vorne, wenn man mich nicht stützen würde.

Hustend und jedem Atemzug hinterherjagend, höre ich Ethans Stimme wie von weiter Ferne. Auch sehe ich nur verschwommen, wie er vor mir hockt und mich hält. »Wo, verdammt noch mal, warst du?«

Hat er keine Augen im Kopf?

»Und wie ich die habe! Trotzdem bist du verschwunden, als du in den Weiher getaucht bist! Ich konnte dich weder sehen noch fühlen.«

Ein schreckliches Lachen, vermischt mit einem Husten, entfährt mir ungewollt. Denn diese Frage wollte ich nicht laut aussprechen.

Dünne, schwarz-glitzernde Fäden, die Spinnweben ähneln, umschwirren mich.

»Was?«, krächze ich. »Ich hocke doch schon am Boden. Willst du mich auch noch mit Magie treten?« Mir das letzte Gemisch des Weihers aus den Augen reibend, sehe ich auf. Verschiedenste Gefühle überwältigen mich und ich versuche, das zu sortieren, was die Schleier mir aufgebürdet haben. Die nassen Haare kleben ungeordnet an Ethans kantigem Gesicht. Die stahlgrauen Augen funkeln wie verrückt. Aber diesmal ohne die bunten Eissprenkel, die immer frisch in ihnen leuchten, wenn er Seelen aufgenommen hat. Er hat keine geschluckt.

Hat er sich so gesorgt, dass er auf eine Seele verzichtet hat?

Kopfschüttelnd stemme ich mich wankend hoch. Diese Stille zwischen uns wird zu einer seltsamen Last.

»Hey, hey.« Sofort greift er an meine Hüfte und stabilisiert mich. Ich bin zu müde, um ihn abzuschütteln.

»Das habe ich nicht gewollt, Lucy. Was ist passiert?«

»Deine Doppelmoral ist echt anstrengend. Ich habe nichts gesehen und nur eine bodenlose, verschlingende Schwärze wahrgenommen.« Bewusst lasse ich meine Stimme hohl klingen.

Noch immer geistern mir die Worte der Schleier durch den Kopf. Ich soll die Flüche in magische Gefäße einsperren und ihnen den Schwur abverlangen, dass sie unsere Welten nicht zerstören? Kein Problem. Vor allem, da mir das Nebelwesen einiges vorenthalten hat. Verdammt! Ich würde mich gern mit Kil, Lev, Holland und … und Deanel beraten. Wir brauchen einen Plan!

Ethan holt Luft für eine Antwort, als ein schwarzer Schatten unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Vomár löst sich aus dem Gestein und kommt auf uns zu. Er schlängelt sich durch die Luft, die roten Augen blitzen auf. Ich verenge die Lider. Mein Körper reagiert automatisch – ich verkrampfe mich, ziehe die Hände höher zum Schutz.

»Er wird dir nichts tun, Lucy.«

Ich fauche nur verächtlich und lasse dieses kleine Biest nicht aus den Augen.

Ethan lässt mich los, beugt sich zu seinem Haustierchen hinab und nimmt einen konzentrierten Ausdruck an. Ich sammle meine Magie in mir. Viel kann ich nicht aufbringen. Aber es wird reichen, um mich zu verteidigen.

Ethan räuspert sich und der Vomár verschwindet wieder.

»Wir haben Besuch, Lucy, meine Teuerste.« Der Spott ist unverkennbar.

Ich atme erst durch, als der Vomár außer Sichtweite ist. »Wer?«

»Wäre ich nicht so verdammt neugierig, was das zu bedeuten hätte, würde ich unseren Besucher ignorieren.«

»Wer ist hier? Etwa Kil?« Die Hoffnung in diesen Worten kann Ethan nicht entgehen.

Mein Herz poltert los. Schon seit Tagen versucht Kil, zu ihm zu gelangen. Aber Ethan weist ihn ständig ab, da er keine relevanten Informationen über Estella und ihren Aufenthalt hat.

Ethan nickt leicht. Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Körper aus, obwohl ich noch klatschnass bin. Aber die Aussicht, ein vertrautes Gesicht zu sehen … Mist, ich heule gleich.

»Er kommt nicht allein.«

»Wer ist bei ihm?« Meine Stimme überschlägt sich.

Mel, Rose, Aph? Nun verschwimmt meine Sicht ein wenig. Bitte, lass es noch jemanden von meinen Freunden sein! Fast rüttle ich Ethan durch, weil er nicht gleich antwortet. Meine Finger zucken bereits.

Er kräuselt die Lippen. »Vergiss nicht, dass du meine Gemahlin bist, wenn du ihn siehst, ja?«

Ihn siehst, hallt es wie ein Echo in mir wider.

Es ist wie ein Schlag. Ich bin wie gelähmt. Ich höre mein Herz in meinen Ohren pulsieren. Gleichzeitig zerspringt es. Stille Tränen rinnen über meine Wangen. Meine Kehle brennt, weil ich vor Glück schreien möchte. Eine furchtbare Anspannung fällt von meinen Schultern. »Deanel ist hier?«

»Ja.«

Noch während ich die Lippen öffne, schnalzt Ethan mit der Zunge und wir versinken in einem Strudel aus schwarzen Schlieren. Ich bekomme das Gefühl, dass mir die Luft geraubt wird. Es ist nicht Ethans Magie. Es ist mein Herz, das neben Erleichterung auch eine unsägliche Angst verspürt. Denn was ist mit Romina?

Kapitel 3

 

 

Seit einer verschissenen Stunde lässt Ethan mich hier in meinem Zimmer warten. Er meinte, ich solle mich gedulden. Er müsse zuvor allein mit den Gästen sprechen.

Dieser Mistkerl hält mich absichtlich hin, denn jede Sekunde ist eine Qual.

Das sehnliche Brennen in meinem Herzen steht dem Schmerz des Beinahe-Ertrinkens in nichts nach. Es wird einfach nicht besser. Oder ist es das Wissen, dass Deanel hier sein könnte? Fast verweigere ich mir diesen Gedanken. Denn wenn er es nicht ist und Ethan sich einen seiner geschmacklosen Scherze erlaubt hat … schwer schluckend richte ich meine noch etwas feuchten Locken neu, streiche Falten des kornblumenblauen Tageskleids glatt, wo keine sind. Ich taste nach dem nicht vorhandenen Ring an meinem kleinen Finger und nach dem verschwundenen Medaillon. Ich habe aufgehört, zu zählen, wie oft ich nach den Schmuckstücken fasse, die Deanel mir einst geschenkt hat. Dabei weiß ich doch, dass Romina sie mir gestohlen hat. Und das wird sie mir büßen.

Erneut fixiere ich den steinigen Durchgang. Er bleibt hart und dunkel. Da ist kein Funkeln, das es mir ermöglichen würde, offiziell mein Zimmer zu verlassen, welches ich gnädigerweise behalten durfte. Nach der Hochzeit drohte mir Ethan, mich in seine Gemächer zu bringen. Bis jetzt hat er diese Warnung nicht umgesetzt. Vermutlich, weil ich erwiderte, ihm in dem Fall ein Messer in die Kehle zu rammen, sobald er schläft. Sterben wird er deswegen zwar nicht, aber kitzeln würde es auch nicht gerade.

Ich zwinge mich zur Ruhe, höre auf, durch das Zimmer zu laufen, und setze mich auf den Bettrand.

Ach, verflixt!

Wie kann ich hier sitzen, wenn ich weiß, dass ich wenigstens Kil sehen könnte? Mir mit eigenen Augen versichern, dass es ihm gut geht.

Es reicht.

Dann muss ich eben unentdeckt bleiben. Kils Auftauchen wird einen Grund haben. Einen, den Ethan packend genug findet, um ihm endlich Eintritt in den Palast zu gewähren. Wer weiß schon, ob mein Gemahl mir von dem Treffen erzählen wird. Und wer weiß schon, ob ich Holland wieder erreiche. Es gelingt mir nicht immer, mich mit dem kleinen goldenen Tattoo zu verbinden, welches er mir am unteren Rücken verpasst hat. Holland besitzt ein ähnliches, wodurch ich im Geiste mit ihm kommunizieren können sollte …

Genug Trübsal geblasen.

Ich stehe auf, lehne mich mit der Stirn an das Gestein und fahre mit den Fingerspitzen über mein noch nicht erwachtes Mal an meinem Nacken und aktiviere die Fähigkeit, mit der Dunkelheit zu verschmelzen.

»Bitte, lass mich zum Schatten selbst werden und bring mich zu Ethan, ohne dass man mich sieht.«

Sofort wandelt sich mein Fleisch in durchsichtige, neblige Schlieren. Keinen Herzschlag später zieht es mich in diese vertraute Kälte.

Eine Fähigkeit, die ich von meinem Vater geerbt habe.

Lautlos lande ich im Flur vor dem Empfangssaal, der nach der Hochzeitszeremonie neu errichtet wurde. Sofort presse ich mich an die Wand, sehe nach rechts und links.

Niemand ist hier.

Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

Es sind keine Geräusche zu hören, außer dem Knacken der Holzscheite im Kamin. Das eisblaue Licht ragt von der Decke des Empfangssaals an mir vorbei und beleuchtet die eingewebten goldenen Rosen im Teppich des Flurs, an dessen Wand ich kauere. Ich hole tief Luft, wünsche mir, Deanels Duft wahrzunehmen. Doch da ist nur der Geruch von neuer Politur. Trotz der angenehmen Wärme habe ich selbst am Nacken eine Gänsehaut.

Vorsichtig will ich in den Saal spähen, da lacht Ethan auf.

Kurz versteife ich mich. Dann wage ich einen Blick und erspähe ihn von der Seite. Ethan sieht nicht in meine Richtung, sondern geradeaus. Er drückt sich in die mit schwarzem Samt bezogene hohe Lehne, schlägt kopfschüttelnd ein Bein über das andere.

Noch wage ich mich nicht weiter hervor, wenngleich alles in mir fleht, es zu tun.

»Tut mir leid, aber dieser Vorschlag ist inakzeptabel. Und dumm. Du glaubst wohl nicht, dass Estella ihr Wort hält, oder?«, fragt Ethan.

»Ich bin mir ebenso nicht sicher.«

Kil! Das ist Kils Stimme. Doch der unbarmherzige Ton in ihr ist neu.

Plötzlich rumpelt es.

»Dann bitte ich um eure Vorschläge. Zügig. Romina erwartet eine Antwort. Bald.«

Ich presse meine Hand auf den Mund, um mein Aufkeuchen zu ersticken. Kurz kann ich nicht mehr atmen und mich nicht einmal mehr fühlen, obwohl mein Herz zerspringt. Aber mein Körper entgleitet mir, während sich die Splitter der Erleichterung in meine Zellen bohren und mich wieder zwingen, etwas zu empfinden. Es ist ein Chaos der Emotionen. Fast tun sie mir weh, so sehr rasen sie zeitgleich mit meinem getriebenen Puls durch mich.

Es ist seine Stimme.

Er. Ist. Hier! Nur wenige Herzschläge entfernt.

Deanel.

Er hört sich gesund und kräftig an. Der Stich der Eifersucht geht tief und zerstreut alles andere.

Dass er Rominas Namen in den Mund nimmt, schmerzt mehr, als ich mir eingestehen möchte. Ihr Name kommt einem Skalpell gleich, das mich quält. Ich zittere los – kurz. Denn nein, ich gebe dieser zerstörerischen Eifersucht keinen Raum. Er liebt mich, wie ich ihn liebe.

Ich dränge diese aberwitzigen Tränen zurück, die gegen meine Augen drücken. Sie sind nicht notwendig. Deanel wird wissen, was er tut. Er war der Erste, der immer an mich geglaubt hat. Dann kann ich, verdammt noch mal, auch dasselbe tun und an ihn glauben.

Es wird einen Grund geben, warum er mit den anderen Bluterben hier beisammensitzt. Er und Kil haben einen Plan, von dem ich noch nichts weiß.

Ich atme leise mehrmals durch, zwinge mich zur Konzentration.

Ethan schnalzt typischerweise mit der Zunge, langt nach einem Glas Wein und nippt daran. »Estella bekommt ihre Geschwister nicht. Sola und Sibilla bleiben dort, wo sie jetzt sind. Ich habe keine Nerven dafür, dass die drei sonst etwas planen, bis das letzte Mal meiner Gemahlin erwacht. Mir egal, ob Estella ohne Erinnerung an diese Formel ist.«

Ein bedrohliches Knurren erfüllt den Raum. Mir läuft ein Schauer den Rücken hinab und ich balle die Hände zu Fäusten. Ich weiß, wenn ich mich weiter nach vorne beugen würde, würde ich Kil und ihn sehen, der diesen animalischen Laut von sich gegeben hat. Es ist wahrlich ein Kampf, es nicht zu tun. Aber ich darf nicht riskieren, dass man mich erwischt.

»Beruhige dich, Mann.« Kils Stimme trieft vor Nervosität.

Ethan lacht leise. »Das rate ich dir auch, Deanel. Denn Lucy gehört mir. Und wie ich sehe«, er trinkt das Glas leer und stellt es auf dem Tisch ab, »bist du selbst nicht mehr zu haben.«

Was soll das bedeuten? Einen Moment ist mein Atem wie gefangen in meiner Brust. Meine Vorwände von Sekunden zuvor schwinden dahin. Mit einem noch wilder klopfenden Herzen lehne ich mich weiter um die Ecke. Mein Körper ist schneller als mein Verstand.

Deanels Anblick ist wie die Sonne selbst, obwohl ich ihn nur von hinten sehe. Er steht aufrecht und ist sichtlich angespannt. Sein Stuhl liegt umgestürzt am Boden. Ich weiß nicht, wohin mit meinen ganzen verfluchten Emotionen, die in mir hochkochen – und doch weichen diese Dämonen, die mich gern heimsuchen. Sein Anblick beruhigt mich. Er ist es. Er ist da, auch wenn ich ihn nicht in die Arme schließen kann. Estella und Romina halten ihn nicht gefangen. Aber was will er Romina mitteilen – und warum, zum Teufel, noch mal?

Ruhig, rede ich mir zu. Vertraue ihnen.

Kil sitzt ihm schräg gegenüber. Sein blaues Hemd unterstreicht das wütende Funkeln in den gleichfarbigen Augen bis hierhin. Er sieht abgemüht aus, fährt sich ständig durch das dunkelblonde Haar und kratzt sich die etwas abstehenden Ohren. Das heißt, er ist nervös. Dann sind wir schon zu zweit.

»Ich tue, was ich tun muss«, blafft Deanel, dreht sich um und greift nach seinem umgefallenen Sessel. Er hält einen Moment inne, dann sieht er auf – in meine Richtung. Instinktiv schrecke ich zurück, dränge mich mit dem Rücken erneut an die Wand und lege mir die Fäuste auf den Brustkorb, der sich hektisch hebt und senkt. Überfordert von meiner eigenen Reaktion bette ich mein Gesicht in die Hände. Er würde nicht verraten, dass ich hier bin. Und doch bin ich zurückgewichen, obwohl er mich mit meinen Schatten nicht wahrnehmen sollte.

Was ist nur los mit mir? Hinter meiner Brust wummert mein Herz mit kräftigen Schlägen.

Komm schon, Lucy.

Stuhlbeine scharren über das dunkle Parkett.

»Du solltest dich um Lucys Bitten und Gefühle kümmern und sie nicht nur für deine Hirngespinste ausnutzen«, sagt Kil.

Fassungslos lasse ich die Hände bei dem Vorwurf sinken. Das wird Ethan nicht gefallen.

Die Luft wird schlagartig kühler. Da haben wir es.

»Hirngespinste nennst du das? Willst du mich verarschen? Hast du mir die letzte Stunde nicht zugehört? Ich will uns alle retten vor diesem Monstrum, das schon so viele andere Welten verschlungen hat, und du machst dich darüber lustig? Vielleicht würden dir ein paar Tage Tranváraz wieder guttun? Vergiss nicht, dass ich euch einen Gefallen tue, indem ich euch überhaupt empfange. Ich könnte euch ohne Weiteres ausradieren. Aber ich will keinen Krieg in unserer Welt.«

Deanel schnaubt. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber wir wissen alle, dass Lucy dich zerfleischen wird, solltest du uns etwas antun. Sie trägt die Magie der Schleier in sich. Wenn ihr letztes Mal erwacht, wirst du sie nicht kontrollieren können, egal, was du dir einredest und wie oft du unschuldige Seelen aus dem Weiher raubst. Da wette ich drauf.«

Der Stolz in seiner Stimme gleicht einer schmeichelnden Berührung. Dabei weiß niemand, was tatsächlich mit mir passiert, wenn es soweit ist. Bin ich dann stärker als Ethan, der seit Jahrzehnten in den Weiher hinabsteigt und Seelen in sich aufnimmt? Eventuell bin ich es, mit den Flüchen der Städte an meiner Seite, wie die Schleier es mir raten? Wir werden es hoffentlich noch früh genug herausfinden.

Kil räuspert sich. »Danke für das Angebot, Ethan. Aber ich habe die Zelle sicherheitshalber zerstört. Wir konnten uns nicht anfreunden, weißt du?«

Nun splittert etwas. Vermutlich Ethans Glas. Mich zusammennehmend, linse ich erneut in den Raum.

Ich behalte recht. Er hat die Geduld eines Flohs.

Scherben und kleine rote Pfützen bedecken den Tisch. Deanel ignoriert sie. Kil lässt sich davon ebenso nicht beeindrucken. Er lehnt sich sogar wagemutig an Ethan. »Diese Szenarien hast lediglich du gesehen, nicht wahr? Höchstwahrscheinlich sind sie nichts als Einbildung. Die Schleier haben nie etwas über diese Dunkelheit – eine Bedrohung ihrerseits – gesagt. Wir wissen ja selbst nicht, was in den Tiefen des Universums lauert. Die Schleier werden sich dessen annehmen. Nicht wir, Ethan. Kümmern wir uns darum, dass sie uns wieder wohlgesonnen sind und Lucy ihr Schicksal erfüllen kann.«

Deanel bleibt weiterhin still. Mein Blick richtet sich wie von selbst immer wieder auf seinen Hinterkopf.

Ethans Wangen werden dunkel. »Du kannst nicht in den Totenkreis blicken, Bluterbe des Sonnenvolks. Aber wie wir wissen, bist du fähig, in Erinnerungen anderer zu sehen. Nur zu, ich erlaube es dir! Dann entscheiden wir, ob es wichtiger ist, über diesen Feind zu sprechen, als darüber, ob wir Sola und Sibilla gegen Lucys Mutter tauschen.«

Zorn – heiß und eng – windet sich durch alle meine Gefäße. So überwältigend, dass ich rot sehe.

Sie haben über was diskutiert? Über das Leben meiner Mutter?

Die explosive Wut und das Entsetzen darüber, dass sie es wagen, darüber zu bestimmen, lassen fast mehrere Blutgefäße in mir platzen. Ein volltönendes Rauschen sammelt sich in meinen Ohren. Meine Male pulsieren so stark, dass die um mich gehüllten Schatten erste Risse aufweisen.

Ethan will über mich und mein Leben bestimmen?

Gut. Aber sicher nicht über Mums.

Jegliche Unsicherheit von vorhin weicht einem Trieb in mir, der mich stark fühlen lässt. In meinen Augenwinkeln flackern goldene und weiße Blitze. Diese Wandlung geht so schnell vonstatten, dass es mir Angst machen sollte. Aber gerade ist da nur diese elende Wut. Ich jage um die Ecke. »Du bedauernswerter Mistkerl!«

Sofort drehen sich alle Köpfe in meine Richtung. Doch ich kann nur in diese grauen Augen sehen, in denen der gleiche Sturm tobt, wie vermutlich in meinen hellbraunen.

Mit hochgezogenen Schultern marschiere ich auf die Bluterben zu. Mit jedem weiteren Blick fühle ich Deanels Anwesenheit heftiger, fast schon verzehrend. Aber die Wut über Ethans Worte schiebt meine Sehnsucht zur Seite.

Ethans abgeklärter Blick macht mich rasend. Meine Knie drängen sich gegen die Lehnen seines Stuhls. Deanels Duft nach gebratenen und leicht verbrannten Äpfeln steigt mir in die Nase. Ich fühle seinen tiefen Blick bis in mein Innerstes. Am liebsten würde ich darin versinken, aber es geht nicht.

»Wie kannst du es wagen, über das Schicksal meiner Mutter zu entscheiden, ohne mit mir darüber zu sprechen?« Kalt schneidet meine Stimme durch den Raum.

Ethan schiebt seine rechte, weißblonde Braue in die Höhe. »Ich sagte, du sollst in deinem Zimmer bleiben.«

»Und ich sagte dir schon mehrmals, dass ich mich nicht einsperren lasse. Ich dachte, dass wir gemeinsam daran arbeiten würden, meine Bestimmung zu erfüllen? Dein Wort verliert an Wert, wenn du es nicht einhältst.«

Er schnaubt.

Kil und Deanel atmen hitzig aus, mischen sich aber nicht ein. Brauchen sie auch nicht.

»Als ob du mir alles offenbaren würdest, Gemahlin.«

Wortlos ziehe nun ich meine rechte Braue in die Höhe. Ein Summen legt sich um meinen Körper.

Aus Ethans Nacken stieben Funken.

Meine Sonnensymbole leuchten daraufhin so hell, dass er blinzelnd zurückweicht. Einen Moment weiten sich seine Augen.

»Ärger im Eheparadies?« Mit diesen flapsigen Worten greift Deanel nach dem Weinkrug und schenkt sich großzügig ein. Ethan und ich unterbrechen unser Messen.

Kurzzeitig schließe ich die Lider, versuche, mich zu beruhigen. Zittrig ausatmend sehe ich anschließend auf seine schlanken, langen Finger, die rauer aussehen, als sie es sind. Ich habe sie oft genug auf meiner Haut gefühlt. Ein Schaudern ergreift mich. Noch ehe ich Deanel ins Gesicht sehe, sagt Kil: »Du solltest dich setzen, Lucy.« Er deutet mit dem Kinn auf den freien Stuhl neben ihm. »Eure Streitigkeiten könnt ihr fortsetzen, wenn wir nicht mehr hier sind. Außerdem habe ich noch zu tun.« Ein rascher Blick zu Deanel, dann wieder zu mir.

Wow.

Diese barschen Worte aus seinem Mund sind wie eine Ohrfeige.

Aber Kil tut das nicht ohne Grund. Auch diese fahrige Geste in Richtung Deanel nicht.

So schwer es mir fällt, nicke ich, schlucke meine Verärgerung wegen Ethan hinunter und setze mich. Ich spüre Deanels Aufmerksamkeit wie brennende Pfeile auf mir, doch sehe ich zu meinem Ehemann, der mich abschätzig mustert. Normalerweise legt er dieses respektlose Verhalten vermehrt an den Tag, sobald er Seelen aufgenommen hat. Heute hat er das nicht und trotzdem fühle ich die Eiseskälte, die nur mir gilt. Meine Hand zuckt nach rechts zu Deanel, aber ich sehe nicht mal zu ihm, warum auch immer. Mein Magen krampft, meine Kehle wird staubtrocken. Zu wissen, dass er nur ein paar Zentimeter entfernt ist … Nervös verknote ich meine Finger im Schoß. Schweiß bildet sich unter meinen Achseln. Ich muss diese seltsamen, widersprüchlichen Gefühle für Deanel hintanstellen. Jetzt geht es um Mum. Kil wendet sich wieder Ethan zu. »Auch Enzo weiß nichts von dieser Dunkelheit. Die Schleier hätten weder ihn noch Estella im Tzolkien darüber informiert, schon gar nicht gewarnt.«

Ich spanne mich an. Das war eine weise Idee, den Ur-Maya des Feuervolks danach zu fragen.

»Mein Onkel hat eben keine Ahnung von den Dimensionen des Universums und was dort verharrt. Vater war es stets egal. Mir nicht.« Ethan sieht schnaubend zu mir. »Kil hat Enzo in der Menschenwelt aufgelesen, will mir aber nicht sagen, wo genau. Ebenso wenig, wo sich die Körper von Le Frey und Lexus‘ befinden.«

Sie sind alle im Eisreich, was wir natürlich für uns behalten. Und die Lüge, dass Enzo sich in der Welt der Menschen aufgehalten haben soll, habe ich einst gestreut. Kil hat diese Unwahrheit bestätigt. Sehr gut. Ethan darf nicht misstrauisch werden. Mein flatterndes Herz ignorierend, lehne ich mich nach vorn. »Auge um Auge und so. Du sagst uns auch nicht, wo Sola und Sibilla sind.«

»Touché, Gemahlin.«

Kil schüttelt laut ausatmend den Kopf. »Wir haben wichtigere Feinde, die es zu bekämpfen gilt, als Mysterien, die man besser nicht weckt.«

Schon öffnet Ethan den Mund, da sage ich barsch: »Wo ist Estella und welche Forderungen stellt sie genau?«

Deanel bewegt sich. Prompt schiele ich zu ihm. Er stützt seine Ellbogen auf den Oberschenkeln ab. Das schwarze Leder der Hose schmiegt sich um seine Muskeln. »Ich weiß nicht, wo Estella und deine Mutter sind. Romina verschwindet jeden Tag, um sich mit Sir Umbas zu treffen, der sie auf dem Laufenden hält und Estellas Forderungen weiterträgt«, sagt Deanel und ich sterbe fast bei der Zuneigung in seiner Stimme. Ich kann ihm noch immer nicht ins Gesicht sehen. Verdammt, wovor habe ich Angst? Er fährt fort: »Angeblich möchte Mutter die letzte Zeit, die ihr bleibt, mit Sola und Sibilla in einer der Königsstädte verbringen – Tranváraz und die Zellen im Totenberg ausgenommen. Ihre Magie und ihr Körper scheinen schneller zu schwinden und sie will ihr verbleibendes Leben nicht auf der Flucht sein.«

Ich räuspere mich, da sich meine Kehle wie Sand anfühlt. »Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe.« Und wo zum Kuckuck versteckt Deanel sich mit Romina, dass nicht einmal die Flüche der Städte sie finden können? Das Pochen in meiner Stirn weitet sich schmerzhaft in meinem Kopf aus. Und nun weiß ich, warum ich ihn nicht ansehen kann: Die Unsicherheit in mir schlägt Wellen. Da ist noch ein Teil in mir, der Angst hat, ihn an Romina zu verlieren, obwohl ich ihm vertraue. Ergibt das Sinn?

»Stimmt. Reue stand Mutter noch nie, Lucy.« Deanel raunt meinen Namen nahezu verlangend und es tut … weh. Sehr weh, weil ich ihn so vermisse und verdammt liebe. Doch …

Ethan knackt mit den Fingerknöcheln. »Wir werden nicht darauf eingehen. Punkt.«

Ich blinzle ein paar Mal. Meine Magie glüht durch meinen Körper und mit ihr kommt eine Klarheit, die ich mehr benötige als meine unsicheren Gefühle für Deanel. »Und das bestimmst du, Ethan? Schon klar, diese Forderung schreit nach einem Komplott. Aber wir reden hier noch immer über meine Mutter.«

Ethan wedelt abfällig mit der Hand. »Wenn sie denn überhaupt noch lebt. Außerhalb des Königreichs verwest ihr Leib. Wir haben hier jeden Stein umgedreht. Garantiert verschanzen sie sich in der Menschenwelt.«

Ich weiche so heftig nach hinten aus, dass der Stuhl zurückrutscht. »Wie bitte?«

Von Deanel schwappt ein Schwall warmer Magie zu mir. Doch das kann mich nicht beruhigen. Wir reden über meine Mutter, als wäre sie eine Spielfigur auf dem Kriegsfeld.

Ethan spannt den Kiefer an. »Das war jetzt unhöflich ausgedrückt, aber die Wahrheit. Und du wolltest, dass wir ehrlich zueinander sind.« Er klingt ernst, aber es schwingt auch ein Hauch von Belustigung in seiner Stimme mit.

Meine Handgelenke pulsieren. Wie gefühllos kann man sein?

Kil drückt kurz meine Schulter. »Lucy wird bald volljährig. Ihr letztes Mal wird erwachen. Sie kann die Magie nicht aus Estella ziehen, wenn wir sie nicht finden.«

»Was du nicht sagst, Kilian, mein Freund.« Ethan verzieht den Mund. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Außer in jeder verschissenen Sekunde in der Nacht, in der ich schlafen sollte!«

Um Deanels Fingerspitzen tanzen Feuerzungen und ich bin mir immer noch unsicher, ob ich hier und jetzt versuchen soll, Ethan zu erwürgen. Nur leider brauche ich ihn noch, wenn ich Mum retten will. Estella will Sola und Sibilla. Und nur er weiß, wo sie sind.