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Ich will meine Freiheit zurück … Und mein Herz auch. Nach dem Tod meiner Schwester Joey und dem plötzlichen Verschwinden meiner großen Liebe Jon war ich nur noch ein Schatten meiner selbst. Doch dann hörte mein Herz auf zu weinen – ausgerechnet wegen Jons Bruder. Unglaublich dumm von mir. Denn er bringt mich regelmäßig an meine moralischen Grenzen. Der Mistkerl erpresst mich, und das Monster in ihm kommt zum Vorschein, das ich im Griff zu haben glaubte.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ella C. Schenk
Today I Love The Villain
(Band 1)
Today I Love The Villain
Copyright © 2025. VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Patricia Buchwald
Korrektorat: Patricia Buchwald und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für meine Familie
– Danke, dass ihr damals wie heute immer für mich da seid und an mich glaubt.
Ich habe euch unfassbar lieb.
Hinweis
Liebe Leser*innen,
vielen Dank, dass ihr euch für Today & Before entschieden habt und in Olivias Welt und in die Geheimnisse der Upper East Side eintauchen wollt. Doch bevor ihr das tut, möchte ich euch darauf hinweisen, dass meine Dilogie Themen behandelt, die euch triggern könnten. Um euch das zu ersparen, habe ich auf Seite 362 eine Liste dieser Themen zusammengestellt. Bitte entscheidet selbst, ob ihr mit diesen Themen umgehen könnt. Wenn ja, dann wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen meiner neuen Serie. Sie wird tiefgründig, spannend, dramatisch, sehr geheimnisvoll und düster sein. Bleibt an Olivias Seite, wenn sie Schritt für Schritt nicht nur die Geheimnisse der Gegenwart, sondern auch die ihrer Vergangenheit lüftet. Und haltet euch gut fest, denn sie könnten euch den Boden unter den Füßen wegziehen. Passt auch gut auf, wem ihr in dieser Reihe vertraut und wem ihr euer Herz schenkt. Denn eines kann ich euch sagen: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Masken, die manche tragen, sind fest und unerschütterlich. Doch versucht, hinter sie zu blicken. Ihr werdet überrascht sein, was sich dahinter verbirgt …
Das Ende ist nie das Ende
Zeig sie mir, die offenen Türen!
Ich sollte endlich wissen, wohin sie mich führen.
In einen Tunnel? Wo das Licht am Ende scheint?
Ist es so? Egal, hier fühle ich mich nur noch wie der Feind.
Gefangen im eigenen Körper, der schmerzt, zerfällt und innerlich tobt.
Ich will hier weg, halte es nicht mehr aus, sehe nur mehr rot.
Doch wie? Wie soll ich das machen? Ich kenne nicht den Weg.
Führe mich! So, als wärst du die Wellen und ich der Steg –
an dem ich steh´, den bodenlosen Schritt nach vorn wage.
Du wirst da sein, das steht außer Frage.
DU wirst mich fangen, DU wirst mich an dich ziehen und mich halten.
Denn DU hast mir dieses Schicksal gegeben, ohne die Möglichkeit, meine Schritte selbst zu gestalten.
Wie habe ich es geliebt, mein Leben – es war wunderschön. Doch dann kam sie über Nacht, und alles blieb für mich stehen.
Nein, es ist nicht die Zeit, um die ich trauere, die läuft ab für jeden von uns.
Doch das WIE ist es, das mich beschäftigt, bis zu meinem letzten Atemzug.
WIE kann ich diese Schmerzen nicht mehr spüren?
WIE kann ich meine Seele weg von diesen Qualen führen?
WIE soll ich mein Leben hinter mir lassen, wissen, sie werden es kaum ertragen?
WIE soll das gehen? Ich habe mehr als tausend Fragen.
Nur wer beantwortet sie? Wer hilft mir, wer hilft ihnen, das zu überstehen?
Ich kann es nicht mehr, denn ich muss jetzt gehen.
Liege da, unfähig mich zu bewegen.
Nur meine Tränen sind es noch, die es schaffen, sich von allein zu regen. Verzeiht mir. Ich kann nicht mehr bleiben. Ich spüre die Wärme von innen, sie wird mich geleiten.
Und vielleicht ist es doch kein Weg der Einsamkeit? Wurde meine Bitte erhört?
Ja! Ich höre diese Stimme, die mich in letzter Zeit noch hat gestört.
Weich klingt sie nun, geborgen und zart.
So lasse ich mich fallen und weiß, ich lande nicht hart.
Werde wieder aufsteigen, irgendwann meinen Herzschlag neu spüren.
Doch nun atme ich aus, das letzte Mal, und lasse mich führen.
Joey
Verdammt! Sieh dich an.
Schau in den Spiegel und betrachte, was dir einfach niemand nehmen kann.
Dein Wesen, so vollkommen und unendlich groß in dir. Dein Herz, gütig und warm, lässt Liebe entstehen, nicht nur in mir.
Du wirst bleiben, auch wenn du gehst.
Du wirst immer da sein, auch wenn du fehlst.
Olivia
Eine Prise Zorn.
Ein Hauch von Wut.
Eine geballte Ladung Unsicherheit, gefolgt von einer riesigen Welle …
Abrupt blieb ich stehen, um Sekunden später, wie ein Fähnchen im Wind, fast schon orientierungslos die Richtung zu wechseln.
Ein winziger Schritt vorwärts, zwei noch kleinere zurück.
Stillstand.
Ein nervöses Zucken nach rechts, dann nach links.
Stillstand.
Ein Blick auf die hölzerne Ausgangstür, ein weiterer auf die schrecklich beige tapezierte Wand neben mir.
Verdammt noch mal! Reiß dich zusammen, Olivia!
In Gedanken rief ich mich zwar lautstark zur Ordnung, doch das Chaos beherrschte mich jedes Mal so sehr, dass ich innerlich um meine Gelassenheit ringen musste.
Kaum hatte ich einen Fuß in dieses altertümliche, riesige Steingebäude gesetzt, entglitt mir meine antrainierte Selbstbeherrschung. Doch nicht nur das.
Eine gigantische Welle der Schamschwappte über mich hinweg, nein, tauchte in mich hinein und flutete jede einzelne meiner Zellen.
Ich presste meine braune Ledertasche fester an mich, sodass ich problemlos und ohne fremde Blicke in mein Seitenfach greifen konnte. Mit geübten Handgriffen ertastete ich das Döschen und zog zwei runde Pillen heraus. Ein kurzer Blick über die Schulter, anschließend wieder nach links und rechts, und schon warf ich sie mir ein. Sobald der herbe Geschmack meine Zunge berührte, entspannte ich mich etwas. Meine hektischen Gedanken traten in den Hintergrund und der Druck auf meiner Lunge wurde weniger einschnürend.
Das redete ich mir jedenfalls ein, und darin war ich schließlich eine Meisterin mit jahrelanger Übung. Oder besser gesagt eine echte Expertin.
Jawohl!
Nickend und tief durchatmend sah ich auf die Metalluhr am anderen Ende des fast menschenleeren Ganges und ging darauf zu.
Dort angekommen, stellte ich meine Umhängetasche auf den gefliesten Boden und band meine dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Jetzt hieß es Warten. Leichte Unruhe machte sich breit und die Gänge füllten sich schnell. Leises Gemurmel drang von einer Ecke in die andere, ohne dass ich die Worte verstand. Dieses alte Gemäuer hier schluckte so einiges, nicht nur den fragwürdigen Humor vieler Dozenten.
Nervös wippte ich mit dem rechten Fuß auf und ab.
Meine Kommilitonen sprinteten an mir vorbei und warfen mir ein kurzes Lächeln zu, als sie in den Hörsaal stürmten. Ich erwiderte es so gepresst, dass ich mich fragte, ob ich mit den Zähnen knirschte.
Wie gern hätte ich bereits ebenso in diesem Hörsaal gesessen. Mit gespitzten Bleistiften in der einen und einem Fachlexikon in der anderen Hand. Doch die Möglichkeit, aktiv an den begehrten medizinischen Vorlesungen teilzunehmen, hatte ich in meinem letzten Studienjahr nicht mehr. Diese Chance hatte ich – um es milde auszudrücken – völlig in den Sand gesetzt. Für einen flüchtigen Moment dachte ich an die schreckliche Tat zurück, die mich aus dem Kurs geworfen hatte. Hitze kroch in meine Wangen. Ich hatte es Professor Peters zu verdanken, dass ich überhaupt noch in ihren Vorlesungen anwesend sein durfte. Wenn auch nur als Assistentin. Ich massierte mir die Schläfen. Kurz wurde mir schlecht, so sehr schlug mir die Erinnerung auf den Magen.
»Olivia, meine Liebe!«
Ich zuckte zusammen, lächelte aber gleichzeitig. Hoffentlich glich es keiner aufgesetzten Grimasse.
Die Professorin kam hektisch auf mich zugestürmt, zwei große Plakate unter dem rechten Arm. In der Linken hielt sie eine überdimensionale Tasche – wie immer passend zur Farbe ihres etwas zu engen Kostüms. Diesmal eine Grau-in-Grau-Kombination. Treffsicher Chanel. Aktuelle Kollektion. Wetten?
Ihr neckisches Zwinkern ließ meine hochgezogenen Schultern ein wenig sinken und ich trottete langsam auf sie zu. Die Sohlen meiner schwarzen Stiefel quietschten bei jedem hastigen Schritt.
»Das nehme ich, Professor. Geben Sie her.«
Sie nickte und ich nahm ihr die Plakate ab.
»Danke, Olivia. Der Truncus cerebri ist schon ganz aus dem Häuschen, weil er heute endlich Hörsaalluft schnuppern darf.«
Wieder zwinkerte sie mir zu und fuhr fort: »Hast du die Unterlagen dabei, um die ich dich gebeten habe?«
Ich deutete mit dem Kinn auf meine Tasche, die auf dem Boden lag. »Natürlich. Die Folien sind da drin. Und der Stick ist in meiner Hosentasche.« Ihr Unterrichtsstil war etwas altmodisch, aber sehr lehrreich.
»Gut. Aber ich habe auch nichts anderes von dir erwartet. Ich hoffe nur, ich habe dir nicht zu viel Arbeit aufgebürdet. Der Hirnstamm ist sehr komplex.« Sie kräuselte ihre roten Lippen.
»Nein. Im Gegenteil, es war eine willkommene Ablenkung.« Die Worte kamen viel zu schnell über meine Lippen. Aber es war zu spät. Natürlich hakte Professor Peters nach. Sie konnte nicht anders. »Wenn ich fragen darf, wie geht es deiner Mutter? Gibt es etwas Neues zu berichten?« Das listige Funkeln in ihren warmen braunen Augen verschwand und machte Besorgnis Platz.
»Im Moment nicht, nein«, antwortete ich knapp und atmete bewusst langsam aus. Mein Herz begann dennoch in einem mörderischen Tempo zu schlagen.
Die Professorin machte ein mitleidiges Gesicht, sparte sich aber weitere Worte. Sie kannte mich zu gut und zu lange. Sie wusste, dass es ein heikles Thema war und fragte nicht weiter nach.
Ich drehte mich um und nahm meine Tasche. Gemeinsam gingen wir anschließend in den alten Lehrsaal.
Wie immer achtete kaum jemand auf meine Wenigkeit, sondern nur auf die Präsenz der besten Dozentin weit und breit vor mir. Dutzende Augenpaare verfolgten wie paralysiert ihre kleinen Schritte zum erhöhten Podium. Ich könnte derweil einen Radschlag nach dem anderen vollführen, sie würden mich kaum beachten. Außer Megan natürlich. Meine beste Freundin saß dicht gedrängt in der ersten Reihe und strahlte mich an wie ein Honigkuchenpferd. Ich wusste, dass sie ganz aus dem Häuschen war, denn sie verehrte die Professorin. Einmal winkte sie mir schnell mit beiden Händen zu und riss dabei dermaßen ihre Kulleraugen auf, dass mir tatsächlich ein leises Kichern entwischte. Dann streckte sie mir ihre Zungenspitze entgegen, was mich automatisch dazu veranlasste, ein wenig gespielt schockiert den Kopf zu schütteln. Gleichzeitig wandte ich mich wieder der Professorin zu, die bereits auf dem Podium stand und mich mit hochgezogenen Augenbrauen anvisierte.
Ups.
Mit schnellen Schritten eilte ich zur Tafel und befestigte die zwei Plakate, schoss anschließend zum Beamer und kramte meine mitgebrachten Folien hervor. Ich schaltete ihn ein und dimmte das Licht.
Vorerst war meine Arbeit erledigt.
Ich holte Block und Stift aus meiner Tasche und setzte mich an den Dozentenschreibtisch neben dem Podium.
Professor Peters begann bereits mit ihrem Vortrag, dem ich eigentlich zuhören wollte, doch mein Blick schweifte durch die Reihen der Studierenden.
Die Plätze waren begrenzt. Nur die Besten der Besten durften hier sein. Stolz blickte ich zu Megan. Sie hatte diesen Platz redlich verdient. Mit diesem abgeschlossenen Zusatzkurs sollte es ein Leichtes sein, einen Platz an der Medical School in Harvard zu ergattern. Professor Peters hatte dort nämlich einen unschlagbaren Ruf. Sie selbst war Absolventin und arbeitete nun als angesehene Fachärztin für Neurochirurgie. Seit Jahren gab sie hier am Campus unbezahlt ihr Wissen weiter, um potenzielle Bewerber für ein Medizinstudium vorzubereiten. Und wenn sich jemand wirklich gut schlug, verfasste sie sogar ein Empfehlungsschreiben. Schaffte man dann auch noch den Medical College Admission Test, war das quasi das goldene Ticket.
Megan hatte sich hier in den letzten Jahren hervorragend geschlagen. Ich lehnte mich in das bequeme Leder des Sitzes und meine Gedanken schweiften einmal dorthin ab, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatten.
Jon ist bestimmt unglaublich stolz auf seine Schwester.
Ich schnaubte auf, zwickte mir sogar kurz in den Oberschenkel. Ich spürte es kaum. Die Taubheit meines Herzens schien sich mit den Jahren immer weiter auf meinen Körper auszubreiten.
Hör auf, an ihn zu denken, Olivia! Hör. Auf.
Schnell griff ich nach meinem Stift. Hatte die Professorin nicht gerade etwas von einem retikulären Aktivierungssystem gesagt? Doch meine angebrochenen Gedanken gingen mir nicht aus dem Kopf, und anstatt den Stift zum Schreiben zu benutzen, kaute ich an dessen Ende herum und starrte Löcher in die Luft.
Ich wette, Jon würde sich für mich schämen …
Seufzend schloss ich die Lider und lehnte mich mit einem aufkommenden Gefühl von bitterer Enttäuschung zurück. Gott, es schmeckte nach all der Zeit immer noch unsäglich sauer auf meiner Zunge. Aber das sollte mich nicht wundern. Bei jedem bescheuerten Gedanken an ihn, pumpte mein Herz Gift durch meinen Körper. Die Liebe war ein Schlachtfeld, das noch Jahre später ihre barbarischen Hiebe in bereits blutende Wunden schlug.
Als ich wieder aufblickte, war der Raum plötzlich hell erleuchtet und mehrere Augenpaare starrten mich an. Sofort verschränkte ich die Arme vor dem Oberkörper. Ich hatte das Gefühl, Wellen rauschen zu hören. Wahrscheinlich war es aber mein Blut, das mir in Rekordgeschwindigkeit in die Wangen schoss. Mein Blick fiel auf Megan, die mit weit aufgerissenen Augen und hektischen Kopfbewegungen auf das Podium deutete. Ich folgte ihrem gehetzten Blick und dann traf mich der Geistesblitz. Mit einem Ruck schob ich den Stuhl zurück und hatte Mühe, nicht über die eigenen Beine zu fallen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Leises Gelächter begleitete meinen eiligen Gang zur Professorin, die, beide Hände in die Hüften gestemmt, meinen Blick streng erwiderte. Ich murmelte mehrmals ein leises »Entschuldigung« in ihre Richtung, während ich meinen Stick in ihren Laptop steckte und die Datei öffnete.
Am Beamer angekommen, folgte der Höhepunkt. Mir fielen alle Folien auf den Boden. Die Professorin hatte sie offenbar vorher kreuz und quer beschriftet. Verflixt und zugenäht! Was war nur los mit mir?
Hastig sammelte ich sie mit schweißnassen Händen auf.
Großartig, wirklich großartig, Liv!
In Gedanken schlug ich mir mehrmals mit der Faust auf den Kopf.
Ich musste endlich das Problem mit meinen abschweifenden Gedanken in den Griff bekommen. Vor allem, wenn sie in diese bewusst unterdrückte Richtung gingen. Und ja, mir war klar, dass es einen winzigen Zusammenhang mit meiner Tablettendosis gab. Aber: Ich konnte und wollte sie nicht reduzieren. Es ging einfach nicht.
Noch nicht.
Der Rest der Stunde verging wie im Flug.
Alle Studierenden, diesmal auch ich, hingen an den Lippen der Professorin. Niemand schien zu merken, dass aus zwei Unterrichtsstunden fast drei wurden. Und das an einem Freitagnachmittag. Auch mir wäre es nicht aufgefallen, wenn nicht mein Handy in der Tasche ständig vibriert hätte. So hartnäckig, dass ich auch ohne auf das Display zu schauen wusste, wer mich erreichen wollte. Obwohl mir klar war, dass ich mich später auf eine Diskussion einlassen musste, ignorierte ich den Anrufer. Was hätte ich denn sonst tun sollen? So versuchte ich, das ständige Vibrieren auszublenden und mich auf die Schlussworte der Professorin zu konzentrieren.
Als der Unterricht zu Ende war, versammelte sich eine Traube von Studierenden am Ausgang. Kurzerhand packte ich meine Notizen ein und schlenderte zur Tafel. Bevor ich meine Finger nach dem bunt bemalten Hirnstamm ausstrecken konnte, kam die Professorin auf mich zu. »Lass mal, Olivia. Ich mach’ das schon.« Ich drehte mich zu ihr um, und sie legte ihre rechte Hand auf meine Schulter. »Es ist Freitagnachmittag. Sieh zu, dass du dich am Wochenende ablenkst, ja?«
Ich trat unruhig von einem Bein auf das andere. Eine schreckliche Angewohnheit übrigens. »Das werde ich. Morgen ist Dads alljährliches Kanzleifest. Da kann ich sowieso nicht fehlen.« Ich täuschte eine Lässigkeit vor, die ich überhaupt nicht empfand. Aber so war ich eben. Ich hatte mir eine dünne Schicht anerzogener Scheinheiligkeit übergestülpt, die anderen den Blick hinter meine Fassade verwehrte. Das hoffte ich jedenfalls. Aber was anderes als Pokern blieb mir nicht übrig. Ich konnte nur beten, dass mein falsches Spiel nicht aufflog.
»Gut. Grüß ihn von mir. Und vergiss nicht, dich nach dem Fest auszuruhen.« Ihre Augen blitzten auf. »Nicht, dass du während einer Vorlesung wieder einnickst.«
Erneut stammelte ich ein leises »Entschuldigung«, gefolgt von einem »Kommt nicht wieder vor«, bevor ich wieder einmal unbeholfen meine Sachen zusammenpackte und mit gesenktem Kopf nach draußen eilte.
Trotz der kühlen Brise blieb ich mitten auf der großen Steintreppe stehen und genoss die schwere und zugleich erfrischende Herbstluft. Sie kühlte meinen immer noch erhitzten Körper ein wenig. Meine Güte. Ich war wahrlich eine Tabletten schluckende Katastrophe auf zwei sehr wackeligen Beinen. Traurig, aber wahr.
»Liv! Halloooohooo!« Megans Stimme dröhnte mir unverschämt entgegen. Nicht nur ich zuckte erschrocken zusammen.
Schmunzelnd zupfte ich mir sodann mein Haargummi aus den Haaren, schüttelte sie ein paar Mal durch und hüpfte die Treppe hinunter zu meiner besten Freundin. Die wartete mit zwei Bechern dampfendem Kaffee auf mich. Ich drückte sie vorsichtig an mich und nahm ihr das heiße Getränk ab.
»Vielen Dank, du kleine Sirene.« Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Dabei ließ ich den Groll, der sich in meinem Magen aufgestaut hatte, die Treppe hinauf flattern und durch die große Holztür des Gebäudes verschwinden. Ich würde ihn nicht vor Montag abholen.
Ich drehte mich wieder zu Megan um, griff in meine Lederjacke und hielt ihr das Geld für das köstliche Gebräu unter die Nase.
Sie schlug die Hand locker weg. »Natürlich. Als ob ich dir nicht ungefähr zwanzig Cappuccinos schulden würde. Und nenn mich nicht ständig Sirene.« Automatisch wandte sie sich mit zusammengepressten Lippen dem Coffeeshop auf der anderen Straßenseite zu.
Schulterzuckend ging ich los. »Aber du bist eine.« Das sollte nicht überheblich klingen, aber es stimmte. Megan hatte die Gabe, beinahe jeden Mann um den Verstand zu bringen. Sie war eine verführerische Femme fatale, wie sie im Buche stand. Und sie musste nicht einmal viel dafür tun.
Meine beste Freundin folgte mir murrend, ließ es aber auf sich beruhen. Insgeheim mochte sie den Spitznamen doch. Das wusste ich. Sie war eben bildschön. Aber sie war auch smart, charismatisch und herzensgut.
»Wie lange bist du heute in der Bar?«
Megan zupfte ihren blonden Pony zurecht. »Keine Ahnung. Bis zum Schluss, wie es aussieht. Hodge meinte, ich solle mich womöglich auf Überstunden einstellen.«
Ich pfiff anzüglich durch die Lippen, während ich gleichzeitig mein Handy aus der Tasche fischte und es entsperrte. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Wusste ich doch, dass er versucht hatte, mich zu erreichen. Schnell räusperte ich mich und wandte mich wieder meiner kleinen Sirene zu. »Uh la la, will Hodge dich etwa den ganzen Abend für sich allein?«
Dafür erntete ich einen Schlag auf den Oberarm, sodass ich ein wenig zur Seite tanzte.
»Liv! Jetzt hör mal auf damit. Da läuft nichts!«
Ihre Stimme, ein paar Oktaven höher, verriet sie – wieder einmal. Seit sie im Sommer in dieser Bar, kombiniert mit einem Diner, arbeitete, war sie dem tätowierten Barchef verfallen. Nur wollte sie es irgendwie nicht wahrhaben.
»Wie du meinst.« Ich schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln, das sie kurz erwiderte, bevor sie rasch das Thema wechselte. »Sag mal, was war heute eigentlich mit dir los? Einfach so mitten in der Arbeit wegzudösen, das ist sonst nicht so deine Art?«
Ich wedelte abwertend mit der Hand und verstaute mein Handy wieder. »Hab gestern schlecht geschlafen, keine große Sache.«
»Hmm«, machte sie zögernd.
Ich schielte zu ihr. »Was, hmm? Jeder schläft mal schlecht. Kein Grund zur Sorge.«
»Falls das wieder zur Gewohnheit wird, werde ich …«
Ein eiskalter Schauer kroch mir über den Rücken. »Wird es nicht, versprochen.«
»Aber wenn doch, und du wieder zu stur bist, Hilfe anzunehmen, dann werde ich dir deinen kleinen Hintern versohlen. Ich hoffe, das ist dir klar.« Besagter Hintern erhielt zur Warnung einen schwachen Klaps.
»Verstanden.« Ich lachte ein wenig zu aufgesetzt und verdrehte gleichzeitig die Augen.
»Das will ich auch hoffen. Wann kommst du heute eigentlich vorbei? Soll ich dir einen Tisch reservieren?«
Eigentlich wollte ich später noch meine Notizen aus der Vorlesung durchgehen und zusammenschreiben, aber dies konnte ich auch dort. Obwohl …
Und schon machte sich ein unangenehmes Ziehen in der Größe eines Kontinents in meiner Magengegend breit.
»Ich weiß noch nicht … ich, also … dein Bruder hat mich vorhin schon ein paar Mal angerufen. Es wäre besser, wenn ich –«
»Mein Bruder ist nicht dein Vater! Du kannst deine Entscheidungen allein treffen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?« Sie schnitt mir das Wort ab. Etwas, das sie gerne tat. Und etwas, das ich nicht mochte.
»Lass mich bitte ausreden. Und ja, ich weiß. Und so ist es auch nicht. Er meint es nur gut mit mir. Das weißt du.« Diese Worte waren wie Säure. Aber eine, die ich ertragen musste. Ich tat mein Bestes, um nicht zu zittern.
»So ein verlogener Quatsch! Was soll das?«, fauchte sie. Hatte ich schon erwähnt, dass Megan etwas aufbrausend war und kein Blatt vor den Mund nahm?
Ihre Schimpftiraden schürten meine Wut, die wie grüner Schleim durch meine Adern schoss. Sie erstickte die unterschwellige Hilflosigkeit, der ich mich ausgeliefert fühlte. Aber wenn ich zwischen diesen beiden absurden und schrecklichen Gefühlen wählen könnte, würde ich mich für das erste entscheiden. »Jetzt hör auf, du kennst ihn doch besser als ich! Also lass es einfach, okay?« Meine Stimme kam definitiv lauter als beabsichtigt über meine Lippen. Nicht nur ein Passant warf mir daraufhin einen irritierten Blick zu. Megan blieb abrupt stehen. Sie sah aus wie ein Hurrikan. Ich zog die Schultern hoch, wappnete mich.
»Nein, Olivia, ich kannte ihn mal besser. Jetzt ist er nur noch –«
»Schluck es runter …« Ich wollte die Wahrheit nicht hören. Denn mein Herz – dieser Verräter – klammerte noch immer an diesem Teil von ihm, der ihn einst so sehr geliebt hatte. Dabei gab es ihn nicht mehr. Jetzt war er durch und durch manipulativ und böse.
»Verbittert. Und ein größeres Arschloch als je zuvor. Tut mir leid, Liv.«
Ach? Tat es das wirklich? »Vielen Dank für die Blumen. Was sagt das denn über mich als seine Freundin aus?« Scham, Zorn und Verletztheit tobten gleichermaßen in mir.
Megan runzelte genervt die Stirn. Ob es daran lag, dass sie soeben angerempelt worden war, oder daran, dass es unser Streitthema Nummer eins war, konnte ich nicht sagen.
»Es hat nichts mit dir zu tun. Er war schon immer ein Arsch. Mein freundlicher Rat wäre: Schieß diesen Idioten in den Wind.«
»Das ist so nicht ganz richtig. Und nein, das werde ich nicht tun.« Weil ich es verdammt noch mal nicht konnte. Einerseits verstand ich Megan. Ich hasste ihn auch. Wir hassten ihn nur auf unterschiedliche Weise.
»Wenn du meinst.« Ihre Miene wurde noch giftiger und sie kräuselte die Nase.
Erschöpft schnaubte ich auf. »Megan, bitte –«
»Nein. Lass es! Ich nehme den Bus, bis später.« Und schon wirbelte sie dramatisch herum und stolzierte davon.
Ich atmete tief durch und zählte dabei leise mit.
Aber ich kam nicht weiter als bis vier, da nun ich von der Seite angerempelt wurde. Angespannt reihte ich mich wieder in die flanierende Menge ein und folgte dem plaudernden Strom.
Mit bewusst verdrängenden Gedanken lief ich die Upper East Side entlang und mein Blick verlor sich im angrenzenden Central Park. Ein Anblick, der es Gott sei Dank schaffte, mein Gefühlschaos ein wenig zu ordnen. Durch die Baumkronen fielen helle, glitzernde Sonnenstreifen, welche über die Körper der Menschen tanzten und sie in einen goldenen Schein tauchten. Ich wandte mich nach rechts und ließ mich auf einen dicken Baumstamm unmittelbar am Rande des Parks nieder.
Ich versuchte die Kälte, die von der groben Erde und den herausragenden Wurzeln ausging, auszublenden, und schloss die Augen. Ich schlang meine Finger um den Pappbecher und wärmte sie an diesem wohlduftenden Behälter. Dann stellte ich mir das vor, was mich schon als Kind beruhigt hatte: den Sternenhimmel. Unzählig funkelnde Lichter, ein voller Mond, eine klare Nacht, die den Geruch von etwas Geheimnisvollem und Belebendem in sich trug. Ich konnte sie fast spüren, wie sie sich wie ein kühler Mantel um meinen Körper legte. Mich in eine Dunkelheit hüllte, die alles andere als unangenehm war. Denn ich wusste, dass einer der Sterne – der hellste und der schönste zugleich – mir immer den Weg zurückweisen würde. Denn sie war dieser Stern … Joey, meine große Schwester, die ich so unglaublich vermisste.
Den präsenten Verkehrslärm hörte ich nach ein paar ruhigen Atemzügen nicht mehr. Stattdessen schwebte ich in einer Leere. Und das war so befreiend. Ich liebte es, an nichts zu denken und nichts zu fühlen.
Aber wie immer dauerte der Moment viel zu kurz. Mein Verstand wäre schließlich nicht mein Verstand, würde er nicht das willkommene Gefühl der Freiheit vertreiben und mich mit meinen Unsicherheiten konfrontieren – natürlich. Schließlich schaffte diese Denkmaschine das immer.
Unter den Top drei: Er. Seine Launen waren in den letzten Monaten tatsächlich unausstehlich und unberechenbar geworden. Ich verstand einfach nicht mehr, was in ihm vorging. So ungern ich es auch zugeben wollte, Megans Wortwahl »verbittert« traf es ziemlich gut. Dabei konnte ich mich nicht erinnern, ihm einen Grund dafür gegeben zu haben, schließlich hielt ich mich an unseren beschissenen, geheimen Deal. Innerlich stieß ich einen nervenzerfetzenden Schrei aus und fragte mich wie so oft, wie es nur so weit mit uns kommen konnte. Ich hing diesen Gedanken nach, wenngleich sie mich quälten. Aber so war das nun mal mit der Liebe. Sie umfasste alle Gefühle. Sie hatte mich einst frei fühlen lassen. Und nun? Hielt sie mich gefangen. Dabei wollte ich meine Freiheit wieder zurück.
Und ganz ehrlich?
Mein Herz auch.
Wo ist es nur? Das Vertrauen, die Liebe in mich?
Weg.
Zerstört und verloren durch Vertrautheit in dich.
Möchte um mich schlagen, mich winden und drehen.
Doch schlussendlich bleibt nur eins: diese Angst zu fühlen und versuchen zu verstehen.
Joey
»Sehr geehrte Miss Olivia Jefferson. Würden Sie mir die Ehre erweisen und mich zu meiner Halloween-Party in meinem eigenen Haus begleiten?« Der Charmeur vor mir ging tatsächlich auf die Knie und schaute mich mit großen Augen durch sein in die Stirn hängendes Haar an.
Ich presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszuprusten, nickte aber gleichzeitig heftig auf und ab.
Jon erhob sich galant, legte die Hände auf die Brust und sang ein langgezogenes: »Daaaanke, mein kratzbürstiges Kätzchen!«
Mein aufkeimendes Glucksen blieb mir im Halse stecken. »Wie war das? Hast du mich gerade kratzbürstiges Kätzchen genannt?« Ich stemmte die Hände in die Hüften.
Mein Gegenüber plusterte sich auf und antwortete lapidar: »Yep.«
»Frechheit, Kumpel.« Jetzt verschränkte ich die Arme. »Wenn du mich noch einmal so nennst, kannst du allein zu deiner Party gehen, egal, wie toll sie ist.«
»Soll das eine Drohung sein?« Seine Augenbrauen verschwanden unter den braunen Haarfransen. »Entweder du kommst mit, oder du bist nicht eingeladen. Punkt. Außerdem bin ich ein Jahr älter als du. Also musst du meine weise Entscheidung akzeptieren.«
»Mir schlottern jetzt schon die Knie vor Angst. Dann werde ich eben mit einem deiner beiden Geschwister gehen. Einer von ihnen wird mich sicher mitnehmen.« Ich streckte ihm die Zunge heraus und tänzelte zu meinem Bett.
»Das wirst du nicht. Du gehst mit mir, Schätzchen.«
Immer diese Kosenamen.
Er war verrückt. Definitiv.
Jon kam wieder näher, sodass mir sein Duft nach frischer Seife in die Nase stieg.
»Seit wann entscheidest du das?«
»Seit ich dich vor dem Rabauken Timothy gerettet habe, als du noch ein kleines Mädchen warst.«
»Ach komm, den hätte ich doch locker besiegt!«
»Ja, du Fliegengewicht, du!«
»Ich bin doch kein Fliegengeeeee … ahhh!«
Ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn er warf mich federleicht über seine rechte Schulter und stolzierte sogleich aus meinem Wohntrakt in das große Wohn- und Esszimmer, wo Mum und Dad gerade einen Film schauten.
Sie warfen uns zwar einen schiefen Blick von der Seite zu, beachteten uns aber nicht weiter. Sie waren es gewohnt, uns so herumtollen zu sehen.
Als wir bei ihnen ankamen, löste er den Griff um meinen Hintern, aber nicht ohne mir vorher einen liebevollen Klaps zu geben. Mit einem leisen Schrei landete ich auf dem weißen, flauschigen Sofa.
Hastig rutschte ich in die gegenüberliegende Ecke, weg von meinen Eltern. Ich schnappte mir ein weiches Kissen und warf es mit voller Wucht auf meinen Peiniger. Doch Jon sah den Angriff kommen und wich trotz seiner Größe von einem Meter neunzig geschickt aus. Mein Wurfgeschoss prallte mitten auf den Fernseher.
»Olivia Jefferson!« Dad drehte sich zu mir um und hob vorwurfsvoll den strengen Zeigefinger. »Benimm dich! Du hast gerade dein Studium begonnen. Du bist kein Kind mehr!«
Hitze schoss mir in die Wangen.
»Es war meine Schuld, Mr. Jefferson, es tut mir leid.«
»Natürlich, Jonathan. Das glaubst du doch selbst nicht.« Dad blickte lächelnd von Jon zu mir. Die feinen Lachfältchen um seine grauen Augen wurden dabei immer tiefer. Das war schön zu sehen. In den letzten Jahren hatte er nicht viel Grund gehabt, sie zu zeigen. »Du musst meine Kleine nicht immer verteidigen.«
»Das muss ich wohl.« Jon sagte das einfach so und ließ sich kurz darauf neben mich auf das Sofa fallen.
»Was mache ich nur mit euch?«, murmelte Dad kopfschüttelnd.
Ich grinste und flüsterte Jon zu: »Sollen wir runter zu Megan und Remy gehen?«
»Nein. Dad ist zu Hause. Er würde mich nur zum Lernen in mein Zimmer schicken. Schließlich bin ich in seinen Augen ein Faulpelz. Lass uns hierbleiben.« Er legte seinen Arm um mich und schaute etwas zu verbissen auf den Fernseher.
»Bist du nicht«, beschwichtigte ich ihn und lehnte mich an seine Schulter. »Dein Notendurchschnitt ist traumhaft. Außerdem sagt er das nur, weil du vor Oxford ein Jahr lang mit deiner Mutter auf Reisen warst, auf denen ihr mehrere Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert und durchgeführt habt. Das verdient großes Lob. Das verrückte Ego deines Vaters hat das einfach nicht verkraftet.«
»Pech für ihn«, murmelte Jon und zuckte mit den Schultern. »Nur weil er Mutter nicht leiden kann, muss ich das nicht auch.«
»Stimmt. Dein Vater ist sowieso ein Spinner und eifersüchtig, weil sie so viel Geld hat.«
Er lächelte und wirkte dabei gelöster.
Nachdem der Film geendet hatte, wünschten wir meinen Eltern eine gute Nacht und gingen wieder zurück in meinen Wohnbereich. Während ich ins Bad schlenderte, huschte Jon durch den Flur in mein Schlafzimmer. Als ich es ein paar Minuten später ebenfalls betrat, hatte er sich bereits auf meinem Bett niedergelassen und spähte unter der roten Kuscheldecke hervor.
»Wer hat denn gesagt, dass du heute hier schlafen darfst?«
»Ich.« Er rollte mit den Augen.
»Und wenn ich das nicht will?« Skeptisch blieb ich vor dem Bett stehen.
»Als ob ich die letzten Jahre etwas anderes gemacht hätte. Und du hast nichts dagegen gehabt, soweit ich mich erinnere. Also komm her.« Jon zog einladend die Decke hoch, sodass ich einen tollen Blick auf sein Captain-America-Shirt hatte. Ich kicherte und kuschelte mich in seine Arme.
»Braves Zahnlückenmädchen.«
»Hey.« Spielerisch biss ich ihm ins Ohrläppchen. »Das letzte Mal, als du mich so genannt hast, waren wir wie alt? Zehn?«
Statt einer Antwort gab er mir einen hauchzarten Kuss auf die Stirn, woraufhin ich wieder wie verrückt lachte.
Doch ich hielt inne, als mir Mums Gesichtsausdruck während des Films in den Sinn kam. Keine Szene, egal wie lustig, traurig oder spannend, konnte ihr auch nur eine Regung entlocken. Manchmal fragte ich mich, ob die Tabletten sie nur dämpften, anstatt sie wieder zum Leben zu erwecken.
»Ich habe Mum während des Films ein paar Mal beobachtet und …«
Jon unterbrach mich sofort mit einem leisen »Ich auch.«
»Hoffentlich geht es ihr bald besser. Joey hätte das nicht für sie gewollt.« Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge.
»Das wird es, Liv. Da bin ich mir ganz sicher. Wir werden ihr beistehen.« Beruhigend strich er mir mit seiner Hand gefühlte hundertmal über den Rücken, bis er irgendwann unter mein Shirt fuhr und sanfte Kreise über mein Steißbein zeichnete.
Ich kuschelte mich noch enger an ihn, was ihm ein Knurren entlockte. Zögerlich löste ich mich von meinem Lieblingsplatz – seinem Nacken – und sah in seine wunderschönen grünen Augen. Mein Gott. Sie erinnerten mich an frisches Gras in der Morgensonne. Ich könnte in ihnen ertrinken. Er lachte auf.
»Verrätst du mir, was so lustig ist?«, fragte ich mit glühender Brust. Unser Atem vermischte sich.
Jon machte ein gequältes Gesicht. »Ich habe mich nur gefragt, was dein Vater mit mir machen würde, wenn er wüsste, dass wir nicht mehr nur Freunde sind.«
»Ach, wahrscheinlich würde er dich einsperren lassen. Weißt du, er hat so seine Beziehungen.«
Jon runzelte nachdenklich die Stirn und seine Augen bohrten sich in meine. »Ja … ja, das liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Er ist nicht umsonst der beste Pflichtverteidiger der Stadt. Ich denke, wir behalten das noch ein paar Wochen für uns. Unseren beiden Vätern zuliebe. Und wir wissen ja, dass ich mit meinem höchst empfindlichen Gemüt im Gefängnis keine Woche überleben würde.« Er schmunzelte über seinen eigenen Scherz. Das machte dieser heiße Mistkerl oft. Und ich liebte es.
»Da stimme ich dir zu, du Witzbold.« Meine Augenlider wurden immer schwerer, und so murmelte ich nur noch in seine Richtung: »Ich will nicht, dass du morgen wieder abreist. Ich werde dich schrecklich vermissen.«
Und wie ich das tun würde. Die Zeit mit ihm war eine bittersüße Mischung aus Euphorie und schützender Wärme, nach der ich mich nach Joeys Tod so sehr gesehnt hatte. Mit ihm an meiner Seite erschien mir das Leben leichter. Auch wenn wir unsere Liebe geheim hielten.
»Ich dich auch, aber –«
»Ja, ich weiß. Dafür wirst du einmal ein ausgezeichneter Anwalt werden. Auch wenn ich dich in jeder Sekunde vermisse, in der du in England bist. Aber ich verstehe dich. Wenn ich Harold als Vater hätte, würde ich auch so weit weg wie möglich studieren. Und egal, was er sagt, ich bin stolz auf dich. Vergiss das nie.«
Jon berührte mit seinen Lippen die meinen. »Du sagst es. Wenigstens werde ich ihn in Oxford drei Jahre lang nicht am Arsch haben. Aber ob ich dann jemals Anwalt werde, weiß ich nicht. Ehrlich gesagt bin ich mir manchmal nicht mehr sicher, ob ich das eigentlich will.« Er küsste meinen rechten Mundwinkel, dann den linken. »Aber eines weiß ich zu hundert Prozent: Ich liebe dich, Olivia Jefferson. Vergiss das nie.«
Hoffnung – ein kniffliges Wort.
Einerseits so voller positiver Erwartung, andererseits spült es alles mit sich fort.
Ein Gefühl, welches Schreck, Angst und Zorn mag verbannen. Doch wenn es schwindet, kann dich die Dunkelheit übermannen.
Ein Wort, welches den Abgrund kennt, sowie die Leiter, die dich von diesem trennt.
Ein schmaler Streifen zwischen Leben und dem Tod. Hauchzart verschiebbar, so bring ihn ins Lot.
Olivia
Wie von selbst wanderte meine Hand zu meiner Unterlippe. Die zwickte ziemlich, was immer dann vorkam, wenn ich zu viel nachdachte. Dann neigte ich nämlich dazu, meine Unterlippe mit den Schneidezähnen derart zu malträtieren, als wäre sie eine Karamellstange. Wenn sie wenigstens so schmecken würde. Murrend griff ich in meine braune Tasche und holte eine Pflegecreme hervor. Vorsichtig tupfte ich sie auf, und lehnte mich anschließend erschöpft zurück, um noch einmal kurz in den wohligen Wellen der Sonne aufzutanken. Unfassbar gern würde ich mich dem friedvollen Rascheln der losen Herbstblätter hingeben und weiter den erdigen Duft tief in mich aufsaugen. Doch meine Konzentration war dahin.
Zur Krönung des Ganzen begann mein Handy wieder zu vibrieren. Mit einem flauen Gefühl zog ich es hervor und wusste instinktiv, bereits bevor ich es auf dem Display sah, wer mich zu erreichen versuchte. Wieder einmal. Es gab auf dieser Welt nicht genug Tabletten, um mich vor den stechenden Schmerzen in meinen Schläfen zu bewahren, welche dieser Mann in mir aufkeimen ließ.
Ich nahm nicht ab.
Stattdessen steckte ich mein Smartphone ohne Umschweife in meine Lederjacke und erhob mich etwas ruppig. Kurz schwankte ich bedrohlich nach links, doch ich fing mich wieder, bevor ich unfreiwillig den Boden küsste.
Manchmal glaubte ich, ich besaß keine ausgereiften Innenohren, denn meine Begabung umzukippen, war gigantisch. Ich klopfte meine Kleidung von den kleinen erdigen Steinchen ab und machte mich mit meinem fast leeren Kaffeebecher auf den Weg nach Hause.
Ich zweigte von den von Wolkenkratzern umgebenen Geschäftsvierteln ab und schlängelte mich durch enge verzweigte Gassen, bis ich endlich vor unserem Nachbarn, Kats Coffee & Crime, stand.
Eine Spur zufriedener atmete ich den würzigen und zugleich herben Geruch ein, der wie eine Duftwolke vor dem Geschäft schwebte. Kein Wunder, ging doch alle drei Sekunden jemand ein und aus.
Ich schlenderte zur riesigen Glastür neben dem Café. Ein mit Gold und Silber verschnörkelter Kreis prangte dort um das Logo von Jackson & Jefferson. Fast schon protzig, aber für New York Verhältnisse dennoch schlicht. Harries, der Portier, öffnete sie mit einer ausholenden Armbewegung für mich. Rüstig, wie eh und je, obwohl ich ihn auf Mitte sechzig schätzte. Er ließ sich einfach nicht dazu herab, mir sein exaktes Alter zu verraten, obwohl er schon seit Jahrzehnten für unsere Familie arbeitete. Ich zwinkerte ihm zu und ging in Richtung Aufzug, der sich nur ein paar Meter vom Eingang entfernt befand. Mein Blick schweifte dabei nach links in die enorme, mit weißem Marmor ausgelegte Empfangshalle der Kanzlei. Beinahe alle drei Meter befand sich eine einladende schwarze Couch mit kleinen Glastischchen, die so sehr glänzten, dass es für mich einem Verbrechen gleichkäme, sie anzufassen. Doch das war lediglich meine Meinung, denn dutzende Kunden hatten dort ihre Unterlagen, Kaffeetassen und kleine Snacks abgestellt. Soweit ich es erkennen konnte, war kein Platz unbesetzt. Automatisch sah ich zum anderen Ende des Raums, wo sich ein aus weißem Stein gemeißelter Bartresen befand. Linda – die Barista – hatte alle Hände voll zu tun. Mit der einen hantierte sie an der Kaffeemaschine herum, mit der anderen legte sie ein Sandwich zurecht.
Die Arme. Dad soll noch eine zweite Hilfe einstellen, bevor die Gute noch einen Herzinfarkt kriegt. Sie wäre definitiv zu jung und das würde der Firma keine guten Schlagzeilen einbringen.
Mich selbst für diese unpassenden Gedanken rügend, wandte ich mich wieder dem großen silbernen Aufzug zu und drückte »P« für Penthouse. Manchmal neigte ich zu einem bedenklichen Humor.
Während ich wartete, schnellte mein Blick zurück in die Halle und blieb an der prachtvollen Wendeltreppe hängen, die mittig im Raum lag.
Sie führte zu einer imposanten Galerie, von der die Hauptbüros abgingen. Mich durchfuhr ein Schreck, als mich ein vertrautes Gesicht von oben herab anlächelte. Rosa – die gute Seele der Kanzlei – winkte mir mit ihren von der Arthritis geplagten Händen zu. Ich hob ebenfalls meine Hand, fragte mich jedoch zugleich, wie sie mit ihren zwei künstlichen Hüftgelenken dort hinaufgekommen war und wie sie da wieder hinunterkommen wollte. Verblüfft schaute ich von der Wendeltreppe hinab zum unbesetzten Empfangstresen, und wieder zurück zu ihr.
Doch mein Fragezeichen im Kopf verpuffte, als Harold auftauchte, seine schmierige Hand in ihre legte und sie langsam hinunterführte. Glücklicherweise ertönte in diesem Moment das »Ping« und ich flüchtete in die vier stählernen Wände, die mich nach oben brachten.
Wenn es nicht notwendig war, versuchte ich, Dads Geschäftspartner aus dem Weg zu gehen. Was jedoch nicht sonderlich einfach war, da er einerseits einen Stock tiefer wohnte, andererseits Megans, Jons und Remys Dad war und zudem auch ein alter Freund der Familie. Und zwar jener von der schrulligen Sorte. Schrullig und dubios. Mein Bauchgefühl schrie mich jedes Mal an, mich von dem blonden Mann fernzuhalten.
Oben angekommen marschierte ich den mit beigem Teppich ausgelegten Flur entlang. Bevor ich unsere Wohnungstür öffnete, sah ich nach rechts zum unteren Eck der Mauer und hielt für einen Moment die Luft an. Dort standen sie.
Fünf Namen.
Fünf verschnörkelte Namen, die meine Welt stillstehen ließen.
Olivia, Jon, Remy, Megan, Joey.
Aber Joey war kaum noch zu erkennen, denn die Versuche, den Namen zu »tilgen«, hatten Spuren hinterlassen. Genau wie das Herzchen zwischen meinem und Jons Namen. Der einzige Gedanke, der mich aufrecht hielt, war, dass ich diesen Bastard wenigstens nie wieder sehen würde.
Schnell schlüpfte ich aus meinen Stiefeln, warf sie von mir, sperrte auf und drückte die Türklinke heftiger als sonst hinab.
Es war still in unserem hellen Wohn- und Esszimmer.
Zu still für meine wieder kreisenden Gedanken.
An meiner Unterlippe nagend, wandte ich mich nach links und tappte an unserer Holzküche vorbei. Vielleicht war Dad in seinem Büro oder in unserer Bibliothek?
Er war weder da noch dort.
Also drehte ich mich um und spähte in den privaten Wohnbereich meiner Eltern. Aber auch hier war nichts zu hören.
Wahrscheinlich war er noch bei der Arbeit.
Etwas enttäuscht fuhr ich mir mit den Händen durch meine etwas zerzausten Haare und atmete laut aus. Was sollte ich jetzt tun?
Zu Hause bleiben und mich in einem Gedankenkarussell verlieren?
Zu Megan in die Bar gehen und einen weiteren Streit riskieren?
Oder endlich zum Handy greifen und …?
Nein.
Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit.
Also betrat ich meinen Wohntrakt und ging ins Ankleidezimmer.
Es dauerte keine fünf Minuten und ich hatte meine Jeans und den grauen Pullover gegen schwarze Leggings und eine blaue Bluse getauscht. Nach kurzer Überlegung kramte ich meine etwas längeren Ohrringe, die aus vielen kleinen bunten Perlen bestanden, hervor und steckte sie mir an. Kurz bevor ich meinen Wohntrakt verließ, warf ich noch einen prüfenden Blick in den großen Standspiegel, der in meinem Flur stand.
Wie jedes Jahr hatte der Sommer seine Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Zahlreiche Sommersprossen reihten sich um meine Nase. Trotz meines gebräunten Teints waren sie mehr als deutlich zu sehen. Sie ließen sich einfach nicht unterkriegen. Ich lächelte und entblößte sogleich mein Markenzeichen: meine kleine Zahnlücke. Und schon ging ein Ruck durch meinen Körper.
Die winzigen Lachfältchen um meine braunen Augen verschwanden schlagartig und ich verschloss meinen Mund zu einem Strich.
Früher hatte ich meine Zahnlücke geliebt.
Heute hasste ich sie.
Die Hände zu Fäusten geballt, blickte ich automatisch auf mein linkes Handgelenk, das von meinem ständigen Begleiter, einem braunen Lederarmband, umschlossen wurde. Mit dem rechten Zeigefinger schob ich es gerade so weit zur Seite, dass ich eine der beiden kleinen schwarzen Rundungen der Tätowierung erkennen konnte. Die andere ließ ich absichtlich verdeckt, weil ich sonst durchdrehen würde. Aber meine Gefühle schossen auch so in alle Richtungen der Verzweiflung. Auf diese Beständigkeit konnte ich mich verlassen.
Als meine Lippen zu zittern begannen und ich schon die Tränen aufsteigen spürte, schnappte ich mir die am Boden liegende Tasche samt Jacke und machte mich schnell auf den Weg.
Herzlich willkommen, du liebe Ablenkung, du! Vergessen wir mal alle Gedanken an Jon und Joey. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass das klappt, bei null liegt.
Im Pine’s war es stickig.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich das rappelvolle Lokal nach Megan ab, doch ich konnte nur Unmengen an lernenden Studentengruppen erkennen.
Sämtliche Bücher, Blöcke und Laptops schienen beinahe auf jedem der dunklen Holztische verstreut zu sein. Selbst der langgezogene schwarze Bartresen war voll besetzt. Nach ein paar Kopfverrenkungen erkannte ich Hodge durch eine Lücke zwischen einer Gruppe junger Frauen an der Bar. Noch auf dem Weg dorthin schlüpfte ich aus meiner Jacke.
»Entschuldigung, dürfte ich mal ganz kurz da durch?«
Ohne auf die Antwort zu warten, schob ich mich durch ihr Nest, was mir ein empörtes Schnauben einbrachte. Sobald die Sicht frei war, warf ich meine Jacke einfach über den Tresen. Ich war schon immer außerordentlich schlecht im Zielen, aber es war wirklich nicht meine Absicht gewesen, dass meine Jacke im bärtigen Gesicht des Chefs landete.
Das Ziel waren eigentlich seine Unterlagen gewesen, über denen er brütete.
Doppel hoppla.
Überrascht richtete er sich auf und suchte mit einem wütenden Funkeln in den Augen nach dem Schuldigen. Mit erhobenen Händen schmunzelte ich entschuldigend. »Tut mir leid?«
Hodge schüttelte langsam den Kopf und zog dabei seine buschigen Augenbrauen in die Höhe. »Tut es dir wirklich leid oder wieso beendest du den Satz mit einem Fragezeichen?«
»Tut mir leid«, wiederholte ich etwas ernster. »Du weißt, ich bin schlecht im Zielen.«
»Ja. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass du mir etwas ins Gesicht geworfen hast. Du hast Glück, dass ich heute gut gelaunt bin, Süße. Ansonsten würde dein Hintern bereits draußen am Gehsteig kleben.«
Ich ignorierte diesen Seitenhieb. Denn wir wussten beide, dass das nie passieren würde. Ich wedelte mit der Hand umher. »Wie sagt man so schön? Harte Schale, weicher Kern?«
»Ja ja, das schon wieder. Sag das nicht zu laut. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.« Sein rechter Mundwinkel hob sich leicht.
Ich beugte mich über den Tresen und flüsterte: »Dein Geheimnis ist bei mir sicher, du knallharter Barbesitzer.«
Er schüttelte erneut den Kopf, sodass ihm sein längeres, schwarzes Haar seitlich ins Gesicht fiel. »Was willst du eigentlich hier? Meg ist heute im Diner eingeteilt. Ab nach hinten mit dir!« Er warf mir meine Jacke zurück, die ich mehr schlecht als recht auffing. Fangen war nämlich auch nicht meine größte Stärke. Spoiler-Alarm: Ich bin prinzipiell eine sportliche Niete.
»Danke, Hodge. Bis dann.«
Ich verließ die Bar und durchquerte den spärlich beleuchteten Verbindungsgang, an dem die Toiletten abzweigten und betrat das Diner.
Trotz des noch vorhandenen Tageslichts leuchteten unzählige Spotlights von der Decke herab und spiegelten sich in den großen Fensterfronten. Die Rockmusik der Bar hörte man nur mehr mit einem Ohr. Sie vermischte sich mit etwas Indierock, der hier immer trällerte, wenn Megan Schicht hatte.
Ohne lange zu zögern, ging ich auf den ersten freien Tisch zu, der mir ins Auge fiel. Ich rutschte über die bequeme graue Lederbank und angelte mir noch in der Bewegung die kleine Speisekarte, um sie gleich wieder loszulassen.
Von Megan war keine Spur zu sehen.
Dafür aber von einer anderen Kellnerin, deren Namen ich schon einmal gehört, jedoch wieder vergessen hatte. Ihr suchender Blick traf den meinen und sie kam auf mich zu.
»Olivia, richtig?« Ihre rosarot geschminkten Lippen zogen sich leicht nach oben. »Meg macht gerade Pause.« Sie deutete auf das Fenster, neben dem ich saß. Ich folgte ihrer Geste und tatsächlich: Megan stand in der kleinen Gasse neben den Mülltonnen und telefonierte.
»Was kann ich dir denn bringen?«
Ich lächelte zu ihr hoch. »Eine Cola und einen Cheeseburger, bitte.« Dasselbe wie immer.
Sie notierte sich die Bestellung und zog von dannen.
Sofort richtete ich mein Augenmerk wieder auf meine beste Freundin, die mit der einen Hand ihr Handy ans Ohr drückte und mit der anderen heftig gestikulierte. Ihre Wangen waren stark gerötet und sie konnte kaum stillstehen. Nicht nur einmal fuhr sie sich hektisch durch den blonden Pferdeschwanz.
Neugierig geworden lehnte ich mich automatisch näher an die Fensterscheibe, drehte mein Gesicht und legte mein Ohr an. Bescheuert, aber ich konnte nicht anders. Natürlich verstand ich kein einziges Wort und verdrehte die Augen wegen dieser sinnlosen Aktion.
»Na, was ist denn so interessant?«
Ertappt und leicht erschrocken, schoss ich kerzengerade in das weiche Leder zurück.
Wie immer unzertrennlich tauchten Mase und Jeremy neben mir auf. Feuerrote, kurze Haare und die hellsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte, starrten mich an. Und das gleich in doppelter Dosis.
»Schön, euch zu sehen, Jungs!« Und das meinte ich auch so.
Die Zwillinge waren die reinste Lebensfreude. Jeder für sich ein Goldstück.
Jer setzte sich neben mich und Mase nahm mir gegenüber Platz.
»Ich habe vielleicht versucht, Megan ein bisschen auszuspionieren. Ich glaube, sie plant etwas.« Ich deutete mit dem Kinn auf sie.
Die Blicke der beiden huschten in ihre Richtung. »Na, dann werden wir es sowieso bald erfahren. Wir wissen ja, dass sie nichts für sich behalten kann. Und außerdem ist vor mir kein Geheimnis sicher.« Jer setzte ein anzügliches Grinsen auf und rückte noch näher an mich heran.
Ich konnte nicht anders, als mich wie angewurzelt zu versteifen und sofort einen kurzen Blick durch das Diner zu werfen. Eine dumme, sehr dumme, automatisierte Reaktion, die Mase natürlich nicht entging. »Dein Aufseher ist nicht da. Keine Sorge, Liebes.«
Ich antwortete nicht, sondern verteufelte mich für diesen antrainierten Reflex von vorhin. Mase fuhr mit seiner Erklärung fort: »Er ist noch bei der Besichtigung. Er hat mir vor einer halben Stunde geschrieben.«
Meine Füße wippten nervös und auch meine Finger konnte ich nicht ruhig halten.
Mase betrachtete mich mit einem Röntgenblick. Wunderbar. Ich hielt in meinen fahrigen Bewegungen inne und er runzelte die Stirn. »Dein Freund hat wieder ein Treffen mit den Rileys. Diejenigen, die das Penthouse in der Fifth Avenue im Visier haben«.
Da fiel es mir wieder ein. Er hatte mir Anfang der Woche von diesem erneuten Treffen erzählt. Seit Monaten bemühte er sich um das wohlhabende ältere Ehepaar, das sich für die Luxuswohnung interessierte. Wenn der Deal klappen würde, würde es Geld regnen. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Ja, er würde sich bestimmt Zeit lassen. Ich stieß meinen angehaltenen Atem so leise wie möglich aus. Der Blick, den Mase währenddessen seinem Bruder zuwarf, entging mir nicht und natürlich versteifte ich mich noch mehr.
Jer rückte sofort ein paar Zentimeter von mir ab, ließ es sich aber nicht nehmen, mich in den Oberarm zu kneifen. Quietschend schlug ich seine Hand weg.
Er lachte auf. »Irgendwann lasse ich meinen Charme auf dich los, Liv. Freund hin oder her. Du weißt, dass mir deine ständigen Zurückweisungen fast körperliche Schmerzen bereiten.« Mit gehobenen Augenbrauen und einem neckischen Grinsen fuhr er sich mit Daumen und Zeigefinger über den Dreitagebart.
Unsicher, was ich antworten sollte, schwieg ich und wandte mich der Fensterfront und Megan zu, die immer noch telefonierte. Eigentlich war ich nicht schweigsam, aber wenn es um dieses Thema ging, verhielt ich mich etwas seltsam.
»Ist er immer noch so angespannt?«, fragte Mase und lehnte sich über den Tisch zu mir herüber. Ich sah ihn nicht direkt an, sondern nickte nur kurz. Sofort spürte ich eine warme Hand auf meiner Schulter und Jer flüsterte mir zu: »Er wird sich bestimmt bald beruhigen. Sobald er die Immobilie unter Dach und Fach hat, wird er wieder der Alte sein.«
Ja, ganz sicher. Vorher kandidiert ein buntes Einhorn für das Amt des Präsidenten.
Und gewinnt.
Jer stöhnte laut auf. »Verdammt, ich bin am Verhungern.« Jer wäre nicht Jer, wenn er nicht versuchen würde, die Stimmung aufzulockern. Er tätschelte seinen durchtrainierten Bauch und grunzte leise. Wie von selbst zogen sich meine Mundwinkel nach oben.
»Bruder, du hast vor einer halben Stunde zwei Beeren-Smoothies in dich reingestopft. Bist du schwanger, oder was?«
Jer zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, heutzutage ist alles möglich, oder?«
Und bevor ich noch tiefer in Selbstmitleid versinken konnte, schlug ich ihm gespielt schockiert auf den Oberarm. »Bei dir wäre das keine Überraschung, du Frauenheld.« Obwohl ich es scherzhaft meinte, wusste er, dass in dieser Aussage mehr als ein Fünkchen Wahrheit steckte. Denn Jer ließ einfach keine Gelegenheit aus. Und seit er als Fitnesstrainer arbeitete, lagen ihm die Frauen mehr denn je zu Füßen.
Ganz im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder, der bald vor den Traualtar treten wird. Als könnte er meine Gedanken lesen, griff er nach seinem glänzenden Silberring und lächelte verschmitzt. Kat, seine Verlobte, führte das kleine Buchcafé, das direkt neben der Kanzlei und damit auch neben meiner Wohnung lag.
Ich wollte ihn gerade nach ihr fragen, als ein kalter Windhauch meinen Nacken streifte. Sogleich stand Megan strahlend neben uns. Es musste ein tolles Telefonat gewesen sein. Mit wem nur?
»Hallo Leute! Mit euch hätte ich heute gar nicht gerechnet«, sagte sie. Ihr letzter Blick in die Runde galt mir und ich wusste, dass sie damit auf unseren kleinen Streit von vorhin anspielte.
Um die Wogen zu glätten, antwortete ich schnell: »Es wäre doch kein Freitagnachmittag, wenn wir ihn nicht hier bei dir verbringen würden, nicht wahr?«
Sie schmunzelte und ihre angespannte Schulterpartie lockerte sich etwas. »Stimmt. Das wirft jedoch die Frage auf … wann hatte ich zuletzt einen beschissenen Freitagnachmittag frei? Darüber muss ich mal mit Hodge reden.« Daraufhin zog sie eine Schnute und verschränkte die zierlichen Arme vor ihrer weißen Arbeitsbluse.
»Mensch Meg, bring uns doch lieber mal etwas zu essen, anstatt uns die Ohren voll zu jammern.« Es war Mase, der diese unheilvollen Worte aussprach, wenngleich sie als Scherz gemeint waren.
Megan funkelte ihn natürlich prompt an. »Mein Lieber. Mach noch einmal so eine Aussage und du bekommst hier nichts außer unserem selbstgemachten Eistee.«
Jer und ich grinsten, da wir wussten, dass er Eistee hasste. Er antwortete rasch mit einem: »Ja, Mam.« Megan drückte hoheitsvoll ihr Rückgrat durch. »So, was möchtet ihr bestellen?«
Die Jungs orderten jeweils gemischte Salate und Zitronenwasser.
Trotz der wiederholten Frage blieb die Bestellung die gleiche.
»Hä? Seid ihr jetzt auf Diät?«, wollte ich wissen.
»Der Hochzeitsanzug soll nicht zu eng werden. Man heiratet schließlich nur einmal im Leben«, antwortete Mase und strich sich über sein – zugegebenermaßen – stets wachsendes Wohlstandsbäuchlein.
»Und ich als einer der Trauzeugen muss da mitziehen. Ungewollt versteht sich.« Jer verzog unzufrieden seine schmalen Lippen. Er hatte mit seinem trainierten Oberkörper gewiss keine Diät nötig.
Mir drängte sich allerdings sogleich eine andere Frage auf. »Einer der Trauzeugen? Von einem Zweiten war nie die Rede! Leute?!« Meine Stimme überschlug sich leicht bei dieser neuen Offenbarung. Und vor lauter Konzentration auf die Jungs merkte ich fast gar nicht, dass mir mein Getränk serviert wurde.
»Du musst nicht immer alles wissen, Süße.« Jer zwinkerte mir übertrieben zu. Definitiv zu übertrieben.
Megan machte einen schnellen Abgang in Richtung Küche. Aha! Da war doch etwas faul.
»Ach, kommt schon. Es ist bestimmt … hmm.« Ich tippte mir nachdenklich mit meinem Zeigefinger auf die Nase. »Kevin, stimmt’s?«
»Kev? Nein, völlig falsch.« Mase schüttelte den Kopf.
»Wieso? Seitdem du unterrichtest, ist er doch dein bester Arbeitskollege auf der Schule. Außerdem hängt ihr ständig zusammen ab.« Unruhig rutschte ich hin und her.