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Ihre erste Liebe wird sie alles kosten Als Mia auf dem City Festival von dem heißen und abweisenden Chuck aus einer heiklen Situation gerettet wird, steht ihr Leben plötzlich Kopf. Seine eisblauen Augen und dunklen Geheimnisse lassen Mia nah am Abgrund tanzen. Doch wird Chuck sie auffangen, wenn sie fällt? Oder ist der Traum von der großen Liebe nichts weiter als ein gefährliches Spiel?
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Seitenzahl: 697
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Für meinen Prinz Charming, weil du mir eine neue Welt geschenkt hast und mich in allem unterstützt.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Triggerwarnung
Glossar
Es war doch immer dieselbe Leier, ganz egal von welcher Seite man es zu hören bekam oder durch welches Medium, alle redeten darüber. Jeder kannte es, jeder hasste es und doch passierte es ständig und überall.
Das Gesetz der Liebe war gnadenlos und keiner blieb verschont. Sogar in zahlreichen Filmen und Büchern wurde es uns immer wieder aufs Neue erzählt; in tausend verschiedenen Facetten, und trotzdem lernte keiner daraus. Jeder Einzelne gab sich ihm blind und voller Seele hin und wofür? Um ein weiteres Opfer der Liebe und der daraus resultierenden Enttäuschung zu werden. Es war traurig, aber die erbarmungslose Wahrheit. Meistens traf es Frauen am schlimmsten.
Nach der niederschmetternden Gewissheit, dass es doch nicht die wahre Liebe war, brachen sie komplett zusammen. Sie wurden antriebslos, ihre Emotionen und geistige Mentalität stürzten in ein tiefes Loch, bis sie nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Und ein so selbstzerstörerisches Verhalten, wozu? Weil sie die bittere Erkenntnis erlangt hatten, dass sie von dem Mann, der die große Liebe hätte sein sollen, enttäuscht, verletzt oder verlassen wurden? Warum hätte es ihnen anders ergehen sollen als ihren Vorgängerinnen? Ich meine, so überraschend konnte das Ende doch nicht gekommen sein. Hörten sie denn nicht zu? Filme, Bücher und sogar Musik thematisierten stets ein und dieselbe Geschichte: Dass Liebe ohne Verlust und Schmerz nicht existieren konnte. Auch wenn das pure Fiktion war. Aber selbst das eigene Umfeld berichtete immer dasselbe. Und verrückterweise ging dennoch jeder dieses Risiko ein. Ich konnte das unnötige Selbstmitleid noch nie nachvollziehen und belächelte es. Wie konnte man nur sein gesamtes Leben aufgeben und sich tagelang im Bett verkriechen? Gaben sie mit der Trennung auch ihre Selbstachtung, ihren Stolz und ihre Würde auf? Ich vertrat die Meinung, dass grundsätzlich jeder an sein eigenes Wohlergehen denken musste und sich nicht durch jemand anderen herunterziehen lassen sollte.
Wenn dich jemand verarscht, lerne daraus und sorge dafür, dass es niemals wieder geschieht.
Das war meine Philosophie, früher zumindest mal. Bisher hatte ich auch leicht reden. Es gab nicht einen Menschen in meinem Leben, bei dem ich hätte so fühlen können, und dann traf ich ihn. Mit ihm veränderte sich meine Einstellung; ich veränderte mich.
Es war ein Sommer voller Liebe, Leidenschaft und Abenteuer, und plötzlich wurde mir brutal das Herz aus der Brust gerissen. Der ganze geballte Schmerz traf mich mit voller Wucht und stieß mich rücksichtslos zu Boden. Abzuschließen war wohl doch nicht so einfach, wie ich immer behauptete. Aber mit der Erfahrung erhielt ich zugleich Erkenntnis. Endlich verstand auch ich, weshalb so viele so dämlich waren, trotz jeglicher Warnungen, dieses Risiko einzugehen. Es war sowohl berauschend als auch ein wenig beängstigend, aber das Danach? Das war die reinste Hölle. Alles, was zurückblieb, war der scheinbar niemals endende Schmerz, der einen förmlich von innen heraus zerriss. Das Einatmen fühlte sich wie tausend Nadelstiche in der Lunge an und all die berauschenden Gefühle verwandelten sich in puren Schmerz, der einen zu verschlingen drohte. In Dauerschleife spielte ich in meinem Kopf immer und immer wieder unsere gemeinsamen Tage ab. Aber ganz egal, wie oft ich meine Erinnerungen nach Anzeichen durchforstete, ich konnte nichts Verdächtiges entdecken. Das mir langsam allzu bekannte Gefühl namens Verzweiflung stieg erneut in mir hoch und damit auch die Tränen. Wie die letzten Tage flossen sie heute unaufhörlich weiter – von meiner Wange, über mein Dekolletee. Sie vereinten sich zwischen meinen Brüsten, um in einem Rinnsal hinabzugleiten. Resigniert ließ ich mich aufs Bett fallen, schlug mir die Hände vors Gesicht und versuchte zum hundertsten Mal, die Wahrheit zu erkennen. Unsere gemeinsamen Wochen waren ein einziges Auf und Ab. Tage, an denen ich vor Freude am liebsten die Zeit eingefroren hätte und Tage, an denen ich mich am liebsten unter der Decke verkrochen hätte. Trotz unserer Unterschiede hätte es nicht besser laufen können, und deshalb war es für uns vorherbestimmt, zu fallen, denn vollkommenes Glück konnte offenbar nicht auf Dauer existieren. Unsere fast perfekte Zeit war abgelaufen und alles zerfiel in unzählige Teile. Dabei konnte ich nur machtlos danebenstehen und zusehen, wie mir das Glück aus den Händen glitt. Ohne die Möglichkeit zu erhalten, eingreifen zu können und mit einem letzten Versuch, alles zum Guten zu wenden. Jetzt, ohne ihn, schien nichts mehr einen Sinn zu ergeben. Keine Möglichkeit mehr, die Scherben wieder zusammenzusetzen. Der Schaden war zu groß und unwiderruflich. Benommen und leer starrte ich meine von Tränen nassen Hände an und entschied, dass die Zeit des Trauerns enden musste. Ich kam mir so unfassbar erbärmlich vor und wollte mich nicht länger mit der Frage nach dem Warum und Wieso herumquälen. Es änderte ohnehin nichts an den Geschehnissen der letzten Wochen. Den Verlust und den Schmerz musste ich hinter mir lassen und keinen Gedanken mehr an den Mann verschwenden, der mir so unsagbar weh getan hatte. Meine zahllosen Tränen verdiente er nicht länger. Die Zeit war gekommen, die Situation zu akzeptieren. Was hatte ich auch für eine Wahl? Im Bett liegen zu bleiben und nie wieder aufzuhören zu weinen? Mich von Kummer und Schmerz nach und nach auffressen zu lassen, bis nichts mehr von meinem Selbst übrig war? Das war absolut inakzeptabel! Ich wollte kein bemitleidenswertes Häufchen Elend sein. Ich musste einen Ausweg aus dem Dilemma finden und mein Leben wieder aufnehmen. Trotz meines Elans, den Mistkerl endgültig zu vergessen und mein metaphorisches Krönchen zu richten, um wieder mehr Lebensqualität zu verspüren, fühlte ich auf meinem gesamten Körper den Druck des Verlustes. Ein Überbleibsel, mit dem ich wohl oder übel lernen musste zu leben und darauf zu vertrauen, dass das Gefühl von allein vergeht. Schließlich hieß es nicht umsonst, dass die Zeit alle Wunden heilt. Trotz meiner Motivation, ihn zu vergessen, quälte mich eine entscheidende Frage: Wie konnte ich es nur zulassen, mich ihm so zu öffnen? Blind hatte ich ihm vertraut; mich ihm anvertraut, obwohl ich es hätte besser wissen sollen. Diesen Fehler durfte ich niemals wiederholen. Dennoch brannte die Frage in mir, ob er wohl genauso sehr litt wie ich oder war er wirklich der eiskalte, gefühlslose Bastard, der nur mit mir spielte?
In einem kleinen amerikanischen, sehr ruhigen und sonnigen Dorf namens Hidden Valley wohnte ich seit meiner Geburt. Wir befanden uns am gefühlten Ende der Welt. Hidden Valley lag etwas abgelegener als andere Ortschaften. Hier geschah buchstäblich nie etwas Aufregendes. Aber was erwartete man bei gerade einmal 625 Einwohnern schon? Jeder kannte hier jeden. Typische Vorstadtidylle eben. Das Dorf war von dichten grünen Wäldern, endlosen Wiesen und gepflegten Seen umgeben. Eigentlich traumhaft und als kleines Mädchen kam ich mir vor wie in einem Märchen. Mit der Zeit verlor es jedoch seinen Zauber und es wurde eintönig. Vermutlich wurde die Eintönigkeit von Ortschaften wie diesen hier erfunden. Alles sah gleich aus und musste stets gepflegt sein, auf eine bestimmte Art und Weise. Sollte jemand in der Nachbarschaft mal so nachlässig sein und tatsächlich vergessen, seinen Rasen pünktlich zu mähen, war es, als hätte dieser ein schweres Verbrechen begangen. Und die Vorzeigebewohner waren gnadenlos. Sie versammelten sich bei den Millers.
Claudia Miller war die heimliche Anführerin unserer Straße. Wenn etwas vor sich ging, wusste sie davon und wenn nicht, tat sie alles in ihrer Macht Stehende, um es zu erfahren. Sie erzählten sich gegenseitig wie fassungslos sie doch seien, dass solch eine Gräueltat in ihrer Straße stattfand. Nachdem sie das Thema totgekaut hatten, gingen sie zusammen mit grimmigen Mienen und verschränkten Armen auf den Schuldigen zu. Schimpfworte, Empörung und Anschuldigungen wurden lautstark zum Ausdruck gebracht. Dann wurde eine Frist gesetzt, um die Tat zu bereinigen und das bedeutete: sofort. Wäre man dem nicht nachgekommen, bräche ein regelrechter Krieg aus. Glücklicherweise kam es nie so weit. Das Verhalten resultierte allein aus einem uralten Wettkampf in Hidden Valley. Die Frage, wer den gepflegtesten Rasen besaß, das schönste Haus bewohnte und die festlichste Weihnachtsbeleuchtung angebracht hatte, beherrschte die Straßen und würde niemals beantwortet werden können.
Mich jedoch interessierte das ganz und gar nicht. Umso glücklicher war ich, dass mein Dad jemanden dafür bezahlte, um genau solche Aufgaben zu übernehmen. Harald Gerber war ein Ordnungsfanatiker und erledigte alles so, wie es sich gehörte, und ich musste mich nicht um derlei Banalitäten kümmern. Um dem ansonsten öden Leben hier zu entkommen, musste man sich einer eineinhalbstündigen Zugfahrt oder einer dreißigminütigen Autofahrt stellen, um zur nächsten Stadt, Cold City, zu gelangen. Bei den permanent überfüllten Zügen sollte man sich das am besten zweimal überlegen. Trotz der strengen Lebensphilosophie, die akribisch durchgesetzt wurde, gab es eine erwähnenswerte Sache, die nicht kontrollierbar und zugleich der unlösbare Fluch der Stadt samt Umgebung war.
In Cold City befanden sich seit einigen Jahren zwei rivalisierende Banden. Damit wir im Stadtgespräch so tun konnten, als wüssten wir, wer für die Anschläge und Überfälle verantwortlich war, betitelten wir die einen als The Fallen und die anderen als The Snakes, vor allem da bei letzteren gemunkelt wurde, dass sie tatsächlich so hießen. Im Grunde war das völliger Blödsinn.
Trotzdem war zu jeder Tages- und Nachtzeit Vorsicht geboten. Die Medien behaupteten sogar, dass sie nahezu die ganze Stadt kontrollierten, was allerdings nie von offizieller Seite bestätigt wurde. Der Buschfunk sorgte jedoch dafür, dass aus den medialen Berichten gruselige Horrorgeschichten wurden, in denen sie ständig etwas mehr dazu dichteten. Kontinuierlich tauchten schwerverletzte, fast halbtote und leider nicht selten leblose Männer in verlassenen Gebäuden auf. Schnell wurde klar, dass die Indizien auf illegale Wettkämpfe hindeuteten. Bestätigt wurde aber auch das nie. Sobald die Männer vernehmungsfähig waren, stand die Polizei bereit, aber jeder einzelne weigerte sich vehement zu sprechen. Obwohl ihnen bei Schweigen eine Gefängnisstrafe wegen Behinderung der Justiz drohte, blieben sie eisern. Und so tappte die Polizei weiterhin im Dunkeln, und die Banden trieben ungehindert ihr Unwesen.
Natürlich war das nicht alles. Drogen und Prostitution gehörten selbstverständlich auch zu ihrem Milieu. Das Gleiche galt für Erpressung von Politikern oder anderen wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.
All das schien weit weg von uns zu sein und wäre das alles gewesen, hätte man annehmen können, dass die Geschichten frei erfunden worden waren. Aber so war es nicht. Die Vorkommnisse basierten auf der bitteren Realität. Das wurde uns erst vor circa einem Jahr richtig bewusst.
In einem stillgelegten Bergwerk, nicht weit von mir entfernt, wurde vorübergehend, zu einem ganz bestimmten Zweck, ein geheimes Labor gegründet. Keine Ahnung, wie diese Verbrecher es herausfanden. Jedenfalls hatten sie es aufgespürt, ausgeraubt und niedergebrannt. Aufmerksam wurden wir nur darauf, weil es eine Explosion gab und die lodernden Flammen aus dicken Rauchschwaden emporstiegen. Es wurde nie eine Pressekonferenz abgehalten, aber mein Dad besaß gute Kontakte zur Polizei, der Bergwacht, den Rettungssanitätern; einfach zu allen Gesetzeshütern im näheren Umkreis. Daher kannte ich die Wahrheit. Unsere Mitmenschen bekamen lediglich die Hälfte mit und durch Mundpropaganda wurde Stück für Stück dazu mehr gedichtet, sodass von der eigentlichen Tatsache nicht mehr viel übrigblieb. Wie dem auch sei, die Clans sprengten des Öfteren geheime Operationen, über die eigentlich niemand Bescheid wissen durfte, und stahlen anschließend deren Daten mitsamt Entwicklungen. Ziemlich abgefuckt, und das war nur ein kleiner Teil von dem wir wussten. Auf jeden Fall waren das genügend Gründe, ihnen besser nicht über den Weg zu laufen.
Keiner wusste, wer sie waren und auch nicht, wo sich ihre Verstecke befanden. Sie tauchten wie aus dem Nichts auf, verbreiteten Chaos und verschwanden genauso schnell wieder. Es verging nicht ein Tag, an dem die Medien nicht von ihnen berichteten. Die Angst war groß in den Herzen der Menschen. Ich stellte keine Ausnahme dar. Aber tief in meinem Inneren - und das konnte ich nicht leugnen - war ein Teil von mir fasziniert. Ich meine, wie konnte man nur dazu in der Lage sein, Chaos anzurichten, Kriege gegeneinander zu führen, eine ganze Nation zum Narren zu halten und trotz allem unantastbar und unsichtbar für den Rest der Welt zu sein? Meine unzähligen Fragen würden auf ewig in mir brennen, denn selbst wenn ich einem begegnen sollte, wäre das womöglich mein Ende. Schließlich waren diese Menschen nicht unbedingt für ihre Zurückhaltung oder Gnade bekannt.
Ich war gerade einmal siebzehn Jahre alt und streng genommen lebte ich bei meinem Vater. Wir sahen uns aktuell nur selten, was nicht immer so war. Normalerweise kam er in regelmäßigen Abständen von sechs Monaten, doch das letzte Mal war er verhindert, was wiederrum neun Monate her war, und es sah nicht danach aus, als würde sich in naher Zukunft etwas ändern. Aber wir telefonierten umso öfter. Meine Kindheit war untypisch.
Mit knapp 3 Jahren brachte Melodie, meine Mutter, mich zu ihrer besten Freundin, um anschließend mit ihrem Yoga-Lehrer abzuhauen. Als klar wurde, dass ihr nichts zugestoßen war und sie nicht mehr zurückkommen würde, kontaktierte Beate meinen Dad. Er war Vizeadmiral bei der Marine. Einer der ganz Wichtigen. Über ihm gab es nur noch den Admiral. Es dauerte einige Tage, bis Beate meinen Dad endlich erreichte, denn sein Aufenthaltsort war natürlich streng geheim. Er brach sofort auf und zu Hause fand er einen Brief mit einer klischeehaften Erklärung. Von da an hatte er es ziemlich schwer. Nicht nur, dass seine geliebte Ehefrau urplötzlich verschwunden war, nein, er hatte zusätzlich noch ein dreijähriges Mädchen zu Hause, das seine ständige Präsenz verlangte. Mit Herzblut und Liebe opferte er sich für mich auf. Sogar seinen Job tauschte er gegen Büroarbeiten und er hasste Papierkram mehr als alles andere auf der Welt. Mit einem Marinesoldaten als Vorbild wurde ich bereits früh selbstständig und so zwang ich ihn mit meinem zwölften Lebensjahr zurück in seinen ursprünglichen Beruf. Selbstverständlich musste ich zwei scheinbar endlose Jahre bei Beate leben. Aber mit vierzehn setzte ich mich durch und handelte faire Bedingungen aus, damit ich endlich alleine leben durfte. Ich musste die Schule regelmäßig besuchen, immer erreichbar sein und sollten wir uns verpassen, ihn umgehend zurückrufen und noch einige andere, für ihn wichtige Regeln befolgen. Es funktionierte jetzt seit drei Jahren und wir waren beide mit den Umständen zufrieden. Durch seine Arbeit bei der Marine war er auf der ganzen Welt unterwegs, weshalb er sehr wenig Zeit hatte. Trotzdem mangelte es mir an nichts und wir pflegten ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Um die Fixkosten kümmerte er sich aus der Ferne und für den Rest wie Lebensmittel, Kleidung und Schulbedarf überwies er mir monatlich einen Batzen Geld. Mehrfach erklärte ich ihm, dass ich weder monatlich shoppen ging noch Bücher für die Schule kaufen müsste. Trotz meiner Einwände änderte er nichts daran. Vermutlich besänftigte er sein schlechtes Gewissen. Aber er vergaß, dass ich es so wollte.
Mein Name ist Emilia Walsh, aber alle nennen mich bloß Mia. Ich war eher durchschnittlich groß und schmal gebaut. Meine dunkelbraunen Haare flossen in sanften Wellen über meinen Rücken bis hinunter zu meinem Po. Das Dunkle ließ meine ohnehin schon blasse Haut noch heller erscheinen. Ich hatte große, leuchtend grüne Augen, eine schmale Stupsnase und volle Lippen. Die meisten bezeichneten mich als süß, was mir gar nicht gefiel, denn dadurch wurde ich in den seltensten Fällen ernst genommen. Viele behaupteten, dass meine Stimme zu meinem Äußeren passte. Sie wäre sehr feminin und sanft, aber keineswegs schrill. Und weil ich ein gewisses Talent zum Singen besaß, war meine Sprechweise klar und ausdrucksstark. Ich besuchte die örtliche High School und … nun ja, ich gehörte nicht gerade zu den Klassenbesten. Was ich nach den Sommerferien vorhatte, zu ändern, schließlich begann da mein letztes Schuljahr.
Gestern war aber erst einmal der lang ersehnte letzte Schultag und ich hatte vor, meine Freizeit in vollen Zügen mit Relaxen, Lesen und Fernsehen zu genießen, mit einer Ausnahme: Den wohl überwiegenden Teil meiner Freizeit würde ich mit meiner besten Freundin Bea verbringen. Bea war die Tochter von Beate und wir wuchsen miteinander auf. Deshalb fühlten wir uns auch mehr wie Schwestern. Beim alleinigen Gedanken an sie musste ich schmunzeln. Sie war eine klassische Schönheit und konnte locker als eines dieser Zeitschriftenmodels durchgehen. Mit ihren 1,74m war sie deutlich größer als ich, ihre durchgefransten Haare waren tiefschwarz und reichten ihr bis oberhalb ihrer Brust. Ihre mandelförmigen Augen waren dunkelbraun, fast schon schwarz, und mit ihrem Wimpernaufschlag brachte sie Männer regelrecht um den Verstand. Ihre leichte schiefe Nase verlieh ihrem Aussehen etwas Besonderes, dabei war ihr Teint von der Sonne gleichmäßig gebräunt. Eine einprägsame Stimme und eine dreckige Lache, die ansteckte.
Sobald sie einen Raum betrat, richteten sich alle Blicke auf sie. Männer lagen ihr zu Füßen und Frauen hassten sie. Aber ich nicht, ich war dankbar. Dankbar, weil ich dank ihr keine Aufmerksamkeit auf mich zog. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können und dennoch waren wir von Beginn an die besten Freunde. Viele hatten Vorurteile und hielten sie für arrogant. Sie konnte es durchaus sein, keine Frage, aber Bea war auch loyal, ehrlich und immer für mich da, sowie auch ich für sie, und genau darauf kam es letzten Endes an. Anders als ich, achtete sie stets auf ihr Äußeres. Ich zog sie öfter damit auf, dass sie, sobald sie ihr erstes graues Haar entdeckte, mit hoher Wahrscheinlichkeit ihren ersten Nervenzusammenbruch erleiden würde. Von Mode verstand ich absolut nichts. Kleidung kaufte ich nur nach Geschmack ein und achtete keineswegs auf die aktuellen Trends. Sehr schlicht, bloß nichts zu Auffälliges. Statt mit ihr auf Partys zu gehen, widmete ich mich lieber einem guten Buch oder verlor mich in der vielfältigen Welt der Filme. Bea war ein richtiger Wirbelwind und an den Wochenenden und in der Ferienzeit war es Pflicht, auszugehen. Das Ziel spielte dabei keine große Rolle, sondern nur, dass es laut und wild sein musste und der Alkohol in Strömen floss. Definitiv nicht meine Welt, aber Bea brauchte das. Sie war ein geselliger Mensch und ertrug es kaum, einen Tag alleine zu sein. Deshalb war sie ständig unterwegs und das vorzugsweise auf Dorffesten oder, nach Möglichkeit, schlich sie sich in Diskotheken hinein. Durch ihr immer perfektes Aussehen und ihr Selbstbewusstsein hinterfragten die wenigsten ihr Alter, da sie ohnehin schon eine gewisse Reife ausstrahlte. Sie war einfach nur beneidenswert. Zu meiner Schande schaffte sie es doch tatsächlich, mich zu überreden, sie heute auf das jährliche City Festival zu begleiten. Es war ein glorreicher Moment, denn solche Veranstaltungen mied ich mit voller Absicht. Keine Ahnung, wie sie es anstellte, dass ich ihr zusagte. Sie war zweifellos ein Naturtalent, anderen ihren Willen aufzudrängen. Eigentlich war ich davon ausgegangen, nach all den Jahren immun geworden zu sein. Ganz offensichtlich täuschte ich mich da gewaltig. Meine Versuche, mich aus dem heutigen Abend herauszureden, scheiterten allesamt kläglich. Sobald sie sich etwas in den Kopf setzte, ließ sie nicht locker. Klar könnte ich mich einfach weigern, aber das war nicht meine Art. Schließlich wurde mir von klein auf eingetrichtert, dass es wichtig sei, Prinzipien zu haben und diesen auch treu zu bleiben. Eine meiner Prinzipien war unter anderem, Versprechen einzuhalten, und ich konnte doch nicht gegen meine eigenen Regeln verstoßen. Lust hin oder her, ich hatte es ihr zugesichert und jetzt musste ich da durch. Sie hing ständig auf solchen Veranstaltungen herum und vermutlich kannte sie das halbe Fest.
Für mich bedeutete das allerdings, unsichtbar in ihrem Schatten zu stehen und freundlich zu lächeln. Ich hoffte nur, dass auch sie sich an ihr Versprechen hielt.
Bea hatte die schlechte Angewohnheit, sich in Gesellschaft zu verändern. Sie war dann nicht mehr das Mädchen, das ich kannte, sondern passte sich ihrem Umfeld an. Sie wurde zu einer dieser nervigen, flippigen und extrem schrillen Partygirls. Da konnte ich regelrecht ausrasten, und um das für den heutigen Abend zu verhindern, war das eine Bedingung bevor ich zustimmte, sie zu begleiten. Diese Seite an ihr würde ich wohl nie verstehen können. Mein ganzes Sein zu verändern und wofür? Den Wünschen und Erwartungen anderer gerecht zu werden, wäre mir zu anstrengend. Trotz meiner unschuldigen Erscheinung war ich vorlaut. Anfänglich war ich zurückhaltend, bei wenigen Personen regelrecht unsicher, aber nach kurzer Zeit schüttelte ich diese Hemmungen ab. Wortgefechten und Auseinandersetzungen ging ich nicht aus dem Weg und gewann sie meistens. Bea legte mir schon nahe, vielleicht etwas an meinem Feingefühl zu arbeiten, aber ich konnte mich schlecht kontrollieren. Mein vorlautes Mundwerk war grundsätzlich schneller als mein Kopf. Allgemein hatte ich massive Probleme damit, meine Meinung für mich zu behalten und alles schönzureden. Das war nicht meine Art. Wenn jemand ein Problem damit hatte, musste er sich schließlich nicht mit mir abgeben, so einfach war das. Doch leider brachten die ganzen Diskussionen nichts außer aufgestaute Wut. Die Menschen waren einfach nicht belehrbar. Ich war da keine Ausnahme. Sobald ich mir meine Meinung gebildet hatte, vertrat ich sie energisch. Aufrichtiges Interesse war ohnehin nur eine hohle Phrase. Im Grunde genommen interessierte es niemanden, wie es einem ging. Die Frage wurde im Laufe der Zeit einfach zu einer Standardfloskel, um den gesellschaftlichen Gepflogenheiten gerecht zu werden. Jeder behauptete, Ehrlichkeit sei wichtig, aber sobald man es dann war, wurden sie wütend und ein Leben lang nachtragend. Letztlich wollte jeder angelogen werden und ich akzeptierte die Tatsache. Jetzt musste ich das Prinzip nur noch umsetzen. Doch konnte man es ihnen verübeln? Jeder war so mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass er keine Zeit hatte, sich noch um die Angelegenheiten anderer zu kümmern.
Erschöpft vom Nichtstun, stand ich mit müden Beinen vom Sofa auf und bewegte mich schleppend Richtung Schlafzimmer. Statt mich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum die Menschheit lieber angelogen werden wollte, musste ich mich jetzt einer viel größeren Herausforderung stellen.
Ich öffnete die Türen meines Kleiderschranks und ließ meinen Blick schweifen. Gab es eine Art Dresscode? Und wenn ja, wie fiel dieser aus? Ich hatte keine Ahnung, doch viel entscheidender war, dass Bea eine bestimmte Erwartungshaltung hatte und wenn ich dieser nicht annähernd nachkam, dürfte ich mir wieder eine Predigt darüber anhören. Schließlich war Mode ihre große Leidenschaft.
Ein tiefer Seufzer der Unentschlossenheit entfuhr mir und ich schielte über meine rechte Schulter, um die Wetterstation auf meinem Nachttisch zu beäugen. Überrascht riss ich meine Augen auf, denn die Außentemperatur stieg seit heute Morgen ordentlich. Zwischenzeitlich zeigte das Thermometer dreiunddreißig Grad an. Erneut wandte ich mich meinen Kleidern zu, griff wahllos hinein und zog ein schlichtes Kleid heraus. Es war figurbetont, burgunderrot, mit Spaghettiträgern und der Ausschnitt schmeichelte meinem Dekolletee. Bisher trug ich es nur einmal und zwar, als mein Dad es mir damals mitbrachte und ich es ihm präsentierte. Für mich war das schon sehr auffällig, dafür aber luftig und dem Anlass entsprechend. Rasch zog ich es mir über den Kopf, tuschte meine Wimpern und trug mir farblosen Gloss auf die Lippen auf. Normalerweise schminkte ich mich nicht, aber würde ich es wagen, völlig auf Make-up zu verzichten, würde Bea mir das nie verzeihen. Sie setzte eindeutig die falschen Prioritäten, dabei meinte sie es keineswegs böse. Mode und ein perfektes Auftreten gehörten zu ihrer Leidenschaft, zu ihrer Persönlichkeit und mir gefiel, was andere mit Make-up zaubern konnten. Ich selbst besaß jedoch kein Talent dafür, deshalb glaubte sie mir damit einen Gefallen zu tun, indem sie diesen Part für mich übernahm.
Anschließend packte ich eine kleine Handtasche mit dem Nötigsten, wie Schlüssel, Geld und meinem Ausweis zusammen. Mir blieb noch ein wenig Zeit, bis ich bei Bea sein musste, aber ich kannte mich: Wenn ich nicht vom Sofa aufgestanden wäre, dann hätte ich das Haus nie rechtzeitig verlassen. Auf dem Weg nach draußen schnappte ich mir eine kleine Flasche Wasser für unterwegs. Motivierter, als ich es von mir erwartete, öffnete ich die Haustür.
Doch kaum setzte ich einen Fuß vor die Tür, traf mich die heiße Luft wie ein Schlag ins Gesicht und ich taumelte einen Schritt rückwärts. »Wow«, murmelte ich überrascht. Nicht die Hitze war das Schlimme, sondern die Luftfeuchtigkeit. Sie war so hoch, dass man das Gefühl hatte, man käme frisch aus der Dusche. In meiner Wohnung herrschte eine angenehme Kühle, und der extreme Temperaturunterschied traf mich unvorbereitet. Binnen von Sekunden legte sich auf meinem Körper eine dünne Schweißschicht und das Atmen fiel mir schwer. Wunderbar, und wir gingen ausgerechnet auf ein Festival, bei dem mehrere hundert Menschen wie die Sardinen auf einen Platz zusammengepfercht waren? Das konnte doch nur schiefgehen.
Mit Sicherheit würden die Sanitäter vor Ort einiges zu tun haben.
Meine schwarze Sonnenbrille schob ich mir mit dem Zeigefinger auf die Nase. Eigentlich war sie im Verhältnis zu meinem Gesicht deutlich zu groß, dennoch passte sie zu mir.
Mit großen Schritten überquerte ich den sauberen Gehweg in Richtung Bea. Durch die erbarmungslose Hitze erschien mir der auch ansonsten so ruhige Ort, noch ausgestorbener als sonst. Lediglich die Eheleute Tanner liefen mir beim Gassigehen mit ihrem Schäferhund über den Weg und wie es sich in einer guten Nachbarschaft gehörte, begrüßten wir uns freundlich. Dann bog ich rechts ab und konnte das Haus von Bea bereits erkennen. Sie wohnte gerade einmal zwei Querstraßen von mir entfernt und obwohl ich erst höchstens fünf Minuten lief, war ich bereits völlig durchgeschwitzt und fühlte mich in meiner eigenen Haut unwohl. Ich öffnete das kleine Gartentor. Das mir nur allzu bekannte quietschende Geräusch hieß mich willkommen. Vier Schritte weiter stand ich schon vor ihrer Tür und klingelte. Während ich wartete, nahm ich den dünnen Stoff meines Kleides zwischen Daumen und Zeigefinger und wedelte mir damit Luft zu. Es half nur bedingt, und kaum hörte ich auf, legte sich das Kleid wie eine zweite Haut um mich. Die Wasserflasche in meiner Hand wurde immer schwerer und der reine Anblick ließ mich danach dürsten, weshalb ich sie in mehreren langen Zügen leertrank. Die Kälte breitete sich in meiner Brust aus und für einen kurzen Augenblick hörte mein Körper auf zu glühen. Schwungvoll wurde plötzlich die Tür aufgerissen und innerlich zuckte ich vor Schreck zusammen. Ohne ein Wort der Begrüßung, musterte Bea mich von unten nach oben kritisch. »Wow Mia, nicht übel. Jetzt darf ich dich noch schminken und mit Accessoires ausstatten und du wirst dich nicht wiedererkennen«, bot sie mir freundlich an, als hätte sie mir eben eine Wahl gelassen. Mit Bestürzung blickte ich an mir hinab. Wie konnte sie noch etwas zu bemängeln finden? Ich achtete doch extra darauf, all ihre Kriterien, die sie an mich stellte, zu erfüllen. Ein schickes Ausgehkleid und Make-up. Schon klar, sie befürchtete mit Sicherheit, dass ich mich auf dem Fest in einer Ecke verkriechen würde und möchte mich mit unnötigem Schmuck und Glitzer stylen, damit mein mageres Selbstbewusstsein gepusht wird. Meine Verunsicherung über mein Outfit drängte ich beiseite. »Das ist für mich schon Stylen auf höchstem Niveau und ich habe sogar meine Wimpern getuscht, meine Lippen geschminkt und das ist dir allen Ernstes nicht genug?«
»Mia, ich sagte doch, dass du super aussiehst. Ich verpasse dir nur den letzten Schliff. Noch etwas Schmuck, Lidschatten und Rouge, dann ist es perfekt.« Verständnislos starrte ich sie an, bis ich meine Stimme zum Protestieren wiederfand. »Nein!«
»Mia, komm schon.«
»Nein.« Ich funkelte sie zornig an und wir standen uns wortlos gegenüber, währenddessen musterte ich sie. Gut im Vergleich zu mir sah Bea umwerfend aus. Als gingen wir zu einer Gala und nicht auf ein einfaches Festival. Sie trug ein hautenges, kurzes schwarzes Kleid, bei dem eine Schulter frei lag. Ihre tiefschwarzen Haare waren perfekt frisiert, sodass ihre Fransen gut zur Geltung kamen. Die Augen schwarz umrandet, kräftig getuschte Wimpern und eine dicke Schicht Lippenstift. Für den Anlass und das Wetter war sie für mein Empfinden zu krass geschminkt, andererseits erwartete ich nichts anderes von ihr. Nichtsdestotrotz war es ganz alleine ihre Sache und deshalb maßte ich mir nicht an, sie deshalb zu kritisieren. Bea besaß schon seit jeher ein Talent, sich selbst in Szene zu setzen. Dabei waren Haare und Make-up ihre Spezialgebiete, und eines Tages wollte sie die Modewelt im Sturm erobern. Daran hatte ich keinerlei Zweifel, schließlich lebte sie für Mode und Perfektion. Keine Ahnung, was ihr Geheimnis war, aber bei den hohen Temperaturen verlief nicht mal ihr Make-up. Anhand ihres Gesichtsausdrucks konnte ich bereits erahnen, dass diese Diskussion noch nicht vorüber war. Ihre Lippen umspielten die Andeutung eines Lächelns.
»Vertrau mir doch, Mia. Wenn ich mit dir fertig bin, bist du ein komplett neuer Mensch.«
»Die Befürchtung habe ich allerdings auch.«
»Stell dich jetzt nicht so an. Du wirst sehen, man fühlt sich einfach unwiderstehlich und es pusht das Selbstbewusstsein enorm«, versuchte sie mir mit eindringlichem Blick einzureden, aber vergebens. Mit verschränkten Armen und ernster Miene hielt ich ihren leicht belustigten Ausdruck stand; machte einen Schritt auf sie zu und mit einem Tonfall, der keinen Raum für Widerspruch bot, sagte ich: »Ich habe dir versprochen, dich zu begleiten, obwohl du ganz genau wusstest, wie wenig Lust ich habe. Und schau mich an!« Mit meinen Händen gestikulierte ich an meinem Körper hoch und runter. »Ich bin schon aus meiner Wohlfühlzone herausgekommen und wenn es dir nicht genügt, dann geh doch alleine.« Bea biss sich auf die Unterlippe und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Tut mir leid.«
»Schon okay.« Resigniert strich ich mir eine lose Strähne hinter mein Ohr. Bea streckte die Zunge raus und fast zeitgleich brachen wir in schallendes Gelächter aus. Sie griff neben sich und ich wusste, dass neben der Haustür eine kleine Kommode mit einer Schale voller Schlüssel stand. Ohne Vorwarnung warf sie mir eine Wasserflasche entgegen. Da sämtliche Aspekte von Sport mir fremd waren, warf ich ihr schreckhaft meine leere Flasche entgegen und versuchte, die neue zu fangen. Sie glitt mir zwischen meinen ohnehin schon feuchten Fingern hindurch und fiel mit einem leisen Plopp auf den Boden. Ein unterdrücktes Kichern erreichte meine Ohren, und auch wenn ich mich dagegen sträubte, so formten auch meine Lippen ein Schmunzeln. Als ich sie aufhob, stürmte sie prompt auf mich zu und signalisierte mir mit wild fuchtelnden Händen, dass es Zeit war aufzubrechen. Sie schubste mich fast schon den schmalen Weg ihres Vorgartens entlang, da sie es kaum noch abwarten konnte. Zu gerne hätte ich dieselbe Energie wie sie aufgebracht. »Juhu und los gehts«, schrie sie fröhlich dem Himmel entgegen, als wir uns in Richtung Bahnhof aufmachten.
Überschwänglich legte sie einen Arm um meine Schultern und quietschte voller Begeisterung. »Ich kann es immer noch kaum glauben, dass du tatsächlich dabei bist! Wir müssen das unbedingt öfter machen.« Als sie sich von mir löste, war ihre Unbeschwertheit verschwunden und leichte Besorgnis spiegelte sich auf ihren Zügen. »Du igelst dich immer ein. Wir sind jung und müssen was erleben, sonst versauern wir noch wie unsere Eltern und das müssen wir mit allen Mitteln verhindern.« Wegen ihrer übertriebenen Dramatik musste ich lächeln, doch ihre Miene blieb ernst und ich stutzte. »Ach übrigens, ich muss dir noch was gestehen«, begann sie zögernd und vorsichtig. Für einen kurzen Moment hielt sie inne und musterte mich eindringlich, ganz so, als würde sie mir Zeit geben, um mich auf das Gespräch vorzubereiten. Ein Moment verstrich und schweigend spazierten wir Seite an Seite die leere Straße hinunter, bis sie die Stille durchbrach. »Ich habe ein paar sehr gute Freunde von mir eingeladen, uns zu begleiten. Du wirst sie mögen, versprochen. Abgesehen davon werden dir ein paar andere soziale Kontakte guttun und deinen Horizont erweitern«, fügte sie kichernd hinzu, um ihre Nachricht abzumildern.
Zugegeben, damit rechnete ich nicht und trotz kurzzeitiger Bedenken störte es mich nicht. Was für ein Unterschied machte es bitte schon, ob uns nun ihre Freunde von Beginn an begleiteten oder beim Fest dazu stießen? So gesehen tat sie mir einen unbeabsichtigten Gefallen. Sie würde so hin und her gerissen sein zwischen ihren ganzen Freunden, dass sie dabei hoffentlich vergaß, mich aus meinem Schneckenhaus zu zerren. Am Bahnhof angekommen, warteten wir in der unbarmherzigen Hitze geduldig auf den Zug. Es war ein einsamer und ziemlich schlichter Bahnhof. Hier gab es nur ein kleines, in die Jahre gekommenes Häuschen zum Unterstellen und einen zerbeulten Mülleimer, also recht funktional.
Bea plapperte unaufhörlich etwas über Jungs und dass ich ganz dringend einen festen Freund bräuchte. Ich tat so, als würde ich ihr zuhören, und balancierte geschickt auf dem kleinen Vorsprung direkt neben den Gleisen entlang. Mir war sehr wohl bewusst, dass sie es nur gut meinte. Aber bei jedem Treffen der letzten drei Monaten fing sie mit diesem leidigen Thema an. Es hing mir schon bis zu den Ohren heraus!
Ihre Philosophie war: »Man müsse halt mehrere Frösche küssen, bis man den Prinzen entdeckt.« Und sie nahm ihre Philosophie ernst. Nein, damit möchte ich jetzt nicht behaupten, dass sie ein Flittchen wäre, nur eben nicht sehr wählerisch. Sie ließ nichts anbrennen und genoss die Aufmerksamkeit der Männer nur zu gerne. Vorausgesetzt natürlich, sie fand sie optisch ansprechend. Bea war ein oberflächlicher Mensch und ihre Männer mussten alle einen gewissen Standard erfüllen. Groß, trainiert, gepflegte Hände und Zähne – und sie mussten das gewisse Etwas besitzen, was immer das auch bedeutete.
Meine Bilanz mit dem anderen Geschlecht sah im Vergleich eher mager aus. Auf die große Liebe wartete ich gar nicht. Um ehrlich zu sein, glaubte ich nicht einmal daran. Das ganze Gerede in den Büchern, Filmen oder von Freundinnen mochte zwar ganz nett als Geschichte dienen, doch geschah sehr sicher nicht in der Realität.
In Hidden Valley gab es nicht viel Auswahl und keiner von ihnen hatte je mein Interesse erweckt. Alle schienen irgendwie gleich zu sein und das sprach mich nicht an. Abgesehen davon verbrachte ich bereits unzählige Abende bei Bea, weil wieder abermals einer ihrer Liebhaber ihr das Herz gebrochen hatte. Alles Scheißkerle. Jeder einzelne von ihnen hätte dankbar sein sollen, eine Frau wie sie zu bekommen. Sie so aufgelöst zu sehen und ihr nicht helfen zu können, außer ihr ein bisschen Trost zu spenden, war schrecklich. Machtlosigkeit hasste ich noch mehr als Dreck unter meinen Fingernägeln. So wollte ich nicht enden, und ich hatte sogar ein bisschen Angst davor.
Aber Bea war nicht dumm. Nachdem ihr das zum dritten Mal passiert war, drehte sie den Spieß ganz einfach um. Aus der Suche nach dem Richtigen wurde sich ausschließlich mit ihnen amüsiert. Keine sehr gesunde Einstellung, jedoch beugte es einem gebrochenen Herz vor. Der bloße Gedanke daran, mich so aufzuführen wie sie, jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Die Gleise vibrierten. Mit einem schrillen Pfeifton kündigte sich der Zug an.
Kaum hatten wir einen Fuß hineingesetzt, stürmte Bea suchend wie ein Raubtier auf der Jagd von einem Wagen in den nächsten. Mit festem Griff um mein Handgelenk zerrte sie mich hinter sich her. Ohne Gegenwehr ließ ich es mir gefallen. Da ich keine Ahnung hatte, wie ihre Freunde aussahen, half ich ihr erst gar nicht. Wir wechselten gerade ins nächste Abteil, da spürte ich unter meinen Füßen, wie der Zug sich langsam in Bewegung setzte. Mit dem Blick nach draußen gerichtet, sah ich, wie der Bahnsteig langsam an uns vorbeizog und der Zug Geschwindigkeit aufnahm. Ich war so auf die Welt da draußen konzentriert, dass ich viel zu spät bemerkte, dass Bea stehen geblieben war. Unelegant knallte ich gegen sie. Aber als wäre nichts geschehen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Neugierig blinzelte ich an ihr vorbei, und drei junge Männer und ein Mädchen saßen auf einem Viererplatz. Alle vier strahlten Bea an, und sie tat dasselbe. Bingo. Und als hätte ich eine Vorahnung, zählte ich gedanklich runter.
Drei, zwei, eins und…
Fast auf die Sekunde genau ging Bea etwas in die Knie, streckte beide Hände von ihrem Körper und ein hohes Kreischen erklang. Es wurde schnell schmerzhaft, und ich kniff die Augen zusammen. Keine zwei Sekunden vergingen, und schon brach sie ihr Versprechen. Dieser Abend würde ein einziger Albtraum werden. Sie breitete die Arme weit aus und wie eine Diva stürmte sie auf ihre Freunde zu. Mit übertriebenen Gesten gab sie jedem ein Küsschen auf die Wange und ich verfolgte das unaufhaltsame Szenario.
Ach, Bea und ihre diversen Persönlichkeiten, dabei hatte sie einen so tollen Charakter und das unnötige Laute und Überdrehte nicht nötig. Nachdem sie alle begrüßt hatte, kehrte sie zurück an meine Seite. Sie fasste mir um den Arm und tat einen Schritt nach vorn, doch ich blieb stehen. Bea schaute mich mahnend an und wagte erneut einen Versuch. Verstohlen schüttelte ich meinen Kopf und dennoch stieß sie mich mit einem festen Ruck vorwärts. Ihre Freunde versuchten nicht einmal, ihre Belustigung zu unterdrücken, und genau solche Situationen waren mir extrem unangenehm, was sie genau wusste. Unsicher trat ich von einem Fuß auf den anderen, und mein Herz hämmerte wie verrückt.
»Das ist Mia«, verkündete sie überschwänglich und widmete sich nun den anderen. »Und das hier sind Paul, Leon, Mic und Katherine«, zählte sie einen Namen nach dem anderen auf und zeigte dabei auf die jeweilige Person. Kaum hatte Bea die Namen ausgesprochen, vergaß ich sie wieder. Alle starrten mich an und ich kam mir vor wie auf dem Silbertablett und fühlte mich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Ironischerweise war es Bea, die mich erlöste. Ihr Drang nach Aufmerksamkeit war in diesem Fall vorteilhaft. Während sämtliche Blicke an Beas Lippen hingen, nutzte ich die Gelegenheit und verkroch mich auf einem Zweisitzer. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich meine heutigen Wegbegleiter. Zuerst war da Paul. Er schien der Alpha der Gruppe zu sein. Wenn Bea nicht sprach, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er war ein großer, schlanker Typ, aber muskulös. Seine schwarzen Haare waren nach oben gestylt, braune, tiefsitzende Augen, schmale Lippen, eine etwas breitere Nase und sonnengebräunte Haut. Er strotzte vor Selbstbewusstsein und so, wie er mit Bea und Katherine sprach, war er ein Frauenheld, wie er im Buche stand. Seine Worte wählte er mit Bedacht. Er schenkte einem genau die angemessene Zeit an Aufmerksamkeit, um weiterhin das Interesse an ihm aufrechtzuerhalten. Hier und dort ein kleines Zwinkern und ein halbes Lächeln, und die Mädchen sowie auch Katherine waren ihm voll und ganz verfallen. Wie hypnotisiert starrte sie ihn an, unfähig etwas anderes zu tun als unaufhörlich zustimmend zu nicken. Ein schick blondierter Bob umrandete ihren hellen Teint, ihre großen runden braunen Augen kamen unter ihrem auffälligen Make-up gut zur Geltung und ihre Lippen waren etwas zu groß für ihr Gesicht.
So wie Bea verstand auch sie etwas von Mode. Mein Blick glitt weiter zu dem, den sie Mic nannten. Ich musste mehrfach blinzeln, denn er war beinahe das Ebenbild von Paul. Schlank, aber leicht muskulös, braune Haare, die ebenfalls nach oben gestylt waren; engstehende blaue Augen, eine Knubbelnase, breite Lippen und seine Bewegungen waren fast identisch. Er stellte das beste Beispiel dar, weshalb ich bisher nicht dem Richtigen begegnet war. Offenbar war er zu unsicher, seine eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln und passte sich seinem Umfeld an. Alle versuchten gleich zu sein, um bloß nicht aus der Reihe zu tanzen, und das war langweilig.
Leon war mir auf Anhieb sympathisch. Er war der Witzbold der Gruppe und nahm nicht alles so ernst, das gefiel mir. Im Gegensatz zu seinen Mitstreitern war er schlaksig und nicht sehr hochgewachsen, dunkle Locken umrahmten sein gebräuntes Gesicht. Seine Augen standen etwas weiter auseinander, um seine gerade Nase hatte er Sommersprossen und schmale Lippen. Seine Stimme war angenehm, aber nicht sehr tief, dafür einprägsam, und ich mochte ihn jetzt schon. Im Prinzip passte jeder einzelne zu Bea und vermutlich waren alle auf ihre eigene Art und Weise ganz nett. Je länger ich die kleine Gruppe, mit der ich den heutigen Abend verbringen würde, beobachtete, desto nervöser wurde ich. Sie gehörten alle zusammen, die fünf waren der engere Kreis, der als geschlossene Gruppe ausging und nun kam ich dazu. Ich fühlte mich wie das fünfte Rad am Wagen, und machen wir uns nichts vor, das war ich auch. Keine Ahnung, was Bea sich von meiner Anwesenheit versprach, aber es schien ihr wichtig zu sein. In meinem Kopf herrschte das reinste Chaos, was den heutigen Abend anging. Um meine Bedenken abzuschalten, ließ ich mich tiefer in den harten Sitz sinken und schloss meine Augen. Das gleichbleibende Pusten der Klimaanlage half mir bei der Ablenkung. Man konnte hören, wie sehr sie gegen die eindringende Hitze ankämpfen musste, aber sie machte ihre Sache gut. Denn im Gegensatz zu draußen war die Luft hier drinnen angenehm kühl, und am liebsten hätte ich den Abend hier verbracht.
Ein langgezogenes Yeah ertönte und schwungvoll setzte ich mich aufrecht hin. Ich wusste sofort, dass der ohrenbetäubende Lärm von Bea und ihren Freunden ausging. Das war der Freudenschrei, weil wir endlich angekommen waren.
Mit einem Seufzen erhob ich mich und eilte mit schnellen Schritten hinterher. Bea ging vorneweg und führte uns direkt zum Fest. Es war zweifellos heiß. Bereits nach wenigen Schritten klebte mein Kleid an mir. Vergeblich versuchte ich, mir mit den Händen Luft zuzuwedeln. Während andere den Sommer am liebsten hatten, war ich ganz klar ein Frühlings- oder Herbstmensch.
Während im Frühling alles zum Leben erwacht und aufblüht, geschieht im Herbst das genaue Gegenteil. In beiden Jahreszeiten leuchtet die Welt in den schönsten Farben und die Temperaturen sind auch viel angenehmer, selbst wenn der Herbst sich generell durchwachsen zeigt. So liebte ich es, auf dem Sofa zu sitzen, ein heißes Getränk in der Hand zu halten und ein gutes Buch zu lesen. Ein wohliges Kribbeln durchzuckte mich, und ich konnte es kaum noch erwarten, bis die Zeit gekommen war. Zurück in der Realität schaute ich mich neugierig um und stellte überrascht fest, dass offenbar ziemlich viele Leute dasselbe vorhatten wie wir. Mit uns mussten an die hundert Personen ausgestiegen sein, wobei Bea und ihre Freunde sich aufgeregt durch die Menschenmasse schlängelten und ihr Tempo beschleunigten. Mir war es egal, langsam den Anschluss zu ihnen zu verlieren. Ich kannte den Weg und schlenderte gemütlich etwas abseits hinter ihnen her.
Mit gesenktem Blick folgte ich ihnen eine Weile, und dann näherte sich mir plötzlich eine Silhouette. Seit wir aus dem Zug gestiegen waren, strebten alle nur ein Ziel an: das Fest. Und genau dieses lag in der entgegengesetzten Richtung. Mit den Augen folgte ich dem Schatten, der sich mir näherte. An den Sportschuhen angelangt, wanderte mein Blick weiter nach oben und mit Erstaunen stellte ich fest, dass es ausgerechnet Paul war. Mit einem breiten, charmanten Grinsen kam er auf mich zu.
»Na du«, sagte er fast schon schnurrend und für einen Moment war ich sprachlos. Wieso kam er ausgerechnet zu mir und trennte sich von den anderen? Seine Tonlage verhieß nichts Gutes, und ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Die Sekunden verstrichen, und mir musste schleunigst eine Antwort einfallen, sonst denkt er womöglich noch, ich wäre von ihm eingeschüchtert. Meine Wangen wurden ganz heiß und die Röte stieg mir ins Gesicht.
»Ähm«, flüsterte ich verunsichert, da ich einfach nicht wusste, was ich jetzt antworten sollte, und biss meine Zähne fest aufeinander. Erwartungsvoll starrte er mich an und wartete darauf, dass ich endlich etwas auf seine Bemerkung antworte. Selbst wenn es nicht sehr originell war, wiederholte ich ihn. »Na du.«
Er biss sich auf die Unterlippe und ganz langsam ließ er seinen Blick über mich gleiten. Ein Schauer des Unbehagens lief mir über den Rücken, und ich schlang schützend die Arme um meinen Körper. Meine Erfahrungen mit Männern mochten zwar mangelhaft sein, aber selbst ich konnte diese schäbige Avance deuten. Ich verstand es jedoch nicht! Unmittelbar in seiner Nähe befanden sich zwei unfassbar schöne Frauen, und eine von ihnen machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn wollte. Im Vergleich zu denen war ich ein Nichts! Unsichtbar, langweilig und eher ein Schatten von Bea, weil sie mich unbedingt mitschleppen musste.
Paul war nur noch zwei Schritte von mir entfernt und auch wenn ich äußerlich entspannt wirkte, so suchte ich panisch nach einem Ausweg. Ich wollte nicht mit ihm alleine sein. Was hatten wir schon für Gesprächsthemen? Doch bevor er sich mir direkt gegenüberstellen konnte, crashte Bea die peinliche Situation und stellte sich direkt zwischen uns. Paul wich erschrocken einen Schritt zurück und erhob beide Hände.
»Wow Bea, ich wollte nur deiner Freundin Gesellschaft leisten. Ganz easy.«
»Zu freundlich, Paul, danke, und du darfst sofort zurück zu ihr. Aber ich müsste ganz kurz was unter Frauen besprechen. Das verstehst du doch sicher, oder?«, flötete sie zuckersüß und lächelte ihn mit einem so breiten Grinsen an, dass man ihre perfekt weißen Zähne aufblitzen sah. »Ganz wie ihr wollt, Ladys.«
Bea starrte ihm so lange nach, bis er außer Hörweite war. Dann packte sie mich mit beiden Händen ganz fest an meinen Schultern, ihr Blick durchbohrte meinen und ihre Stimme klang ernst: »Mia, hör mir jetzt ganz genau zu, denn das ist sehr wichtig. Er hat dich auserwählt, dich!«
»Ist das was Gutes?«, fragte ich ungläubig, da die Worte, die sie aussprach, von Wichtigkeit zu sein schienen.
»O mein Gott, ja«, presste sie mit unterdrückter Freude hervor. »Jetzt pass mal auf und lass dir von einem Profi wie mir sagen, das ist eine Ehre! Ich weiß, er ist der typische Frauenheld und du verachtest so etwas aus tiefster Seele, aber du hast mal dringend ein bisschen Spaß nötig. Also los, genieße es!«
Ihre übertriebene Euphorie konnte ich absolut nicht teilen und öffnete den Mund, um zu protestieren. Aber als hätte sie es geahnt, presste sie ihre Hand auf meine Lippen. »Sieh ihn einfach als eine Möglichkeit an, Erfahrungen mit Kerlen zu sammeln. Und du hast es bitter nötig, glaub mir. Es gibt nichts Schöneres für das eigene Ego, als mit Komplimenten überhäuft zu werden und die volle Aufmerksamkeit von so einem heißen Typen zu bekommen«, erklärte sie mir mit ernster und strenger Miene, während sie immer wieder mit funkelnden Augen zu ihm herüberschielte.
Seufzend schlug ich ihre Hand beiseite und wendete verunsichert den Blick ab. »Im Ernst, Mia, wie lange ist deine letzte Beziehung her?« Ihre Worte klangen besorgt, und ich widmete mich wieder ihr und zuckte bloß mit den Schultern, als würde ich die Antwort nicht kennen. »Ein Jahr?«, fragte sie mich, doch es war mehr eine Feststellung. »Das ist nicht gesund, so lange Single zu sein.« Schlagartig fühlte ich mich grundlos schlecht. Bea redete mir in Bezug auf mein Liebesleben ein schlechtes Gefühl ein, nur damit ich ihrem auserwählten Typen eine Chance gebe? Ich hasste das und ich wollte mich nicht zu etwas zwingen lassen, das sich nicht richtig anfühlte. Verärgert über den emotionalen Druck, den sie ungerechtfertigt auf mich ausübte, riss meine Geduld und die Worte flossen ungefiltert aus mir heraus: »Und das ist ganz alleine deine Meinung! Wenn er dir so gut gefällt, dann tu dir keinen Zwang an und nimm ihn. Er ist ohnehin mehr dein Typ.« Von meinen Worten unbeeindruckt zwinkerte sie mir einfach zu. »Er hat aber dich auserwählt, also nimm das Kompliment an und sei stolz darauf. Abgesehen davon überlasse ich dir heute den Vortritt.«
»Er hat mich also auserwählt? Was für eine Ehre!«, konterte ich sarkastisch, woraufhin sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass er nicht mein Typ ist.«
»Dann schau, dass er zumindest heute zu deinem Typ wird.« Erwartungsvoll starrte sie mir in die Augen, und ich haderte mit meiner Entscheidung. Schließlich wollte ich nicht mit jemandem meine Zeit verbringen, von dem ich mir absolut sicher war, dass ich nichts von besagter Person wollen würde. Aber Bea war einfach so penetrant.
Ihre Worte über mein nicht vorhandenes Liebesleben schwirrten mir unweigerlich durch den Kopf und auch wenn ich nicht wollte, setzte ich mich mit ihren Bedenken auseinander. War es tatsächlich so ungesund, dass ich nicht nach einer Beziehung lechzte, so wie alle anderen in meinem Alter? Ich konnte nicht anders, als ihre Fürsorge abzuschmettern. Mir ging es doch gut und einfach irgendjemanden zu nehmen, nur damit ich jemanden hatte, hielt ich für ungesund. Wie richtig konnte etwas sein, das ich mir aufdrängen lassen musste? Ich verdrängte die nervige Auseinandersetzung in meinem Inneren und dennoch blieb das nagende Gefühl zurück, ob sie nicht doch recht haben könnte. Unweigerlich musste ich an meine letzte Beziehung denken.
Dass sie ausgerechnet William erwähnen musste.
Mein Gott, war das lange her. Und eigentlich kam die Beziehung nur durch Bea zustande. Wobei … Beziehung würde ich es nicht unbedingt nennen. Eher ein Versuch, aus einer Freundschaft mehr werden zu lassen. Er ging auf dieselbe Schule wie wir, allerdings war er zwei Klassen über uns und gehörte zu den angesagten Sportlern. Einfach ausgedrückt: Er war das absolute Gegenteil von mir. Angeblich war ich ihm aufgefallen und gefiel ihm. Als Bea davon Wind bekam, war sie kaum noch aufzuhalten. Sie verkuppelte uns auf Biegen und Brechen miteinander.
Für meinen ersten Freund hätte es mich deutlich schlechter treffen können. William sah wirklich nicht schlecht aus und entgegen meiner Erwartung, dass alle Sportler arrogant, schwer von Begriff und selbstverliebt seien, war er höflich, freundlich, hatte etwas im Kopf. Da dachte ich mir, dass er eine Chance verdiente. Immerhin hatten alle in meinem Jahrgang bereits ihren ersten oder sogar schon dritten Freund, nur ich eben nicht.
Zu Anfang versuchte ich mir noch einzureden, dass ich, sobald ich ihn erst etwas besser kannte, vielleicht doch noch Gefühle für ihn entwickeln könnte. Doch Fehlanzeige. Es war bedauerlich, weil er zu den Anständigen gehörte. Ihm ging es allerdings wie mir. Bis auf einen emotionslosen Kuss auf einem Schulfest und ein paar gemeinsame Abende im Kino und anschließendem Essen gehen, war nie mehr zwischen uns gelaufen. Unsere Unterschiede waren zu enorm, als dass mehr aus uns hätte werden können. Wir suchten immer Aktivitäten, bei denen wir uns so wenig wie möglich unterhalten mussten, und letztlich ging jeder ganz schnell wieder seinen eigenen Weg.
Da wurde mir zum ersten Mal klar, wie wichtig Gemeinsamkeiten oder Unterhaltungen in einer Beziehung sind. Das Thema ist oft nicht relevant, wichtig ist lediglich gesunde Diskussionen führen zu können. Nach diesem Erlebnis schwor ich mir, mir selbst treu zu bleiben und wenn ich keine Gefühle für jemanden hatte, sollte es einfach nicht sein. Eines Tages würde ich dem Richtigen schon begegnen.
Ich hatte es satt, mich ständig zu rechtfertigen, also warum nur war es ihr so wichtig? Ich funkelte sie böse an, und ich war es auch, die das Schweigen brach.
»Es tut mir leid, dass ich den Männern gegenüber nicht so offen bin wie du. Aber im Gegensatz zu dir hängt mein Selbstwertgefühl nicht von den Avancen der Männer ab.« Als die Worte aus mir heraussprudelten, bereute ich sie in derselben Sekunde und biss mir verlegen auf die Lippen.
Verdammt! Ich wollte zwar, dass sie mich endlich in Ruhe lässt, so harsch wollte ich trotzdem nicht sein. Bea versuchte, es zu überspielen, doch ich sah in ihren Augen, wie sehr sie meine Worte verletzten. »Bea …«, begann ich zögernd, unwissend, wie ich meine unangebrachten Worte entschuldigen könnte. Sie erhob eine Hand, um mich zu stoppen.
»Ist schon okay. Ganz offensichtlich hast du vergessen, wie der höfliche Umgang mit deinen Mitmenschen abläuft. Ich lasse es dir nochmal durchgehen«, erwiderte sie augenzwinkernd und fuhr fort. »Aber um Himmels Willen, Mia, versuch nicht immer alles so ernst zu nehmen und hab mal ein bisschen Spaß im Leben. Sei einfach mal spontan, das würde dir wirklich guttun.« Dann kehrte sie mir mit einem schelmischen Grinsen den Rücken zu und ließ mich stehen. So unerwartet, wie diese Unterhaltung begann, endete sie auch. Sie hatte es sich zwar nicht anmerken lassen, jedoch konnte ich in ihren Augen sehen, wie sehr sie meine Worte trafen und ich fühlte mich deswegen schlecht. Reumütig blickte ich ihr nach, wie sie mit ihren schwarzen Pumps elegant wie eine Gazelle über den Asphalt zu ihren Freunden lief. Wir waren uns nicht immer einig, aber in einer Sache musste ich ihr Recht geben: Mein Leben und ich sind wirklich sehr langweilig. Und ein bisschen Spaß würde mir tatsächlich guttun. Weshalb ich dafür unbedingt einen Mann an meiner Seite brauchte und dann ausgerechnet noch so einen wie Paul, verstand ich absolut nicht. Nun, obwohl ich mich mit Folgendem selbst verriet, nahm ich mir bereitwillig vor, ihn kennenzulernen. Selbst wenn ich es nur tat, um Bea glücklich zu machen. Ein bisschen Smalltalk, ein gemeinsamer Drink, was war daran verwerflich? Womöglich ist er ganz interessant und wir finden einige Gemeinsamkeiten, redete ich mir erfolglos ein, und kaum war Bea bei ihnen angekommen, machte er auf dem Absatz kehrt und kam zurück. Mit meinen Fingern glätte ich meine Haare, die in einem hohen Dutt nach oben gestylt waren, nahm eine aufrechtere Haltung ein und schenkte ihm ein aufgesetztes Lächeln. Zwei Schritte von mir entfernt blieb er plötzlich stehen und riss seine Augen weit auf, als hätte er soeben etwas gesehen, das unmöglich wahr sein konnte. Augenblicklich verkrampfte ich innerlich. Mir war nicht klar, was ich falsch gemacht haben sollte. Äußerlich schien ich vollkommen unbeirrt zu sein, holte ihn in der nächsten Sekunde ein und er gesellte sich zu meiner Rechten. Den Blick hielt er weiterhin starr auf mich gerichtet. Irritiert schielte ich zu ihm rüber.
»Was?«, platzte es verlegen aus mir heraus. Diese Art von Aufmerksamkeit war mir unangenehm.
»Nichts. Ich habe dich bisher nur noch nie lächeln gesehen. Steht dir sehr gut.« Ich war entrüstet, schluckte den dicken Kloß aber herunter und tarnte dies mit einer fröhlichen Miene.
Autsch! Der hatte gesessen.
War ich in den letzten Stunden ernsthaft so griesgrämig rübergekommen? Normalerweise war ich ein fröhlicher Mensch. Verrückt, offensichtlich hatte Bea recht. Ich hatte ein heftiges Defizit, was den Umgang mit meinen Mitmenschen anging, und sollte schleunigst etwas an meiner negativen Einstellung arbeiten. Jedoch rührte meine miese Stimmung nur daher, dass ich keine Lust auf den heutigen Abend verspürte. Einen Augenblick hielt ich inne, atmete die unerträglich warme Luft so tief wie möglich ein und stieß sie ganz langsam wieder aus, so als könnte ich dadurch alles Negative vertreiben. Immerhin war ich jetzt nun einmal hier und sollte den Abend nicht als eine Last, sondern als etwas Neues und Positives anerkennen. Heute wollte ich offen, fröhlich, charmant und witzig sein.
Paul spazierte neben mir her und verringerte Stück für Stück unseren Abstand, so dass ich seinen Schweiß gemischt mit seinem leicht aufdringlichen Parfüm riechen konnte.
»Also Mia, wir haben noch ein ganzes Stück vor uns. Wie wärs, wenn wir die Zeit sinnvoll nutzen, um uns besser kennenzulernen?«
»Sicher.«
»Sehr gut, dann fang doch mal an, mir etwas über dich zu erzählen.« Ich hatte keine sehr große Lust, über mich zu sprechen, und außerdem war es ihm doch völlig gleichgültig. Falsches Interesse vorzuheucheln, gehörte wohl zu seiner Masche, um seine Chancen zu erhöhen, deshalb drehte ich den Spieß einfach um. Meine Sonnenbrille schob ich hoch auf meinem Kopf. Unweigerlich schmerzte das grelle Licht der untergehenden Sonne in den Augen, und ich kniff sie zusammen, um ihn besser sehen zu können. Mit hauchzarter Stimme sagte ich: »Mich würde vielmehr etwas von dir interessieren. Bei deinen Oberarmen scheinst du zu trainieren.« Ich heuchelte falsches Interesse vor und hoffte, dass ich nicht zu dick aufgetragen hatte. Auf seinen Lippen bildete sich ein breites Lächeln und voller Stolz spannte er seinen Oberarm an, denselben Arm legte er anschließend um meine Schultern, und ich kämpfte gegen den Drang an, mich zu schütteln. Wie konnte man bei diesem Wetter Körperkontakt suchen? Es war nicht sehr angenehm und ich hatte das ungute Gefühl, als würde ich an ihm kleben. Aber das gehörte wahrscheinlich genauso dazu, wie der unaufhörliche Smalltalk.
Während er sprach, schielte ich vorsichtig zu Katherine, die mir leidtat. Auch sie behielt uns im Auge und anhand ihrer Blicke konnte ich erahnen, dass wir bestimmt keine Freundinnen werden würden. Sie hätte die Auserwählte sein sollen, nicht ich.
Paul redete ausgesprochen gern über sich; von seinen ständigen Besuchen im Fitnessstudio und seinen etlichen Erfolgen beim Schulsport. Er spielte auf irgendeiner Angreiferposition Football. Aber seit er mit dem Forschungsstudium anfing, fand er kaum noch Zeit für seinen Lieblingssport. Meine Aufmerksamkeit schwand mit jedem Schritt, bis ich gar nicht mehr zuhörte. Und dann erreichte uns leise Musik und ein Kribbeln der Aufregung bildete sich in meinem Bauch. Bea, Katherine, Leon und Mic bogen rechts ab und obwohl ich nach wie vor in der Umarmung von Paul gefangen war, beschleunigte ich meine Schritte. Die Nähe zu ihm war mir unangenehm und auf meinem Körper bildete sich bereits eine Schweißschicht, die mich glänzen ließ. Die Musik wurde immer lauter und als wir näherkamen, hießen uns die ersten Stände willkommen. Sofort formten meine Lippen ein zufriedenes Grinsen und meine Neugier, das Fest zu erforschen, stieg. Um keine Szene zu machen, schob ich den Einwand vor, kurz zu Bea zu müssen. Kaum lockerte er seinen Griff, machte ich einen hektischen Schritt nach vorne. Noch während meines raschen Abgangs biss ich mir auf die Unterlippe und konnte mich nur selbst tadeln. So viel zum Thema charmant und liebevoll sein und ihn vorurteilsfrei kennenlernen. Na ja, jetzt konnte ich nur hoffen, dass er mein fluchtartiges Verhalten nicht als solches empfand. Bei Bea angekommen, sagte ich staunend: »Unglaublich, danke fürs Mitschleppen.« Ein schiefes, aber wissendes Lächeln erschien auf ihrem Mund. »Habe ich dir nicht versprochen, dein Leben aufregender zu gestalten? Warte erst mal ab, bis es so richtig losgeht.«
Je weiter wir vorankamen, desto mehr konnte ich das farbenfrohe Ambiente einsaugen. Um ehrlich zu sein, war ich schon etwas überwältigt von dem Anblick. Das City Festival war in vollem Gange, und wie gebannt nahm ich alles um mich herum auf. Unzählige kleine Häuschen aus Holz reihten sich dicht an dicht, dabei erstrahlte jedes einzelne in den buntesten Lichtern und es herrschte hektische Betriebsamkeit. Einzelne Menschengruppen, die sich vor den verschiedenen Essens- und Getränkeständen tummelten, wobei einige von ihnen mitten auf der Straße standen und so ein fließendes Durchkommen der anderen Gäste verhinderten. Wiederum andere tanzten vor einer kleinen Bühne mit Band, die typische Livemusik spielte und für gute Stimmung sorgten. Aus mehr bestand das Fest gar nicht.
Liebend gern wäre ich einmal durchgelaufen, stattdessen hielten wir uns am Rand zwischen einem Süßigkeiten- und einem Getränkestand auf. Von unserem Standpunkt aus wagte ich einen Schritt in die Masse und versuchte, dem wirren Durcheinander zu folgen, aber es war aussichtslos. Sofort wurde ich von Menschen aus entgegengesetzten Richtungen angerempelt. Die Gäste hier nahmen keine Rücksicht und wenn man nicht Acht gab, wurde man eiskalt über den Haufen gerannt, was mich extrem ankotzte. Was stimmte nicht mit denen? Eilig zog ich mich zurück in meine sichere Ecke und beobachtete das rege Treiben, bis meine Sicht durch ein kleines Glas direkt vor meinen Augen getrübt wurde. Ich trat einen Schritt zurück und nahm es neugierig zwischen Daumen und Zeigefinger. Eine glasklare Flüssigkeit war darin enthalten, und ich konnte dem Drang, daran zu riechen, nicht widerstehen. Augenblicklich durchzog ein scharfer und beißender Geruch meine Nase. Angewidert verzog ich das Gesicht.
»Was zum Teufel ist das?«, schrie ich entsetzt auf, aber bis auf schallendes Gelächter kam keine Reaktion. »Probier es aus, dann weißt du es«, riet mir Paul zwinkernd, aber ich starrte ihn irritiert an. »Aber ich kann doch nicht irgendwas trinken, das ich nicht mal kenne, und wie bist du da drangekommen?«, warf ich ein, um Zeit zu schinden. Alle starrten mich bloß verständnislos an und ich kam mir so vor, als hätte ich etwas Falsches gesagt. »Ein Studienkollege, der hier arbeitet, gibt mir die Drinks durch die Hintertür aus«, gestand er mir zwinkernd, und das in einem Land, in dem Alkohol erst ab einundzwanzig erlaubt war. Nur auf solchen Festen wurden gerne mal beide Augen zugedrückt, dabei schob Bea noch nach: »Mia, es ist ganz egal, was das ist. Regel Nummer eins beim Feiern lautet nicht umsonst, dass man niemals, wirklich niemals ohne ein Getränk in der Hand rumstehen darf.«
»Und was ist die zweite Regel?«, fragte ich sarkastisch, aber Katherine und Bea blickten sich grinsend an und wie auf Kommando schrien sie zeitgleich: »Es muss nur ordentlich knallen.« Die restlichen jubelten ihr lauthals zu und dennoch war ich von ihren sogenannten Regeln nicht sehr überzeugt. »Aber…« begann ich stotternd, allerdings unterbrach Bea mich augenblicklich. Sie nahm meine Hand fest in ihre, zog mich näher zu sich heran und starrte mir mit ernster Miene tief in die Augen.