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Stephan Lange hat erst mit 28 Jahren den Glauben für sich entdeckt - und daher viel Sympathie für alle, die diesem Thema eher skeptisch gegenüberstehen. Denn Skepsis ist aus seiner Sicht nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht - ganz im Gegensatz zu halbgaren Gedanken. In seinem Buch liefert er daher gute Gründe, warum es Sinn ergibt, vom Dasein Gottes und der Stimmigkeit des christlichen Glaubens auszugehen. Ein Buch für Glaubenseinsteiger, Skeptiker und alle, die ihnen gut durchdachte Antworten geben möchten. Bereits die ersten Auflagen erreichten eine rege Fan-Gemeinde, von der das Buch auch gerne weitergegeben und verschenkt wird. Für diese Neuausgabe hat Stephan Lange jetzt gemeinsam mit Co-Autor Colin Barke alle Kapitel gründlich überarbeitet, aktualisiert und stark erweitert, sodass die Argumentation auf dem aktuellen Stand des Diskurses ist. Mit Antworten auf klassische Einwände und zu Fragen wie: Hat die Wissenschaft Gott nicht begraben? Warum gibt es nur Gründe und keine Beweise? Wie passen Gott und Leid zusammen? Haben nicht alle Religionen irgendwie recht? Was weiß man historisch über Jesus? Und was bringt es mir Christ zu sein?
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Seitenzahl: 263
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Stephan Lange & Colin Barke
Begründet glauben
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal
Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim
Verwendete Schriften: Adobe Garamond, Fira
eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG
ISBN 978-3-7615-7021-0 (Print)
ISBN 978-3-7615-7022-7 (E-Book)
www.neukirchener-verlage.de
Vorwort
Als Professor für Mathematik und Biologie an der Harvard University habe ich mein akademisches Wirken dem Verständnis der komplexen Mechanismen gewidmet, die dem Leben zugrunde liegen. Die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Mathematik, Biologie und Evolution hat mir eine tiefe Wertschätzung für die vielschichtigen Systeme verliehen, die nicht nur die Natur, sondern auch menschliche Überzeugungen und Kulturen prägen. Es ist diese Faszination für die tieferen Fragen unserer Existenz, die mich dazu bewegt haben, die neu überarbeitete Auflage von Begründet glauben. Denkangebote für Skeptiker und Glaubende zu empfehlen.
Die Kapitel, die Sie gleich entdecken werden, laden auf eine intellektuelle Reise ein, die weit über die Grenzen konventioneller Wissenschaft hinausgeht. Sie konfrontieren uns mit grundlegenden Fragen, die seit Jahrhunderten Philosophen, Theologen und Wissenschaftler beschäftigen: Was ist der Ursprung unserer Existenz? Warum gibt es uns? Wie passen wissenschaftliche Erkenntnisse und theistische Überzeugungen zusammen?
Indem es klassische Einwände gegen den Glauben aufgreift und entkräftet, bietet dieses Buch eine einzigartige Perspektive, die sowohl Skeptiker als auch Gläubige anspricht. Es lädt dazu ein, vorgefasste Meinungen zu hinterfragen und sich auf eine ehrliche Suche nach der Wahrheit einzulassen. Die Kapitel über die Gründe des Theismus, die beeindruckende historische Begutachtung der ermittelbaren Daten zur Auferstehung Jesu und die Auseinandersetzung mit dem Thema des Leids bieten eine fundierte und dennoch zugängliche Analyse, die Skeptikern einen ernstzunehmenden Anlass bieten, die eigene Weltsicht zu überdenken.
Dieses Buch ist mehr als eine Sammlung von Argumenten für oder gegen eine bestimmte Weltanschauung: Es ist eine Einladung, sich mit den tiefsten Fragen unserer Existenz auseinanderzusetzen und bietet dabei wissenschaftlich fundierte Einsichten sowie persönliche Geschichten, die berühren und inspirieren. Durch die Kombination aus rigoroser wissenschaftlicher Analyse und tiefem menschlichen Einblick schafft es eine Brücke zwischen Glauben und Wissen, zwischen Herz und Verstand.
Ich empfehle dieses Buch allen, die bereit sind, ihre eigene Weltanschauung zu hinterfragen, und die eine tiefere, bereichernde Verbindung zwischen Wissenschaft, Glaube und der menschlichen Erfahrung suchen. Freuen Sie sich, mit beiden Autoren auf eine faszinierende Reise zu gehen.
Martin A. Nowak, Professor für Mathematik und Biologie, Harvard University
Einleitung
„Ich würde nie für meine Überzeugungen sterben. Ich könnte mich irren.“
Bertrand Russel, britischer Philosoph und Atheist
Ich mag skeptische Menschen und halte weiterhin nichts von halbgaren Antworten. An dieser Haltung hat sich auch sieben Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches nichts geändert. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass der christliche Glaube kein naiver Blindflug ist, sondern ein begründetes Vertrauen – und guter Hoffnung, dass meine Begründung dafür reifer geworden ist. Geholfen hat mir dabei vor allem der Austausch mit hartnäckigen Kritikern, die mich dankbarerweise angetrieben haben, die klassischen Antworten, die wir Gläubigen manchmal anbieten, weiterzudenken.
Die neuen Gedanken, die in die überarbeitete und erweiterte Version dieses Buches eingeflossen sind, entspringen aber nicht alle meinem eigenen Nachdenken. So klug bin ich nicht. Im Podcast Glaube ist frag-würdig, den ich mit meinem geschätzten Freund Colin Barke im Frühjahr 2023 startete, hatte ich die Möglichkeit, mit Christen wie John Lennox (University of Oxford), Dale Allison (Princeton University), Martin Nowak (Harvard University), Ian Hutchinson (Massachusetts Institute of Technology), Alfred Krabbe (Deutsches SOFIA Institut) oder Heino Falcke (Radboud University) sprechen zu können. Auch von ihnen nehme ich viele wertvolle Gedanken mit.
Da Colins einziger Makel darin besteht, Fan des FC Bayern zu sein,1 er ansonsten aber ein großartiger Denker ist, fiel es mir nicht schwer, ihn auch für das Überarbeiten von Begründet glauben anzufragen. Sein gutes Nach- und Mitdenken hat die Inhalte so bereichert, dass diese erweiterte und überarbeitete Neuauflage auch ihm zu verdanken ist. Dieses Buch ist unser gemeinsames Werk.
Sie brauchen sich aber nach wie vor keine Sorge zu machen. Auch weiterhin wollen wir Ihnen keine Gedanken andrehen wie: „Schauen Sie sich die Natur an, dahinter muss ein Schöpfer stecken!“ Oder: „Der christliche Glaube hält so viel Gutes bereit, wie könnte er falsch sein?“ So einfach ist es eben nicht. Und nach wie vor halten Sie kein Buch in den Händen, das skeptische Menschen überzeugen kann, Christin oder Christ zu werden. Weder Menschen noch Menschenwerk schaffen das. Das kann – wenn es ihn denn gibt – nur Gott allein. Das Anliegen dieses Buches ist es daher „nur“, Ihnen gute Gründe zu liefern, dem Gott, der sich uns in Jesus zeigt, eine echte Chance zu geben.
Wir wissen auch, dass ehrliches Engagement nicht vor Fehlern schützt. Lesen Sie unsere Ausführungen daher gerne mit einer kritischen Brille. Skepsis ist nicht nur richtig und wichtig, sondern sogar erlaubt und erwünscht – gerade bei so einem spannenden Thema wie „Gott und Glaube“. Bleiben Sie aber nicht nur kritisch, sondern auch mit Christinnen und Christen Ihres Vertrauens über Ihre Fragen im Gespräch. Falls wir das sein sollten, erreichen Sie uns über WhatsApp (0157 5424 1278) oder E-Mail: glaube[email protected]
Auch wenn wir gemeinsam an diesem Buch gefeilt und unsere Gedanken vereint haben, möchten wir im Weiteren trotzdem das „Ich“ verwenden. Dies entspringt nicht nur der Tatsache, dass unser Blick auf die Themen dieses Buches ohnehin nahezu identisch ist – ein Unterschied wäre kaum zu erkennen –, sondern auch dem Wunsch, eine persönlichere Ansprache zu Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, zu haben. Die „Wir-Form“ – so schön sie das gemeinsame Werk unterstreicht – fühlt sich für uns doch etwas zu distanziert an.
Wir hoffen, Sie finden in dieser persönlichen Erzählweise einen angenehmen Wegbegleiter durch die Seiten dieses Buches und freuen uns darauf, Sie auf diese hoffentlich gewinnbringenden Reise mitzunehmen, in der wir von Sozialpsychologie über Philosophie und Astrophysik bis hin zur Geschichtswissenschaft viele spannende Themen streifen. Viel Spaß beim Lesen.
Bielefeld, im Frühjahr 2024
Stephan Lange & Colin Barke
1 Was er über mich als Schalke-Fan natürlich genauso sagen würde.
Kapitel 1:
Für wen dieses Buch nichts ist
Fangen wir einmal groß an. In seinem Buch Kritik der praktischen Vernunft schreibt Immanuel Kant: „Ich will, daß ein Gott […] sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen.“2 In leicht anderen Worten gesagt: „Ich will, dass Gott existiert.“
„Kein Wunder“, sagen nun manche. „Wer will, dass es Gott gibt, der hat sich schon entschieden, dass er ihn auch finden wird – unabhängig davon, ob er tatsächlich existiert. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Unsere Hoffnungen spiegeln nicht immer die Wirklichkeit wider.“ Vielleicht beruhigt es Sie zu hören, dass ich dieser Skepsis vollkommen zustimme.
Genauso kritisch bin ich, wenn Atheistinnen und Atheisten so reden. Deshalb gleich noch ein zweites Zitat. Es stammt von Thomas Nagel, Professor für Philosophie und Recht an der prestigereichen New York University School of Law und wahrscheinlich einer der klügsten Denker unserer Zeit, der in seinem Buch Das letzte Wort schreibt:
„Ich will, dass der Atheismus wahr ist, und es bereitet mir Unbehagen, dass einige der intelligentesten und am besten unterrichteten Menschen, die ich kenne, im religiösen Sinne gläubig sind. Es ist nicht nur so, dass ich nicht an Gott glaube und natürlich hoffe, mit meiner Ansicht Recht zu behalten, sondern eigentlich geht es um meine Hoffnung, es möge keinen Gott geben! Ich will, dass es keinen Gott gibt; ich will nicht, dass das Universum so beschaffen ist.“3
Für Nagel wäre dieses Buch vielleicht nichts. Nicht, weil er seinen Inhalt nicht verstehen würde. Natürlich würde er das. Sondern weil er seine Stoßrichtung – so lassen mich seine Worte zumindest vermuten – nicht verstehen will. Denn wer will, dass der Atheismus wahr ist, der lässt sich meiner Erfahrung nach auch nicht mehr davon abbringen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich behaupte nicht, dass Atheistinnen und Atheisten generell distanziert gegenüber dem Thema „Gott und Glaube“ sind, weil sie Gott nicht wollen. Dafür kenne ich viel zu viele positive Gegenbeispiele, deren Skepsis sich aus wohlüberlegten und berechtigten Fragen ergibt. Gerade für sie, die an einem echten Dialog interessiert sind und nicht die sture Verteidigung ihres Standpunkts zum Ziel haben, habe ich höchste Sympathie.
Aber ich kenne eben auch die anderen, mit denen es nicht so leicht ist. Und im Dialog mit ihnen merke ich immer wieder, dass das erste – und eigentliche – Hindernis nicht auf der Sachebene liegt, sondern psychologischer Natur ist. Anders formuliert: Man merkt recht schnell, ob es jemandem um den Inhaltder Sache oder um die Einstellung zurSache geht. Carol Travis und Elliot Aronson, zwei angesehene Größen aus dem Bereich der Sozialpsychologie, schreiben in ihrem großartigen Buch Mistakes Were Made (But Not by Me) dazu:
„Wenn eine neue Information mit unseren Überzeugungen übereinstimmt, halten wir sie für fundiert und nützlich: ‚Das habe ich doch schon immer gesagt!‘ Wenn die neuen Informationen jedoch nicht übereinstimmen, halten wir sie für voreingenommen oder töricht: ‚Was für ein dummes Argument!‘ Das Bedürfnis nach Übereinstimmung ist so stark, dass Menschen, die gezwungen sind, sich mit widersprüchlichen Argumenten auseinanderzusetzen, einen Weg finden, diese zu kritisieren, zu verzerren oder zu verwerfen, um ihre bestehende Überzeugung aufrechtzuerhalten oder sogar zu stärken. Diese mentale Verzerrung wird als ‚Bestätigungsvoreingenommenheit‘ [confirmation bias] bezeichnet.“4
Auch neurologische Studien verdeutlichen, wie herausfordernd es für uns sein kann, einmal etablierte Meinungen zu ändern. Der Psychologe Drew Westen und seine Kollegen von der Emory University stellten fest, dass bei der Konfrontation mit Informationen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen, die für Logik zuständigen Bereiche des Gehirns nahezu inaktiv werden. Gleichzeitig aktivieren sich die emotionalen Bereiche des Gehirns verstärkt, sobald die Harmonie zwischen Information und persönlicher Überzeugung wiederhergestellt ist.5
Und selbst wenn man Informationen liest, die dem eigenen Standpunkt widersprechen, kann man umso überzeugter sein, dass man im Recht ist. Ein klassisches Beispiel aus der Forschung hierfür ist die Arbeit von Lord, Ross und Lepper, die in ihrem berühmten Experiment Biased Assimilation and Attitude Polarization Personen auswählten, die die Todesstrafe entweder befürworteten oder sie ablehnten. Man bat beide Gruppen nun, zwei wissenschaftliche, gut dokumentierte Artikel zur Frage zu lesen, ob die Todesstrafe von Gewaltverbrechen abhält. Der eine Artikel kam zu dem Schluss, dass dies der Fall ist, der andere nicht.
Hätten die Personen die Informationen rein rational verarbeitet, hätten sie gemerkt, dass das Thema komplexer ist, als sie bisher dachten, und sich in ihren Ansichten wahrscheinlich angenähert. Die sogenannte Dissonanztheorie, ein etabliertes Konzept in der Sozialpsychologie, sagt aber voraus, dass wir – wenn wir es denn wollen – immer einen Weg sehen, anders gerichtete Argumente zu verzerren.
Demnach würden die Personen Gründe finden, den Artikel, der ihre Sichtweise bestätigt, als hervorragend zu preisen. Und den Artikel, der gegen ihre Überzeugung ist, überkritisch zu betrachten. Sie würden darin selbst kleinste Fehler finden und sie als wesentliche Gründe anführen, warum man sich von ihnen nicht beeinflussen lassen sollte. Und genau so kam es. Nicht nur, dass jede Seite versuchte, die Argumente der anderen abzuwerten – jede Seite wurde sogar noch engagierter für ihre Sicht der Dinge.6 Travis und Aronson meinen hierzu:
„Wenn wir erst einmal in eine Überzeugung investiert und ihre Weisheit begründet haben, ist es buchstäblich harte Arbeit, unsere Meinung zu ändern. Es ist viel einfacher, die neuen Beweise in einen bestehenden Rahmen einzupassen und sich mental zu rechtfertigen, damit sie dort bleiben, als den Rahmen zu ändern. Der Confirmation Bias sorgt sogar dafür, dass keine Beweise bzw. das Fehlen von Beweisen Beweise für das sind, was wir glauben.“7
So ist auch meine Erfahrung. Menschen haben meist so viel Zeit und Engagement in ihre Überzeugungen investiert, dass dazu eine enorme emotionale Verbindung entstanden ist. Die Folge: Es ist gar nicht mehr so einfach, die jeweilige Überzeugung aufzugeben. Das sehen wir z. B. bei Klimaschutz-, Ernährungs- und Politikdebatten – und eben auch bei Weltanschauungsdebatten. Alles, was die eigene Sichtweise stützt, wird zutiefst gelobt; und alles, was ihr widerspricht, rigoros abgelehnt. Das ist natürlich Gift im Prozess der Wahrheitsfindung. Erstaunlich ist all das nicht, wie die Soziologin Sandra Walzenbach (Universität Konstanz) feststellt:
„Die Forschung zeigt, dass es [das Problem des Confirmation Bias] ein recht hartnäckiges Phänomen ist. Es kann schwierig sein, etwas zu ändern, selbst wenn Menschen wissen, dass sie gefährdet sind, dem ‚confirmation bias‘ aufzusitzen. Menschen haben auch einfach gern recht. Manchmal muss man sich aber eingestehen, dass man falsch liegt oder etwas nicht weiß. Auch dass man dazulernt und seine Meinung ändert, ist nicht verwerflich.“8
Diese Erkenntnis sollten sich einmal Christinnen und Christen zu Herzen nehmen, aber natürlich auch alle anderen: Das Problem der Bestätigungsvoreingenommenheit ist schließlich kein weltanschauliches, sondern ein zutiefst menschliches. Und tückisch ist es obendrein, denn oft fühlen wir uns sehr gut in unserem Denken. Das Problem ist nur, dass wir uns viel zu oft zuerst für eine bestimmte Position entscheiden – häufig für die, die uns unsere Prägung und unser Wunsch nach Anerkennung nahelegen – und erst dann Ausschau nach Argumenten für diese Position halten. In den Worten des berühmten Sozialpsychologen Jonathan Haidt: „Die Intuition steht an erster Stelle, das strategische Denken an zweiter.“9
Meistens fällt uns das gar nicht auf, weil wir uns eh gerne mit Leuten umgeben, die so denken wie wir. Das führt unerfreulicherweise immer wieder zur Tendenz, dass wir „die Guten“ und Fremdgruppen „die Falschdenker“ sind: Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass die Menschen ihre eigenen Wahrnehmungen als Resultat unvoreingenommenen Nachdenkens betrachten, während sie denen, die anderer Meinung sind, Voreingenommenheit unterstellen. Aufgrund dieser psychologischen Tendenz tun wir anderslautende Überzeugungen gerne als das Ergebnis von Voreingenommenheit oder Unwissenheit ab, anstatt sie als Chance zu begreifen, neue Informationen zu erhalten, Überzeugungen zu aktualisieren und neue Informationen zu lernen.10
Durch den Prozess der Gruppenpolarisation, der auftritt, wenn wir in unserer Gruppe Argumente austauschen, wird unsere ursprüngliche Denkweise noch zusätzlich verstärkt.11 Und fehlt es uns selbst einmal an Erklärungen, gibt es bei Bedarf immer irgendwen, bei dem wir uns ausgefeiltere Argumente holen können. Ob diese „Experten“ vielleicht den gleichen zweifelhaften Weg beschritten haben, bei dem es zuerst zur Entscheidung für eine Position und erst danach zu deren Rationalisierung kam, wird oft nicht mehr gefragt. Auch diese analoge Filterblase blockiert Wahrheitsfindung.
Dass sich unsere Entscheidungsfähigkeit oft als weniger rational entpuppt, als wir meinen, liegt aber nicht am Confirmation Bias, sondern auch am sogenannten Dunning-Kruger-Effekt. Er geht auf die Psychologen David Dunning und Justin Kruger zurück, die zeigen, dass wir dann, wenn wir bereits etwas Wissen über einen bestimmten Bereich haben, schnell zur Überzeugung tendieren, wir wüssten vieles, wenn nicht sogar alles über dieses Gebiet.12
Das Dilemma: Wir formulieren – ohne dass es uns bewusst ist und geleitet vom Stückwerk unseres Wissens – fehlerhafte Schlussfolgerungen, die wir aber überaus selbstsicher und selbstbewusst vertreten.13Denn um zu bemerken, dass wir etwas nicht wissen, müssten wir zunächst genug darüber wissen, um unsere eigene Unwissenheit zu erkennen. Dieses Paradox führt dazu, dass „Etwas-Wisser“ ihre ausbaufähigen Kenntnisse fälschlicherweise für ausreichend oder sogar überlegen halten, da ihnen die Basis fehlt, um zu verstehen, dass sie irren. Dunning und Kruger schlussfolgern, dass wir so schnell in einen „Teufelskreis der Inkompetenz“ geraten. Wir neigen dazu, unsere Kompetenz zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen und sehen keine Notwendigkeit, uns über mögliche Ungereimtheiten in unseren Überzeugungen Gedanken zu machen.
Dieses Buch dürfte auch nichts für die sein, die sich stark davon leiten lassen, was andere über sie denken. Mir ist natürlich bewusst und ich kenne es persönlich gut, dass der Konformitätsdruck, dem wir oft unterliegen, eine starke Wirkung hat. Für viele ist es alles andere als leicht, sich dem Druck der Anerkennung zu widersetzen. Neulich sprach ich mit einem jungen Mann, nennen wir ihn Elias, dessen Geschichte genau das zeigte. Elias, einst ein überzeugter Atheist, gab offen zu, dass er viele Jahre lang den christlichen Glauben als großen Unsinn abgetan hatte. Im Laufe der Zeit begann er aber aus verschiedenen Gründen, an seiner Überzeugung zu zweifeln. Er erzählte mir von seinem langen inneren Ringen, einem Prozess des Nachdenkens und Reflektierens, der ihn zu der Einsicht führte, dass am christlichen Glauben wirklich etwas dran sein könnte.
Trotz dieser Erkenntnis zögerte Elias monatelang, den entscheidenden Schritt zu wagen. Er fürchtete sich vor allem vor den Reaktionen seines Freundeskreises: „Was, wenn sie herausfinden, dass ich meine Ansichten geändert habe? Was werden sie über mich denken?“, teilte er mir seine Bedenken mit. Diese Angst vor dem Verlust der Anerkennung und davor, wie andere ihn wahrnehmen, lähmte ihn und hielt ihn davon ab, der Spur nachzugehen, die er als richtig erachtet hatte. Die Geschichte von Elias ist ein gutes Beispiel für die Macht des sozialen Drucks und der Furcht vor Ablehnung. Sie zeigt, wie schwer der Konformitätsdruck auf uns liegen kann und uns hindert, gegen die Erwartungen unserer sozialen Kreise zu handeln.
Ich persönlich finde die genannten psychologischen Phänomene sehr spannend – und zugleich alarmierend: Wir sind nicht so rational, wie wir es gerne hätten. Selbstüberwindung und mutige Vorsichtsmaßnahmen sind unvermeidlich. Ein mächtiges Werkzeug zur Selbstreflexion, das ich sehr zu schätzen gelernt habe, ist es, immer wieder den „Devil’s Advocate“ zu spielen – eine Methode, bei der man aktiv gegensätzliche Standpunkte erkundet und vertritt. Stellen Sie sich z. B. vor, Sie müssten eine Debatte aus der Perspektive der Gegenseite führen. Was wären die stärksten Argumente, die Sie bringen würden? Welche Antworten der Position, die Sie eigentlich vertreten, würden Sie als berechtigt und welche als undurchdacht ansehen?
Um hier auf Ideen zu kommen, lesen Sie vor allem hochwertige Literatur der Gegenseite. Die einen z. B. Bertrand Russels Warum ich kein Christ bin und Ansgar Beckermanns Naturalismus. Entwurf eines wissenschaftlich fundierten Welt- und Menschenbilds, die anderen C. S. Lewis’ Pardon, ich bin Christ und John Lennox’ Kosmos ohne Gott? Warum Glaube und Wissenschaft zusammengehören.14 Welche der Argumente, die darin vorgestellt werden, sehen Sie als die stärksten an? Welche würden Sie in besagter Debatte Ihrem Gegenüber vorhalten?
Und wahrscheinlich das Wichtigste: Kommen Sie mit Menschen der anderen Seite ins Gespräch – am besten öfters und langfristig. In der Regel kennen wir immer jemanden, den wir für geeignet halten. Wenn in so einem Dialog die Offenheit für Diskussionen über das Stadium eines Lippenbekenntnisses hinausgeht und nicht zu einem unproduktiven Argumentationstennis ausartet, weil Sie und Ihr Gegenüber bereit sind, Ihre Vorangenommenheit kritisch und ehrlich zu überprüfen, ist viel gewonnen. Wenn dazu noch gegenseitiger Respekt und der aufrichtige Wunsch nach Verstehen kommen, herrscht ein ideales Klima für die Suche nach Wahrheit und persönlichem Wachstum.
Wir dürfen uns natürlich nichts vormachen, denn unser Wunsch und Drang, an der Überzeugung festzuhalten, mit der wir persönlich gestartet sind, ist unfassbar stark. Es gehört einiges dazu, überhaupt bereit zu sein, den Verdacht der Voreingenommenheit auch auf sich selbst anzuwenden und das eigene Ausgangsdenken auf den Prüfstand zu stellen. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Wer an Wahrheitsfindung interessiert ist, dem bleibt nichts anderes übrig. Für alle, die sich so einen offenen und demütigen Ansatz prinzipiell vorstellen können, mag dieses Buch etwas sein. Alle anderen werden daran keine Freude haben.
2 I. Kant (1788/2003): Kritik der praktischen Vernunft. Philosophische Bibliothek. Bd. 506. S. 191 f.
3 T. Nagel (1999): Das letzte Wort. S. 191.
4 C. Travis; E. Aronson (2020): Mistakes Were Made (But Not by Me). Why We Justify Foolish Beliefs, Bad Decisions, and Hurtful Acts. S. 23.
5 D. Westen et al. (2006): The neural basis of motivated reasoning. In: The Journal of Cognitive Neuroscience. Vol. 18. Für weitere Studien, die zeigen, dass die Konfrontation mit dissonanten Informationen zu einer Verringerung der Aktivität in kognitiven Bereichen führt, vgl. z. B. F. Mengarelli et al. (2015): Cathodal tDCS over the left prefrontal cortex diminishes choice-induced preference change. In: Cerebral cortex. Vol. 25/5.; M. Colosio et al. (2017): Neural Mechanisms of Cognitive Dissonance. In: The Journal of Neuroscience. Vol. 37. S. Walzenbach; T. Hinz (2022): Jenseits von Fakten und Argumenten. Wie Mehrheitsgesellschaft und „Querdenker“-Bewegung Medieninhalte wahrnehmen. https://t1p.de/feqkk.
6 C. Lord et al. (1979): Biased Assimilation and Attitude Polarization. The Effects of Prior Theories on Subsequently Considered Evidence. In: Journal of Personality and Social Psychology. Vol. 37.
7 C. Travis; E. Aronson (2020): Mistakes Were Made (But Not by Me): Why We Justify Foolish Beliefs, Bad Decisions, and Hurtful Acts. S. 28.
8 S. Walzenbach (2023): „Menschen haben einfach gern recht“. https://t1p.de/d2cca.
9 J. Haidt (2013): The Righteous Mind. Why Good People are Divided by Politics and Religion. S. 2.
10 Vgl. z. B. N. Cheek; E. Pronin (2022): I’m Right, You’re Biased. How We Understand Ourselves and Others. In: Ballantyne, N. (Hrsg.): Reason, Bias, and Inquiry. The Crossroads of Epistemology and Psychology. S. 56f.
11 Vgl. E. Aronson; T. D. Wilson; S. Sommers (102023): Sozialpsychologie. S. 350 ff.
12 D. Dunning; J. Kruger (1999): Unskilled and unaware of it. How difficulties in recognizing one’s own incompetence lead to inflated self-assessments. In: J Pers Soc Psychol. Vol 77/6.
13 Vgl. D. Dunning; C. Sanchez (2018): Overconfidence Among Beginners. Is a Little Learning a Dangerous Thing? In: J Pers Soc Psychol. Vol 114/1.; D. Dunning (2011): The Dunning-Kruger effect. On being ignorant of one’s own ignorance. In: Adv Exp Soc Psychol. Vol. 44.
14 Manche meinen, dass Richard Dawkins mit seinem Buch Der Gotteswahn eines der schlagkräftigsten Anti-Theismus-Werke verfasst hat. Dagegen spricht aber nicht nur die zahlreiche Kritik von Atheisten wie Michael Ruse, Terry Eagleton, James Orr oder Joachim Kahl, die Dawkins zu Recht unnötige Polemik, Vereinfachung und Selbstüberschätzung vorwerfen. Gerade das neu erschienene Buch „Coming to Faith Through Dawkins. 12 Essays on the Pathway from New Atheism to Christianity” zeigt gut auf, wie Dawkins’ Reden zu Schlussfolgerungen führen kann, die er wahrscheinlich nicht beabsichtigt hat.
Kapitel 2:
Klassische Einwände
In diesem Kapitel möchte ich gerne einige klassische Einwände diskutieren, von denen ich denke, dass sie den Nerv vieler Menschen treffen. Es ist natürlich nur eine kleine Auswahl – von daher schon jetzt eine herzliche Einladung: Der Podcast Glaube ist frag-würdig wurde eigens dafür ins Leben gerufen, weil Glaube eben genau das ist. Er ist es wert, dass man gute Fragen an ihn stellt. Darüber hinaus versteht er sich als kostenloses Denkangebot, kritischen Fragen Raum zu geben. Sollte Ihr Einwand im Weiteren also nicht vorkommen, hören Sie gerne in die bisherigen Folgen rein oder schreiben Sie einfach direkt an: glaubeistfrag[email protected]
Vielleicht gilt Ihre Vorliebe aber auch gar nicht dem Podcast-Format, sondern dem guten alten Buch – auch kein Problem. Viele berechtigte Einwände, die in diesem Buch aus Platzgründen nicht zu Sprache kommen (z. B. Die Menschheit hat sich Tausende Götter ausgedacht, um an fast keinen davon zu glauben. Atheistinnen und Atheisten gehen nur einen Schritt weiter oder Die Vielzahl der Religionen spricht gegen die Existenz Gottes oder Jesus ist bloß eine mythologische Raubkopie usw.), werden etwa im Buch Frag los! 50 Antworten für Skeptiker und Glaubende diskutiert.15 Und wenn Sie etwas suchen, was auch junge Menschen verstehen können, empfehle ich Ihnen etwa die Kinderbuchreihe Wie ist Gott? Die Eigenschaften Gottes – erklärt für Kinder.16
Gut, so weit der Werbeblock. Legen wir los. Wie bei vielem ist es natürlich auch beim Thema „Gott und Glaube“ gut, wenn wir zunächst einmal unseren mentalen Schreibtisch aufräumen und uns klar machen, worüber wir eigentlich reden. Oder genauer gefragt: Was meinen Theistinnen und Theisten eigentlich, wenn sie von „Gott“ sprechen? Eine für viele grundlegende Definition Gottes in der Geschichte der Theologie und Religionsphilosophie stammt von Anselm von Canterbury, einem der herausragenden Denker des Mittelalters. In seinem vielgelesenen Werk Proslogion schreibt er sinngemäß:
„Gott ist das in jeder Hinsicht größte vorstellbare Wesen. Wenn wir von etwas noch größer als von Gott denken können, ist das Gott.“ (id quo nihil maius cogitari potest)17
Anselms Ausführungen werden heute von intellektuellen Schwergewichten wie Alvin Plantinga (University of Notre Dame) oder Richard Swinburne (University of Oxford) weitergeführt, wenn sie Gott als einen Handelnden beschreiben, der allmächtig, allwissend, allliebend, unendlich gut, unendlich heilig, unendlich gerecht, vollkommen ungebunden (d. h. ohne Körper und ohne Raum-Zeit-Stelle) und Schöpfer aller Dinge ist.18
Genau an dieser Stelle bedarf es eines wichtigen Exkurses. Es gibt nämlich immer wieder Leute, die sagen: „Die Gottesidee ist klar zum Scheitern verurteilt. Ein allmächtiges Wesen kann gar nicht existieren.“ Gezeigt werden soll das mit Fragen wie dieser hier: „Kann Gott einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht heben kann? Wenn er es kann, ist er nicht allmächtig. Und wenn er es nicht kann, erst recht nicht.“ Fragen dieses Formats klingen erst einmal schlüssig und entlarvend – bis man sie auf ihren Kern reduziert: „Kann Gott etwas, das er nicht kann?“ Sie merken, wie einen die Unlogik förmlich anspringt.
Und auch bei Fragen wie „Kann Gott ein rundes Quadrat erschaffen?“ sieht es nicht besser aus. Wo genau der Hase im Pfeffer liegt, bringt der irische Schriftsteller C. S. Lewis treffend auf den Punkt:
„Sinnlose Wortverbindungen werden nicht plötzlich dadurch sinnvoll, daß wir ihnen die beiden Worte ‚Gott kann‘ voranstellen. Es bleibt wahr, daß alle Dinge bei Gott möglich sind; das innerlich Unmögliche aber ist nicht ein Ding, sondern ein Nichts. Es ist für Gott genauso wenig möglich wie für das schwächste Seiner Geschöpfe, von zwei einander ausschließenden Alternativen beide zu verwirklichen; nicht weil Seine Macht behindert wäre, sondern weil Unsinn eben Unsinn bleibt, selbst wenn er von Gott handelt.“19
Wir sehen: Weder das runde Quadrat noch der erwähnte Stein sind bei genauerem Nachdenken wirkliche „Dinge“. Sie sind eine bloße Aneinanderreihung von Wörtern, die inhaltlich keinen Sinn ergeben. Demnach kann ich zwar aussprechen, dass es eine immaterielle Materie gibt, aber meine Worte sind inhaltlich leer. Eine materielose Materie ist nun einmal ein logischer Widerspruch – und damit ist sogar formal bewiesen, dass sie nicht existieren kann.
Und wenn ich an dieser Stelle kurz als Christ sprechen darf, lässt sich darüber hinaus noch Folgendes anmerken: Wenn aus der Bibel hervorgeht: „Gott ist allmächtig“, bedeutet das: Gott ist allmächtig, da er in seinem Handeln keinen äußeren Zwängen unterworfen ist. Dass er nicht lügen kann, hat seine Ursache also nicht darin, dass er einer ihm übergeordneten Macht untersteht, die ihn zur Wahrheit verpflichtet. Nein, das Einzige, was Gott zur Wahrheit verpflichtet, ist er selbst. Es ist in seinem Wesen verankert.
Exemplarisch war dieser Exkurs deshalb, weil er uns Folgendes vor Augen führen sollte: Jede kritische Rückfrage an den Glauben ist natürlich erlaubt, nur wohnt nicht jeder die Schlagkraft inne, die viele gerne hätten. Das gilt vor allem für solche, die von einer kindlichen oder klischeehaften Vorstellung von Gott geprägt sind. Dieser Art sind die folgenden Einwände aber nicht.
Einwand 1: „Ich glaube an nichts!“
Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, in denen ich sagte: „Danke, ich glaube an nichts.“ Woher mein Denken kam, ist einfach zu erklären. Vater meines Gedankens war die Annahme: „Nur die Leute, die von irgendetwas Religiösem oder Mystischem ausgehen, glauben an etwas.“ Dazu gehörte ich nicht. Der Atheismus war meine Weltanschauung. Damit war die Sache für mich klar.
Mein (erster) Denkfehler war nur, dass der Atheismus gar keine Weltanschauung ist. Dazu macht er einfach zu wenig Aussagen über die Wirklichkeit. Er ist schließlich „nur“ eine Verneinung, die sich auf eine einzige Frage konzentriert: Gibt es eine oder mehrere Gottheiten? Nach anderen Sachen fragt der Atheismus nicht. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes schreibt daher in einem Übersichtsartikel über Weltsichten völlig richtig: „Eine negative, d. h. nur auf einer Gott, Religion oder weltlichen Sinn verneinenden Position beruhende Weltanschauung, kann keine Weltanschauungsgemeinschaft konstituieren.“20
Richtig, genau das ist der Punkt. Weil der Atheismus „nur“ die Verneinung einer Frage – in diesem Fall nach der Existenz eines höheren Wesens – ist, stellt er keine Weltsicht dar. So eine trifft immer positive Aussage über die gesamte Wirklichkeit und gibt Antworten auf unterschiedlichste Fragen: Welche Verantwortung hat der Mensch? Welches Handeln ist moralisch richtig? Gibt es einen Sinn des Lebens? Was ist Freiheit? Was ist der Ursprung des Daseins?
Natürlich haben Atheistinnen und Atheisten Antworten auf solche Fragen. Aber ihre Antworten kommen nicht aus ihrem Atheismus, sondern aus ihrer jeweiligen Weltsicht. Welche das genau ist, ist meiner Erfahrung nach vielen nicht bewusst – allein deshalb schon nicht, weil sie gar nicht wissen, „wie die Dinger eigentlich heißen“, wie mir jemand mal nach einem Vortrag so schön sagte. Dabei gibt es im Supermarkt der Weltanschauungen einiges an Auswahl. Mit Blick auf die, die sich als Atheistinnen und Atheisten verstehen, gibt es in unseren Breitengerade in der Regel drei favorisierte Weltsichten.
Es gibt solche mit einem naturalistischen Weltbild. Was die Beschaffenheit der Wirklichkeit angeht, sagen sie: „Es gibt nur die Natur.“21 Es gibt die mit einem pantheistischen Weltbild. Sie sagen, dass das Universum und die Natur göttlich sind und „das Göttliche“ nicht als separates Wesen, sondern als das Ganze der Existenz verstanden wird.22 Es gibt – übrigens nicht wenige – mit einer panpsychistischenWeltsicht. Sie sagen, dass in allen Dingen des Universums, auch in unbelebter Materie, Bewusstsein vorhanden ist.23 Was es aber nicht gibt, sind Atheistinnen und Atheisten ohne Weltbild.
Es würde die Sache nun sehr vereinfachen, wenn man von irgendeiner Weltanschauung sagen könnte: „Diese Weltsicht ist die richtige. Es ist bewiesen, dass sie stimmt.“ Dass so etwas möglich ist, war mein zweiter Denkfehler. Aber so leicht ist es leider nicht. Keine Weltansicht ist nachweislich wahr: weder Theismus noch Naturalismus, Pantheismus oder Panpsychismus noch sonst irgendeine Weltanschauung. Jede Weltansicht basiert auf grundlegenden Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, für die es keine naturwissenschaftlichen Nachweise gibt.
Das heißt also, dass jeder von uns etwas „glaubt“, ohne dafür Beweise zu haben. Ein Atheist, der ein naturalistisches Weltbild hat, glaubt, dass ausschließlich die Natur existiert. Ein Atheist mit einer panpsychistischen Weltanschauung glaubt, dass alles, was es im Universum gibt, Bewusstsein hat. Ein Theist glaubt, dass hinter dem Universum ein Schöpfergott steckt. Und so weiter.
Nun war ich schon immer jemand, dem das Thema „Wahrheit und Wahrheitsfindung“ sehr wichtig ist. Mir persönlich liegt viel daran, mein Leben mit möglichst viel wahren und möglichst wenig falschen Überzeugungen zu bestücken. Gerade wenn es um das weltanschauliche Betriebssystem geht, das die Weichen für mein ganz persönliches Leben stellt. Meine Erfahrung, wenn ich anderen von diesem Wunsch erzähle, ist, dass er nicht zu Kopfschütteln, sondern zu verständnisvollem Nicken führt.
Ich beobachte aber auch, dass einige das anders sehen – was zweifelslos ihr gutes Recht ist. Für sie ist sind Fragen zum Thema „Weltanschauung“ ein rein theoretisches und total unwichtiges Gedankenspiel. So darf man natürlich denken. Aber das stimmt ja nur dann, wenn die eigene Weltsicht stimmt, die einem nahelegt, dass es vielleicht intellektuell reizvoll ist, sich mit so einem Thema auseinanderzusetzen, aber letztendlich egal ist. Demnach verpasst man nichts Wichtiges, wenn man sich nicht damit beschäftigt. Aber genau das ist doch die eigentliche Frage.
Als ich nun merkte, dass (erstens) auch ich eine Weltsicht hatte und (zweitens) keine Weltsicht von sich sagen konnte, nachweislich wahr zu sein, wurde mir klar: Mein Desinteresse an der Frage, ob das weltanschauliche Fundament, auf dem ich all mein Denken, Entscheiden, Handeln und Hoffen aufbaute, tatsächlich stichhaltig war, konnte ich getrost als „nachlässig“ bezeichnen. Eine falsche Weltsicht führt schließlich unweigerlich zu verkehrten Antworten auf Fragen wie: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Was ist Glück und wie erreiche ich es? Was ist Freiheit und wie viel davon habe ich wirklich?