Belinda Drachenzähnchens Märchenreise - Katharina Gsell - E-Book

Belinda Drachenzähnchens Märchenreise E-Book

Katharina Gsell

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Beschreibung

Belinda Drachenzähnchen lebt in einer sonnenlosen Welt und besucht nachts die Schule ... Eigentlich, bis sie beginnt Fragen zu stellen. Ist der Zauberer Schuld, dass ihre geliebte Fledermaus Mink verschwunden ist? Gemeinsam mit ihrem Bruder, macht sich Belinda Drachenzähnchen auf eine magische Reise, tief hinein in eine märchenhafte Welt, voller vergessener Zaubergeschöpfe der Natur ... Werden sie auf der Suche nach Mink, neben Meerjungfrauen, Kobolden und wandernden Bäumen, womöglich sogar Drachen wieder finden? Und wo bleibt eigentlich die Sonne? Nachtknistersternenhaufen nochmal! Ein Vorlesebuch für naturliebende phantasievolle Geister ... Mit bezaubernden Illustrationen von KTM Gsell

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Seitenzahl: 433

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ein Herz und eine Seele

Kapitel 1

Nicht mehr ganz Zuhause

Der Unterricht

Das Nachsitzen

Auszeit für Belinda

Trubel im Drachenzahnturm

Es war einmal … Hoch Zwei

Widerstand zwecklos

Ein Haufen Offenbarungen

Zauberstunde mit Oma Lara

Märchenpost

Schrankgeheimnisse

Märchenregeln

Märchenstunde

Ein winziger Tausch

Eine zauberhafte Unterhaltung

Geschenke mal Zwei

Kapitel 2

Der Aufbruch

Ein trauriger Geburtstag

Ein unerwarteter Diebstahl

Klitzekleine Hilfe

Eine stürmische Reise

Däumlingswelt

Kapitel 3

Unerwartete Weggefährten

Reise mal vier

Gespräche mal zwei

Geheimnisse und Vorbereitungen

Plitsch–Platsch und ein Smatch

Laut-Wald und Aztenflöte

Kapitel 4

Ein wertvoller Fund

Ein Fest

Berg Gibt-es-nicht

Ein Traum und eine Wahrheit

Der Durchbruch

Eine Handvoll Mut

Treffen in Weit-Weg

Festung Unerreichbar

Ein Schloss mit Schloss

Kapitel 5

Ein wertvoller Fund mal Zwei

Eine unerwartete Rettung

Ein Bösewicht und viele Wege

Kapitel 6

Endlich Zuhause

Das Ende

Epilog

Umbruchzeiten

Prolog

Ein Herz und eine Seele

Sie war genau ihren Kopf höher, als eins der Trinkgläser, die Oma Lara schon seit Jahren hatte, und aus denen sie nicht bloß Nussmilch, Obstsäfte, oder Steinmilch tranken, sondern die auch perfekt zum Aufbewahren von Nüssen, getrockneten Früchten und Kieselsteinen waren. Manchmal schlüpfte sie sogar unbedacht in eins der Gläser, und wenn sie dabei in Wasser geriet, lachte Belinda freien Herzens, über ihre Fledermaus, die sich nun patschnass schüttelte und verdutzt guckte, ehe sie neckisch um ihre Freundin Kreise zog; und sie dabei mit einem sanften Sprühnebel benetzte.

Als sie im Kindergarten war, konnte Belinda nur einschlafen, wenn sie Minks winziges Händchen spürte, das ihren Zeigefinger umschloss, und in der ersten Klasse hielt sie nur die Tatsache, dass Mink sie täglich begleitete, dort; sie reichte ihr Stifte, zog über falsche Ergebnisse eine Schnute, schlief auf oder in ihrer Schultasche, flatterte wild und freudig zur Jausenzeit, und setzte sich auf die Schulter von besonders lieben Mitschülern, die bald schon Belindas Freunde wurden. Im Turnunterricht bemühte sie sich alle Übungen mit doppelten Looping – und stolzem Lächeln – zu absolvieren, und wenn ein Schulausflug angesagt war, war es Mink, die weit über ihrem Kopf im Finstern flog, während sie im kühlen Schein der Straßenlaternen, in einer Zweierreihe wanderte, und mit Kira oder Marie, über dies und jenes lachte.

Wenn sie einen Naschstein erhitzte, fiepte sie kaum hörbar genau dann, ehe die Steinhülle brach. Ihr Fell war grauschwarz und Belinda hatte immer einen Lieblingspullover in genau der Farbe. Außerdem war ihr Fell weich. So weich, dass Belinda ihre Härchen kaum auf der Haut spürte, höchstens als ein samtiges Druckgefühl. Ihre kleinen Krallen fühlten sich an wie abgerundete kühle Flusssteine, ihre Augen waren von einer undurchdringlichen Dichte, ihre Ohren waren innen rosa, dort, wo ihre zarte Haut, unter dem Fell durchschien.

Als Belinda sieben Jahre alt gewesen war, hatte sich Mink bei einem Sturz aus dem Fenster verletzt, und Belinda hatte sie zwei Wochen und drei Tage lang gesund gepflegt. Ganze sechs Wochen hatte sie ihren linken Flügel nicht bewegen können, und ließ sich hilflos auf Belindas Schulter umhertragen.

An Belindas achtem Geburtstag war sie unabsichtlich vor Übermut, in ihrer Cremetorte gelandet, und hatte sich ein Schnurhaar und ein wenig die Wange, an der brennen Kerze versengt; das Geräusch, dass sie dabei ausgestoßen hatte, stellte Belinda heute noch Nackenhaare auf.

Mindestens eine Million Mal hatte sie auf Meruns Schulter gesessen, und ihm in die Haare gebröselt, ebenso wie sie eine Million Mal Oma Lara beim Kochen über die Schulter geblickt hatte.

Als Belinda sich in Flyball versucht hatte, hatte sie ihr all ihre besten Fliegertricks vorgeführt; doch Belinda blieb fest am Boden und konnte keinen Zentimeter schweben, auch nicht mit Umhang.

Jedes Mal wenn sie krank war, lag sie auf Belindas Brust und sie war exakt so schwer, wie drei von Oma Laras verkorkten Flaschen mit eingelegten Pflanzen, oder anderen Utensilien.

Manchmal zupfte sie den Doofkopf Lester am Genick, was ihn jedes Mal zum Kratzen brachte, und wenn sie auf Meruns Buchseite lag, die er gerade las, konnte er sich nicht konzentrieren und klappte das Buch missmutig zu.

Bestimmt Tausend Mal hatte Belinda sie zum Spielen verkleidet, ihr einen Sessel gebastelt, ein Bettchen, oder die Nachtischschublade ausgepolstert, damit sie bei ihr schlafen konnte.

Mit fünf Jahren hatte sie auf eine eingravierte Fledermaus am Kopfteil ihres Bettes bestanden und jeden Abend bei Oma Laras Gute-Nacht-Geschichte, saß sie auf ihrer Schulter eingekuschelt – und zwinkerte verschlafen und glücklich zu Belinda hinüber, die mit großen Augen und offenen Ohren den Worten folgte.

Als sie der Blödmann Bevt in der zweiten Klasse um gestupst und sie eine doofe Kuh bezeichnet hatte, war sie in seine Haare geflogen und hatte Filzen hineingemacht. Der doofe eitle Bevt, Sohn des Direktors von Burg Felsensprung, war am nächsten Tag mit abgesäbelten Haaren kleinlaut in die Klasse gekrochen, und hatte Belinda von da an nie mehr schikaniert – naja, bis vor kurzen.

Sie hieß Mink, war ihren Kopf höher als eins der Trinkgläser von Oma Lara, ihre Hände waren genauso lang wie Belindas Mittelfinger, und sie war genauso schwer wie das einzige Buch, dass Belinda liebte; Oma Laras Märchenbuch.

Sie hieß Mink, und nun war sie nicht mehr da. Und keiner wollte je etwas von ihr gewusst haben.

Als alle nur noch gestolpert waren, ständig rot gekniffene Beine hatten, versalzene Speisen gegessen und nichts mehr im Turm gefunden hatten, war sie es, die die frechen Fjindusse vertrieben hatte.

Sie hieß Mink … Und langsam begann Belinda zu vergessen.

Sie hieß Mink, und sie war real – Ein ganzes Jahrzehnt! Nein noch länger, ihr ganzes Leben lang!

Kapitel 1

Nicht mehr ganz Zuhause

Wenn du nicht mehr an

deinem Platz bist,

entsteht eine Lücke,

und fängt die Welt an nach dir zu suchen.

Dabei kann sie teils unerbittlich sein,

teils kramt sie dabei, in der alten Kiste der Magie.

Und kein Wunder ist zu klein, auf deinem Weg,

bist du wieder gefunden bist, ausgedrückt,

zum ersten Mal, durch deinen

Namen …

Der Unterricht

»Belinda«, sagte Lara Drachenzahn bestimmt. »Belinda wach auf!«

Ein rothaariges Mädchen, mit Stift hinter dem rechten Ohr, fuhr vom Schülerpult hoch und blickte sich verwirrt um. Ihre Klassenkameraden lachten und tuschelten miteinander. Bevt lachte besonders laut und streckte ihr seine Zunge heraus.

Kira, die Sitznachbarin des Rotschopfs, hob entschuldigend die Schultern und flüsterte, »Ich hab´ versucht dich zu wecken, aber es ging nicht.« Eine grüne Strähne rutschte ihrer Freundin dabei übers rundliche Gesicht und ihr Spitzzahn war eben hinter ihrer Lippe verschwunden.

Lara Drachenzahn seufzte, als sie vor ihrer Enkeltochter zum Stehen kam und meinte, »Belinda, es tut mir leid, aber du musst heute nachsitzen. Ich kann nicht dulden, dass du im Unterricht andauernd einschläfst.« Und mit diesen Worten ging sie wieder vor an das Lehrerpult, um den Unterricht in alter Lehre fortzusetzen.

Nachsitzen. Egal wie schlimm es gewesen war, aber Nachsitzen hatte sie noch nie müssen. Nun war ein neuer Tiefpunkt erreicht.

Belinda seufzte und blickte verschlafen zu ihrer Freundin.

»Ist es schlimmer geworden?«, wollte Kira wissen.

Belinda nickte. »Ich liege fast den gesamten Tag wach – obwohl ich schlafen sollte. Und dann sitze ich nachts in der Schule – und schlafe ein.« Sie zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema. »Kommst du heute nach der Schule – und dem Nachsitzen – zu mir?«

Kira nickte. »Aber erst nach dem Förderunterricht«, meinte sie, während sie ihren blauen Umhang zu Recht rückte. Kira war nämlich sehr schlau. Eigentlich, war sie sogar oft schlauer als die Lehrer – und schlauer, als die Lehrer gerne zugeben mochten. Sie bekam deswegen zusätzlichen Unterricht, damit sie ihren Wissensdurst stillen konnte.

Belinda sah an ihrem eigenen roten Umhang hinunter, der aalglatt unter ihren Kupferhaaren über ihre Schultern fiel. Sie war nicht wie Kira; die war bereits vor dem Kindergarten mit blauen Umhang umher gekrabbelt.

Schon bevor es begonnen hatte, dass sie in der Schule immerzu einschlief, war sie nicht sonderlich gut darin gewesen, sich ihr Gesagtes zu merken. Eigentlich, wenn sie so darüber nachdachte, war sie in Nichts wirklich gut.

Nicht in der Schule.

Nicht in der Freizeit, wie ihr Bruder Merun in Flyball … und jetzt war sie nicht einmal eine gute Enkeltochter, denn sie schlief ausgerechnet immerzu im Unterricht ihrer Großmutter in der alten Lehre, ein.

Aber das war naheliegend, da die Stimme ihrer Großmutter, wenn sie sie mit dem richtigen Ohr hörte, immer einschläfernd für Belinda war, da sie täglich eine Gute-Nacht-Geschichte von ihr bekam … Oh nein! Und jetzt hatte sie vor lauter Grübelei wieder nicht der alten Lehre gelauscht …

» … in silbernes Haar, der Flüsse der Berge, die wie ein Geflecht als Erbe der Erde, die Leere nun steht.«

Kurz überlegte Belinda Kira anzustupsen, um sich das Gesagte erklären zu lassen, doch dann entschied sie, dass es doch unnütz war,– und sie gab sich lieber ihrer Grübelei hin.

Das tat sie gern, ihren Gedanken freien Lauf lassen, denn allzu oft trugen sie sie an fantastische Orte …

Während ihre Großmutter also mit geschwungener Stimme von Riesen und Oksanen erzählte, und von der Macht geflüsterter Worte, fiel Belindas Blick auf den türkis– orangen Umhang von Marie.

Ihr Umhang war einzigartig, denn während wirklich alle einen einfärbigen Umhang trugen, war ihrer zweifärbig. Und damit nicht genug. Denn wenn man genau hinsah, erkannte man, dass es gar kein Umhang war, den sie um die Schultern trug, und was unter ihrem dunkelbraunen Zopf ruhte; der Stoff war geteilt, denn es waren einer Fledermaus nachempfundene Flügel, die nun lasch an ihrem Rücken hinunter hingen, eingeklemmt zwischen warmen Rücken und Sessellehne.

Und damit noch nicht genug. Denn Marie war noch auf eine Art einzigartig – sie hatte zwei Spitzzähne, während, wirklich alle anderen, nur einen hatten.

Alle, auch wenn es kaum ausgesprochen wurde, erwarteten Großes von Marie. Sie besuchte so gut wie alle Freizeitangebote, von Flyball bis Aztenflöte, und war in allem zumindest passabel.

Belinda mochte es nicht gerne zugeben, aber sie war etwas eifersüchtig auf Marie. Aber eigentlich war sie sehr lieb, und eigentlich ihre Freundin, was das Ganze noch schlimmer machte.

»… Fledermäuse, Spinnen, Kröten …« zählte Großmutter Lara auf. »… Krähen, Schlangen, Raben …«

Belinda seufzte und warf einen Blick nach oben auf das große Oberlicht, durch das der Neumond blinzelte. Heute war es windig und eigentlich viel zu kühl für eine Spätfrühlings– Frühsommernacht. Der Sturm trieb Wolke um Wolke vor sich her, wie kleine grauweiße Schäfchen. Er schob sie vor den Mond und wieder weg, als puzzle er ein Himmelsbild nach dem anderen: mit Sternen, Wolkenwand, mit zum Fenster gebogenen Ästen – und ohne.

So vollzog der Sturm sein Spiel vor dem nächtlichen Schwarz, während Großmutter Lara unter greller Schulbeleuchtung, weiter von magischen Wesen sprach, die noch keiner je gesehen hatte, und weswegen viele Erwachsene die alte Lehre als Märchenstunde, – höchstens noch als Geschichtsstunde – abtaten.

Und weswegen schon längst von Jahr zu Jahr diskutiert wurde, ob die alte Lehre überhaupt im Unterrichtsplan bleiben sollte.

Viele, ja fast die gesamte Felsensprungburg, waren dafür sie abzuschaffen und nur knapp, konnte sich die alte Lehre – sowie auch Biologie – Jahr für Jahr an der Schule festkrallen, was allein Großmutter Laras rhetorischem Geschick geschuldet war. Oma Lara konnte nämlich reden, erzählen, berichten und artikulieren, was das Zeug hielt. Als spräche sie mit zwei glühenden Zungen eine sonderbare Sprache, die alles bekam was sie wollte. Solange Großmutter Lara es unterrichtete, würde die alte Lehre bleiben, da war sich Belinda sicher.

Und aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht verstand – da sie selbst ja kaum zuhörte – war das etwas Schönes und Beruhigendes, etwas, was für eine gewisse Sicherheit sorgte.

Außerdem waren die Zauberstunden, die sie manchmal abhielt, fantastisch und überhaupt nicht zum Einschlafen.

Das Nachsitzen

Noch sechs Stunden bis zum Morgengrauen. Es war exakt zehn Minuten vor Mitternacht, Schulschluss.

Die metallische Glocke in Form einer Fledermaus an der Decke läutete so laut, und unsympathisch, wie eh und je, als wolle sie die Kinder nicht Nachhause entlassen und wenn doch, mit hämmernden Trommelfell.

Und wie jeden Tag machte das keinen Unterschied, denn alle hüpften wie von Fjindussen gekniffen auf – naja, fast alle. Kira erhob sich gemächlich und stapelte ihre Bücher sorgsam übereinander. Sie hatte noch Förderunterricht und zu Belindas täglichem Erstaunen, freute sie sich darauf.

Belinda rückte den Sessel zurück und spürte ihren platt gesessenen Hintern. Ein schmerzendes Gesäß, neben schmerzenden Schreibfingern der tägliche Preis des Lernens.

Belinda konnte es wie jede Nacht nicht erwarten aus der Schule zu kommen; selbst das Nachsitzen war ihr keine Pein, denn es fand außerhalb der Schule statt, im leeren Gartenschuppen der Burg Felsensprung.

Belinda war bereits unzählige Male dort gewesen, wenn sie ihrer Oma half Auszüge für besondere Pflanzen anzusetzen, die sie dann im Unterricht als Zauberstunde vorführte; oder in letzter Zeit, um ihr zu helfen wildes Licht zu züchten. Dann bräuchten wir keine künstlichen Lichtakkus mehr …, träumte Oma Lara in letzter Zeit beim Abendessen vor sich hin. Und nebenbei würden wir die Umwelt sauber machen, wenn immer mehr Plastik verschwindet.

Außer sie, interessierte sich nur noch der liebenswerte, aber schrullige Herr Hecke für das Anwesen der Burg Felsensprung – ihr Biologielehrer, ein Freund von Oma Lara.

Eigentlich bewegten sich alle ständig nur auf beleuchteten Wegen und Plätzen, die wiederrum zu weiteren beleuchteten Wegen und Plätzen führten, und immer so fort. Alles was nicht beleuchtet wurde, war automatisch für niemanden von Interesse. Naja, eben fast.

Oma Lara drückte im schwachen Mondschein und im viel zu frostigen Wind für Spätfrühling, die knarzende Tür des Schuppens auf, während sie Belinda die Flasche mit Lichtliebchen und wildem Licht in die Hand gleiten ließ.

Belinda hielt den Höhepunkt der alten Lehre in der Hand; in der durchsichtigen zugekorkten Flasche befand sich eine rosarote Blume von ganz hervorragender Schönheit und Farbbrillanz. Sie schien von innen heraus zu leuchten, selbst das Wasser in dem sie schwamm fluoreszierte. Diese Pflanzenart, Lichtliebchen, brauchte nur ein paar Schmutzpartikel, Beton, oder Plastik, schloss sie für einen Mondzyklus lang ein, und gab sie einer Perle gleich, als gleißende Lichtkugeln, der Welt zurück.

Großmutter Lara liebte die Lichtliebchen, und es schien, als liebte sie das daraus entstandene Licht ebenfalls, denn es drückte sich – wann immer es aus der Flasche konnte – um ihre Konturen, und verschwand nicht eher, als Lara es mit großer Mühe wieder in die Flasche sperrte; wobei die Lichtkügelchen einen Laut von sich gaben, was an das Kichern eines kleinen Kindes erinnerte.

Belinda sah verträumt auf die zugekorkte Flasche in ihrer Hand. Im Kindergarten war die alte Lehre und Oma Laras Zauberstunde der Renner, und nicht ein einziges Mal war bisher zur Diskussion gestanden, sie abzuschaffen; die kleinen Knirpse tapsten tollpatschig fliegenden Lichtkugeln hinterher, tauchten fasziniert mit ihrer Hand in Farbpastillen der Malmal-Pflanze, und lauschten Großmutter Lara mit einer Gebanntheit, die Belinda traurig werden ließ – nur wusste sie nicht warum.

Sie selbst lauschte ihrer Großmutter bei jeder Gute-Nacht-Geschichte ebenso gebannt, nur in der alten Lehre wollte es ihr nicht gelingen. Ob es damit zu tun hatte, dass sie bei der Gute-Nacht-Geschichte ihre Großmutter allein für sich hatte? Oder damit, dass die Gute-Nacht-Geschichten immer ein Happy-End hatten, während die alte Lehre teils verwirrend und unfair sein konnte und Belinda immer eine Gänsehaut auflaufen ließ …?

Jetzt jedenfalls stand Belinda mit den Lichtliebchen da, die exakt genommen nicht mehr zur alten Lehre gehörten, da sie erst nach dem Großtag entstanden waren; und damit ein Ergebnis waren und kein Ursprung, wie Oma Lara erzählt hatte.

» Belinda?«, fragte Oma Lara. »Wo bist du mit deinen Gedanken?« Eine Frage, die sie ihrer Enkeltochter bestimmt jeden Tag ihres Lebens stellte.

Belinda schüttelte den Kopf, was die Lichtkugeln wild im Wasser kreisen ließ. »Nirgends«, stammelte sie wie gewohnt und verscheuchte all die unsortierten Gedanken aus ihrem Kopf. Seit sie denken konnte, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass die Tatsache, dass niemand ihre Fledermaus Mink sehen konnte, irgendetwas mit all dem zu tun hatte, was Oma Lara in der alten Lehre erzählte …

Nun versuchte sie sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Es war kalt, sie zog ihren Umhang enger an sich. Auch ihr Umhang glich roten, samtenen Fledermausflügeln. Jetzt stand sie da, im Gartenschuppen. Oma Lara hing an alle Aufhänge-Vorrichtungen an der Decke ein wildes Licht, das sich kichernd dort niederließ, wie in einem weichen Bett. Wenn man genau lauschte, konnte man es sogar schnurren hören.

Die meiste Zeit war auf die kleinen Lichtkerlchen Verlass, nur manchmal flitzten sie übermütig zu ihren Freunden und spielten Fangen, was den gesamten Raum in wilde wacklige Beleuchtung tauchte. Aber heute schienen sie ebenso müde wie Belinda zu sein.

»Na du Kleiner«, murmelte Belinda zu einem der Lichter. »Warst du auch den ganzen Tag wach und bist jetzt hundemüde?«

Eigentlich waren die Lichtkerlchen scheu, aber wenn sie einmal jemanden in ihr Herz geschlossen hatten, waren sie treu, wie Spitzzähne hart sind.

Belinda leckte über ihren Spitzzahn, während sich das Lichtkerlchen an ihren Finger schmiegte und gurrte. »Schlaf schön«, meinte Belinda und ging dann auf ihre Großmutter und den Schreibtisch am anderen Ende des Schuppens, zu.

Ein großes Fenster gab den Blick auf im Dunkel liegende Grünfläche frei. Der Mondschein war momentan zu schwach, um wirklich etwas erkennen zu können. Höchstens die Konturen einiger Bäume waren zu sehen. Und doch war dieses wenige vom Mond reflektierte Sonnenlicht um soviel heller, als die triefende Schwärze, die am Tag herrschte, in der man nicht einmal seine eigene Hand vor den Augen erkennen konnte. Am Tag waren alle blind.

Großmutter Lara richtete sich auf, straffte die Schultern unter ihrem grünen Umhang, und setzte ihre besondere zweizüngige Stimme auf, mit der sie vor Lehrern, Eltern und Schülern, über die alte Lehre sprach. »Belinda, du musst die alte Lehre ernster nehmen«, sagte Lara, in ungewohnt drängenden Tonfall. Das ließ Belinda aufhören und plötzlich, wie aus dem Nichts, wollte sie mehr über die alte Lehre wissen.

»Warum, Lara?«, fragte sie zurück und widerstand dem Drang an ihrer Unterlippe zu beißen; das tat sie immer, wenn sie nervös war. Belinda war darauf bedacht ernst wie eine Erwachsene zu sein.

Lara seufzte schwer, und es hörte sich an, als seufze sie über etwas gänzlich anderes. Und dann passierte etwas, was Lara noch nie passiert war – sie stotterte.

»Es …«, setzte sie an, »Ich …«, probierte sie es noch einmal. »Wenn …« Sie schüttelte energisch den Kopf und man konnte merken, dass sie sich über ihr Gestotter ärgerte. »Hör´ zu, Belinda …«

Das tat sie bereits. Niemals war sie so an ihren Lippen gehangen, doch der Satz verebbte wie eine schwache Welle.

Und dann schaffte sie es doch einen Satz zu bauen, der kein schwaches Bruchteil von etwas Bedeutsamen war, dafür aber einer abgedroschenen Phrase glich:

»Ich denke, bald wird die alte Lehre gebraucht werden … Den Großtag, Belinda, warum gibt es ihn?« Lara griff sich an beide Augenbrauen, eine Geste, die sie nicht allzu oft machte, dafür aber immer, wenn sie schwer über etwas grübeln musste. Im warmen Licht der Lichtkerlchen wirkte sie plötzlich zerbrechlicher und müder, als Belinda es sehen mochte. Jetzt, wo sie darüber nachdachte fiel ihr auf, dass sie in den letzten Monaten oft beschäftigt gewesen war.

Belinda überraschte die Frage, freute sich jedoch, die richtige Antwort zu kennen. Im Unterricht der Wichtigkeit lernten sie, was eine Gesellschaft war. Weshalb alle lebten wie sie lebten. Welche Straßen, Gebäude, Personen wichtig waren. Belinda konnte nun die brave Schülerin mimen, es sprudelte nur so aus ihr heraus – und sie freute sich, endlich wieder einmal eine Aufgabe zur Zufriedenheit von Lara erfüllen zu können:

»Der Großtag ist ein Wichtigtag, der größte ja, von allen. Er ist stets gut und schön zu uns, nichts Schlechtes kann uns krallen.

Der Großtag lässt uns richtig sehen, er leuchtet uns den Weg, das Licht von ihm zeigt uns stets, was nicht und schon recht geht.«

Unsicher holte sie zum dritten Vers aus, denn zu ihrer Überraschung schien ihre Großmutter weiter in sich zusammen zu sacken; enttäuscht, gelangweilt und ermüdet zugleich, schien sie überraschender Weise über die schönen Verse des Großtags.

Belinda sprach sie dennoch, die Zeilen des letzten Verses, es war wie eine Sucht, der sie seit Kindergartentagen beinah täglich nachkam. Es wurde vorm Unterricht im Chor erzählt, jedes Kind wusste es.

»Der Großtag dreht uns alles um, macht selbst die Nächte uns zu Tagen, denn Licht soll´s ewig sein, wonach du und ich stets fragen.«

»Und was bedeutet das alles, dieser Kauderwelsch? Diese achso wichtigen Wörter, … was machen sie mit dir?«, fragte Belindas Großmutter, und Belinda kam sich dümmer vor als je zuvor, da sie die Wichtigkeit spürte, mit der ihre Großmutter auf die Antwort drängte.

Was würde wohl Kira auf diese Frage antworten?, fragte sich Belinda, wie sie so neben ihrer Großmutter stand und ins Halbdunkel des Gartens blickte. Wie ein schwarzer Bildschirm der alten Fernseher in den Klassenzimmern, mutete das große Fenster nun an. Und weil hier drinnen ausreichend Licht durch die Lichtkerlchen war, konnte man am besten nur sein eigenes Spiegelbild sehen.

Irgendwie – dachte Belinda in einem nagenden Moment – müsste in dieser Begebenheit die Antwort liegen. Oder?

Plötzlich wollte sie nicht ihr Spiegelbild sehen, sondern den Garten; seine Sträucher, und Bäume, die Blumen und Wurzeln, die Lianen und Spinnweben, doch das alles blieb in der Nacht versteckt.

Geh´ weg, wollte Belinda der Dunkelheit zurufen. Doch dann kam sie sich noch dümmer vor. Was gab es denn auszusetzen an den beleuchteten Innenräumen, an den Straßen, Wegen, und Plätzen? An dem schönen Mondschein. Kira hatte daran nichts auszusetzen, warum sollte sie etwas bemängeln? Wo sie doch viel weniger über all das wusste.

»Ich glaube«, meinte Großmutter Lara erst zögernd, dann mit einem zufriedenen Lächeln. »Das Nachsitzen ist beendet.«

Und Belinda ließ ihre Großmutter zaghaft über ihren bunten verkorkten Flaschen, Büchern und Pflanzenteilen zurück. Als sie sich durch die Tür nach draußen schob, fegte neben einer frischen Brise, auch ein zerwuschelter Mr. Hecke an ihr vorbei.

Auszeit für Belinda

Belinda schob die schwere Holztür ihres Turms auf und trat in die Küche im Erdgeschoss. Die Uhr über dem Eingang schimmerte im gleißenden Licht der Deckenlampe; noch immer war Mitternacht nicht vorbei.

Belinda freute sich, dass das Nachsitzen nur kurz gedauert hatte, denn später würde Kira zu Besuch kommen, und so konnte sie sich noch etwas sortieren und ihre Hausaufgaben machen. Belindas Inneres drehte sich mehr denn je, und es fiel ihr schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Was wollte Oma Lara ihr heute Nachmittag erzählen? Und warum spuckte sie es nicht einfach aus?

Belinda hängte wie immer ihren Umhang an den Hacken hinter der Tür, pfefferte ihre Schultasche säuerlich in die Ecke, und zog ihre Schuhe aus. Der Anblick ihrer geringelten lila-roten Socken brachte sie zum Lächeln; ihre Lieblingsfarben seit dem Kindergarten. Sie genoss die warme nach Holz duftende Luft und atmete tief ein. Sogleich machte sie sich daran die vorgekochte Speise aufzuwärmen.

Während sie wartete, dass ihr Essen über dem kleinen Feuer im Ofen warm wurde, stapfte sie die Wendeltreppe dreimal hoch und trat durch die Falltür im Boden in ihr rundes Zimmer.

»Hallo!«, flötete sie in einem Singsang den nur das tägliche Schulende ihr entlockte. Belinda kicherte, denn sie wusste, was die Stille bedeutete: Mink, ihre Fledermaus, hielt sich versteckt.

Fledermäuse, schoss es Belinda durch den Kopf, sind eigentlich ausgestorben. Sie schüttelte den Kopf.

Da schoss Mink wie ein Blitz hinter der Tür hervor, wirbelte Belinda durch die Haare, kicherte und ließ sich auf ihrer linken Schulter nieder. Belinda grinste und zog einen Naschstein aus ihrer rechten Hosentasche. Mink machte sich sofort daran, ihn freudig schmatzend mit ihren Spitzzähnchen zu erhitzen und zu fressen.

»Guten Appetit, Minkchen«, wisperte Belinda und ihr Herz wurde für einen Moment leicht. Sie strich ihrer Fledermaus tätschelnd über den kleinen grauen Kopf, und die stupste sie neckisch gegen den Finger zurück. Mit ihrer Freundin auf der Schulter, stapfte Belinda an Meruns und Laras leeren Zimmern vorbei, wieder drei Stockwerke hinunter, in die Küche und sah nach ihrem Essen; Pflanzeneintopf mit Nusscreme.

Vergiss deine Steine nicht!, hörte sie da Laras Stimme in ihrer Erinnerung. Belindas Kopf war voll von solchen Ermahnungen und Ratschlägen: Iss auf damit du gut wachsen kannst. Vergiss deinen Umhang nicht. Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht? Mit wem redest du, Linchen? Oder der Klassiker: Huhu, wo bist du mit deinen Gedanken?

Das waren nur diejenigen, die ihr im ersten Moment einfielen.

Belinda ging zum Kühlschrank, nahm sich die fertige dreifärbige Nusscreme heraus und griff in eine Schale neben dem runden großen Fenster. Die Steine darin waren von verschiedenster Größe und hatten die abenteuerlichsten Färbungen; grau, moosgrün, mattschwarz, creme, beige … Belinda schnappte sich einen titanweißen mit schwarzen Punkten – die prickelten so schön auf der Zunge, als hätte man ein kleines Knisterfeuerwerk im Mund, bevor sie süß klebrig dahin schmolzen.

Eigentlich hätte Belinda Lust auf einen Edelstein aus Oma Laras Schüssel, doch die durften Kinder eigentlich nicht essen – was sie umso interessanter machte.

Wenn man einen der Quarze aß, wurde man aufmerksam und wach, wie es auch Kaffee und Grüntee machte, nur dass Quarze um ein Vieles stärker waren. Quarze waren auch gefährlich; wenn sie eine bestimmte Größe erreichten, konnten sie sogar vor lauter Spannung explodieren. Aber das waren Kindermärchen, mit denen Oma Lara Merun und sie davon abhalten wollte, heimlich Edelsteine zu naschen.

Es funktionierte nicht. Seit Belinda tagsüber nicht mehr schlafen konnte, griff sie sich nachts immer wieder heimlich einen der kleineren bunten Steine; oder Stücke, die abgebrochen waren, sodass Oma Lara nichts bemerkte. Merun musste das ebenfalls tun, denn immer wieder fehlte ein bestimmter Splitter, den sich Belinda am Vortag noch für den nächsten Tag ausgespäht hatte.

Das war ihr kleines unausgesprochenes Geheimnis.

Auch heute fehlte der Amethystsplitter, den Belinda gestern Abend unter einem Türkis und einem Rosenquarz gesehen hatte.

Mist, dachte sich Belinda. Welchen soll ich jetzt nehmen? Langsam wurde es eng in der Edelsteinschale, denn Oma Lara war die letzten Tage, vor lauter Arbeit kaum dazu gekommen Einkaufen zu gehen. Und wie zum Zeichen flackerte da kurz das Küchenlicht und die Lampen fuhren auf die Hälfte ihres Lichtvolumens zurück; sogar Lichtakkus hatte Oma Lara vergessen auf Vorrat zu kaufen. Nicht selten waren sie schon im Finstern gesessen, ehe einer von ihnen im Schnellschritt aus dem nicht unweit entfernten Supermarkt zurück gekehrt war, und den vollgeladenen Lichtakku am Lichtventil angeschraubt hatte.

Na toll, dachte sich Belinda, als sie die Edelsteinschale durchforstet hatte. Außer einem kleinen Türkis, einem handflächegroßen Rosenquarz und einem abgerundeten Bergkristall war sie leer; zu auffällig sich daran zu bedienen. Dabei hatte sie gerade heute etwas Aufmunterung gebrauchen können.

Verschlafen rührte sie im Pflanzeneintopf, der bereits zu rauchen begann. Belinda bemerkte es nicht, da sie aus dem Fenster ins Halbdunkel stierte. Etwas entfernt sah man einen beleuchteten gepflasterten Weg, über den sich dicht an dicht Gestalten schoben.

So nah an Burg Felsensprung fuhren keine Autos, es gab nur Fußgängerwege und kleine Straßen für Arbeitswägelchen, die den Straßenrand in Ordnung hielten, Gras und Hecken zurückschnitten, Essensbestellungen in die Burgen und Türme brachten, oder Arztbesuche machten. Jetzt, wo das Licht in der Küche um die Hälfte geschrumpft war, konnte sie besser die Bäume am Horizont erkennen.

Was hatte das Nachsitzen von heute zu bedeuten?, fragte sich Belinda grübelnd und sie ließ den Gedanken erst los, als etwas Heißes ihren Daumen biss.

Der Pflanzeneintopf blubberte wild. Belinda zog den Topf vom Herd und füllte den wurzelig duftenden Inhalt in ihre Schüssel. Mit der Nusscreme setzte sie sich an den runden Tisch und begann vorsichtig zu essen. Immer wieder fiel ihr eine der schulterlangen roten Strähnen ins Gesicht und tauchte sich beinahe in die Schüssel. Als es einer Strähne schließlich gelang nass und krümelig zu werden, seufzte Belinda.

Na toll. Es gab eben Nächte, die waren so. Sie nahm den titanweißen Stein und begann ihn mit ihrem Spitzzahn zu erhitzen; langsam wurde er beinah heiß und Belinda konnte ihn aufstechen und aussaugen. Mhm … fast wie Schokolade und da, Popp, Knister, Popp, die schwarzen Krümel kribbelten auf der Zunge. Als der Stein ausgesaugt war, knackte Belinda die Schale und aß sie auf einen Happs auf. Mink, die bis jetzt ruhig auf ihrer Schulter gesessen war und vor sich hingedöst hatte, schaute sie mit großen Augen an. Wie immer war sie ein warmer behaglicher Fleck, den Belinda nur zu gern auf ihrer Schulter spürte.

Belinda lachte. »Na meinetwegen, einen noch.« Sie griff in ihre Hosentasche und zog noch einen der Naschsteine hervor. Mink schmatzte zufrieden vor sich hin, während Belinda überlegte, ob sie sich nun mit vollen Magen etwas ausrasten sollte. Als hätte Mink ihre Gedanken erahnt, flatterte sie auf die Couchlehne. Ihre Wangen waren rosa, ein Zeichen, dass es ihr gut ging.

Also legte sich Belinda auf das Sofa neben dem Ofen. Mink kuschelte sich auf der Lehne zusammen und Belinda bemerkte, wie ihre Gedanken in dieser Behaglichkeit endlich ruhiger und ruhiger wurden. Ebenso wie der Wind draußen um den Turm fegte und dahin säuselte, wurden ihre Gedanken leise und unscharf, das Feuer im Ofen knisterte, und langsam schlief sie über ihre langsamen Atemzüge ein.

Trubel im Drachenzahnturm

»Belinda«, sagte eine bekannte Stimme.

Belindas Herz klopfte behaglich und langsam.

»Belinda, wach auf!« Verschlafen schlug Belinda die Augen auf, blinzelte und richtete sich auf.

Ein roter wilder Wuschelschopf.

Ein sommersprossiges Gesicht, das langsam immer länger wurde und sich wie das eines Erwachsenen zu formen begann … Merun. Schließlich erkannte sie ihren Bruder, und er setzte sich neben sie.

»Na, Schlafmütze?« Nach einer kurzen Pause, in der er genüsslich in der Luft geschnuppert hatte und wohl den Pflanzeneintopf gerochen hatte, stieß er sie liebevoll an. »Hast du vor, nur noch zu schlafen?«

Belinda sah zu Mink. Ein kleines grauschwarzes Bündel, das sich langsam auf und ab bewegte. Sie schlief. Belinda ärgerte sich, wusste aber nicht worüber.

»Nein«, sagte sie daher schroffer als gewollt, während sie Meruns roten Umhang betrachtete. »Aber seit zwei Wochen kann ich tagsüber nicht eine Sekunde schlafen. Nachts bin ich dann völlig kaputt.« Sie machte eine Pause, ließ ihre Beine baumeln und starrte ihre geringelten Socken an.

Merun knuffte sie sanft. »Wo bist du mit deinen Gedanken, Schwesterchen?« Anscheinend hatte sie längere Zeit nichts gesagt.

Belinda wusste es selber nicht. Da war soviel auf einmal. Zuerst konnte sie tagsüber nicht mehr schlafen. Dann schlief sie nachts immer im Unterricht ein. Außerdem konnte sie nichts wirklich gut. Und Marie konnte alles. Und alle die als erwachsenes noch rote Umhänge trugen, waren in nichts wirklich gut; sie schrieben Termine für Andere auf, die richtig gut in etwas waren. Sie brachten Speisen wohin, die Andere gekocht hatten. Sie erzählten von Anderen und was diese gemacht haben. Belinda wollte keinen roten Umhang haben, auch wenn Rot und Lila ihre Lieblingsfarben waren. Sie wollte wie Marie einen zweifärbigen Umhang, aber das gab es nicht; zumal es keine lila Umhänge gab.

Merun hatte seinen noch–roten Umhang bereits hinter der Tür neben ihren gehängt. Merun war wie Kira ebenfalls schlau und gerade dabei, einen blauen Umhang verliehen zu bekommen; dafür lernte er im Moment ohne Pause.

Und später, wenn sie Heim kam, würde Oma Lara ihren grünen Umhang dazu hängen.

Alle waren etwas, taten etwas was sie besonders gut konnten. Nur Belinda schlief immer wieder ein und lag tagsüber in absoluter Schwärze wach. Das, ihre Liebe zu Laras Geschichten, und die Gabe, in der alten Lehre immer unaufmerksam zu sein, war alles, was ihr einfiel, worin sie gut war. Ach nein, da war noch etwas, aber das konnte Belinda selbst nicht ganz begreifen; doch ihr Inneres legte sich trotzig darum …

»Weißt du, warum du plötzlich wach liegst?«

Belinda schüttelte langsam den Kopf, während Merun sich seine Portion aus dem Kühlschrank nahm und aufzuwärmen begann.

»Keine Ahnung.« Lila, rot, lila, rot, hin und her. Belinda starrte auf ihre Socken. Dann auf die Uhr; Mitternacht war schon längst vergangen, bald würde Kira kommen. »Ich mache meine Hausaufgaben«, seufzte sie und lenkte somit vom Thema ab. Aus irgendeinem Grund wollte sie nicht über ihre Schlafstörung sprechen. Wohl, weil sie das Gefühl hatte, es hätte sowieso keinen Sinn.

Als sie aufstand und nach einem Naschstein in der Hosentasche griff und ihn Mink reichte, seufzte Merun.

»Hast du noch immer diese Kinderspinnerei im Kopf?« In letzter Zeit war Meruns Stimme tiefer geworden und Belinda mochte nicht, wie er plötzlich so aufgeklärt und erwachsen tat.

»Nein.« Belinda klang kühl, während sie nach ihrer Schultasche griff.

»Aber du hast doch- …«

»Na und.«

»Aber das ist- …«

»… meine Sache …«, beendete Belinda Meruns Satz, während sie sich zu ihm an den Tisch setzte und ihre Hefte und Bücher vor sich ausbreitete.

Belinda hasste Meruns Standpunkt zu diesem Thema. Früher war er mit dabei gewesen, nun war er engstirniger, als so manche Blaumantel-Erwachsene. Außerdem sprach er nicht mit seinen Worten, sondern mit Lesters. Überhaupt sprach er seit einiger Zeit voll und ganz wie ein doofes Buch.

Eine Zeit waren die Kinder stumm am Tisch nebeneinander gesessen, während das halbstarke kühle Licht, über ihnen allzu leise surrte. Merun führte langsam Löffel für Löffel zum Mund, während er in einem dicken Buch mit vergilbten Seiten blätterte.

Belinda arbeitete ebenfalls für die Schule; sie beantwortete Fragen zum Großtag, den großen wichtigen Tag, seit dem die Sonne plötzlich nicht mehr aufging, und seit dem sie nachts wach waren, weil tagsüber eine dichte, deckende Schwärze alles verschlang. Außerdem schrieb sie Sätze die sich reimten über eine kleine Katze, und rechnete irrsinnige Dinge aus – Zehn Steine minus drei Autos, mal zwei Laternen, wenn alles durch zwei geteilt wird – oder so etwas in der Art. Wieviel Kopfschmerzen verursacht das, wenn zweiundzwanzig Schüler so einen Blödsinn machen müssen?, dachte Belinda grimmig. Sie konnte nicht verstehen wie es Kinder geben konnte, die so etwas wirklich, tatsächlich, ohne Schummelei und gekreuzten Fingern, mochten … Wie auf´s Stichwort, klopfte es an die Tür und die Kinder sahen auf.

»Herein!«, schrieen sie gleichzeitig und verwundert sahen sie sich an.

»Lester kommt auch vorbei«, erklärte Merun.

Belinda verdrehte die Augen. Sie konnte Lester nicht ausstehen.

»Und ich warte auf Kira«, erklärte sie schließlich, als sich die Tür öffnete und ihre Freundin auch schon eintrat.

Merun grinste sie an.

»Oh, habt ihr zuwenig Licht?« fragte Kira sogleich, als sie sich zu Belinda an den Tisch setzte. Ihre schwere Schultasche stellte sie neben sich ab.

»Ja, Lara hat die Woche viel Zeit im Gartenschuppen verbracht – und wir haben vergessen, dass sie uns gebeten hat, einkaufen zu gehen.«

Belinda zuckte mit den Schultern und klappte ihr Heft zu.

»Wenn du willst, können wir ja einkaufen gehen, es ist erst drei Uhr«, schlug Kira freudig vor.

Eigentlich war das keine schlechte Idee, aber Belinda hatte schlechte Laune und als sie aufstand, um Mink noch einen der kohlrabenschwarzen Naschsteine zu reichen, sah sie aus den Augenwinkeln, wie Merun schon wieder die Augen verdrehte. Es war nur kurz gewesen, aber es ließ Belinda etwas Heißes in ihrer Brust spüren, das zähflüssig und schwer brodelte und blubberte, wie Oma Laras Zaubertrank in der alten Lehre.

Es war nicht lange her, da waren sie und Merun ein Herz und seine Seele gewesen, doch irgendetwas hatte sich verändert.

»Ach nein, das soll Merun machen«, meinte Belinda bestimmt, mit einem Unterton von Trotz. Das dürfte auch Meruns Sturheit geweckt haben, denn der meinte bloß mit gerunzelter Stirn:

»Warum ich?!«

»Weil du der ältere Bruder bist« entgegnete Belinda schnell.

»Aber du hast nichts zu tun, außer Kinderkram mit Phantasiefreunden nachzugehen« sagte Merun schroff. Dann hob er seine Stimme und sein Kinn etwas an, als würde etwas oder jemand enorm Wichtiges, vor dem man Eindruck schinden wollte, plötzlich mit ihnen im Zimmer sein. »Ich habe viel zu lesen.«

Da verdrehte Belinda die Augen; und Merun schnaufte wütend.

Mink schüttelte sich, ob der plötzlich elektrisierten Stimmung, flog auf Belindas Schulter und lehnte ihren kleinen Kopf an ihren Hals. Dann drückte sie dagegen, ein Zeichen, sie wollte gestreichelt werden. Belinda fuhr ihren kleinen Kopf auf und ab.

Merun streckte seine Hand mit gestrecktem Zeigefinger aus und zeigte auf Belinda.

»Da, frag´ doch Kira!« schimpfte Merun und seine Stimme überschlug sich fast, sie war mal piepsig hoch, mal dunkel und schwer. »Das ist ja nicht normal! Du bist zu alt für solchen Kinderkram!«

Kira schaute erschrocken zwischen den Geschwistern umher. Gerade öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, da fuhr ihr Belinda schon ins Wort.

»Und du bist plötzlich, ahhh …!« Belinda fand nicht die richtigen Worte. »Ein Blödmann!« vollendete sie schließlich den Satz und stellte ihr rechtes Bein auf die erste Stufe der Wendeltreppe, als es klopfte und die Tür aufging. Lester begrüßte alle.

Auch das noch. Meruns Freund trug ebenfalls einen blauen Umhang, war ebenfalls superschlau und kannte beinahe jedes Buch aller höheren Schulstufen in jedem Fach – außer der alten Lehre. Lester boykottierte die alte Lehre, und bezeichnete sie als Unfug, Humbug und Spinnerei. Dennoch wusste er gerade so viel darüber, dass er die bestmögliche Note darin erhielt.

Belinda konnte diese Gemeinsamkeit mit Lester nicht leiden.

Eigentlich konnte sie nichts mehr an ihm leiden. Lester war schon seit Jahren Meruns bester Freund, und eigentlich war er immer halbwegs erträglich, ganz selten sogar nett zu ihr gewesen. Aber nun war er der größte Doofkopf, den man sich vorstellen konnte.

Als Lester die angespannte Stimmung bemerkte, meinte er leichthin, »Was ist denn hier los?« Seine braunen Locken rutschten ihm über die glatte Stirn. Er machte sein Denkergesicht, das, für Belinda, einfach nur dämlich aussah, und das Merun seit kurzem heimlich vor einem Spiegel übte.

»Nichts«, meinten die Geschwister bissig, wie aus einem Mund.

Lesters eben noch offener Blick erhellte sich, und plötzlich wirkte er böse. Er schaute zu Belinda, die eine Hand auf der Schulter hatte, auf der Mink saß. »Geht es noch um deine Baby-Schwester, die an Märchen, aber nicht an Fakten aus Büchern glaubt?« Er hielt ein rot eingeschlagenes Buch in Belindas Richtung. »Zufällig steht auch hier in diesem Buch, dass es keine Fledermäuse mehr gibt, willst du sehen?« Es war ein Spiel für ihn, und er hatte das Buch extra mitgenommen, um Belinda zu ärgern.

Merun schlug die Seite auf, die Lester ihm angesagt hatte.

Merun wollte Belinda nicht wie Lester ärgern, aber ihn ärgerte, dass Belinda an Unfug glaubte.

»Da! Wie kannst du so blind sein?!« Auch er streckte ihr das Buch hin und begann mit lauter, monotoner Stimme zu lesen. »Gänzlich alle Fledermausarten, unter anderem Breitflügelfledermaus, graues Langohr, Hufeisennasen, Abendsegler und viele mehr, sind mittlerweile ausgestorben. Zurzeit steht zur Debatte, ob es sie überhaupt einmal gegeben hat, oder ob …«

Belinda winkte gleichermaßen ermüdet, als verärgert ab. Sie und Kira ließen die Jungs zurück und stiegen die Treppe hoch. Sie wollte gar nicht hören, was die doofen Jungs zu sagen hatten. Als sie im obersten Zimmer angekommen waren, ließ Belinda die Falltür lautstark hinter Kira zuknallen.

Kurz waren die Mädchen ganz still, nur Minks Flügelschlag, als sie auf ihren Platz am Deckenbalken hochflatterte, war zu hören – naja, zumindest für Belinda. Glöckchen, Klingeln, Klopfen, so klang er, der Flügelschlag, und es war eines der Lieblingsgeräusche von Belinda.

Kira war hin und her gerissen. Auf der einen Seite wollte sie ihre Freundin trösten, auf der anderen Seite verstand sie Meruns Einwand. Es war eben nicht zu leugnen, ihre beste Freundin sprach mit einer unsichtbaren Fledermaus, und langsam begann auch sie sich zu fragen, warum. Und ob es nicht klüger wäre – auch wenn es irgendwie traurig war –, dass Belinda diese Vorstellung allmählich aufgeben würde.

Belinda wollte etwas zu Kira sagen. Aber es war nicht zu leugnen, sie war ebenfalls ein Bücherwurm geworden, und immer öfter sprach sie in Sätzen, die sie nicht ganz verstehen konnte, oder wollte. Belinda hatte Angst, dass Kira sich auf Meruns Seite schlagen würde, doch da sagte ihre Freundin, in eben dem rechten Zeitpunkt:

»Lass uns doch die Jungs vergessen und spielen!« Sie schmiss ihre Schultasche auf den Boden, dabei war sie so sorglos, dass es Belinda freute. Es kam nicht mehr allzu oft vor, dass sie spielten.

Ihr Herz machte einen Satz, als sie aus einer Kiste die Spielfiguren klaubte, während Kira neben ihr Bäume und Häuser aufstellte und Mink ihr über die Schulter spähte.

Belinda spielte so gerne mit Kira, dass sie später, als Mink neben ihnen gelandet war und schon wieder um einen Naschstein und eine Streicheleinheit bettelte, des Friedens willen ihren Zeigefinger unbemerkt auf ihre Lippen presste, worauf Mink sich anstaltslos auf ihrer Schulter niederließ und schlief.

Es war einmal … Hoch Zwei

Belinda wurde durch das grelle Licht wach. Jemand musste einen vollen Akku in die Fassung geschraubt haben, denn alle Lampen in ihrem Zimmer – die auf der Kommode, die an der Wand darüber, die Stehlampe neben dem Schrank, und die Deckenleuchte –, strahlten nun höchstmöglich.

Belinda blinzelte geblendet. Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie die eingravierte Fledermaus an ihrem Kopfteil des Bettes nach. Das tat sie immer im Halbschlaf. Plötzlich aber war sie hellwach.

Belinda sprang aus ihrem Bett und zog die lila Vorhänge ihres runden Fensters zur Seite; es dämmerte bereits … die Sonne würde dennoch nicht über die Horizontkante linsen. Ein Spiel was sie mir Lara seit ein paar Wochen spielte: Belinda zog zu Dämmerbeginn die Vorhänge auf, als warte sie auf die Sonne, Lara schloss sie wieder.

Hinten, hinter dem schattigen Fleck der großen Eiche am Horizont, begann der Tag in die Nacht zu kriechen, ohne dass er tatsächlich ankommen würde. Stattdessen würde in dem Augenblick, in dem der erste Sonnenstrahl des Tages geboren worden wäre, eine dichte Schwärze auf die Erde herabsinken, die alle blind machte, als sinke schwarzer Nebel zwischen alles Leben auf Erden. Er war so dicht, dass man nicht einmal einen Schritt weit sehen konnte.

Kira war bereits Nachhause gegangen und Belinda hatte im Bett mit Mink Flugkunststückchen geübt, als sie erneut eingeschlafen war.

Nun klang Oma Laras Stimme dumpf im Erdgeschoss und Belinda wirbelte freudig die Stiegen hinunter, so schnell, dass nicht einmal die fliegende Mink mithalten konnte.

»Lara, du bist schon da!« freute sich Belinda und fiel ihrer Großmutter um den Hals. Lara lachte mit ihrer hellen Glöckchenstimme, die mindestens zwanzig Jahre jünger war, als es die kleinen Krähenfüße, um ihre grünen Augen erahnen ließen.

Sie stellte eine Tasche voll Lebensmittel neben den Kühlschrank und sofort machte sich Belinda daran, ihr beim Ausräumen zu helfen.

Merun saß noch immer in seinen dicken Wälzer vertieft am Küchentisch. Sein rotes Haar stand ihm wie Flammen vom Kopf ab und die Sommersprossen auf seinen Wangen tanzten wie kleine Sterne, wenn er den Mund kurz verzog, wie er es oft tat, wenn er Gelesenen wiedersprechen wollte.

Wenn Belinda mit jemanden Zoff hatte, freute sich ihr Herz immer besonders über Oma Lara, denn mit ihr war es beinah unmöglich zu streiten. Ein paar wenige unwichtige Kabbeleien die sofort wieder vergessen waren, übers Zähneputzen, Spitzzahnstutzen, Schlafengehen, Schulnoten. Doch das alles war nicht schlimm. Oma Lara war das Zentrum, um das sich Belinda wie ein Planet um die Sonne drehte. Oma Lara, Merun und Mink. Mink war seit sie denken konnte an ihrer Seite gewesen, und zu behaupten sie gäbe es nicht, war einfach nur … dumm. ´Fledermäuse sind ausgestorben´, hatte Merun letztens gewettert.

´Dann stimmt das eben nicht´, hatte Belinda entgegnet.

´Außerdem sind sie nicht unsichtbar, das ist völliger Quatsch´

´Ist es nicht!´.

Während dieser Auseinandersetzung hatte Mink, dieses kleine Leckermaul, gerade auf Meruns Schulter an einem Naschstein geknabbert und Krümel hatten sich in seinen Haaren verfangen. Seit seiner Kindheit konnte sich Merun die Krümel in seinen Haaren nicht erklären, aber Oma Lara schimpfte immer und mahnte zur Sauberkeit.

Belinda konnte es sich ja auch nicht erklären, warum sie so anders sah als die anderen, aber sie konnte doch ihren eigenen Augen trauen. Dabei behielt sie ohnehin schon für sich, dass sie, während alle über die triefende Schwärze des Tages jammerten, gar nicht unschlecht sehen konnte. Sie war dann nicht blind wie die anderen, sie wusste nur nicht warum und sie wollte nicht noch eine Sache sehen, während alle anderen blind waren.

Oma Lara stand am Herd und erwärmte ihre Portion Eintopf. Mink ließ sich vor Merun nieder, und der schlug seufzend das Buch zu. Belinda schmiegte sich seitlich an ihre Oma und die legte eine Hand um sie.

»Bist du mit deiner Forschung weitergekommen?«, wollte Merun wissen und Belinda verdrehte die Augen. Warum konnte er nicht wie all die Jahre zuvor fragen, ob Oma Lara neue Zaubertricks herausgefunden hatte; ihr war es zu verdanken, dass es Flyball gab – wenn man die Tarette Schlingpflanze aß, konnte man für einige Stunden schweben. Oma Lara war dabei herauszufinden, warum das allerdings für manche galt und andere nicht. Merun jedenfalls war einer der besten in Flyball. Er schoss Korb um Korb, fädelte Ring um Ring ein, riss keine einzige Leine und stürzte kein einziges Mal ab.

Es war, als könne er auf eine Art durch die Luft schwimmen, wie es niemand sonst konnte. Und als wäre das nicht genug, hatte sich letztes Jahr sein Geschick für Bücher herausgestellt, indem er immer mehr Fragen stapelte und sie den Lehrern entgegenwarf. Zu Beginn waren es noch Fragen gewesen, die die Lehrer nicht beantworten konnten. Bald jedoch waren es Fragen geworden, deren Antworten in dicken verstaubten Wälzern standen. Und wie jeder Blaumantel konnte er das Buch der Wichtigkeit in und auswendig.

Belinda hatte Meruns Veränderung und seine blöden Fragen und Antworten, um die niemand bat, satt.

»Hast du eine neue Theorie?«, fragte Merun weiter, und als Belinda wieder die Augen verdrehte, machte er etwas, mit dem Belinda nicht mehr gerechnet hatte; er zeigte ihr die Zunge. Belindas Herz hüpfte freudig; vielleicht war da ja doch noch etwas, von ihrem Bruder übrig, dass nicht so furchtbar korrekt war.

Oma Lara hatte eben in ihrem Eintopf gerührt, nun klopfte sie zweimal laut auf den Rand des Topfes.

»Habt ihr euch noch immer nicht vertragen!?«, schimpfte sie, ohne auf Meruns Frage einzugehen.

Der Eintopf begann zu dampfen und wie nebenbei zog sie den Topf zur Seite. Sie schaute ihre Enkelkinder an und die Offenheit in ihren Blicken, löste jedes Mal etwas Kribbeliges in ihr aus, das sie in einen Vogelkäfig sperren wollte, um es zu schützen.

Seit zwei Wochen hatten sich Merun und Belinda in den Haaren. Und seit zwei Wochen schlief ihre Enkelin im Unterricht ein; und stibitzte ihr Enkel Edelsteine um länger in seinen Büchern lesen zu können. Langsam hatte er Augenringe unter den jungen grünen Augen, die viel zu schnell matt wurden – und blieben.

»Merun« sagte sie und drehte sich zum runden Tisch an dem Merun plötzlich klein und verloren aussah. Als hänge er wie zufällig an einem Zipfel des Eichenholzes. »Ab ins Bett – und wasch dir die Brösel aus den Haaren, du Waschbär!« Sie lächelte. Dann schaute sie wieder ernst.

»Und Belinda. Wir beide treffen uns dann oben in deinem Bett.«

Wenn Oma Lara in diesem Ton sprach, widersprach man nicht. Man machte einfach was sie wollte und fühlte sich dabei so, als wäre es von Anfang an die eigene Idee gewesen, und ohnehin das Logischste der Welt.

Belindas Bett war aus Ebenholz gefertigt. Am Kopfende prangte eine große gravierte Fledermaus in Schwarz und außer den roten und lilafarbenen Bettlacken und Bettzeug, gehörte eine Sache unbedingt zu ihrem Bett; unter dem rechten unteren Fußpfosten – wenn man drinnen lag – wohnte jemand, was wohl den ein oder anderen nicht allzu gut schlafen ließe; eine nicht ganz so kleine Spinne namens Klitzelitz. Als Belinda sie im zweiten Kindergartenjahr zum ersten Mal entdeckt hatte, hatte sie freudig gelacht und wollte die scheue Spinne streicheln. Als sie sie dann zum zweiten Mal gesehen hatte, war Belinda gerade in die Schule gekommen und hatte sich furchtbar vor der Spinne gefürchtet, bis sie einen Traum von ihr hatte, in dem unter ihrem schwebenden Bett plötzlich Luftballons, Girlanden und Schokobonbons herausquollen und eine kleine Spinne meinte: Ich bin Klitzelitz, und ich kann zaubern, kein Witz!

Belinda war lachend wachgeworden und seitdem liebte sie die kleine Spinne, die mal einige Tag verschwand und dann wieder gut gelaunt in ihrem Netz hing. Oft, wie auch heute, legte Belinda Brotkrümel für sie unter das Bett.

Seit Belinda nicht mehr schlafen konnte, war auch Klitzelitz verschwunden. Heute war sie zum ersten Mal wieder da.

Belinda konnte Klitzelitz kaum gebührend zurück begrüßen, als sich auch schon die Falltür langsam nach oben drückte, und Oma Laras Kopf zum Vorschein kam. Zu Belindas Erleichterung sah sie wieder frischer aus; die Erschöpfung von eben war ihr nicht mehr anzusehen.

Belinda wusste, dass sie am Weg nach oben an Meruns Bett getreten war. Das tat sie immer, die Decke bis zu seinem Kinn hochziehen, seine Haare zur Seite streichen und ihm einen Kuss auf die Stirn geben. Seit einiger Zeit hatte Merun keine Lust mehr auf Märchen; das war alles, was vom liebevollen Abendritual geblieben war.

»Bereit für ein Märchen?«, fragte Oma Lara ebenso leicht wie jeden Morgen und zog die lilafarbenen Vorhänge vor dem runden Fenster zu. Gerade erst begann die dichte Schwärze wie Tinte über den Horizont zu kriechen und waren nun schon ausgesperrt.

Belinda kuschelte sich ein, Mink flatterte auf Oma Laras Schulter, und die neigte für einen winzigen Moment ihren Kopf irritiert zu der Seite, auf der sich die Fledermaus niedergelassen hatte. Dann schüttelte sie den Kopf und setzte sich neben Belinda ins Bett.

Das Holz knarzte etwas und Belinda begann sich zu entspannen. Sie war sich zwar sicher, dass sie wieder nicht würde schlafen können, aber sie freute sich auf ein vorgetragenes Märchen von Oma Lara. Zu Belindas Verwunderung griff Lara nicht zu ihrem Buch mit den niedergeschriebenen Märchen, sondern sie begann, hinauf zu den Dachbalken zu schauen, als sehe sie dort etwas.

»Heute will ich dir von einem neuen Märchen erzählen, das eigentlich älter ist als die, die du schon kennst«, sagte Oma Lara geheimnisvoll und überraschte Belinda.

Langsam strich Oma Lara über den Walnussstock in ihrer Hand. Ihr Erzählstab, den hatte sie immer dabei. Weil ich etwas zur Beschäftigung meiner Hände brauche, hatte sie sich immer begründet. Aber heute war so ein Tag, da lag etwas in der Luft … Ein Tag an dem einen die Haare in den Eintopf klatschten, und man alles wie zum ersten Mal hört. Also runzelte Belinda die Stirn; ihre rötlichen Augenbrauchen zogen sich zusammen und ihre Augen wurden kugelrund.

»Lara?« Sie machte eine kurze Pause, weil sich ihre Großmutter den Pullover zu richten begann und unruhig hin und her rutschte. »Warum hast du diesen Stab so oft in der Hand?«, wollte Belinda wie zum ersten Mal wissen, denn heute war ein Tag, an dem man eine neue Antwort auf eine alte Frag bekam, das konnte Belinda spüren. »Und warum …« – schickte sie noch schnell nach, weil es plötzlich mit Wichtigkeit in ihr drängte, und die Gelegenheit günstig schien – »ist unsere Schulglocke eine Fledermaus, wenn alle erzählen, dass Fledermäuse ausgestorben sind?!«

»Die Schulglocken sollen keine Fledermaus abbilden, Belinda.« Belinda zupfte an ihrem roten Kissen, wie sie es immer bei Laras Geschichten tat. »Es sind Drachen.«

Belinda machte große Augen und starrte das Profil ihrer Großmutter an. Diese sah weiterhin zu den Dachbalken. Ihre hochgesteckten roten Haare ruhten auf dem Eschenholz ihres Bettes, und Mink blickte interessiert zwischen ihr und Belinda umher. Lara sah müde aus, aber nicht erschöpft. Ihre Haut schimmerte rosa und ihre wiesengrünen Augen waren hellwach. Ihre Finger, mit denen sie an dem Stab herum nestelte, waren etwas schmutzig. Wenn Belinda sie in die Hand nehmen und daran riechen würde, würde sie neben der Basisnote Erde, außerdem noch Holz, Kohle, Alkohol, Edelsteinnektar, Walnussholz und irgendetwas Unbekanntes ausmachen können. Es war das Beste, es war das letzte was sie vorm Schlafen wahrnahm und das Erste, woran sie sich beim Aufwachen erinnerte; die Hand, die sie liebevoll über den Kopf gestreichelte hatte.