Berlin could burn at a silent sunny day (but the West is never wrong) - Binswanger 2 - Lucie Lepelbet - E-Book

Berlin could burn at a silent sunny day (but the West is never wrong) - Binswanger 2 E-Book

Lucie Lepelbet

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Beschreibung

Hauptkommissar Binswanger begegnet im April 2024 einer kleinen Gruppe von Friedensdemonstranten, die ihn zum Nachdenken bringt: Wichtige Themen wie Waffenlieferungen und Bündnisbeitritte werden von Leuten dominiert, die Prinzipien und moralisch integre Grundsätze zu den hellsten Leitsternen ihrer Wortbeiträge machen.
Sterne sind schön anzusehen, doch jedes Kind weiß, dass Prinzipien stets zu einer Begrenzung der eigenen Gedanken und Möglichkeiten führen und Selbstkritik so gut wie vollständig ausschließen. Europa jedoch befindet sich in einem geschichtlichen Abschnitt, in dem jede Entscheidung ein Schritt zum Frieden oder Richtung Krieg ist.
Hans "Sperber" Binswanger stellt Fragen, die sonst niemand stellt, unter anderem, ob Europa sich eine nur auf Prinzipien basierende Politik leisten kann, die zwangsläufig zu einer Selbsteinhegung des Denkens und der Entscheidungsfreiheit führt, denn Prinzipien bedeuten immer eine enge Sichtweise und einfachste Wahrnehmung der Realität.
Die formale Schuld für die Tragödie im Osten Europas liegt klar beim Angreifer, aber Binswanger erkennt im Westen keine Weisheit. Er erinnert sich an sehr kritische Worte, die ein inzwischen verstorbener Altbundeskanzler im Mai 2014 Richtung EU gesprochen hat; heftige Vorwürfe, die scheinbar längst in Vergessenheit geraten sind. Doch sie hallen immer noch nach, und mit etwas Glück formieren sie sich in den Gedanken des Zuhörers zu einer neuen Frage: Wie breit oder schmal ist der schützende Grenzbereich zwischen moralgeleiteter Prinzipientreue und gemeingefährlichem Weltkriegspotenzial?
Den Hauptkommissar beschäftigt auch eine Gewalteskalation unter Minderjährigen, die ihn an die Grenzen seiner emotionalen Belastbarkeit bringt. Er fragt sich, ob die Politik Europas und das gesellschaftliche Geschehen durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden sind. Und mehr noch: Hält der Westen den Schlüssel für die Tür zum Frieden in den Händen; für ein erstes wichtiges Signal der Entspannung und für ein neues Zeitalter einer zart erblühenden, doch verletzbaren Weisheit, ohne sich dessen bewusst zu sein? Sperbers Gedanken entsprechen einer thematischen Abhandlung, die in dieser Denkbreite und Tiefe einzigartig ist. Doch sie ist bitternötig, um Antworten zu finden auf eine entscheidende Frage: IS THE WEST REALLY NEVER WRONG?
May be not only Russia, but also the western political mainstream accidentally builds a fatal future. Be smart while the others are not so smart. Search for answers and recognize the importance of your own minds in this dark and dangerous times, in which the future appears as a period of high risks, and in which others try to manipulate your thoughts and destroy your abilities of mental independence. Let's find the way to wisdom and peace, step by step, may be into a world of new acceptance and trust between the nations ...

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lucie Lepelbet

Berlin could burn at a silent sunny day (but the West is never wrong ...) - Binswanger 2

politischer kein Krimi-Krimi

UUID: 46c0a3cf-f129-4e01-8435-f8e38554fdf2
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Mittwoch, 03.04.2024

Kapitel 2: Donnerstag, 04.04.2024

Kapitel 3: Donnerstag morgen, 04.04.2024, Charlottenburg-Wilmersdorf

Kapitel 4: Donnerstag, 04.04.2024

Kapitel 5: Donnerstag, 04.04.2024, Charlottenburg-Wilmersdorf

Kapitel 6: Donnerstag, 04.04.2024

Kapitel 7: Freitag abend, 05.04.2024, Charlottenburg-Wilmersdorf

Kapitel 8: Freitag spät abends, 05.04.2024

Kapitel 9: Samstag, 13.04.2024, Charlottenburg-Wilmersdorf und am Abend zu Hause

Anhang 1: Donnerstag abend, 04.04.2024

Anhang 2: Donnerstag abend, 04.04.2024

Anhang 3: Donnerstag abend, 04.04.2024

Epilog: Juli 2024, nach der Europawahl

Nachtrag: November 2024, nach der Wahl in den USA

Hinweise

Impressum

Virtueller Buchrückentext

Lucie Lepelbet

Berlin could burn at a silent sunny day (but the West is never wrong ...) - Binswanger 2

Grauzone Berlin / politischer kein Krimi-Krimi

Erstausgabe

1. Auflage

BookRix GmbH & Co. KG

Werinherstr. 3

81541 München

Kapitel 1: Mittwoch, 03.04.2024

Hans Binswanger stöhnte, als er den Wecker hörte. Dann spürte er eine sanfte Handfläche auf seiner Brust und einen Kuss auf seinem Mund.

»Aufstehen, Schatz, du musst zur Arbeit.«

Sperber fand es eigentlich schön, wenn er morgens sofort nach dem Wecker die Stimme seiner Frau hörte, die Frühaufsteherin war und bestimmt schon das Frühstück gemacht hatte. Aber diesmal war er zu müde. Erneut stöhnte er nur. Am liebsten würde er bis zum Mittag im Bett bleiben und weiterschlafen.

»Sei nicht so wehleidig. Na los, komm. Raus aus den Federn!«

»Heute nicht. Mich hat die Frühjahrsmüdigkeit erwischt.«

»Unsinn, die hat dich noch nie erwischt. Ich war schon mit Judy raus, habe Brötchen geholt und Kaffee gekocht. Alles ist bereit. Leckere, knusprige Brötchen mit Butter, Salami und Käse warten auf dich. Genau so, wie du es gerne hast. Dick Butter drauf, richtig schön ungesund.«

»Du bist ein Schatz. Ich bleibe trotzdem noch zwei, drei Stunden im Bett.« Natürlich stimmte dies nicht, denn auch Judy kam hinzu, machte auf ihre sanfte Art Druck und trieb Sperber letztendlich aus dem Bett. Zehn Minuten später saß er am Frühstückstisch, trank Kaffee und kaute seine geliebten Frühstücksbrötchen von der Bäckerei ganz in der Nähe. Außerdem las er die Zeitung und zwischendurch blickt er ab und zu kurz auf die Uhr, weil Halfmann um halb acht unten warten würde, um ihn mit zur Dienststelle zu nehmen. Seit November 2021 bestand ja dieses Arrangement.

In der Zeitung waren, wie so oft, auch mal wieder einige Leserbriefe zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Meinung einer Leserin fiel ihm besonders auf:

Als Leserin Ihrer Tageszeitung äußere ich zum ersten Mal meine Meinung. Es scheint dringend notwendig zu sein, auf die postpandemischen Irrtümer und Verwirrungen in Europa hinzuweisen. Dass die formalrechtliche Schuld für den sinnlosen, furchtbaren Krieg gegen die Ukraine bei Russland liegt, ist natürlich klar und müsste eigentlich nicht extra erwähnt werden. In diesem Punkt hat unsere Politik absolut recht. Und ansonsten? Politik ist, wenn Menschen ihre Vorstellungen und ihren Willen durchsetzen wollen. Die Frage ist nur, ob ihre Ziele und Beweggründe richtig sind, und ob die Chancen, Ziele zu erreichen, korrekt eingeschätzt werden. Kritisch wird es, wenn Weisheit und Selbstkritik fehlen und der Bezug zur Realität verlorengeht. Politisches Handeln nur nach Recht und Moral, aber ohne ausreichende Berücksichtigung von Realität, Weisheit, Urteilsfähigkeit und Vernunft kann in Kriegszeiten zu gemeingefährlichen Resultaten führen, und in Friedenszeiten kann es zur Entstehung von Kriegen beitragen. Dies ist leider passiert. Das aktuelle Weltgeschehen, das mit seiner Entstehung in die 1990er-Jahre zurückreicht, bestimmt letztendlich über die Zukunft von jeder und jedem Einzelnen von uns. Ob Europa und die NATO aktuell auf dem richtigen Weg sind, ist Ansichtssache. Vielleicht will und wollte man seinen geo- und bündnispolitischen Willen zu sehr durchsetzen. Vielleicht war man in den frühen 1990er-Jahren, als man die Ukraine an den Westen heranführen wollte, zu ungeduldig. Vielleicht waren die Beweggründe zu egoistisch und die Absichten nicht ehrlich genug. Vielleicht wollte man zu sehr den eigenen Vorteil erreichen und den Systemgegner zu sehr schwächen. Im Ost-West-Verhältnis geht es doch immer auch um die eigenen Interessen und die Destabilisierung des Konterparts. Schade eigentlich. Vielleicht hatte man sich langfristig sogar einen Wandel Russlands hin zu einer Demokratie erhofft, als östlichsten, freundschaftlich-partnerschaftlichen Bestandteil der "westlichen" Welt. Hat nur nicht geklappt. Dies waren allerdings Fehler einer anderen Politikergeneration in einer anderen Zeit gewesen, die jedoch bis heute nachwirken und Steilvorlagen zu allem gegeben haben. Aber vielleicht gab und gibt es Fehler und Fehleinschätzungen in der westlichen Willensbildung auch in der Zeit danach, aktuell ebenso wie zum Beispiel in den Jahren zwischen 2010 und 2022. Vielleicht war und ist der Westen nicht sehr schlau. Vielleicht wurde die Rolle der Ukraine für die Sicherheitsarchitektur Europas bereits vor über 30 Jahren viel zu hoch oder falsch eingeschätzt. Oder sie wurde richtig eingeschätzt, aber man entschied sich für den falschen Weg. Vielleicht setzt sich die Politik des falschen Weges bis in die Gegenwart fort, nachdem uns das durch sie mitverursachte Problem vor zwei Jahren auf die Füße gefallen ist. Das alte westliche Konzept der sanften Expansion Richtung Osten ist an der Realität klar gescheitert. Die ganzen Bemühungen der vergangenen Politikergenerationen um die Länder östlich der Nato waren umsonst und rückblickend betrachtet nicht besonders weise, sondern desaströs. Alles andere wäre Schönrederei. Nur spricht dies leider niemand aus. Und nun stehen unsere aktuellen Politiker vor einem großen Problem, zu dem sie durch Fortsetzung der faktischen Fehlpolitik nicht minder beigetragen haben, und wissen nicht, damit umzugehen. Sie machen weiter wie bisher und klammern sich an ihre Prinzipien. Notfalls muss man die Dinge erzwingen. Zwang, die Notlösung, wenn nichts anderes mehr funktioniert. Dabei leider unberücksichtigt bleibt die elementarste Gesetzmäßigkeit aller Kriege: Auf die Vergeltung folgt die Vergeltung folgt die ... Auf den Gegenangriff folgt ein Gegenangriff. Ein starker Schlag wird mit einem noch stärkeren Gegenschlag beantwortet. Gleichstand, Augenhöhe, Innehalten und Verhandlungsbereitschaft können so nicht erzielt werden. Man müsste nur auf die Kriege der Vergangenheit schauen oder auf den Krieg zwischen Israel und seinen benachbarten Feinden. Doch man ignoriert das Offensichtliche. Diese realitätsverdrängende Ignoranz geht sogar so weit, dass Europa allein die Ukraine im Krieg weiterhin unterstützen würde, selbst wenn die USA nach den Wahlen in diesem Jahr eine Friedens- oder Waffenstillstands-Initiative starten und die Ukraine vor die Wahl setzen würden, zuzustimmen oder ohne die USA auskommen zu müssen. Ein Europa, das die Ukraine unter diesen Bedingungen ganz allein weiterhin unterstützt, wäre für die europäische Bevölkerung äußerst gefährlich, zumal ein Kampf der Ukraine um die Rückeroberung ihrer Gebiete ohne Waffenlieferungen aus den USA aussichtslos wäre. Europa könnte dies nicht kompensieren und würde für seine Prinzipien ein sehr hohes Risiko eingehen. Der Kampf ist bereits jetzt aussichtslos, aber dies spricht in Europa niemand aus. Moralpolitik statt Scheinpolitik. Träume von rosa Wolken statt Anerkennung der ernüchternden Realität. Die Ukraine wird gegen Russland nicht gewinnen und verlorene Gebiete nicht zurückerobern können. Es ist nicht nachvollziehbar, dass unsere Anführer dies nicht erkennen. Wir brauchen realistische Leute und keine Politiker mit Tendenzen zu erweitertem Suizid. Außerdem ignoriert man entgegen jeglicher Realität den faktischen Beitrag des Westens zur Situation und die Bedeutung des Westens für den Weg zum Frieden. Lieber stur bleiben und einen Weltkrieg riskieren als sich zu besinnen. Man versteht es einfach nicht, und man erkennt es auch nicht; im Gegenteil: Sollten sich die USA irgendwann aus der Unterstützung der Ukraine zurückziehen, so würden gewisse europäische Politiker den verwegenen Plan fassen, die USA zu ersetzen und es notfalls mit Russland alleine aufzunehmen, ohne den mächtigen transatlantischen Partner zur Seite zu haben. Auch in Deutschland gab es schon solche Ankündigungen und Forderungen. Wir können nur beten, dass wir nach der nächsten Wahl die richtige Regierung haben werden, und keinen Weltkriegskanzler. Russland ist eine Atommacht, Deutschland nicht. Ich halte solche Pläne nicht nur für ruinös und zum Scheitern verurteilt, sondern vor allem für erkennbar leichtsinnig und gefährlich, denn die USA würden im Zeitalter der Atomwaffen vielleicht nicht helfen, wenn es durch eine solch unvernünftige Verwegenheit unnötigerweise brenzlig würde und es zu einem Angriff auf europäische Nato-Länder käme. Die USA könnten sagen: "Ihr habt selbst Schuld. Warum habt ihr nicht auf uns gehört ...?" und aus der Ferne nur zusehen. Derart risikobereite Prinzip-Politiker sind mit ihrer "Dann müssen wir eben mehr Waffen liefern"-Einstellung in ihrem Job fehl am Platze, da sie das Risiko für das eigene Land und für Europa immens erhöhen. Wir müssen uns also entscheiden, ob wir uns von der Politik formen lassen wollen, oder ob wir es sind, die die Politik formen. Ich bin nicht mit einer Gesellschaft einverstanden, in der Politik und Medien den Ton so sehr angeben, dass sie uns vorschreiben, was wir zu jeder einzelnen Herausforderung und Problematik zu denken haben. Ich bin nicht mit Politikern einverstanden, die uns auf der Grundlage schwerwiegender Fehleinschätzungen wie dumme Schafe an den Rand eines Abgrunds treiben. Ich bin nicht mit einem Europa einverstanden, in dem sachliche Diskussionen nicht mehr möglich sind, weil kritische Stimmen plump niedergebrüllt und verächtlich gemacht werden, durch eine sich gegenseitig selbst bestätigende scheinbare politische und mediale Meinungsmehrheit, die formal immer noch eine deutliche Bevölkerungsminderheit ist, denn Politiker und Journalisten bilden nur einen winzigen Bruchteil der Gesamtbevölkerung, stellen aber die Weichen für unser gemeinsames Schicksal. Wer soll übrigens auf diese offensichtlich methodische Vorgehensweise zur Herabwürdigung kritisch Denkender hereinfallen? Man kann außerdem nicht jedes vernünftige und realistische Argument mit dem Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr entkräften; und schon gar nicht, wenn man keine eigene adäquate Antwort auf schwerwiegende Probleme hat, zu denen der Westen möglicherweise seit mehreren Politikergenerationen Steilvorlagen gegeben hat. Diese Masche ist extrem leicht durchschaubar. Ich bin nicht mit Politikern einverstanden, die kriegspolitische Entscheidungen treffen oder befürworten, ohne erkennbar mehr als einen Schritt weit vorauszudenken und ohne einen erkennbaren Plan für den Fall zu haben, dass es nicht nach Plan läuft. Ich bin nicht mit Politikern einverstanden, die meinen, die vielleicht eines Tages wegfallenden Waffenlieferungen der USA ausgleichen zu können. Dies ist unrealistisch und gefährlich. Ich bin nicht damit einverstanden, dass Politiker und Politikerinnen sich dünken, Kriegs- oder Verteidigungsexperten zu sein, oder von anderen so genannt werden, obwohl sie dies offensichtlich nicht sind, da sie aus gänzlich anderen, zivilen Berufen stammen. Ich wäre nicht mit Entscheidungen einverstanden, die für legitime, jedoch zugleich verwegene und faktisch bereits gescheiterte, rund 30 Jahre alte Ziele den Frieden in Europa riskieren. Ich halte es für riskant, dass Politiker und Politikerinnen in Zeiten, die über Frieden und Krieg entscheiden, ihre Meinungen ausschließlich auf der Basis von Grundsätzen und Prinzipien bilden, die zwar lobenswert und rechtlich wie moralisch integer, aber bislang erkennbar nicht realitätstauglich sind und es auch zukünftig nicht sein werden. Jedes Kind weiß, dass Prinzipien zu einer Selbsteinhegung der eigenen Gedanken und Entscheidungsmöglichkeiten führen. Wer um jeden Preis seine Prinzipien durchsetzen will, gibt im Extremfall das aktive Denken komplett auf und redet, handelt und entscheidet nur noch nach unflexiblen Automatismen. Wie auch immer die Situation ist: Eine auf Prinzipientreue beruhende Antwort wird wie bei Mentalo im Grunde immer dieselbe sein. Mit dem Kopf gegen die Wand ... Es fehlt an Bereitschaft zur mentalen Flexibilität und zur Flexibilität bei der Lösungssuche, und dies erhöht in diesen Zeiten die Weltkriegsgefahr. Selbstkritik scheint ebenfalls nicht mehr angesagt zu sein, vielleicht war sie es noch nie, denn es liegt nicht in der Natur von rechthaberischen Politikern, aber dafür ist die Politik umso lauter und umso polternder geworden, umso engstirniger und umso selbstverliebter. Ich habe bei all dem kein gutes Gefühl und erkenne nicht, dass irgendjemand einen brauchbaren, vernünftigen Plan hat, uns sicher in die Zukunft zu führen. Aber vielleicht gibt es auch keinen Weg mehr in eine sichere, friedliche Zukunft, vielleicht ist es zu spät. Unvollkommene Narrative, die als einzig wahre Kriegsweisheiten verkauft werden, reichen nicht aus und sind nicht geeignet, die letztendlich wohl hohen Risiken und komplizierten Auswirkungen der expansiven geopolitischen EU- und NATO-Politik aufzuwiegen. Aufgrund der aktuellen Situation bei uns, aber auch in Russland, frage ich mich, ob die Pandemie irgendwas mit den Köpfen der Menschen gemacht hat. Theoretisch mögliche pathophysiologische Mechanismen gäbe es in hinreichender Zahl. Aber vielleicht hat es nichts damit zu tun. Vielleicht versucht man nun lediglich auf uneinsichtige, wenn nicht unfähige Art und Weise ein Problem zu lösen, das sich der Westen bereits in den 1990ern selbst erschaffen hat. Der Glaube, dass man die Ukraine folgenlos von Russland weglotsen kann, ist an der Realität gescheitert und lässt sich nur noch mit sehr hohem Weltkriegsrisiko verwirklichen, ob diese Feststellung nun gefällt oder nicht, und man hätte es erahnen können, vielleicht sogar voraussehen müssen. Die Frage ist, ob man noch logisch genug denken kann, um nun die notwendigen, schmerzhaften Entscheidungen zu treffen, oder ob sich Männlein wie Weiblein der offensiv ausgerichteten westlichen Mainstream-Politik so sehr im trotzigen Jetzt-erst-recht-Modus des Gegenhaltens befinden, dass sie die Notbremse für ihr eigenes Verhalten nicht mehr finden. Und falls ein putintreuer Russe diese Zeilen lesen sollte: Das aktuelle, kriegerische Russland, das seinen souveränen Nachbarstaat nicht seinen eigenen Weg gehen lässt und objektiv völlig grundlos einen unnötigen Krieg beginnt, ist mit Sicherheit weder besser noch weiser als der Westen, sondern viel, viel schlimmer, und bestätigt jegliches Misstrauen, das manche im Westen schon immer gegenüber Russland hatten. Es ist schade, dass der Mythos Russland so sehr beschädigt wurde. Vielleicht verdienen der Westen und Russland einander, nur kann die Ukraine nichts dafür. Und nun empört euch, ihr Angehörigen des politischen Mainstreams, wenn ihr unbedingt wollt. Das könnt ihr sowieso besser als alles andere, und auch besser als alle anderen ...

Dies war der kritischste von allen Leserbriefen, und der bei weitem längste. Ein Wunder, meinte Sperber, dass er nicht gekürzt worden war; jedenfalls wies nichts darauf hin. Vielleicht hatte man ihn als Platzfüller, zum Beispiel in Ermangelung anderer aktueller Berliner Themen und Ereignisse, genutzt. Wie auch immer: Andere abgedruckte Meinungen unterstützten den europäischen Kurs oder die Politik der Nato voll und ganz oder eher nicht. Es war die übliche Mischung aus Zustimmung und Kritik. Die Bereitschaft, für die Freiheit an sich, nicht nur für die eigene, sondern auch als Grundsatz und Prinzip mit universeller Geltung, einen dritten Weltkrieg zu riskieren, schien in Politik und Medienlandschaft weit verbreitet zu sein. Manches Gedankengut und viele Formulierungen entsprachen der britischen Standhaftigkeit und Konfliktbereitschaft, die vor Jahrzehnten der Zerstörung von Großstädten vorausgegangen waren; Großstädte in England wie auch in Deutschland, die durch Bomben zu in Flammen stehenden Trümmerfeldern des Zweiten Weltkriegs geworden waren. Sollte dies nun, in der Gegenwart, wirklich das Ziel sein? Damals war der Angriff durch Nazi-Deutschland sicherlich unabwendbar gewesen. Er wäre früher oder später sowieso erfolgt, und England hatte sich dem mutig und verteidigungsbereit gestellt. Aber war die Situation nun vergleichbar?

Russland, die Ukraine und Europa, sie alle schienen notfalls zu einem neuen totalen Krieg bereit zu sein. Und die Appeasementpolitik, also die Politik des Nachgebens und des Versuchs einer hoffnungsvollen Vernunftlösung im Sinne des Friedens, war nach ihrem Scheitern vor dem Zweiten Weltkrieg für immer mit einem Makel verbunden, der so stark war, dass er Geschrei und große Empörung auslöste, wenn jemand auch nur daran dachte, in dem einen oder anderen Punkt nachzugeben. Und wie sich Monate später noch zeigen sollte, konnte selbst ein Telefonat, also der an sich simple Austausch von Worten und Gedanken, zwischen Bundeskanzler und Angreifer zu einer Welle der Empörung und Entrüstung im moralischen Westen führen. Vielleicht empörten sich die Empörer ja zu recht, aber vielleicht auch nicht. Gebracht hatte das Telefonat jedenfalls nichts. Aber vielleicht war ja nicht das Telefonieren, sondern das moderne Konzept des Empörens ein Problem. Und vielleicht war es auch ein Problem, dass die Empörer zur Rechtfertigung ihrer aktuellen Ukraine-Politik immer wieder auf die Vorgeschichte zum Zweiten Weltkrieg verwiesen. Was, wenn die aktuelle Ausgangslage ganz anders war? Was, wenn die Leserbriefschreiberin mit ihrer Kritik an EU und Nato recht hatte?

Wäre die beabsichtigte weitere Expansion des Westens Richtung russischer Grenze nicht richtig gewesen, sondern riskant, unnötig provokativ und das Ergebnis fehlender Weisheit und übertriebener Moral- und Prinzipientreue, dann wären zwangsläufig auch die aktuellen, stringenten Meinungen der sich so gerne empörenden Mehrheitspolitik angreifbar und in Frage zu stellen. Doch immerhin bliebe der Westen moralisch und rechtlich im Recht, wenngleich Geopolitik, die sich allein auf diese Maßstäbe berief, trotzdem falsch sein konnte, wenn es an Weisheit und Voraussicht fehlte, und vielleicht auch an Akzeptanz und Respekt.

Der Angriffskrieg Russlands jedoch war nicht nur in Frage zu stellen, sondern erkennbar falsch, brutal, grausam und völkerrechtswidrig. Krieg und Gewalt verursachten unendlich viel Leid und lösten keine Probleme, sondern schufen nur neue und leiteten häufig auch den eigenen Untergang ein. Die Geschichte war voller Beispiele. Man musste nur auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückblicken. Gute und fähige Anführer und Staatsmänner würden niemals einen Krieg beginnen, sondern den Frieden bewahren. Dies war eines der wenigen Prinzipien, die immer richtig waren und niemals falsch sein konnten. Russland hatte dagegen verstoßen. Doch all dies entband den Westen nicht grundsätzlich von seiner Pflicht zum selbstkritischen Reflektieren seines eigenen Verhaltens in Gegenwart und Vergangenheit. Hätte man in der Vergangenheit Fehler gemacht, gegebenenfalls unterhalb der Schwelle von Recht und Moral, so müsste man dies in der Gegenwart berücksichtigen, damit das eigene Verhalten nicht erneut faktisch fehlerhaft wäre.

Sperber fand es schwierig, sich eine Meinung zu bilden, denn keine Meinung schien ihm vollkommen zu sein. Europa, Nato, Ukraine und Russland bildeten ein komplexes Gefüge mit einem umfangreichen Hin und Her und entsprechenden Wechselwirkungen, die bis in die frühen 1990er-Jahre zurückreichten, wie die Leserbriefschreiberin ja erwähnt hatte. Und fast ebenso alt waren die ersten Überlegungen hinsichtlich einer Zugehörigkeit der Ukraine zur Nato. Seit damals waren enge Kooperationen und Partnerschaften etabliert worden, vielleicht mit der Absicht, eine russische Schwächephase zu nutzen. Bereits nur oberflächlich betrachtet konnte oder musste man jedoch leider den Eindruck haben, dass die Themen EU-Zugehörigkeit und Beitritt zur Nato für die Ukraine nicht gut gewesen waren, und für den Westen letztendlich auch nicht. Und beide Beitritte wurden trotz des aktiven Krieges immer noch verlangt und diskutiert. Natürlich tat sich die Frage auf, ob man so zum Frieden zurückfinden würde? Und wie selbstverständlich riefen derlei Zweifel Empörungsexzesse im Westen hervor, besonders in Europa und diversen Nato-Ländern; Empörungsexzesse, die von Schnappatmung, wütenden Gesichtern, zeigenden Fingern und geschüttelten Fäusten begleitet wurden, und von Beschimpfungen. Ein Mangel der modernen westlichen Politik war nach Binswanges Überzeugung die oftmals fehlende inhaltliche Auseinandersetzung. Die Meinungen wurden schnell gebildet, möglicherweise zu schnell. Es war eine Mischung aus Moral-, Spontan- und Formalpolitik: Solange man formal im Recht war und alles moralischen Prinzipien entsprach, glaubte man, automatisch auf dem richtigen Weg zu sein. Man war außerstande, dies in Frage zu stellen, und verzichtete bei der Entscheidungsfindung auf Detailabwägungen und auf einen kritischen Blick zurück in die Vergangenheit.

Ganz unrecht hatte die Leserbriefschreiberin also sicherlich nicht. Doch was erwartete sie? Dass man die Ukraine fallenlassen und zusehen würde, wie Putin das Rad der Geschichte zurückdrehte, weil dieses Zusehen vielleicht den Frieden in Europa bewahren und einen fatalen, möglicherweise alle beteiligten Nationen auslöschenden dritten Weltkrieg verhindern würde? Aber ließ er sich überhaupt verhindern? Und was wären die weiteren Preise dafür? Die baltischen Staaten zu opfern? Sechs Millionen Menschen wehrlos den Russen überlassen, damit über 700 Millionen Europäer nicht in einen kontinentalen "Weltkrieg" hineingezogen und gegebenenfalls durch Atomwaffen vernichtet würden? Oder in Fragen des zukünftigen EU- und Nato-Beitritts weiterer Länder in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft dem Angreifer entgegenkommen? Welch beschämender, unerträglicher, ketzerischer Gedanke einer feigen, ehrlosen Brut! Dann doch lieber mit allen, die einem lieb und teuer waren, in den flammenden Untergang gehen, das kulturelle Erbe Europas der Vernichtung anheimgeben und auf eine Fortsetzung der Existenz in Schande verzichten, oder?

Binswanger fand es erstaunlich, dass plötzlich alle klingonisches Blut in ihren Adern spürten und nötigenfalls den heldenhaften Tod voller Ehre im Kampf vorziehen würden, vor einem zivilisiertem Tod in einem friedlichen, zivilisierten Leben. War dieses irrationale Gedankengut ein typisches Männerproblem? Tendenziell ja, obwohl es auch entsprechende Politikerinnen gab. Aber vielleicht waren sie alle ja nur so mutig, weil sie sich voraussichtlich außer Landes und rechtzeitig in Sicherheit bringen würden, irgendwo in Übersee, vielleicht in der Südsee oder der Karibik.

Die meisten Politiker sagten, Putin würde nach dem Ende des Ukrainekonflikts durch einen Diktatfrieden sowieso nicht aufhören, sondern weitermachen. Manche verwiesen auf Hitler und die Sudetenfrage. Die damaligen Zugeständnisse im Jahr 1938 durch das Münchner Abkommen hatten Hitlers Weitermachen und den Weltkrieg auch nicht verhindern können, obwohl er zugesichert hatte, auf weitere Gebietsansprüche zu verzichten. Übertragen auf das Jetzt wären die baltischen Länder ohne den Schutz der Nato am Ende. Aber sie waren Mitglied der Nato, und die Nato war zu ihrer Verteidigung entschlossen. Trotzdem waren sie sehr beunruhigt, als Nachbarn Russlands.

Doch war Putin wie Hitler, oder wehrte er sich aus seiner Sicht nur gegen die sanfte westliche Expansion, die nach seinen Erwartungen niemals enden würde, bis er komplett von Nato-Staaten umzingelt wäre? Falls ja, dann könnte dies der Schlüssel zu einem dauerhaften Frieden sein. Gab es Hinweise, dass Putin anders war als Hitler? Vielleicht. Er hätte möglicherweise bereits im Jahr 2014 die komplette Ukraine erobern können. Er hätte, wenn er wie Hitler wäre, möglicherweise nicht bis zum Jahr 2013 mit Gaspreisnachlässen und friedlichen Mitteln - inklusive Warnungen und Drohungen, jedoch auch Einladung zur Mitgliedschaft in der GUS - versucht, die Ukraine langfristig an Russland zu binden. Natürlich wusste Sperber weder, ob er den damaligen Putin richtig einschätzte, noch, ob der aktuelle Putin noch dem damaligen Putin entsprach. Einige Leute um ihn herum schienen sich definitiv in ihren Ansichten radikalisiert zu haben. Andererseits wirkten zum Beispiel Schoigu und Peskow auf Sperber definitiv nicht, als würde man sie mit Gefolgsleuten eines Adolf Hitler gleichsetzen können. Sperber glaubte, eine gute Menschenkenntnis zu haben, aber er mochte sich trotzdem irren. Im Gegensatz zu den meisten Politikern der Gegenwart war er sich dessen aber bewusst.

Doch zu allem hatte der Westen möglicherweise einen Beitrag geleistet, durch den gescheiterten Versuch, die Neutralität der Ukraine in eine westliche Zugehörigkeit zu verwandeln. Es hatte erkennbar nicht funktioniert. Man sagte ja selbst, der Krieg gegen die Ukraine sei in Wahrheit ein Krieg gegen den Westen. Erneut glaubte Sperber, zu erkennen, dass hier der Schlüssel zu einer Beendigung des Konfliktes liegen könnte. Würde der Westen sich ändern, mochte es sein, dass auch Russland wieder zu einer friedlichen Grundeinstellung zurückfinden würde. Doch Sperber wusste, dass er sich mit solcherlei Theorien zum Buhmann machen würde, wieder mal. Und die Bezeichnung "Putinversteher" wäre ihm garantiert auch so gut wie absolut sicher. Vielleicht jedoch sollte man aufhören, diesen Begriff nur negativ zu sehen, denn wer Putin wirklich verstehen würde, mochte vielleicht einen Weg zum Frieden erkennen, oder aber, dass sich das Unvermeidbare gar nicht aufhalten ließ. Sperber wusste es auch nicht.

Er sah auf die Uhr. Fünf vor halb acht! »Ich muss los, Schatz. Der Kollege kommt gleich ...« Sperber kraulte die erwartungsvoll zu ihm hochblickende Judy, sagte ihr, dass sie keine weitere Scheibe Wurst mehr bekommen würde und sich nun mit ihrem Hundefutter zufriedengeben müsse, ging in den Flur und zog Schuhe und Mantel an. Bei den Schuhen erhielt er Unterstützung durch seine Frau, da er sich figurbedingt nicht sehr gut bücken konnte. Wie üblich gaben Hans und Irene Binswanger sich einen Abschiedskuss. Man war auch nach fast 30 Ehejahren noch ineinander verliebt; natürlich nicht mehr heißblütig, aber dafür umso gefestigter. Sperber freute sich schon auf den Feierabend, aber auch auf den Tag, denn er war rund um die Uhr mit Menschen zusammen, die er mochte.

.....

Der Funkspruch der Zentrale war erst vor zehn Sekunden eingegangen, und schon sah Binswanger die fragliche 5-Personen-Demo, die nicht angemeldet war und die es aufzulösen galt. »Gucken Sie mal, Praesel, das sind doch die fünf Verdächtigen, oder? Halten Sie mal an, wir beobachten das mal ...«

Praesel lenkte ihren GTI an den Straßenrand und stellte den Motor ab. »Sind aber sieben. Da konnte einer wohl nicht richtig zählen ...«, stellte sie fest.

»Die glorreichen Sieben ...«, meinte Sperber. »Ist ein Western. Schon mal gesehen, den Film? Ich meine allerdings nicht den neuen Quatsch, sondern das alte Original von 1960 mit Yul Brunner, Steve McQueen und anderen damaligen Größen. Horst Buchholz hat auch mitgespielt. Sagt Ihnen nichts, der Name, dafür sind Sie zu jung, oder?«

»Doch, gehört habe ich die Namen schon. Aber gesehen hab ich den Film nicht. Die neue Fassung allerdings auch nicht.«

»Das Original ist auch bekannt für die Filmmusik von Elmer Bernstein ... Sagt Ihnen aber auch nichts, oder?«

»Nein, aber ich kenne Jerry Goldsmith, weil der ein paar Stücke für Star Trek geschrieben hat ...«

»Dann müssten Sie Elmer Bernstein auch kennen. Die haben beide zeitgleich gewirkt und starben beide im Jahr 2004. Gehörten derselben Generation an.

»Gesehen hab ich den Film jedenfalls nicht, da bin ich mir sicher«, meinte Praesel.

»Dachte ich mir schon. Sie sind ja mehr Fan von Dirty Harry und Black Rain. Inspektor Matsumoto, das hab ich nicht vergessen ...«

»Ja, Inspektor Matsumoto ...«, bestätigte die Kurzhaarblonde und wurde kurz ernst, als sie an ihr wenig rühmliches, aber menschliches Verhalten von vor zweieinhalb Jahren dachte.

Binswanger, der die Verfehlung damals nach Abwägung aller Gesamtumstände im Land letztendlich abgehakt hatte, bemerkte es und lenkte schnell ab. »Hans Zimmer ist ja auch schon längst einer von den ganz Großen. Aber gucken Sie mal: Mit den Plakaten haben diese Fünf bis Sieben sich ja richtig Mühe gemacht, oder? Lassen Sie doch mal die Scheibe runter, dann können wir besser hören, was der Mann mit dem Lautsprecher sagt. Ich kenne den übrigens. Ist ein alter Kunde von uns: Meister Ede. Früherer Taschendieb und Einbrecherkönig von Berlin. Ist erst kürzlich aus dem Strafvollzug entlassen worden, vorzeitig, wegen guter Führung und günstiger Sozialprognose, wie ich gehört habe.«

»Wenn die gewusst hätten, dass er unangemeldet Friedensdemos durchführt, hätten die ihn bestimmt drin gelassen ...«, mutmaßte Praesel und betätigte den elektrischen Fensterheber, gerade rechtzeitig, als der Mann den Lautsprecher nach einer kurzen Pause wieder vor seinen Mund hielt und anfing, zu sprechen, so dass seine Stimme laut und weit hörbar durch die Straße dröhnte:

»Was ist nur mit den Menschen los? Man weiß es nicht genau. Gen Osten strebt der Westen und denkt, er wäre schlau. Die Führer sind so überzeugt, sich für ganz clever haltend. Doch ich sag euch, in Wahrheit sie die Torheit nur verwaltend. Die Gier ist's, die den Menschen treibt, die Gier und auch der Hass. So schlägt man aufeinander ein, doch macht dies wirklich Spass? Die Menschheit steht am Scheideweg, in den Abgrund längst geschaut. Doch statt Brücken für den Frieden werden Waffen nur gebaut. Ein Volk von Narren, das wir sind, kapieren tun wir's nicht. Doch ganz, ganz nahe, so glaubet mir, ist das jüngste Gericht. Schindarassa, bummdarassa, die Menschen sind zu dummdarassa. Eins, zwei, drei, uns're Zeit ist bald vorbei.«

Praesel grinste, wenn auch nur schwach. »Glauben Sie, dass er recht hat, Chef?«, fragte die 28 Jahre alte Kommissarin ihren 24 Jahre älteren Vorgesetzten nachdenklich.

»Könnte durchaus sein. Ein bisschen jedenfalls schon.«

»Wirklich? Und warum? Denken Sie auch so wie Meister Ede?«

»Sagen wir mal so: Wenn ich intensiv über den Weg des Westens seit 10, 20, 30 Jahren nachdenken würde, und das dann auch laut und öffentlich sagen würde, dann könnte es vielleicht sein, dass ich zukünftig nicht mehr Ihr Chef wäre, sondern das Archiv unserer Dienststelle aufarbeiten müsste, in diesem staubigen Aktenkeller, wo vermutlich schon jahrelang kein Mensch mehr länger als fünf Minuten gewesen ist, weil er sonst als graue Staubmumie herausgekommen wäre ...«

»Echt jetzt?«

»Ja, echt jetzt. Jedenfalls möglicherweise. Aber ich habe es bisher vermieden, mir über den Krieg, die westliche Einstellung und die Vorgeschichte die ganz großen Gedanken zu machen. Deshalb kann ich jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen, ob ich so denken würde wie Meister Ede. Ich weiß nur, dass mich nicht alles überzeugt, was die westlichen Politiker in den letzten zwei Jahren oder gar Jahrzehnten so von sich gegeben haben, und dass ich bei dieser nicht enden wollenden Expansion des Westens nach Osten, Richtung russischer Grenze, schon vor einigen Jahren ein schlechtes Gefühl hatte.« Binswanger dachte an seine wenigen und bislang eher oberflächlichen Überlegungen zurück, die er sich hin und wieder gemacht hatte. Seiner Meinung nach gab es zwei Wahrheiten.

Wahrheit Nummer eins: Russland hatte die offizielle Schuld für den Krieg gegen die Ukraine und keinen objektiv relevanten Angriffsgrund. Russland versündigte sich; jedenfalls die für den Krieg Verantwortlichen, und besonders der Hauptverantwortliche. Nur war dem das offensichtlich völlig egal. In Moskau war man auf einem Trip, dessen Endpunkt der Westen nicht mit Sicherheit einschätzen konnte. Es schien irgendwie eine Mischung aus gewaltverherrlichendem, geschichtsbezogenem, vaterländischorientiertem Kriegsmystizismus zu sein, der hoffentlich keine Bereitschaft zum erweiterten Suizid enthielt. Dies hatte es in Europa ja schon mal gegeben ...

Wahrheit Nummer zwei: Der Westen war stur und handelte schon weit vor dem Jahr 2014 weder besonders vorausschauend noch besonders weise.

Möglicherweise gab es in 2013 und in den Jahren unmittelbar davor westliche Schlüsselereignisse oder -entscheidungen. Der Westen hatte vielleicht Steilvorlagen geliefert, und somit Ursachen für die gegenwärtige Situation gesetzt, mochten diese Ursachen auch unterhalb der Schwelle einer rechtlichen Verantwortlichkeit sein, und auch weit unterhalb der Schwelle eines wie auch immer gearteten Rechtsbruchs der Nato gegenüber Russland. Putin hatte sich hin und wieder auf angebliche Zusicherungen einzelner deutscher oder westlicher Politiker berufen, dass die Nato nicht weiter Richtung Russland expandieren würde, aber diese waren völkerrechtlich nicht relevant, sondern lediglich als unverbindliche Einzelmeinungen zu werten. Dies gebot auch die Logik. Kein einzelner Politiker konnte rechtsverbindliche Erklärungen für die gesamte Nato abgeben, sondern höchstens seine individuelle Meinung äußern. Nichts anderes hatte man getan. Rechtlich und moralisch war für den Westen im Verhältnis zu Russland also sicherlich immer alles im grünen Bereich gewesen, Expansion der Nato hin oder her. Der Westen hatte rein formal gesehen immer eine weiße Weste. Aber der Westen war nach Sperbers Meinung schon seit langem schlicht und ergreifend nicht besonders weise, zu selbstgerecht und zu überheblich, in seiner Vorstellung, Russland so extrem nahezukommen, wie es beabsichtigt gewesen war. Und trotzdem kam nicht eine einzige Menschenseele im Westen auf diesen pragmatischen Gedanken, dass es zuviel des Guten gewesen sein könnte. Wie konnte es sein, dass man sich selbst jetzt noch so sehr an Buchstaben und Papiere und die Bündnisfreiheit der Nationen klammerte und die Tatsachen ignorierte? Die weitere Expansion der Nato war an dem eigenen Selbstverständnis, an der eigenen Selbstüberschätzung und an der Realität gescheitert, und sei es nur, weil der russische Präsident dafür gesorgt hatte, dass sie scheiterte. Er wollte die Nato nicht vor seiner Haustür haben und fertig. Und im Laufe der Jahre hatte er sich immer mehr in die Thematik hineingesteigert und sich während der Pandemie, von der Außenwelt abgeschottet, wie er in der damaligen Zeit nunmal gewesen war, noch mehr damit beschäftigt und schließlich radikalisiert. In dieser Zeit hatte er auch sein Essay "Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern" verfasst; eine Art pseudowissenschaftliches Werk, möglicherweise zur ideologischen Vorbereitung seines Angriffskrieges, veröffentlicht am 12. Juli 2021.

Während der Pandemie ..., wiederholte Sperber gedanklich. Mhm ...! Was war in dieser Zeit passiert? Zu viel Langeweile? Zu viel Zeit zum Nachdenken? Zu viel Alleinsein? Zu wenig Output von außen? Zu viel der Isolation? Depressive Verstimmungen, die in Hass auf die Ukraine oder auf den Westen umgeschlagen sind? Das Alleinsein, um eine Begegnung mit dem Virus zu vermeiden, könnte Effekte gehabt haben, und die zwei oder drei Impftermine, die Putin angeblich hatte, waren ja nur kurze Unterbrechungen der selbsterwählten Abschottung von der Außenwelt gewesen. 7000 Wörter waren für das Essay übrigens nicht sehr viel. Es können kaum mehr als 20 eBook-Seiten gewesen sein. Entweder lag die Kürze in der Würze, oder es war ein klarer Hinweis für mangelnde Qualität. Mich würde übrigens interessieren, ob Putin tatsächlich geimpft war, und wie sein Antikörperlevel gewesen ist. Angeblich hat er auch die dritte Impfung erhalten. Laut Halfmann soll der Sputnik ja recht effektiv bei der Antikörperbildung sein. Aber vielleicht hat sich Putin ja heimlich einen der noch effektiveren westlichen mRNA-Impfstoffe geben lassen? Man sagte ja, dass er sich vor dem Virus gefürchtet habe, und damit hat er sicherlich Weisheit bewiesen. Mit dem Krieg allerdings nicht so sehr ...

Weisheit suchte Binswanger auch im Westen vergeblich. Ein weiser Westen wäre auf dem Weg nach Osten irgendwann freiwillig zum Stillstand gekommen und hätte einen Respektabstand zu Russland gehalten. Doch selbst jetzt sah man dies noch nicht ein und berief sich weiterhin stur auf die formale Bündnisfreiheit. Aber die Realität setzte manchmal harte, schmerzhafte Grenzen. Dies galt für das Individuum, für den einzelnen Menschen, ja oft genug ebenso. Mehr und mehr glaubte Sperber, dass Halfmann möglicherweise recht gehabt hatte, denn er bemerkte keine Veränderung, kein Innehalten, kein Nachdenken und kein Insichgehen. Niemand besann sich, um logische, selbstkritische und differenzierte Detailabwägungen vorzunehmen, und jeder wollte um jeden Preis seine Ziele durchsetzen. Bloß kein Signal der Entspannung senden. Ja keinen Knochen hinwerfen. Immer nur stur den eigenen Prinzipien folgen, auch wenn diese, so formal richtig sie auch sein mochten, sich seit mehr als zwei Jahren, eigentlich schon seit Februar 2014, leider als nicht realitätstauglich erwiesen hatten. Und Anzeichen dafür hatte es aus Russland schon viel früher gegeben. Wie war es möglich, dass man dennoch an seinen Entscheidungen festhielt, ohne jeglichen Zweifel zu empfinden? Es wurde noch nicht einmal detailliert ausdiskutiert, jedenfalls nicht in einem für die Medien und die Bevölkerungen erkennbaren oder nachvollziehbaren Format, und vermutlich überhaupt nicht. Man war im Recht und fertig, und man war immer im Recht gewesen und damit basta!

Manchmal fragte sich Sperber, ob er selbst alles zu einfach und zu simpel betrachtete, während in Wirklichkeit natürlich alles viel, viel komplizierter war. Vielleicht war es auch umgekehrt: Er machte alles komplizierter als es in Wahrheit war. Irgendwie hatte er den Anschluss an die geopolitische Sichtweise und das Selbstverständnis des Westens verloren und konnte sich einfach nicht damit identifizieren. War er der einzige Zweifler? War er, der glaubte, vernünftig zu sein, in Wirklichkeit auf dem Holzweg, und nicht die anderen der politischen Mehrheit? Und hatte die politische Mehrheit überhaupt eine Entsprechung auf der Ebene der Bevölkerung?

Sperber erinnerte sich an die Worte eines Altbundeskanzlers mit Allerweltsnamen in einem Spiegel-Interview im Mai des Jahres 2014, der bezüglich der Expansionspolitik der EU wenig schmeichelhafte Begriffe und Formulierungen wie "Größenwahn", "Unfähigkeit", "Einmischung in die Weltpolitik" und "Heraufbeschwörung der Gefahr eines dritten Weltkriegs" benutzt hatte. Auch hatte er gesagt, dass man zum Beispiel in Georgien, also noch hinter dem Schwarzen Meer, nichts zu suchen hätte. Man hatte aber weder auf ihn gehört noch war man in der Lage gewesen, seitdem dazuzulernen. Expansion der EU Richtung Osten sowie Bündnisfreiheit und offene Nato-Türen waren nach wie vor Programm, und nach der Realitätstauglichkeit und den für jeden klar erkennbaren Folgen und Gefahren fragte niemand. Prinzipientreue konnte manchmal auch destruktiv sein. Oder sah Sperber es erneut zu einfach? Hatte er Schmidts Worte gar fehlinterpretiert?

Binswanger glaubte dies nicht, und er glaubte, eine Verschlichtung des Denkens zu erkennen, oder ein bewusstes Wegsehen, an simplen Wahrheiten und Tatsachen vorbei. Man schien nicht mehr empfänglich zu sein für naheliegende Vernunftlösungen. Vielleicht gab es auf europäischer politischer Ebene aktuell und auch in den letzten mehr als 10 Jahren zu viele moralisch gelenkte Herdentiereinflüsse, die dem einzelnen gar keine andere Wahl ließen, als mit dem Strom mitzuschwimmen, wollte er kein Außenseiter sein, der von allen Seiten bedrängt wurde und sich rechtfertigen musste. Die Vielzahl der lauten Stimmen der Moralisten und "Prinzipisten" hatte nach Sperbers Meinung verheerende Effekte, weil keine Stimme mit Weisheit oder durchdachter Logik sprach. Man wollte die Welt, das internationale politische Gefüge, nach eigenen Vorstellungen formen, gegen jeden Widerstand und gegen alle Zweifel und Risiken. So, wie Binswanger es sah, gab es in Ländern wie Moldau oder Georgien nur eine knappe Mehrheit für einen pro-westlichen Weg. War dies eine ausreichend sichere Grundlage für eine formale Zugehörigkeit zum Westen im Rahmen von Nato und EU? Oder war diese nationale Uneinigkeit ein Vorbote für erhebliche zukünftige Probleme und weitere Kriege? Man hielt trotzdem an dem Konzept der Expansion fest, ungeachtet des Krieges in der Gegenwart. Doch Menschen, die mit aller Gewalt, entgegen der Realität, an Prinzipien festhielten, konnten Gefahren verursachen, weil Prinzipien immer zu einer Selbsteinhegung der eigenen Gedanken und der eigenen Entscheidungsfreiheit führten. Sie resultierten in einer selbstgemachten Einschränkung der Möglichkeiten. Und wenn jemand doch mal anderer Meinung war, dann fielen alle über ihn her, einschließlich der Medien. Alles schien irgendwie gleichgeschaltet zu sein. Zumindest dachte Binswanger so, und dies machte ihn meinungsmäßig zu einem Außenseiter, zu einem Buhmann.

Es gefiel ihm trotzdem nicht, dass es viel zu wenige differenzierte Meinungen zu dem Thema Krieg gab, und jede einzelne schien ihm fehlerhaft und unvollständig zu sein. Alles war schwarz für die einen und weiß für die anderen. Und so hatten alle nur teilweise recht, aber niemand fand den Weg zur Erkenntnis. Es war ein Fluch der Zeit, ein Fluch der Oberflächlichkeit, ein Fluch der Gier und vielleich auch ein wenig Fluch der Pandemie, mit allem, was dazugehörte. Es war ein Fluch der vielen, lauten, sich gegenseitig selbst bestätigenden Stimmen von rechthaberischen Menschen, die stur nach Moral und Prinzipien handelten und dabei die Realität ignorierten und die Risiken erhöhten und die gesamte Bevölkerung mitnahmen, auf ihrem Trip, dessen tatsächlichen Endpunkt man nicht kannte, weil die Dinge längst außer Kontrolle geraten waren.

Prinzipien waren gut, aber alles hatte Grenzen der Sinnhaftigkeit. Doch im Westen gefiel man sich darin, selbst jetzt noch stur auf Recht und Moral zu verweisen und sich als über jeden Zweifel erhabener Gutmensch zu präsentieren. Dies war jedenfalls Sperbers Meinung, die im Laufe der Zeit entstanden war, und manchmal fragte er sich, ob ein Mann wie Orban zwar nicht mit allem, aber doch mit manchem mehr recht hatte als die anderen, weil er vielleicht realistischer war, soweit es die düsteren Perspektiven betraf, die dieser Krieg für Europa bot. Und zu Russland und seinen Anführern musste man sowieso kein Wort mehr verlieren. Es würde mit dem Krieg, falls überhaupt, erst dann aufhören, oder zumindest über das Aufhören nachdenken, wenn ein klares und zufriedenstellendes Signal aus dem Westen käme. Bis dahin wäre man weiterhin bereit, das Völkerrecht mit Füßen zu treten und Städte mitsamt ihren zivilen Bewohnern zu bombardieren, mit allen Konsequenzen aus Blut, Tod, Feuer, Staub und Aschewolken, mit Leid, Schmerz und Verzweiflung. Es schien allen Politikern des Westens egal zu sein. Die Prinzipien hatten Vorrang. Und von einer Waffe namens TAURUS aka Tod aka Vergeltungsschläge erhoffte man sich die Lösung aller Probleme. Man wollte die Dinge erzwingen. Doch Zwang war in Sperbers Augen ein Mittel der Ratlosen, der Überforderten, der Ideenlosen - und der "Prinzipisten". Aber hatte man eine Antwort für den Fall, dass der Plan nicht aufging? Sicherlich nicht. Man würde dann damit leben müssen, dass man zur Eskalation und zum weiteren sinnlosen Sterben beigetragen hätte. Und man würde die vielleicht letzten Chancen für einen zukünftigen Frieden zwischen dem Westen und Russland riskieren. Sperber glaubte, dass Leute, die den TAURUS-Einsatz freigeben würden, die Situation nicht lösen würden. Und er glaubte, dass das Prinzip des Gegenhaltens allein nicht zum Frieden führen würde. Denn wer nur gegenhielt, dachte nicht über eigene Fehler nach; über etwaige Fehler und Irrtümer des Westens in den letzten 30 Jahren. Doch die Möglichkeit, sich zu irren und geirrt zu haben, sollte stets in Betracht gezogen werden, denn die Möglichkeit des Irrtums bestand immer. Aber sie bestand auch für Sperber selbst.

Praesel unterbrach seine trübe Gedanken: »Ganz unter uns Chef: Manchmal frag ich mich, ob gewisse Leute nicht im Grunde eine gemeingefährliche Meinung haben.«

»Wen meinen Sie mit gewisse Leute?«

»Gewisse Politiker, aber auch Medienleute, zum Beispiel, wenn die schreiben, dass der eingeschlagene Weg der unbedingten Unterstützung der Ukraine um jeden Preis bis zum Ende gegangen werden muss, was auch immer passieren würde. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet das ja, dass die auch einen Krieg mit Russland, einen Weltkrieg, in Kauf nehmen würden, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen, was dann aber dummerweise ja kein Sieg wäre, sondern der Untergang, falls Russland Atomwaffen einsetzt.«

»Ja, und vielleicht auch dann, wenn Russland keine Atomwaffen einsetzt. Stellen Sie sich mal das Chaos vor, wenn ein nur konventioneller Krieg ausbricht, mit normalen Raketen und Bomben. Das genügt schon. Wenn diese Medien das mit dem Weg bis zum Schluss gehen wirklich so meinen, wie die das sagen und schreiben, dann ist das in der Tat eine gemeingefährliche Meinung, und ganz offensichtlich beruht das auch nicht mehr auf logischem Denken. Dieses worst case-Szenario des Weltkriegs oder Atomkriegs könnte ja nicht einfach hinnehmbar sein, und vielleicht nur, weil die NATO ums Verrecken nicht von ihrem Prinzip der offenen Türen abweichen will. Schlimm nur, dass die auch die öffentliche Meinung derart stark beeinflussen. Ich erkenne immer noch viel zu wenig Zweifel und Differenziertheit in der Gesellschaft, und diese Lethargie wird durch solche Meinungen noch verstärkt. Manchmal haben Leute eine öffentliche Stimme, die besser keine hätten.«

»Ja. Vielleicht sollte man die besser in die Archive stecken. Da könnten sie keinen Schaden anrichten, sondern sich um den Staub kümmern«, meinte Praesel.

»Wäre vielleicht wirklich besser. Außer, solche Aussagen wären nur Säbelrasseln gegenüber Putin, um Entschlossenheit und Einheit zu demonstrieren. Kann natürlich sein, dass die Medien die Regierungen auf diese Weise unterstützen wollen«, mutmaßte Sperber.

»Heutzutage weiß man manchmal wirklich nicht mehr, wie man gewisse Kommentare und Meinungen einzuschätzen hat. Jeder sagt doch sowieso, was für ihn am besten ist. Man redet sich die Wahrheit so zurecht, wie man sie haben will.«

»Da haben Sie nicht ganz unrecht, Praesel. Ich glaube diese Schönrederei immer zu erkennen, wenn über den wahren Grund des Überfalls auf die Ukraine gesprochen wird. Manche sagen, es geht um den Nato-Beitritt, aber eine andere verbreitete Meinung im Westen ist, dass Putin der Ukraine die Staatlichkeit und Souveränität abspricht.«

»Gutes Argument, könnte natürlich sein«, meinte Praesel.

»Natürlich. Andererseits könnte man sich auch fragen, warum er die Souveränität verneint. Vielleicht ist das seine Antwort auf die Hinwendung der Ukraine zum Westen und auf die Bereitschaft des Westens, die Ukraine in ihre Bündnisse aufzunehmen. Man muss sich auch mal die Zeitpunkte ansehen. Der Kaukasuskrieg 2008 stand in zeitlichem Zusammenhang mit den Diskussionen und Aktivitäten rund um einen zukünftigen Nato-Beitritt Georgiens. Die Einnahme der Krim und der Überfall auf den Donbass im Jahr 2014 erfolgte in einem hinreichenden zeitlichen Zusammenhang zur Aussage der EU-Kommission, dass man Russland garantiert nicht um Erlaubnis fragen werde, wenn man die Ukraine in die EU aufnehmen wolle. Und die Aufnahme der Ukraine in die Nato ist ja auch schon sehr lange ein Thema.«

»Dann könnte es also durchaus sein, dass die Orientierung der Ukraine Richtung Westen trotzdem der wahre Auslöser für Russlands Angriff ist.«

»Ich denke schon, dass das sein könnte. Das hängt möglicherweise alles irgendwie zusammen: Nato-Beitritt der Ukraine, EU-Beitritt der Ukraine und Putins Verneinung der Souveränität der Ukraine.«

»Man hört ja auch oft, dass es ein Krieg gegen den Westen sei, und dass die Ukraine nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sei«, erinnerte Praesel. »Das würde dann aber auch eher dafür sprechen, dass die Expansion des Westens die Ursache für den Angriff auf die Ukraine gewesen ist, denn was könnte Putin am Westen mehr stören, als eine nicht enden wollende Nato-Osterweiterung und eine EU-Expansion bis zur russischen Grenze?«

Sperber sah dies ebenso und sagte: »Sie haben's erfasst, Praesel. Und deshalb könnte es sein, dass die hier im Westen sich die Sache nur schönreden, wenn sie das in Abrede stellen und behaupten, Putins wahrer Grund für den Krieg wäre seine fehlende Anerkennung der Ukraine. Ich persönlich glaube eher, dass Putin die Ukraine weiterhin als Staat anerkannt hätte, wenn sie neutral geblieben wäre. Der hat sich seine Theorien bezüglich der Ukraine vielleicht nur als Angriffsvorwand ausgedacht. Das alles würde dann übrigens auch gegen die Vermutung oder Behauptung sprechen, dass er grundsätzlich imperialistische Absichten hat. Aber genau wird man's nie wissen. Die einen sagen so und die anderen so.«

Praesel sah, dass Meister Ede seine Sprechpause beendete und das Megaphon vor seinen Mund hielt, um den nächsten Spruch aufzusagen. »Und was machen wir jetzt mit den sieben Demonstranten? Die Anweisung war, sofort einzugreifen, die Versammlung aufzulösen und sie auf die Dienststelle zu bringen. Naja, Letzteres können wir natürlich nicht, das müssen die uniformierten Kollegen machen.«

»Ich weiß, was die Anweisung war, Praesel, aber wir warten erstmal ab. Wir sind Mordermittler und keine Versammlungsauflöser, und deshalb lassen wir alles von den uniformierten Kollegen erledigen.«

»Die sind aber noch nicht eingetroffen. Scheinen irgendwo festzuhängen.«

»Ja, ist doch nicht unser Problem. Ist vielleicht sogar gut so. Dann können die unsere glorreichen Sieben wenigstens noch nicht sofort mundtot machen. Vielleicht bringt Meister Ede ja mal ein paar Köpfe zum Nachdenken, damit diese kriegspolitische Lethargie in der Bevölkerung durchbrochen wird. Schadet vielleicht nicht. In der Bevölkerung ist kaum der winzigste Hauch von Kritik und Nachdenken oder Interesse erkennbar. Diese sieben Leute da, die hier einsam demonstrieren, werden gekonnt als Außenseiter und Blödmänner hingestellt.«

»Nachdenken ist heute nicht mehr in. Man bevorzugt die Oberflächlichkeit. Materialistischer Egoismus und Geltungsbedürfnis sind angesagt. Genügend Einkommen und Vermögen vorausgesetzt, denkt man lieber darüber nach, ob man beim selben SUV-Modell bleibt oder sich endlich für die höher motorisierte Variante entscheidet.«

»Ja. Oder welchen Sportwagen man sich als nächstes zulegt, oder welche Luxusuhr.«

»Manche kriegen echt nichts mehr mit«, meinte Praesel.

»Tick tack, tick tack ...«, machte Binswanger.

»Genau das meinte ich.«

»Sehen Sie mal, Praesel, was auf dem Schild von dem Typen da vorne steht ...«

Die Kommissarin blickte in die von dem Hauptkommissar vorgegebene Richtung. Jemand hielt ein Plakat in die Höhe, das auch von Halfmann stammen könnte:

Hyperviscosity kills. Sooner or later.

»Dann scheint sich Halfmanns Lieblingsthema ja doch noch so langsam herumzusprechen ...«, stellte Praesel lächelnd fest.

»Das sagen wir ihm, sobald wir auf der Dienststelle sind, dann freut er sich. Nach seiner Theorie sind wir ja in 15 Jahren, gerechnet ab 2021, alle dement. Drei Jahre sind seitdem vorbei, bleiben uns also noch 12. Nur bin ich mir manchmal nicht sicher, ob wir diese 12 Jahre noch haben. Hängt davon ab, wie der Ukrainekrieg endet. Der wird ja irgendeine Entwicklung nehmen.«

»Nur weiß keiner, welche. Auch die moralisch unantastbare und unerschütterlich prinzipientreue politische Mehrheit nicht«, meinte Praesel.

»Eben«, sagte Binswanger.

»Tick tack, tick tack ...«, machte diesmal Praesel.

Sperber blickte weiterhin zu den Demonstranten. »Die Plakate da vorne sind auch interessant ...« Auf einem der Plakate stand:

Berlin could burn at a

silent sunny day

Auf einem anderen war zu lesen:

Klaklu-klakli klakli-klakla EU und NATO wunderbar!

Die Person daneben hielt, wohl als Ergänzung gedacht, ein Plakat mit folgendem Text:

Tri-tra-trullali trullatrulla-la in drei, vier Jahr ist nix mehr da!

Und das vierte Plakat wies auf einen Altbundeskanzler hin:

Schmidt 2014 zur EU-Expansions-

politik: Größenwahn,

Unfähigkeit, Weltkriegs- gefahr

Praesel grinste halb belustigt, halb zweifelnd. »Meinen die das alles ernst?«

»Die meinen das ernst. Und ich fürchte, dass die vielleicht recht haben könnten, wenn es ganz blöd läuft.«

»Echt jetzt?«

»Klar. Es gibt Leute, die sagen, dass der Westen nur noch aus Prinzipienreitern und Moralisten besteht und dabei den Blick für die Realität verloren hat, und zwar schon seit deutlich über zehn Jahren, also seit vor dem Überall auf die Krim und die östliche Ukraine. Ich habe ein, zwei Nachbarn, die denken so. Mal ehrlich, Praesel: Verbinden Sie positive Gedanken mit den Meinungen mancher Leute, die in der EU das Sagen haben? Oder in der NATO, Stichwort offene Türen?«

»Ehrlich gesagt nicht. Ich verbinde eher ein mulmiges Gefühl damit. Ich habe außerdem den Eindruck, dass die EU ein bisschen zu regelungswütig ist. Denen haben wir schließlich diese total nervigen neuen Plastikverschlüsse zu verdanken. Und die sind mir auch ein bisschen zu moralistisch und zu wenig realistisch. Aber die Schuld für den Ukrainekrieg liegt trotzdem bei Putin.«

»Natürlich, das lässt sich auch nicht schönreden. Die Ukraine ist ein freies Land und kann eigentlich tun und lassen, was sie will. Nur interessiert den Putin das nicht. Aber schonmal was von Steilvorlagen gehört?«

»Klar. Unsere Politiker haben ja zwei Jahre lang ständig davon geredet, wenn auch im anderen Zusammenhang.«

»Richtig, aber das Steilvorlagenargument funktioniert immer, auch an anderen Stellen der Zeitlinie, ungefähr 10, 20 und sogar 30 Jahre früher ... Ich glaube, mit Steilvorlagen kennt der Westen sich bestens aus, aber nur dann, wenn es ihm an geeigneter Stelle passt.«

Praesel ahnte, worauf Binswanger hinauswollte. »Ist aber blöd, wenn das Steilvorlagenargument auch gegen einen verwendet werden kann. Man kann sich ja schon die Frage stellen, wie die Gegenwart nun aussehen würde, wenn gewisse Leute in der Vergangenheit sich anders verhalten hätten, oder? Und wenn die EU und NATO nicht immer weiter Richtung Osten gestrebt hätten?«

»Stimmt. Das ist ja vermutlich auch so ziemlich genau das, was unser Altbundeskanzler damals, im Mai 2014, in diesem Spiegel-Interview meinte. Ich glaube, das war so um den 16. Mai herum gewesen. Offensichtlich hat er die EU-Expansion gegen den Willen Russlands für riskant gehalten und deshalb von einer Weltkriegsgefahr gesprochen. Und wo stehen wir jetzt?«

»Wir stehen kurz vor einem dritten Weltkrieg. Also hatte er mit allem recht.«

»Nur bringt das heute nichts mehr, weil die Politik des heutigen Westens ihre eigene Sichtweise hat und alles mit dem Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr gekontert wird. Außerdem reichen die ersten Kontakte zwischen Nato, EU und der Ukraine ziemlich weit zurück. Das war noch knapp vor Ihrer Geburt. Schmidts Worte wurden nicht ernstgenommen. Der Zug ist längst abgefahren und irgendwo auf der Strecke aus der Kurve geflogen. Jetzt ist alles dabei, kaputtzugehen, überall. Und EU und NATO bleiben trotzdem auf Kurs; um jeden Preis, und die meisten Presseleute finden das richtig. Die wollen alle auf Kurs bleiben, wo auch immer das hinführt. Übt jemand Kritik an der Expansionspolitik von EU und NATO und hält den Westen für faktisch mitverantwortlich, dann kontern die mit dem Vorwurf des Verbreitens von Kreml-Propaganda.«

»Scheint mir eine sehr bequeme Methode zu sein, um von eigenen Fehlern abzulenken«, meinte die Kommissarin.

»Stimmt. Außerdem hat der Westen seine eigene Propaganda: Indem man Putin Imperialismus unterstellt, was richtig sein kann, oder auch nicht, nimmt man sich selbst automatisch aus der Diskussion, so dass die eigene Politik in Gegenwart und Vergangenheit scheinbar unfehlbar und für das aktuelle Desaster nicht relevant ist. Die Politik der verwischten Spuren ... Und das verfängt auch sehr gut in weiten Teilen der Bevölkerung«, ergänzte Sperber. » Verfängt ist ja auch so ein Wort, das gerne benutzt wird, um die anderen ganz subtil ins Abseits zu stellen. Gucken Sie sich doch mal diesen einen Talkmaster an. Warum verfängt das so gut?, ist eine seiner beliebtesten Standardfragen.«

Praesel lächelte. »Ziemlich fiese Masche ...«, meinte sie.

»Ja, aber auch leicht durchschaubar. Geben Sie Gas, Praesel. Bringt nichts, wenn wir uns die Sache hier noch weiter ansehen. Wir fahren zurück zur Dienststelle. Ich habe einen Termin mit unserer lieben Frau Staatsanwältin. Wie läuft es eigentlich zwischen Ihnen und der Kihra, falls ich fragen darf? Immer noch Anzeichen von Feindseligkeiten?« Sperber spielte damit auf die Ereignisse im November 2021 an.

»Irgendwas zwischen geht so bis angespannt. Meistens ignoriert sie mich.«

»Naja, immerhin. Und haben Sie die Lessna seitdem mal wieder gesehen? Ist die noch mit Frau Doktor zusammen?«

»Nee, die sind nicht mehr zusammen. Frau Doktor hat wohl irgendwann festgestellt, dass sie doch nicht wirklich lesbisch ist. Haben sich aber friedlich getrennt und sind nach wie vor befreundet, soweit ich weiß ...«

»Tja, die Liebe ist doch meistens recht unbeständig ...«, meinte Sperber.

»Außer bei Ihnen und Ihrer Frau ...«

»Sie glauben gar nicht, wie froh ich darüber bin. Und Sie? Immer noch auf der Suche?«

»Ja, leider. Aber ich bin nicht einsam, falls Sie verstehen ...«

»Ja, ich glaube, das tue ich. Und ich finde, das ist auch in Ordnung ...«

Kapitel 2: Donnerstag, 04.04.2024

Auch an diesem Morgen kam es zur zwar nicht mehr täglichen, doch nach wie vor regelmäßigen Begegnung mit dem ebenfalls übergewichtigen Nachbarn im Treppenhaus. Doch man hatte sich inzwischen etwas angefreundet. Irgendwann hatte sich Sperber einfach daran gewöhnt, den inneren Widerstand aufgegeben, und war sogar auf den bald folgenden Vorschlag, die Förmlichkeiten beiseite zu lassen, spontan eingegangen.

»Na, Hans? Geht's widda auf Vabrechahatz? Kannze mich nich ma mitnehm'?«

»Dann müsste ich dich vorher zum Hilfssheriff machen, Walter. Den genauen Wortlaut hab ich vergessen, aber du musst sagen Ich schwöre ...«

Der Nachbar hob die rechte Hand und sagte den Spruch auf.

»Gratuliere! Jetzt bist du Hilfssheriff ...«

»Supa! Kommt ma übrigens irgendwie bekannt vor, der Kokolores, den wa g'rad vaanstaltet hab'n. Hab ick schomma im Fernsehn geseh'n, sowatt Ähnlichett. El Dorado, gloob ick. Abba ooch, wenn ick jezz Hilfsscherriff bin, kann ick heute trotzdem leida nich mitkomm'.«

»Dann eben ein andermal. Ich hätte dir sowieso erst einen Sheriffstern basteln müssen ... Aber wenn du eh nicht kannst ...«

»Nee, bessa nich. Meene Frau hat seit ner Zeit Panikattack'n, da will ick se nich zu lange alleenelass'n.«

»Ach, das tut mir aber leid«, sagte Sperber.

»Danke. Hasse gestann datt im Nachbahaus mitgekricht?«

»Nee, was war denn da los?«

»Hat sich eina nen Strick genomm'n. Baumelte tot anner Decke, als ze nen gefund'n gehappt hatt'n. Abba kannze ja auch gaa nich mitgekricht hab'n, war ja tachsübba gewes'n. Da hasse ja deine Ermittlung'n gemacht, im Büro oda auffe Straße. Ick geh dann ma rauf zu meine Frau. Nich datt ze auf dumme Gedank'n kommt und ooch noch sonn Unsinn macht wie gestann datt arme Schwein nebenan ...«

»Ja, das ist bestimmt ne gute Idee, also jetzt sofort raufzugehen. Grüß sie mal von mir.«

»Mach ick. Waidmanns Heil bei der Vabrechahatz, Hans, und pass auf dich upp!«

»Waidmanns Dank!«

Die Nachrichten waren neu, sowohl was den Selbstmord im Nachbarhaus als auch die Panikattacken von Walters Frau betraf. Aber eigentlich wunderte sich Sperber nicht, sondern es passte ins Bild. Sperber war nämlich besorgt. Er spürte Unwohlsein um sich herum, vielleicht auch Anspannung und Sorgen, und er fand es verständlich.

Manche Nachbarn blickten ernster als früher, und Leute auf den Straßen schienen in düstere Gedanken und Erwartungen vertieft zu sein. Die Düsternis der Stimmung mochte mannigfaltigen Quellen entstammen. Bei dem einen handelte es sich vielleicht um Nachwirkungen der Pandemie, etwa ein nicht enden wollender post CoViD-Zustand beziehungsweise der Rest davon, oder es quälte der als so unnötig empfundene und noch immer schwer auf der Seele lastende Verlust eines geliebten Menschen, wegen eines Virus, das vielleicht unnötigerweise aus einem chinesischen Labor entwichen war. Bei dem anderen mochten es finanzielle Sorgen sein: Wo nehme ich das Geld für die Heiz- und Nebenkostennachzahlung her, wie finanziere ich die bald anstehenden Werkstattkosten für Inspektion und Reparatur des Autos? Wie sage ich meinen Kindern, dass es wieder nicht fürs Taschendgeld reicht? Bald ist mein letzter Arbeitstag, weil die Firma schließt. Wo finde ich einen neuen Job?

Aber es mochte auch der Ukrainekrieg sein, der Sorgen bereitete; aus Mitleid mit den tapfer Sterbenden einerseits und, der menschlichen Natur entsprechend, vielleicht noch mehr aus egoistischer Sorge vor einem europäischen Flächenbrand oder punktuellen nuklearen Einschlägen andererseits. Die zukünftige Gefahr einer europaweiten Eskalation war von allen die vielleicht unwahrscheinlichste Variante, aber dennoch nicht auszuschließen, denn immerhin befand sich die Atommacht Russland im Angriffsmodus, was im Klartext die Zerstörung von Dörfern und Städten und das tägliche Töten von Menschen, die Vernichtung von Leben und Existenzen, bedeutete. Dies war eine Tragödie in der Ukraine und beängstigend im restlichen Europa.

Sperber konnte das Risiko für Deutschland und die Nato-Länder nicht einschätzen. Wenn er an Putins damalige Ansprache an den Westen, an die Warnung kurz vor Kriegsbeginn, dachte, dann lief ihm immer noch ein kalter Schauer über den Rücken: ... Konsequenzen, wie es sie in eurer Geschichte noch nie gegeben hat ... Ich hoffe, dass ich gehört werde ... Jeder hatte insgeheim damit gerechnet, dass am nächsten Tag die Welt in Flammen stand und Europa zugrunde ging. Sperber nahm an, dass Putin es damals hätte machen und schaffen können, wenn er gewollt hätte. Der sogenannte Westen war wohl kaum vorbereitet gewesen.

Seitdem waren mehr als zwei Jahre vergangen. Die westlichen Politiker gaben zwar vor, sicher zu sein, das Richtige zu tun, aber niemand würde für die Richtigkeit seiner Vermutungen auf die Bibel schwören, auf seinen Hubschrauber, sein Flugzeug oder seinen Porsche, oder gar sein Leben darauf verwetten. Die politischen Machthaber Europas hatten sich zwar vor dem Ukrainekrieg gewaltig geirrt, konnten jedoch seitdem nach Meinung des Hauptkommissars Hans Walter Binswanger nicht allzuviel falsch gemacht haben, denn noch herrschte Frieden in den Ländern der EU und der Nato. Vielleicht verdiente diese Tatsache mehr Anerkennung, aber Sperber nahm im Land Verunsicherung und Unzufriedenheit wahr. Bei den lauten Hintergrundgeräuschen, die es um den russischen Angiffskrieg in der Ukraine gab, war es wohl auch kein Wunder, und bei dem Wagemut, den manche Politiker und Politikerinnen zeigten, auch nicht.

Politik und Medien, jede Partei und Strömung auf ihre Weise, sorgten dafür, dass die Bevölkerung nicht zur Ruhe kam. Die einen prognostizierten einen russischen Angriff mit konventionellen Waffen und Bodentruppen innerhalb der nächsten Jahre und mahnten Kriegstüchtigkeit an, die anderen befürchteten einen Atomkrieg. Wieder andere meinten, man müsse die Kinder in Schulen und Kindergärten auf einen Krieg in Europa vorbereiten. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Aktivierung von 900.000 Reservisten wurden diskutiert oder vorgeschlagen. Ob berechtigt oder nicht: Die Menschen wurden in eine permanenten Stimmung der Besorgnis versetzt und mussten das Schlimmste befürchten. Und während manche desinteressiert, gleichgültig oder vertrauensvoll waren, gab es andere, die tatsächlich besorgt waren. Viele suchten die Schuldigen bei dem politischen Establishment und wandten sich alternativen oder neuen Parteien zu. Und darüber regten sich die aktuellen Mehrheitsparteien und die althergebrachten Parteien auf oder man wunderte sich.

Sperber wunderte sich nicht. Die politische und mediale Kultur, die sich etabliert hatte, nervte ihn; diese Kombination aus Meinungsmonotonie, Moralüberlegenheit und Empörungsmentalität. Es waren die einzigen Disziplinen, in denen Deutschland noch Weltmeister war oder zur Weltspitze gehörte.

Bemerkte man gar nicht, auf welchem Trip man sich seit einigen Jahren befand, und wie sehr sich die Menschen dadurch belästigt und in ihrer Denk- und Meinungsfreiheit beeinträchtigt fühlten? Und zusätzlich versetzte man die Bevölkerung täglich und permanent in eine Stimmung der Alarmbereitschaft und beunruhigte sie mit zukünftigen Kriegs- und schlechte Zeiten-Szenarien. Manchmal glaubte Sperber, dass es - zu welchem Zweck auch immer - gezielt und mit voller Absicht geschah, und nicht im Rahmen normaler Informationstätigkeit. Also gut ..., dachte er. Wenn ihr wollt, dass wir uns Gedanken machen und permanent besorgt sind, dann mache ich mir jetzt Gedanken, und zwar richtig in die Tiefe und Breite gehende Gedanken. Irgendwie hab ich nämlich das Gefühl, dass hier einiges schiefläuft, in diesem Land und in Europa, und zwar schon seit Jahren. Und diese ganzen Kriegsweisheiten kommen mir auch sehr gewöhnungsbedürftig und absonderlich vor ...

Die Ukraine ging den Weg des Verteidigungskrieges und zeigte sich nicht zu Verhandlungen bereit. Dies war ihr gutes Recht. Es konnte kein grundsätzlicher Fehler sein, um das zu kämpfen, was einem zustand; um die Freiheit und das von Russland weggenommene Land. Vielleicht würde es sich irgendwann als unglückliche Entscheidung herausstellen, sollte man noch mehr verlieren, statt zu gewinnen. Aber im Falle des Sieges hätte man alles richtig gemacht, davon abgesehen, dass Krieg immer auch Zerstörung und Tod bedeutete. Doch dies würde wohl niemand der Regierung vorwerfen, denn die Ukraine war das Opfer, und Putin hatte den Krieg begonnen.

Sperber ging trotzdem davon aus, dass es innerhalb der Nation der Verteidiger mehr oder weniger verschiedene Ansichten gab. Vielleicht hatten inzwischen viele vom Krieg genug - dies war natürlich keine angemessene Formulierung, denn niemand war auf den Krieg erpicht gewesen - und wären eher für Verhandlungen als für das risikoreiche Weiterkämpfen. Und vielleicht haderten die Alten, die einfach nur ihre letzten Jahre gerne in Ruhe und Frieden zu Ende gelebt hätten, mit dem Schicksal: Hätte man sich nicht dem Westen zugewandt, so wäre alles beim Alten geblieben und es würde wohl noch immer Frieden herrschen. Doch das war Demokratie. Das Volk hatte sich mehrheitlich, wenn vielleicht auch nur relativ knapp, für den Weg Richtung Westen entschieden, und dem russischen Machthaber hatte dies nicht gefallen. Er fühlte sich berechtigt, den demokratischen Willen eines Nachbarlandes durch seinen eigenen zu ersetzen. Und so war der Krieg entstanden, für den es rechtlich und moralisch nur einen Schuldigen gab, und der saß in Moskau.

In der Ukraine wurde gekämpft, aber noch herrschte Frieden in Europa, und vielleicht würde es auch so bleiben. Die Nato war aus ihrem hirntoten Zustand erwacht, und eventuell betrachtete man in Moskau das Bündnis inzwischen als Macht, mit der wieder zu rechnen war. Ein Angriff mochte eine entsprechende Antwort hervorrufen, also war man vielleicht weise und ließ es deshalb, oder aus anderen Gründen, bleiben.

Wessen Verdienst auch immer es war, und warum auch immer es so war: Bislang herrschte Frieden westlich der Ukraine. Sperber war dafür dankbar, und bestimmt wussten es auch die anderen Menschen in Deutschland und Europa zu schätzen. Toi, toi, toi ... Der Hauptkommissar klopfte mit dem Knöchel des gekrümmten Fingers drei Mal gegen seine Stirn.

Frieden war wichtiger als alles andere, und niemand wusste es besser als die Ukraine. Aber selbst die vor einem Krieg verblassende Teuerungsrate war für viele Menschen in Deutschland bereits Problem genug. Die militärischen Aspekte des Krieges könnten zukünftig vielleicht zusätzlich nach Europa kommen, falls sich die Dinge ganz schlecht entwickelten, und die nichtmilitärischen Folgen bemerkte man schon jetzt: Menschen verarmten; plötzlich war man verschuldet. Hatte man früher für schöne Dinge, Urlaub, angenehme Wärme im Winter und fürs Sparen gearbeitet, so opferte man heute das gesamte Einkommen, um die Wohnung behalten und die Heiz- und Nebenkostennachzahlung leisten zu können, obwohl man im Winter manchmal mit Mütze und Schal in der Wohnung saß, um den Verbrauch zu senken.

Natürlich ging es vielen nach wie vor besser. Man konnte weiterhin Urlaubsreisen für über 10.000 Euro buchen oder Luxusautos im Wert von weit jenseits der 100.000 Euro fahren, aber für viele andere waren die guten oder halbwegs guten Zeiten vorbei, und niemand wusste, ob es noch schlimmer kommen würde. Dennoch beschwerte man sich nur leise oder gar nicht, denn man wollte nicht undankbar sein. Demonstrationen auf der Straße gegen Maßnahmen der Regierung gehörten der Vergangenheit an. Mit dem Ende der Pandemie hatten auch sie aufgehört und waren einer politischen Erschöpfung und Lethargie gewichen. Allenfalls demonstrierte man noch gegen rechts. Mit der Politik war man trotzdem unzufrieden, aber war das nicht schon immer so gewesen?

Neu war allerdings der Krieg und die nicht grundsätzlich auszuschließende Gefahr eines Flächenbrandes. Politiker, Verteidigungsminister und Generäle redeten von einem Angriff Russlands auf die Nato, der spätestens in den kommenden Jahren bevorstehen würde. Vielleicht hätte man noch acht, möglicherweise nur fünf Jahre Zeit. Russland hätte komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt, würde aufrüsten und die Entscheidung für einen Angriff auf die Nato sei bereits gefallen.

Studiogäste in den einschlägigen Sendungen der öffentlich-rechtlichen Programme sagten, Putin könne nicht mehr aufhören, Kriege zu führen, sonst würde Russland auseinanderfallen. Ob dies Sinn ergab, wusste Sperber nicht, aber manche schienen davon überzeugt zu sein. Der Krieg in der Ukraine war ja bereits Realität, und viele Stimmen sagten, Putin würde nach der Ukraine nicht stoppen, sondern ein weiteres Land angreifen; vermutlich ein Nato-Land.

Was die Ursachen betraf, so gab man sich ahnungslos und war sich keiner Schuld bewusst. Mit der sinnlosen Aggressivität hatte man ja nicht angefangen, sondern Putin und seine Clique des Bösen in Moskau. An dieser objektiven Wahrheit gab es nichts zu rütteln. Die Schuld lag letztendlich immer bei demjenigen, der ein Nachbarland überfiel, egal, was sich im Vorfeld ereignet hatte.

Russlands Ruf war bis auf weiteres ruiniert, von drei oder vier anderen Ländern, die zur neuen Achse des Bösen gehörten, mal abgesehen. Man war das neue Nazi-Deutschland, nur als russische Version. Doch dies war nur oder hauptsächlich die europäische und nordamerikanische Sichtweise. Die Welt bestand aber nicht nur aus Europa und den USA oder ihren Verbündeten. Viele Länder und Menschen - vermutlich eine Mehrheit - auf anderen Kontinenten waren neutral oder eher pro-russisch. Der sich moralüberlegen dünkende und oftmals oberlehrerhaft-besserwisserisch gebarende Westen hatte sich nicht überall nur Freunde gemacht. Andererseits dachten selbst Teile des russischen Volkes wohl eher kritisch in Bezug auf das eigene Land. Als vor einigen Wochen in Moskau der furchtbare Anschlag auf ein Einkaufszentrum durch Terroristen erfolgt war, hatten sich selbst Russen zunächst gefragt, was sie davon halten sollten. Nun, die Toten waren echt gewesen; die Mutmaßungen hatten sich auf den Urheber des Attentats bezogen, bevor sich die tatsächlichen Urheber zu der schrecklichen Tat bekannt und alle Spekulationen beseitigt hatten.

Die objektive, kausale Schuld für den Ukrainekrieg ließ sich eindeutig Russland und Putin zuweisen. Vielleicht machten sich die Menschen in Deutschland – und möglicherweise nicht nur dort, sondern auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere in den westlichsten, die sich am meisten mit Waffenlieferungen hervortaten – in diesem Zusammenhang aber trotzdem ihre Gedanken um den kollektiven Kurs des Westens: War er vernünftig oder unvernünftig? Waren manche Politiker und Politikerinnen vielleicht zu stur und aggressiv und hatten Weltkriegspotenzial in sich, oder handelten sie richtig, wenn sie Waffenlieferungen versprachen, solange es nötig sei, oder den TAURUS forderten? Wurden genügend Waffen an die Ukraine geliefert oder zuwenige? Wurden die richtigen Waffen geliefert oder fehlte es noch immer an Durchschlagskraft und Reichweite? War die Lieferung der Waffen auch wichtig, um Freiheit und Frieden in Europa zu garantieren, und um die Zukunft der Kinder und Enkelkinder Europas zu schützen, oder bewirkte die Lieferung der Verteidigungs- und Vernichtungsmittel irgendwann das Gegenteil und wäre ein ausgehandelter Frieden zwischen der Ukraine und Russland eine bessere und sicherere Alternative für alle Beteiligten?

Aber was hieß schon "ausgehandelt" aus russischer Sicht? Man sagte ja immer, Putin wolle nicht verhandeln und unterbreite nur unzumutbare Scheinangebote, und diese Einschätzung war möglicherweise auch realistisch. Deshalb ergab sich auch die Frage, ob Putin überhaupt an Frieden interessiert wäre oder nicht, und schon gar nicht, solange die Nato von einer Mitgliedschaft der Ukraine sprach? Würde er die Nato zukünftig wirklich angreifen, oder waren dies lediglich Vermutungen, Befürchtungen oder Behauptungen durch westliche Politiker, um die eigenen Entscheidungen und Ansichten zu legitimieren und anderen die Meinungsgrundlagen zu entziehen? Auf dem Feld der Politik musste man mit allen Tricks und Finessen rechnen.