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New York City, 21. November 2096: Cynthia, ein Mensch. Jade, eine Replikantin. Träume, so flüchtig. Realität, oft trügerisch. Vergangenheit, eindeutig, doch in Erinnerungen verloren. Zukunft, abhängig von Gefühlen, Worten und Taten.
Eine Lovestory vor Science Fiction-Hintergrund mit dezent erotischem Touch. Die in der Replicant Unit der New Yorker FBI-Dienststelle tätige Agentin Cynthia Hansen ist seit drei Jahren solo und steht kurz vor ihrem 30. Geburtstag, als sie und ihre Kollegin Kara Kowaszczyk der Tänzerin Sandra Camponee das Leben retten und der Clubbesitzerin Jade Jones begegnen. Cynthia und Jade verlieben sich ineinander, und Jade verschweigt, dass sie eine Replikantin ist.
Obwohl Replikanten, deren Erschaffung seit Jahren verboten ist, überlegene Fähigkeiten haben, werden ihnen seit Anfang 2091 die Menschenrechte gewährt. Fiktive Identitäten ermöglichen ihnen ein Leben unter ihren Schöpfern, nachdem sie zuvor eine Dekade lang unterdrückt wurden. Doch nicht alle Menschen akzeptieren dies. Zu ihnen zählt der Senator und Präsidentschaftskandidat Gregor Roy Madlock. Für sein Ziel, die Gleichstellung der Replikanten in den USA wieder abzuschaffen, ist er bereit, alle Regeln zu brechen. Als Vollstrecker dienen seine Tochter Miranda, der Sicherheitschef Barnes und das abtrünnige Triadenmitglied Lucie Peng.
Ein misslungener Anschlag auf Madlock durch eine im Lackoutfit agierende Auftragsmörderin ist für die Agentinnen der Beginn einer furiosen Zeit, doch bei ihrem Vorgesetzten stößt die Art und Weise ihrer Ermittlungen auf wenig Begeisterung.
Kara will die rassige Attentäterin um jeden Preis finden, und Informationen über Jades Vergangenheit, die Cynthia zugespielt werden, beweisen Jades Herkunft aus dem Labor und deuten die Möglichkeit an, dass die Replikantin nicht nur liebevoll und zärtlich ist, sondern auch unberechenbar und gefährlich. Cynthias Liebe droht daran zu zerbrechen.
Als sich Cynthia und Kara, die der Auftragsmörderin inzwischen sehr nahegekommen ist, gegen Madlock stellen, beginnt ein Überlebenskampf, in den auch Jade und die Attentäterin Dakota Blush hineingezogen werden.
Dieser detailverliebte und sorgfältig ausgearbeitete Roman dürfte der erste sein, in dem Replikanten den geborenen Menschen rechtlich gleichgestellt sind. Die Leserinnen und Leser erleben gemeinsam mit den sich deutlich voneinander unterscheidenden Protagonistinnen Momente, die erfüllt sind von tiefen Gefühlen, Wortwitz, kleinen und großen Konflikten, temporeicher Spannung und feinsinniger Zärtlichkeit. Die Kombination aus lesbischer Liebe und Replikanten hebt diese Thematik auf ein neues sinnlich-ästhetisches Level, das an zahlreichen Stellen des Romans im wahrsten Sinne des Wortes traumhaft ist.
Begleite Cynthia und Kara in die Underworld, den angesagtesten Club New Yorks, um dort der schönsten Frau der gesamten Ostküste zu begegnen. Sei mutig und folge der Killerin Dakota Blush, die so aufregend und sexy ist wie die Nacht. Überstehe Gefahren mit der furchtlosen Kara, doch hüte dich vor Lucies Gemeinheiten. Erlebe mit Jade ihre Träume als Schmetterling und ihre Sehnsucht nach Menschsein und Liebe. Be curious. Be smart. Enter the world of danger, glamour and pure beauty and lesbian love that Lucie Lepelbet created for you ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Unterschiede zur Ausgabe vom 30. März 2021
Über Träume und Schmetterlinge ...
Kapitel 1 - Mittwoch, 21. November 2096, gegen 20:00 Uhr: Eine unnötige Dienstfahrt
Kapitel 2 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 20:55 Uhr: Central Park, Manhattan, New York City
Kapitel 3 - Vergangenheit, Montag, 10. April 2073, 21:30 Uhr. Newark, New Jersey, 120 Meter unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Ein kalter Ort
Kapitel 4 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 21:10 Uhr: Peter, Sarah und die Begegnung mit der Killerin
Kapitel 5 - Mittwoch, 21. November 2096, kurz nach 20:00 Uhr: Replikantenjäger!
Kapitel 6 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 21:45 Uhr: Sarahs Schmerz
Kapitel 7 - Mittwoch, 21. November 2096, 20:10 Uhr: Ein unnötiger Schusswechsel
Kapitel 8 - Vergangenheit, Donnerstag, 4. Mai 2073, 19:59 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Dunkelheit
Kapitel 9 - Mittwoch, 21. November 2096, 21:45 Uhr: Die Herrin der Underworld
Kapitel 10 - Donnerstag, 22. November 2096: Ein kurzes Wiedersehen
Kapitel 11 - Freitag, 23. November 2096: Ein fast normaler Tag
Kapitel 12 - Samstag, 24. November 2096: Das Attentat
Kapitel 13 - Vergangenheit, Freitag, 12. Mai 2073, 4:20 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Traumwelten
Kapitel 14 - Samstag, 24. November 2096: Das Attentat, Fortsetzung
Kapitel 15 - Sonntag, 25. November 2096: Nächtliche Geständnisse
Kapitel 16 - Montag, 26. November 2096: Liebesglück
Kapitel 17 - Dienstag, 27. November 2096: Der Name der Attentäterin
Kapitel 18 - Mittwoch, 28. November 2096, Abschnitt 1: Kara und die Schönheit der Nacht
Kapitel 19 - Vergangenheit, Samstag, 24. Juni 2073, 11:00 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Die Zukunft der letzten Fünf
Kapitel 20 - Mittwoch, 28. November 2096, Abschnitt 2: Fesselspiele
Kapitel 21 - Donnerstag, 29. November 2096: Kara und Dakota
Kapitel 22 - Freitag, 30. November 2096: Liebe oder nur Sex?
Kapitel 23 - Samstag, 1. Dezember 2096: Mit den Stöcken schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen
Kapitel 24 - Sonntag, 2. Dezember 2096: Die Ruhe vor dem Sturm
Kapitel 25 - Montag, 3. Dezember 2096, Abschnitt 1: Träume, Schmetterlinge und die Realität
Kapitel 26 - Montag, 3. Dezember 2096, Abschnitt 2: Der Wunsch nach Rache
Kapitel 27 - Vergangenheit, Freitag, 7. Juli 2073, 10:00 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Du wirst einsam sein, aber frei ...
Kapitel 28 - Montag, 3. Dezember 2096, Abschnitt 3: Die Falle schnappt zu
Kapitel 29 - Montag, 3. Dezember 2096, Abschnitt 4: Das Ende des Tages
Kapitel 30 - Vergangenheit, Mittwoch, 10. Januar 2074, 02:00 Uhr. Washington D.C., St. Agnes-Kinderheim: Jade, Lilly und Ronja
Kapitel 31 - Dienstag, 4. Dezember 2096: Ellen Malory
Kapitel 32 - Mittwoch, 5. Dezember 2096, Abschnitt 1: Der Popstar, ein Gedicht und alte Erinnerungen
Kapitel 33 - Vergangenheit, Mittwoch, 20. Juni 2074, 00:30 Uhr. Washington D.C., St. Agnes-Kinderheim: Abschied
Kapitel 34 - Mittwoch, 5. Dezember 2096, Abschnitt 2: Die Entführung
Kapitel 35 - Donnerstag, 6. Dezember 2096: Schlechte Nachrichten und ein erotisches Bad
Kapitel 36 - Freitag, 7. Dezember 2096: In der Rechtsmedizin bei Dr. Richardson
Kapitel 37 - Samstag, 8. Dezember 2096: Jade erzählt von ihrer Vergangenheit
Kapitel 38 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 1: Eine tote Replikantin
Kapitel 39 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 2: Chinatown und die Jagd auf Lucie Peng (Teil 1)
Kapitel 40 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 3: Papierkram und andere Dinge
Kapitel 41 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 4: Chinatown und die Jagd auf Lucie Peng (Teil 2)
Kapitel 42 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 5: Das Verhör und der Tipp
Kapitel 43 - Sonntag, 9. Dezember 2096, Abschnitt 6: Eine Walküre und andere Begegnungen
Kapitel 44 - Montag, 10. Dezember 2096: Die Wahrheit über Jade
Kapitel 45 - Dienstag, 11. Dezember 2096: Zweifel
Kapitel 46 - Vergangenheit, Donnerstag, 31. Juli 2087: In einem Büro des Police Departments von Washington D.C.
Kapitel 47 - Dienstag, 11. Dezember 2096: Ein Verdacht wird zur Gewissheit
Kapitel 48 - Mittwoch, 12. Dezember 2096: Die Rache, der Schmerz und der gebrochene Schwur, Abschnitt 1
Kapitel 49 - Vergangenheit, Sonntag, 16. Juli 2073, 20:25 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Die Nacht vor dem Abschied
Kapitel 50 - Mittwoch, 12. Dezember 2096: Die Rache, der Schmerz und der gebrochene Schwur, Abschnitt 2
Kapitel 51 - Donnerstag, 13. Dezember 2096: Liebesschmerz
Kapitel 52 - Freitag, 14. Dezember 2096: Geburtstag oder Cynthia und Flo
Kapitel 53 - Samstag, 15. Dezember 2096, Abschnitt 1: Die Suche (Teil 1)
Kapitel 54 - Samstag, 15. Dezember 2096, Abschnitt 2: Die Suche (Teil 2)
Kapitel 55 - Samstag, 15. Dezember 2096, Abschnitt 3: Gefangen (Teil 1)
Kapitel 56 - Samstag, 15. Dezember 2096, Abschnitt 4: Gefangen (Teil 2)
Kapitel 57 - Samstag, 15. Dezember 2096, Abschnitt 5: Showdown
Kapitel 58 - Samstag, 22. Dezember 2096, bis Sonntag, 30. Dezember 2096: Wachen, Träumen und die Macht der lauten Taten
Kapitel 59 - Montag, 31. Dezember 2096: Lügen, Wehmut und Tränen
Kapitel 60 - Dienstag, 1. Januar 2097: Neujahr, der Schnee und Staten Island
Kapitel 61 - Donnerstag, 14. Februar 2097, 21:30 Uhr: Valentinstag oder Wo alles begann ...
Kapitel 62 - Samstag, 25. Mai 2097, 4:20 Uhr: Perspektiven
Epilog: Schatten der Vergangenheit
Anhang: Varianten des Standard-Traums in Jades Vergangenheit
Hinweise
Zitat
Gedanken in 40 Wörtern zur Natur der lesbischen Liebe
Replikantenbegriff in diesem Roman
Danksagung
Impressum
Virtueller Buchrückentext
Diese Lucie Re-Edition basiert voll und ganz auf der Version vom 30. März 2021, wurde jedoch erweitert und optimiert. Den gesamten Roman habe ich durchgesehen und an zahlreichen Stellen modifiziert oder ergänzt. Dialoge erfuhren eine Veränderung oder Verlängerung. Wo es sinnvoll war, wurde die Kapitelreihenfolge getauscht.
In Kapitel 18 (ehemals 19) habe ich den Eindruck, den Dakota Blush - die wohl schillerndste Figur des Romans - vermittelt oder vermitteln soll, ausführlicher beschrieben. Dadurch sind einige Absätze hinzugekommen.
Das jetzige Kapitel 25 erhielt eine Textverschiebung, so dass durch die neu entstandene Unterbrechung einer Szene mehr Spannung erzeugt wird. Manche Überschriften wurden geändert. Das Ende von Kapitel 31 (ehemals 30) wurde erweitert.
Längere Absätze in verschiedenen Kapiteln sind für eine bessere Lesbarkeit nun getrennt. Auch einige der längsten Kapitel habe ich unterteilt. Aus einem wurden zwei, um die Längen zu harmonisieren und die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Teilweise wurde dies aber durch eine hohe Handlungsdichte verhindert, die nicht vorteilhaft geteilt werden konnte.
Im übrigen habe ich punktuelle Änderungen, Ausschmückungen oder Korrekturen vorgenommen, unter anderem im Kapitel mit Lady Replica. Die Zufalls-Randfigur Lorraine tritt im jetzigen Kapitel 43 (zuvor 39) ein zweites Mal kurz in Erscheinung, und ihr Outfit wurde präzisiert. Sie hat zudem etwas mehr Dialog und Aktion. Dadurch wird auch ihre Meinung über Replikanten deutlich.
Ein zusätzlicher Rückblick in Jades Vergangenheit wurde als neues Kapitel (49) in den Roman aufgenommen. Dies inkludiert eine weitere Version von Jades Standard-Traum, den sie früher, mit bestimmten Abweichungen, immer wieder erlebte. Dieser Traum kommt auch in Kapitel 30 (ehemals 29) vor und wurde dort stark modifiziert. Nach dem Ende des Romans folgt ein kurzer Überblick über Jades Träume sowie Erläuterungen über Inhalte und Bedeutungen, die aus der jeweiligen Variante abgeleitet werden können.
Das Showdown-Kapitel (jetzt 57, ehemals 49) habe ich stark erweitert (+ ca. 100 %) und mit individuellen Perspektiven - jedoch weiterhin keine Ich-Erzählform - dreier Personen ergänzt. Die "Todeskuss-Szene" wird also drei Mal geschildert, jeweils aus Sicht einer anderen Person. Auch der Ablauf des Geschehens wurde in diesem Kapitel zwischen zwei Punkten sehr verändert. Der Abgang einer Person ist nun gänzlich anders und ausführlicher in Szene gesetzt.
Das ehemals vorletzte Kapitel (nun 58, + ca. 52,6 %) verlangte nach einer Auflockerung und ist durch eine neue, sich über mehrere Seiten erstreckende Situation ebenfalls umfangreicher. Zudem befindet sich hier eine weitere Ergänzung, die zu Beginn des folgenden Kapitels weitergeführt wird.
Das ehemals letzte Kapitel wurde zunächst stark erweitert (+ ca. 100 %) und anschließend in drei weitere unterteilt (nun 59 bis 62; zuvor nur Kapitel 51), so dass es nun vier umfasst. Dies war sinnvoll, weil die dort beschriebenen Ereignisse und Szenen nicht nur an unterschiedlichen Tagen, sondern verteilt über einen Zeitraum von mehreren Monaten stattfinden (Silvester, Neujahr, ein Tag im Februar und ein Tag im Mai). Der eigentliche Schluss wird weiterhin durch den Epilog gebildet.
Es ist im Grunde derselbe Roman geblieben, aber mit dieser Neuausgabe liegt eine optimierte Fassung vor, deren Länge gegenüber der Ausgabe des Jahres 2021 formal um ca. 11,6 Prozent gesteigert wurde, überwiegend durch textliche Erweiterungen, im übrigen aus Kapitel- und Absatztrennungen resultierend. In diesem Wert nicht mitgerechnet sind diese Hinweise und die kurze Übersicht über die Traumsequenzen und deren Interpretation nach dem Ende des Romans, gedacht als Bonus und Deutungshilfe für den Fall, dass diesbezüglich Unsicherheiten oder Fragen bestehen.
Die Replikanten-Thematik ist für mich eines der faszinierendsten Themen aus dem Bereich der Soft-Science Fiction. Replikantenherz (erstmals im Februar 2012 veröffentlicht) ist eine Action-Lovestory und ein ungewöhnlicher Mix, der zugunsten von tiefen Gefühlen und anderen Inhalten auf nicht relevante technische Neuerungen einer fiktiven Zukunft verzichtet. Wäre Jade keine Replikantin, so könnte sich die Handlung sogar in der Gegenwart ereignen, was den Roman grundsätzlich auch für Leser/innen allgemeiner lesbischer Literatur sehr interessant macht.
Replikantenherz ist mein Erstlingsroman, der über die Jahre mit viel Herzblut mehrere Evolutionsstufen bis hin zu dieser Neuausgabe durchlaufen hat, welche übrigens mit der 2024er "Vio Lou Lepelbet"- revised Version inhaltlich identisch ist, sich aber von der 2021er-Ausgabe und erst recht von allem, was davor war, aufgrund der Kapitel-Ergänzungen nochmals unterscheidet.
Ich danke für das Interesse und wünsche Dir oder Ihnen einige Tage kurzweiligen, spannenden und hoffentlich auch sehr lohnenden Lesegenusses.
Lucie Lepelbet, im Dezember 2024
Eine dichte Wolkendecke verstärkte die Dunkelheit des abendlichen Novemberhimmels. Der zwei Stunden lang pausenlos gefallene Regen verlor an Intensität und ging in Schneeregen über. Cynthia konnte kaum erwarten, endlich aus Karas knallrotem Spielmobil auszusteigen, denn Kara war schlecht gelaunt, und wenn sie schlecht gelaunt war, fuhr sie aggressiv; sehr aggressiv ...
Während die blonde Agentin ihren Sportwagen mit illegalen und angesichts der nassen Fahrbahn riskanten 60 Meilen über die George Washington Bridge Richtung New York City steuerte, blickte Cynthia lustlos auf den sich in der Ferne fortsetzenden Hudson, den sie auf dem Rückweg zur Dienststelle überquerten. Sein träge und gleichmäßig fließendes Wasser war kaum zu erkennen. Es war, als spürte er die Nähe seiner Mündung in den Atlantik, der das Ziel seiner Reise war.
Ob sich der Fluss an die Zeiten vor den Anschlägen und Katastrophen erinnerte? Gedachte er manchmal der Männer, Frauen und Kinder, die hier vor Jahrzehnten gelebt hatten und gestorben waren? Die Menschen von New York City wollten die Zeit der Pandemien, Terrorakte und Bombenexplosionen hinter sich lassen; nicht vergessen, aber abschütteln. Die Viren hatten ihren Schrecken im Laufe der Jahre verloren . Die Feinde aus den eigenen Reihen waren hier und andernorts besiegt worden, und das Trauma der nur wenig später folgenden Meteoriteneinschläge blieb erfolgreich verdrängt. Die schrecklichen Ereignisse der 2060er und 70er Jahre, ob von Menschenhand gesteuert, vom Zufall, Schicksal oder von einer universellen Macht, sollten zwischen den Gedenkfeierlichkeiten verblassen, vor einem banalen Hintergrund aus Alltag, Normalität, Gewinnstreben und materieller Übervorteilung.
Doch viele Menschen waren misstrauisch, ängstlich und argwöhnisch geworden, und so hatten Regierung und Geheimdienste leichtes Spiel, in alte Kontroll- und Überwachungsgewohnheiten zurückzufallen. Obwohl sich das Böse nicht am Aussehen erkennen ließ, fürchtete man, was nur halbwegs anders war. Keine guten Bedingungen für Menschen, die sich von der Norm unterschieden, und extrem schlechte Voraussetzungen für solche, die man im Labor erschaffen hatte, unter Umgehung oder großzügiger Abwandlung natürlicher Gesetze für die Entstehung neuen Lebens.
»Ein falsch positiver Schnelltest! Diese elenden Anfänger! Das wäre Richardson nicht passiert! Den Weg hätten wir uns sparen können! So eine überflüssige Zeitverschwendung ...«, schimpfte die blonde Kara.
Cynthia fand es ebenfalls nicht sehr erbaulich, zu einem Tatort mit einem toten New Yorker hinzugerufen worden zu sein, der in Wirklichkeit gar kein Replikant gewesen war. Vielleicht hätte man den zweiten Test, den Kontrolltest, machen sollen, bevor man sie angefordert hatte, denn durch die unnötige Fahrt nach Fort Lee, eine von mehreren Städten am westlichen Ufer des Hudson Rivers auf dem Gebiet von New Jersey, verzögerte sich ihr wohlverdienter Feierabend erheblich. Dabei hatte sie sich bei diesem Wetter so sehr auf einen gemütlichen Abend auf dem Sofa gefreut, mit einer Tasse heißen Tee irgendeine der zahlreichen Krankenhaus-, Comedy- oder Krimiserien ansehend, oder einen Spielfilm. Belanglos, aber unterhaltsam, und genau richtig für den unangestrengten Ausklang eines anstrengenden Arbeitstages in einer Depressionen heraufbeschwörenden Jahreszeit.
»Schuld haben sowieso nur diese verdammten Bastarde«, fluchte Kara. So nannte sie die Replikanten. »Wenn die nicht wären, dann würde ich jetzt vielleicht in irgendeinem Club sein und eine nette Bekanntschaft machen.« Ärgerlich strich sie ihre meist schräg vors linke Auge fallenden Haarsträhnen zurück und dachte ergänzend: Oder ich würde mit dieser Bekanntschaft schon im Bett liegen und ordentlich Spaß haben, es richtig krachen lassen ...
Cynthia wusste, was Kara, die nicht der Typ für feste Beziehungen war, mit nette Bekanntschaft meinte. Ihre Antwort klang unmotiviert bis leicht genervt: »Wenn sie nicht wären, dann würdest du jetzt auch als Polizistin oder Agentin durch die Dunkelheit fahren, auf der Jagd nach Drogendealern, Waffenhändlern, Menschenhändlern, Mördern oder Vergewaltigern. Nur mit dem Unterschied, dass alle Täter und Opfer echte Menschen wären.«
Cynthia war sensibler als ihre Kollegin. Kara hingegen war sehr direkt und manchmal von einer geradezu abschreckenden Härte, die sie in ihrer Kindheit und Jugend auf der Straße erworben haben mochte. Cynthia konnte sich gut vorstellen, dass ihre Dienstpartnerin früher die Anführerin einer Mädchengang gewesen war. Zwar verstand sie sich mit Kara gut, aber ihr missfiel, wie rücksichtslos die blonde Agentin für gewöhnlich mit ihren Mitmenschen, besonders mit Replikanten und mutmaßlichen Replikanten, umging. »Außerdem sind Replikanten echte Menschen, genau wie wir«, ergänzte Cynthia, um ihren Fehler zu korrigieren.
Kara lachte auf und verdrehte die Augen. »Aber doch nicht wirklich! Das Thema hatten wir schon oft genug, oder nicht?« Sie sah ihre Beifahrerin auffordernd an und überholte mit hohem Tempo ein anderes Fahrzeug, ohne den Blinker zu setzen. Cynthia wurde stärker in den schwarzen Ledersportsitz gedrückt, und Kara redete weiter, da von Cynthia nichts kam: »Sie sind nicht wie wir, und ich kann ihnen nicht vertrauen. Wenn ich mir vorstelle, wie sie ... gemacht worden sind ... Und sag mir nicht wieder, dass du kein Problem damit hast! Das nehm ich dir nicht ab ...«
»Okay, etwas suspekt sind sie mir ja auch«, gab die dunkelhaarige Agentin nach Sekunden des Zögerns zu.
»Ach nein!«, sagte Kara triumphierend. »So ein Satz aus deinem Mund? Hat aber lange gedauert, von dir mal zu hören, wie du wirklich über Replikanten denkst ...«
Insgeheim schämte sich Cynthia für ihre Vorbehalte gegenüber Replikanten, wenn auch vielleicht nicht so sehr, wie sie es als Agentin der Replicant Unit eigentlich sollte.
Als könnte Kara Gedanken lesen, sagte sie: »Wahrscheinlich fühlst du dich für deine Empfindungen sogar schuldig, hab ich recht?«
»Quatsch ...« Cynthia schüttelte den Kopf und starrte gleichzeitig angespannt nach vorn, weil ihre Kollegin dicht auf einen anderen Wagen auffuhr und den Fahrer mehrfach mit der Lichthupe drangsalierte. Sie kannte Karas Fahrstil, konnte sich aber nicht an ihn gewöhnen.
Kara lächelte wissend. » Quatsch ...? Ich kenne dich besser, als du denkst ...«
Seufzend sagte Cynthia: »Komm schon, richtig ist das nicht! Sie sind lebende Wesen, Menschen wie wir. Sie denken, sie fühlen ...« Weiter kam sie nicht, denn plötzlich weiteten sich ihre Augen. Ihr Atem stockte und das Herz schien sich zu verkrampfen. Sie versuchte instinktiv, sich auf dem Sitz so klein wie möglich zu machen, als Kara, voller Ungeduld und des langsamen Hinterherfahrens müde, mit einem riskanten Manöver von der äußersten linken auf die äußerste rechte Spur wechselte und gleich mehrere Fahrzeuge überholte, bevor sie im letzten Moment einem rechts fahrenden Automobil auswich, indem sie wieder nach links zog und Vollgas gab, begleitet vom wilden Hupen mehrerer Überholter. Kara störte sich nicht daran und beschleunigte weiter.
Cynthias Herz schlug nun so schnell und heftig, dass sie es pochen hörte. In ihrem Kopf rauschte es, weil das Blut regelrecht durch die Adern schoss. Langsam atmete sie aus und starrte fassungslos nach vorn. Die auf der Frontscheibe mit rasender Geschwindigkeit zum Dach hochjagenden Schneeregenflocken und –tropfen nahm sie kaum wahr. Wir hätten tot sein können! Nur langsam entkrampften sich ihre Hände.
»Sag mal, spinnst du? Wenn du lebensmüde bist, dann sag mir das, bevor ich in deinen Wagen steige, okay? Du bist ja total irre, aber echt!«
Kara grinste und ergänzte ungerührt Cynthias vor dem Überholmanöver begonnenen Satz: »... und sie sind in Laboren entstanden. Darf ich dich daran erinnern, dass sie entwicklungsgeschichtlich gesehen die perfektionierten Nachfolger von Robotern, Androiden und Cyborgs sind? Was ist daran menschlich? Für mich sind es immer noch künstliche ...«
»Stimmt nicht, sie sind aus Fleisch und Blut«, unterbrach Cynthia genervt.
»... und widernatürliche Wesen«, fuhr Kara mit erhobener Stimme fort. »Die sind einfach unheimlich. Daran ändert auch diese alberne Gleichstellung nichts. Oder kannst du dir vorstellen, einen Freundeskreis aus Replikanten zu haben?«
Cynthia dachte nach und schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht ...«, gab sie unter der Wirkung von Karas Worten widerwillig, aber wahrheitsgemäß zu. »Obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, einen Freundeskreis aus Geisteskranken zu haben, die sich und andere irgendwann zu Tode fahren ...«
»Eigentlich nicht? Warum denn nicht? Es sind lebende Wesen, Menschen wie wir. Sie denken, sie fühlen ...«, zitierte Kara ihre Dienstpartnerin.
Cynthia ignorierte die Frage, so dass die blonde Agentin selbst antwortete: »Ich werde dir sagen, warum du es dir nicht vorstellen kannst: Weil die im Grunde aus Einzelteilen bestehen. Wenn man sie wenigstens normal gezüchtet hätte ... Wenn sie wenigstens durch Zellwachstum und Zelldifferenzierung entstanden und am Stück herangewachsen wären, wie jeder normale Mensch. Aber nein, die bestehen aus einzeln gezüchteten Organen und Körperteilen, die man später irgendwie zusammengefügt hat. Das ist doch ekelhaft!« Kara nahm ihre Hände vom Steuer und fuchtelte vor ihrem Gesicht herum, um die Wirkung der Worte zu unterstützen.
Freihändig fahrend schossen sie durch die Dunkelheit, nur zwanzig Zentimeter von der Fahrbahnbegrenzung aus Beton entfernt. Cynthia fand dies nicht sehr erbaulich, denn wie üblich hatte Kara die meisten Funktionen des Fahrassistenten deaktiviert, um den sicherheitsorientierten, aber spaßbremsenden Bevormundungen des Bordcomputers zu entgehen, wie sie es gern formulierte.
»Außerdem muss dabei doch irgendein Schaden zurückbleiben. Deshalb weiß auch niemand, was in deren Köpfen wirklich vorgeht. Denk nur mal an den Amoklauf der eifersüchtigen Replikantin vor ein paar Tagen in L.A. Es war jetzt das dritte Mal innerhalb von fünf Monaten, dass ein Replikant total durchdreht und mehrere Menschen ermordet. Und wieviele menschliche Amokläufer hat es in diesem Zeitraum gegeben? Nicht einen einzigen!«
Gemessen am verschwindend geringen Bevölkerungsanteil war der statistische Anteil der Replikanten an Amokläufen überproportional hoch. Aber Cynthia bezweifelte die Glaubwürdigkeit der offiziellen Zahlen. Mitarbeiter eines Fernsehsenders waren in einigen Fällen auf Ungereimtheiten gestoßen. Die Nachforschungen hatten zu der These geführt, dass manche dieser Gewalttaten möglicherweise inszeniert worden waren, um die Replikanten und Befürworter ihrer Gleichstellung in Verruf zu bringen. Cynthia bezweifelte kaum, dass gewisse Menschen für dieses Ziel über Leichen gehen und Unschuldige opfern würden. Aber für die Theorie gab es keine Beweise, und die in der Bevölkerung weit verbreitete Skepsis gegenüber den künstlich erschaffenen Menschen verhinderte, dass Behauptungen und Annahmen dieser Art Glauben geschenkt wurde. Letztendlich wusste auch Cynthia nicht mit Sicherheit, was sie davon halten sollte.
Ebensowenig wusste sie, ob es richtig war, dass die Behörden in Fällen von Amokläufen Täter nach Mensch und Replikant unterschieden und die dafür notwendigen Untersuchungen durchführten. Vielleicht gab es gute Gründe, dies zu tun, aber nach ihrem Verständnis handelte es sich um eine Lücke im Gleichstellungsgesetz. Wenn Gleichstellung, dann bitte vollständig!
Kara steuerte den Wagen von der Brücke, um auf die südlich verlaufende Richtungsfahrbahn des Henry Hudson Parkways zu wechseln. Die von Anfang an zweispurige Ausfahrt beschrieb zwischen halbhohen Begrenzungen aus Beton zunächst eine Kurve von gut 135 Grad. Das Gefälle war stark, und noch während des Richtungswechsels konnte man durch leichtes Drehen des Kopfes rechts auf den Hudson und das jenseitige Ufer New Jerseys blicken. Viel zu erkennen gab es auf der anderen Seite jedoch nicht, denn die Anzahl der Hochhäuser und beleuchteten Fenster hielt sich dort im Vergleich zu Manhattan in Grenzen.
Doch der Anblick war für Cynthia nicht nur wenig lohnenswert, sondern angesichts Karas nach wie vor aggressiver Fahrweise von zweitrangiger Bedeutung. Die blonde Agentin liebte das Autofahren am Limit unter allen Bedingungen, einschließlich nässe- und schneebedingter Glätte, und so brach das Heck des Fahrzeugs immer wieder aus und drängte nach außen in Richtung der Betonbarrieren.
Am Kurvenausgang mochten sich ängstliche Gemüter in düsterer Nacht von den geisterhaften Gerippen zweier Bäume bedroht fühlen, die aus einem Grünstreifen einige Meter tiefer zwischen zwei anderen Fahrbahnen wuchsen, und deren Äste und Zweige sich nach allem Lebendigen zu strecken schienen, dessen sie habhaft werden konnten.
Doch Cynthia fand den Anblick nicht halb so gruselig wie ihre Rolle als Beifahrerin an diesem Abend. Willkommen bei den Hell Drivers ..., dachte sie, während Kara ein letztes Mal gegenlenkte, um den Wagen für einen kaum mehr als fünfzig Meter messenden geraden Abschnitt gen Westen auszurichten.
Nach der folgenden 90-Grad-Linkskurve konnten Betrachter durch einen Blick zu eben dieser Seite eine Szenerie bestaunen, die nach Cynthias Meinung, zumindest an dunklen Winterabenden oder in Gewitternächten, einer der bemerkenswertesten Anblicke war, den das in die Jahre gekommene New York zu bieten hatte; eine Ansicht, die in der Dunkelheit noch beklemmender wirkte als Karas gruseliger Fahrstil: Nach einem Häuserblock mit trutzburgartigem Unterbau, der an eine uneinnehmbare Festung erinnerte, folgten bis zu 30 Stockwerke hohe Wohntürme; in das Schwarzgrau des Himmels ragende Zeitzeugen vergangener Jahrzehnte. Sie ruhten auf Konstruktionen, die ihrerseits die Höhe mehretagiger Gebäude hatten, und die an ihrem westlichen Ende nur durch alte, filigrane Stützpfeiler davor bewahrt wurden, gemeinsam mit den Betonriesen über ihnen einzustürzen und auf dem felsigen Untergrund zu zerschellen, auf dem sie erbaut waren.
Bei Tageslicht konnte man, zu den Bodenplatten hochblickend, Risse und Stellen erkennen, an denen das Material abgebröckelt war. Dort zu wohnen, musste ein täglicher Nervenkitzel sein. Zwei Reihen von Pfeilern waren erforderlich, um dem westlichen Rand der Gebäude den nötigen Halt zu geben und zu verhindern, dass das Abenteuer des Wohnens in einem Desaster endete.
Gitter verhinderten den Zutritt zu dem höhlenartigen Anfangsbereich unterhalb der Bauwerke, und metallene Treppensteige sollten die Zustandskontrolle der Grundkonstruktion und vielleicht auch des Felsensockels ermöglichen. Für kein Geld der Welt würde Cynthia auch nur einen Tag lang in diesen Übrigbleibseln der Vergangenheit ihr Leben riskieren. Sogar als Co-Pilotin ihrer nahe des Grenzbereichs fahrenden Kollegin fühlte sie sich sicherer.
Eine Rechts-Links-Kombination führte nun von den Architekturkuriositäten weg und näher zum Hudson, und die nach wie vor stark abschüssige Fahrbahn sorgte im Zusammenspiel mit der überhöhten Geschwindigkeit für ein flaues Gefühl in Cynthias Magengegend. Die Begrenzung auf 25 Meilen schien die weiterhin im Stil einer Rallye-Fahrerin agierende Kara nicht im Mindesten zu beeindrucken, und schon im Kurvenausgang beschleunigte sie die Corvette auf über 60 Meilen. Den folgenden, weitgehend in Geraden verlaufenden Abschnitt nutzte sie, um die Geschwindigkeit noch mehr zu erhöhen.
Kara fühlte sich seit dem Verlassen der Georg Washington Bridge trotz der widrigen Bedingungen unterfordert, und weil von Cynthia auf das Argument der Amoklaufhäufung keine Reaktion erfolgt war, hatte sie, gleichzeitig den ersten Drift zu Kurvenbeginn abfangend, weitergesprochen: »Meine Meinung steht fest: Die sind unberechenbar, einfach gestört. Wenn es nach mir ginge, dann würde man die alle wegsperren, statt ihnen die Möglichkeit zu geben, anonym mitten unter uns zu leben. Und außerdem finde ich die Vorstellung, intimen Kontakt mit diesen Kreaturen zu haben, echt widerlich.«
Cynthia fand Karas Argumentation unlogisch: »Wie kannst du das widerlich finden? Viele von ihnen sind schöner und ästhetischer als die meisten Menschen. Wenn du also kein Problem damit hast, dir nicht nur einen Vibrator reinzuschieben, sondern hin und wieder sogar etwas Echtes reinstecken zu lassen, dann sollten Replikanten eigentlich auch kein Problem sein, oder?«
»Doch, sie wären ein Problem. Und was die Ästhetik der Replikanten angeht: Die weiblichen Replikanten, ja, die sind extrem ästhetisch. Natürlich sind sie das, weil ihre ursprüngliche Bestimmung darin bestand, eine Sexsklavin für irgendeinen widerwärtigen, reichen Typen zu sein.«
Damit lag Kara falsch, und Cynthia nutzte umgehend die Gelegenheit, darauf hinzuweisen: »Du weißt genau, dass das erst hinterher kam, als sie ab 2081 für den freien Verkauf in größerer Zahl erschaffen wurden, bevor es gesetzliche Verbote gab. Ursprünglich wurden sie ausschließlich für medizinische und militärische Versuchszwecke erschaffen, und zwar heimlich. Pharmaunternehmen hatten ein besonderes Interesse an ihnen. Und dabei wäre es auch geblieben, wenn die Politik schneller reagiert hätte.«
»Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, die sind gefährlich und verschlagen. Denk nur mal an die vielen Replikantinnen, die für die private Nachfrage produziert wurden, bevor ihre Herstellung insgesamt gesetzlich verboten war ...«
»Man hat versucht, bestimmte Hirnareale punktuell dauerhaft zu schädigen, damit sie weitgehend willen- und antriebslos sind und keine Gefahr für ihre Besitzer darstellen«, erinnerte Cynthia.
»Richtig, zum Beispiel das limbische, oder wie ich es nenne linkische System. Nur hat das nicht immer geklappt. Wie hatte man das genannt? Unerwartete neuroregenerative Fähigkeiten oder so ähnlich? Und wo ist das aufgefallen? Etwa schon im Labor? Nein, die waren schlau genug, das Spiel mitzuspielen. Und kaum waren sie draußen, haben sie ihre Besitzer kalt gemacht und sind abgehauen. Die hätten auch einfach so verschwinden können ...«
»Hättest du auch nicht gemacht!«, hielt Cynthia entgegen.
» Ich bin aber keine im Labor entstandene Replikantin. Ich bin normal auf die Welt gekommen.«
»Was nicht dein Verdienst ist. Außerdem bin ich mir da manchmal nicht so sicher ...«
»Wie meinst du das?«, fragte Kara, die stets bereit war, in den Gegenangriffsmodus überzugehen, lauernd.
Cynthia bedachte ihre Kollegin von der Seite mit einem abschätzend-vielsagenden Blick und meinte: »Naja, etwas anders bist du ja schon, und das muss ja wohl einen Grund haben.«
»Ach, und welchen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht bist du ja aus einem Ei geschlüpft? Andererseits könntest du auch ein Alien sein. Beides ist möglich. Wenn ich es mir recht überlege, bist du wahrscheinlich ein aus einem Ei geschlüpfter Alien.«
Kara musste trotz ihrer schlechten Laune grinsen, und Cynthia fuhr fort: »Jedenfalls hatten die Replikanten nicht soviel Glück. Manche wurden schlimmer behandelt als Tiere. Ist doch klar, dass die ihre Besitzer gehasst haben. Und außerdem haben sie selbst keine Schuld daran, dass sie nicht geboren, sondern in Laboren erschaffen wurden.«
»Nein, da haben sie keine Schuld dran. Aber sie könnten wenigstens selber zur Lösung des Replikantenproblems beitragen.«
»Und wie?«
»Indem sie kollektiven Selbstmord begehen«, meinte Kara kühl. Da sie wusste, dass ihre Kollegin derart gefühllose Äußerungen nicht mochte, relativierte sie nach einigen Sekunden: »Jedenfalls hat mir die Zeit vor der Gleichstellung besser gefallen. In jeder Nation gibt es höchstens ein paar tausend bis maximal dreißigtausend Replikanten. Ich frage mich, wieso man deswegen so einen weltweiten Aufstand gemacht hat und immer noch macht. Man könnte eine Art Reservat bauen, die dort einpferchen, mit allem versorgen, was zum Leben nötig ist, und aufpassen, dass keiner mehr rauskommt. Replicant City. Nach ein paar Jahrzehnten wäre das Problem erledigt ...«
Cynthia legte den Kopf schief und sah ihre Kollegin vorwurfsvoll an. »Ein Reservat? So wie damals bei den Native Americans? Am besten noch von einem unter Hochspannung stehenden Zaun umgeben, oder was?«
»Klar, sonst könnten sie ja abhauen. Ich sage übrigens nicht, dass das bei den Native Americans richtig war!«, stellte Kara klar.
»Aha! Aber bei den Replikanten schon?«
»Logisch!«
»Du hast sie doch nicht alle!«, fand Cynthia.
Kara blieb unbeeindruckt: »Vielleicht gelingt es diesem Madlock ja, die Gleichstellung wenigstens hier in Amerika rückgängig zu machen, falls er gewählt wird. Zuzutrauen wär’s ihm.«
»Was? Die Gleichstellung rückgängig zu machen oder gewählt zu werden?«
»Beides.«
»Toll!«, meinte Cynthia sarkastisch. »Dann würde es vielleicht sogar auf deine Reservatslösung hinauslaufen, falls dieser Psychopath sie nicht einfach alle töten lässt ...«
Cynthia mochte Senator Gregor Roy Madlock nicht. Sie hielt ihn für einen massenmanipulativ wirkenden Mann, dessen Saat auf fruchtbaren Boden fiel. Und er war machtbesessen, was ihn gefährlich machte.
»Ich finde ihn ja auch nicht sympathisch, aber er spricht immerhin aus, was viele nur denken. Ich glaube, er hat bei der Präsidentschaftswahl gute Chancen, auch wenn er zur Zeit noch als Außenseiter gehandelt wird.«
Cynthia nickte, während ihr gleichzeitig auffiel, dass es nur noch regnete. »Ich bin mal gespannt, was dieser Spinner bei seiner Rede in drei Tagen zu sagen hat. Woher nimmt er nur seinen extremen Hass auf die Replikanten?«
Kara blickte erstaunt. »Weißt du das etwa nicht mehr? Sein Sohn Peter ist doch von einer Replikantin getötet worden!«
Cynthia lachte spöttisch auf und rollte mit den Augen. »Ja, das behauptet er. Beweise dafür gab es aber nicht. Die angeklagte angebliche Replikantin – wie hieß sie noch, Sarah Day? – wurde damals immerhin freigesprochen.«
»Sie wurde nur freigesprochen, weil eine Zeugin ihre Version der unbekannten Killerin bestätigt hat. Aber vielleicht hat die Zeugin gelogen? Vielleicht kannte sie Sarah und hat ihr nur einen Gefallen getan? Und warum haben beide ausgesagt, die Killerin nicht beschreiben zu können? Ist doch komisch, oder?«
»Keine Ahnung, vielleicht aus Angst? Und dass Sarah eine Replikantin ist, war letztendlich auch nur eine von Madlocks unbewiesenen Behauptungen.«
Kara blickte zweifelnd. »Schonmal was von falschen Identitäten gehört? Meinst du etwa auch, er hatte sich nur ausgedacht, dass Peter von dieser angeblichen Replikantin aus Eifersucht getötet wurde? Wieso hätte eine Killerin Peter erschießen sollen, und von wem wurde sie beauftragt? Es hieß, Peter Madlock sei ein Mann ohne Feinde gewesen. Außerdem befanden sich Schmauchspuren auf Sarahs Haut und Kleidung und ihre Fingerabdrücke auf der Tatwaffe ...«
»Klar, die Polizisten hatten sie ja mit der Waffe in der Hand aufgefunden. Aber laut Zeugin war das alles arrangiert. Die Killerin hatte der bewusstlosen Sarah die Waffe in die Hand gelegt und abgedrückt, was die Schmauchspuren erklärt. Haben die Geschworenen zum Glück ja auch so gesehen.«
»Schwachsinn, wenn du mich fragst.«
» Ich glaube jedenfalls an diese unbekannte Killerin. Aber Madlock hält bis heute an seiner Version fest, die ihm praktischerweise einen für viele gut nachvollziehbaren Vorwand für seine politischen Ansichten gibt.«
Karas Blick, der schon den ganzen Abend grimmig war, wurde noch grimmiger. »Ist mir auch völlig egal, wer Peter Madlock umgelegt hat. Tot ist tot, das macht für ihn keinen Unterschied mehr. Ich hab genug von Replikanten und diesem politischen Gesülze von Leuten, die um gesellschaftliche Korrektheit bemüht sind, nur um in der Öffentlichkeit gut dazustehen. Wer heutzutage zugibt, kein Freund dieser verdammten Gleichstellung zu sein, wird von den Medien doch sofort als Rassist dargestellt.«
»Ich habe noch nie erlebt, dass die Medien Madlock als Rassisten bezeichnet haben«, wandte Cynthia ein. »Obwohl das so falsch auch wieder nicht wäre ...«
»Das sagst ausgerechnet du?«
»Was soll das denn heißen?«
»Naja, seit heute ist ja wohl amtlich, dass du zumindest eine ambivalente Einstellung gegenüber Replikanten hast ...«
Cynthia musste sich eingestehen, dass Kara recht hatte: Ja, sie hielt die Gleichstellung für richtig und behandelte Replikanten dienstlich stets korrekt und unvoreingenommen. Aber privat konnte sie darauf verzichten, Umgang mit ihnen zu haben. Vielleicht war dies tatsächlich eine Art von Rassismus.
Als sie sich dem Exit 13 West 158th Street näherten, sahen sie bereits aus großer Entfernung die blinkenden Einsatzleuchten von Polizei und Rettungsdienst. Kara reduzierte die Geschwindigkeit. Gut 30 Meter hinter der Ausfahrt lag ein Sattelauflieger quer über der gesamten Richtungsfahrbahn des Henry Hudson Parkways, dessen südliche Fahrtrichtung dadurch vollständig blockiert war. Ein Polizist des NYPD winkte Kara mit beleuchteter Warnkelle Richtung Ausfahrt, während sein Kollege an der Unfallstelle stand und mit Fahrer und Rettungsdienst sprach.
Die Agentinnen hätten die Ausfahrt sowieso genommen. Da hinter ihnen weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen war, das sie hätten behindern können, aktivierte Kara für einen Moment Sirenengeheul und Einsatzleuchten, hielt neben dem Officer an und ließ die Seitenscheibe hinunter. »FBI. Brauchen Sie Unterstützung?«, fragte sie.
»Danke, Ma’am, alles im Griff. Reifenplatzer. Der Fahrer ist nur leicht verletzt. Verkehrspolizei und Räumdienst sind schon unterwegs.« Der Polizist war noch jung und sowohl von Kara als auch ihrer Corvette ziemlich beeindruckt. »Starker Wagen, Ma’am«, sagte er etwas kleinlaut und mit leicht errötendem Gesicht.
»Danke, Officer«, antwortete Kara freundlich. »Wenn Sie uns nicht brauchen, dann fahren wir jetzt weiter ...«
»Ist gut, Ma’am ... Gute Nacht, Ma’am ...«
Kara lächelte und ließ die Scheibe hochfahren. »Gute Nacht ...« Sie beschleunigte langsam, beobachtete den Polizisten im Rückspiegel und grinste. »Danke, Ma’am ... Starker Wagen, Ma’am ... Gute Nacht, Ma’am ...«, äffte sie ihn belustigt nach.
Cynthia musste ebenfalls grinsen, obwohl sie auch etwas Mitleid hatte. »Dem armen Jungen hast du wahrscheinlich ziemlich feuchte Träume beschert. Dabei ist er doch jetzt schon nass bis auf die Knochen ...«
Kara folgte der Wendung des Exits 13 und fuhr auf der West 158th Street, nur 30 Meter vom Fluss entfernt, entgegengesetzt zur bisherigen Richtung nordwärts.
Im tristen Winter, die Bäume ihres schmückenden Blätterkleides beraubt, machte diese Straße nicht viel Eindruck. Doch vom Frühjahr bis in den Herbst hinein war es ein Vergnügen, mit gemächlicher Geschwindigkeit in Sichtweite des Ufers entlangzufahren, eingerahmt von Grünflächen und unter Schatten spendenden Bäumen, die beiderseits des Asphaltbandes gepflanzt waren.
Nach gut 280 Metern Fahrt über die an diesem Winterabend trostlos wirkende Allee musste Kara ihre Corvette bei der Unterquerung des Henry Hudson Parkways präzise durch die Engstelle aus Leitplanken und gemauertem Stützpfeilersockel steuern.
»Arschlöcher ...!«, sagte sie, weil die zur Verfügung stehende Fahrbahnbreite ohne erkennbaren Grund so stark reduziert worden war, dass breiter gebaute Fahrzeuge nur knapp hindurchpassten.
Nach weiteren fast 280 Metern folgte Kara dem Verlauf der West 158th Street und nutzte die gemauerte Unterführung unterhalb des vierspurigen Riverside Drives. Nicht nur aufgrund des tunnelartigen Bauwerks zu Beginn hätte Cynthia diesen auf mehrere hundert Meter schnurgerade verlaufenden Straßenabschnitt zumindest bei Nacht und als Fußgängerin auf jeden Fall gemieden.
Zunächst schmal und zwischen hochaufragenden Häusern liegend, vergrößerte sich die Verkehrsfläche nach einigen Sekunden Fahrt mit innerstädtisch nicht legitimen 50 Meilen pro Stunde zu einem in der Dunkelheit noch weniger Sicherheitsgefühl vermittelnden weiträumigen Kreuzungsbereich, ehe nach weiterem geradem Streckenverlauf endlich der Broadway erreicht war, auf den Kara rechts abbog. Dort kam es zu einer Begegnung, die Cynthias und Karas Leben verändern sollte ...
Sie blickte in blaue Augen, die scheinbar unschärfer wurden, als sich ihre Lippen zu einem Kuss näherten. Während sie die Begegnung ihrer Zungen genoss, spürte sie zärtliche Hände auf ihrem Rücken. Dieselben liebevollen Berührungen ließ sieseinem Hals und Hinterkopf zukommen. Wäre es nicht um der Atmung willen gewesen, hätte sie stundenlang weitergemacht, statt zwei Minuten später von ihm zu lassen. Aber die Distanz zwischen ihren Gesichtern hatte auch etwas Gutes, konnte sie doch den dunkelblonden, fast schulterlangen Haaren zusehen, die sein gegen den Wind gerichtetes Gesicht so wunderbar umwehten, wie sonst nur seine Liebeserklärungen ihr Herz umschmeichelten.
»Ich liebe dich«, sagte sie. Er lächelte. Niemals zuvor hatte sie einen Menschen so warmherzig lächeln sehen. Es war ehrlich, ohne Hintergedanken. »Liebst du mich auch?«
»Ich liebe dich«, antwortete er.
Sie wusste, es gab nichts auf der Welt, das diese Worte an Wahrheit übertraf. »Wirklich?«, fragte sie trotzdem und blickte erwartungsvoll in Augen, die ihr so rein und klar vorkamen wie eine wolkenlose Sommernacht.
»Ich liebe dich«, wiederholte er. Ohne den ernsthaften Klang seiner Stimme zu verändern, ergänzte er auf die Art und Weise, die sie erhofft hatte: »Und würd’ der Todesengel mich bestrafen für mein Glück oder der Himmel mir verleih’n ein Leben für die Ewigkeit, niemals mehr wollt’ ich ohne dich zurück, in tristes Dasein ohne Herz und Fröhlichkeit.«
Sie sah ihn sekundenlang sprachlos an; nicht nur wegen seiner Worte; vielmehr wegen dem, was er für sie empfand, und sie dadurch zu fühlen imstande war: Dass sie geliebt und gebraucht wurde; dass sie nicht bedauern musste, sie selbst zu sein. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass es so war, und sie ihren Platz gefunden hatte. »Du meinst es wirklich so«, sagte sie. »Obwohl du weißt, wer ich bin; und was ich bin ...«
»Vielleicht, weil ich weiß, wer du bist ...«, antwortete er. »Was man euch angetan hat, Sarah, all die Qualen, Schmerzen und Demütigungen ...« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Ich schäme mich, ein Mensch zu sein!«
»Das musst du nicht, Peter«, sagte sie und streichelte liebevoll seine Wange.
Er nahm ihre Hände, führte sie zusammen und umschloss sie mit seinen eigenen. »Danke, dass du mir vertraut hast. Es war ein Risiko, aber du bist es eingegangen ... Die Erinnerung an jenen Abend, als du es mir gesagt hast, werde ich immer bewahren.«
»Es war kein Risiko«, widersprach sie. »Nicht bei dir. Ich wusste, dass du zu mir halten würdest, denn ich wusste, welche Art Mensch du bist. Nicht alle von euch sind schlecht, das weiß ich jetzt, aber ich glaube, nicht viele sind so wie du ...« Tatsächlich hatte sie den Eindruck, dass er noch liebevoller, zärtlicher und besorgter war, seit er die Wahrheit kannte. Endlich empfand sie ihre Vergangenheit nicht mehr als Last.
»Was würde dein Vater wohl tun, wenn er es wüsste?«
»Ich weiß es nicht, Sarah.« Die Erwähnung seines Vaters beunruhigte ihn.
»Er würde mich umbringen lassen, oder Schlimmeres ...«, sagte sie traurig und erkannte in seinen Augen, dass er ihre Befürchtungen teilte.
»Er darf es niemals erfahren«, entgegnete er. »Vielleicht sollten wir fortgehen und irgendwo neu anfangen ...«
Sie lächelte, denn es gab nichts, was sie lieber getan hätte. Wann und wohin auch immer: Sie wäre ihm gefolgt, bis ans Ende der Welt, denn sie liebte ihn und vertraute dem dreißigjährigen Doktor und Lehrstuhlinhaber der Philosophie und Literaturwissenschaften.
Als er es in ihren Augen erkannte, sagte er leise: »Und wär’ die Zukunft noch so arm an wundervollen, unermesslich teuren Dingen, nichts tät’ ich lieber als zu flieh’n mit dir von diesem finst’ren Ort, auf nur von wahrer Liebe sanft gelenkten Schwingen ...«
Er wusste, dass sie ihn gern so sprechen hörte, denn es waren die schönsten Liebeserklärungen, die sie sich vorstellen konnte; vielleicht, weil sie klangen, als lebten sie in einer besseren Welt. Doch obwohl er manchmal ein romantischer Träumer war, sprach er tatsächlich nur in ihrer Gegenwart und auf ihren Wunsch hin gelegentlich so, als wäre er ein edler Ritter und sie das von ihm umworbene Fräulein am königlichen Hofe.
Sie mochte alles, was anders war, als die von ihr in der Vergangenheit erfahrene Realität der Menschen. Und er, Peter, schenkte ihr diese schönen Momente, gab ihr Bewunderung, Anerkennung und Liebe, die sie mit ganzem Herzen erwiderte.
»Du sprichst mir aus der Seele«, flüsterte sie und bedankte sich mit einem zärtlichen Kuss für seine verbalen Liebesbeweise, die durch sein Interesse an Dichtkunst, Minnesang, Literatur und höfischer Kultur des europäischen Mittelalters beeinflusst waren. Doch trotz aller Hochschätzung traditioneller Werte und Eigenschaften war er ein moderner, aufgeschlossener Mensch, der das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgte.
»Glaubst du, dass es zur Gleichstellung kommen wird?«, fragte sie, als sie weitergingen.
»Es sieht gut aus, meiner Meinung nach. Ich glaube fest daran. Die Stimmen der Vernunft werden zahlreicher, die Diskussionen nehmen einen anderen Verlauf als noch vor wenigen Monaten. Die Menschen beginnen, euch anders zu sehen. Sie erkennen, dass ihr ein Teil von uns seid, und wir uns eigentlich gar nicht unterscheiden. Malorys Pläne sind gut. Die Gleichstellung wird euch die Menschenrechte geben und die Möglichkeit, unerkannt mitten unter uns zu leben.«
»Ich wünsche es mir so«, gestand sie. »Auch ich würde mit dir von diesem finst’ren Ort fliehen, wenn es sein müsste; bis ans Ende der Welt, wenn du nur bei mir bist. Aber sich nicht mehr verstecken zu müssen, das wäre wie ein Traum ...«
»Ein Traum, den auch ich träume ...«, sagte er aufrichtig.
»Dann hätte ich endlich eine legale Identität, zwar fiktiv, wie jetzt auch, aber legal.«
»Mach dir keine Gedanken wegen der falschen Papiere. Niemand hat einen Nachteil dadurch, und die Menschen lassen dir, lassen euch, keine andere Wahl.«
Sie blickte ihn traurig an.
»Es werden bessere Zeiten kommen, schon bald ...«, versicherte er. »Malory und Lancaster haben es fast geschafft, die Bevölkerung mehrheitlich und parteiübergreifend zu überzeugen. Sie werden erfolgreich sein, und dann werden auch der Kongress und der Präsident einlenken. Mein Vater wird das nicht verhindern können. Er ist ein radikaler Außenseiter, hat kein politisches Konzept ...«
»Sein Konzept ist Hass. Er hasst Replikanten. Er hasst dich für deine Toleranz. Und ich glaube, er ahnt etwas. Bei unserer zufälligen Begegnung mit ihm ...« Sie schluckte, denn sie war besorgt. »... Ich glaube, er hat meine Unsicherheit gespürt ...«
»Sei unbesorgt, Sarah. Dir wird nichts geschehen. Und was deine Unsicherheit betrifft: Ich liebe sie, wie ich alles an dir liebe. Unsicherheit und Selbstzweifel sind etwas, das ein großer Teil der Menschheit schon lange verloren hat ...«
Seine Worte konnten sie etwas beruhigen. Ellen Malory und Steve Henryk Lancaster hatten eine beachtliche Anzahl an Gefolgsleuten aus allen gesellschaftlichen Bereichen um sich gruppieren können, darunter führende Rechtsgelehrte. In anderen Nationen, allen voran Japan, war die gesetzliche Gleichstellung der Replikanten bereits eingeführt. Im Land der aufgehenden Sonne konnten sie schon seit Anfang 2087, also seit zweieinhalb Jahren, unerkannt und mit fiktiven Identitäten und Lebensläufen ausgestattet, mitten unter ihren Schöpfern ein normales Leben führen. Dieses Beispiel und Peters liebevolle Umarmung gaben ihr Hoffnung und Zuversicht, als sie ihren Weg durch den Central Park fortsetzten.
Den milden Abend unter klarem Himmel genossen auch andere Menschen, allein oder zu zweit. Erst ab 22 Uhr war es besser, den Park zu meiden, wenn das Tageslicht allmählich durch die kleinen Lichtinseln der Parklaternen abgelöst wurde und Kriminelle das Areal mehr und mehr für sich beanspruchten, um ihre Geschäfte abzuwickeln oder auf Opfer zu lauern. Aber bis dahin hatten sie noch eine Stunde Zeit.
Als sie ihre gewohnte Abzweigung nahmen, die quer vom mittleren Bereich des Parks zum Ausgang auf der anderen Seite führte, fiel ihnen auf, dass der Weg für eine Absperrung mit Flatterband vorbereitet war. Offensichtlich sollte bald mit irgendwelchen Arbeiten begonnen werden. Aber noch war der Durchgang frei, also gingen sie Arm in Arm weiter und genossen den friedlichen Abend.
Der Weg schlängelte sich durch ein mit Büschen und Bäumen unregelmäßig dicht bewachsenes Areal, um nach etwa 250 Metern Luftlinie auf einen anderen Weg zu treffen. Von dort war es bis zum Ausgang nicht mehr weit. Als sie sich der Mitte dieser Distanz näherten, fiel Sarah auf, dass sie allein waren. Sie sah sich um, ohne andere Menschen zu sehen.
Sie genoss die romantischen Spaziergänge und die Abendstimmung, wenn es im Park noch nicht einsam, aber schon etwas menschenleerer war. Doch ganz allein mit Peter, ohne die schützende Anwesenheit anderer Spaziergänger und Lustwandler, fühlte sie sich angreifbar und wie auf einem Präsentierteller. Nicht, dass es an Peter gelegen hätte: Obwohl er kultiviert war und für einen Mann, ohne weich zu wirken, ein fein geschnittenes Gesicht und sanftes Wesen hatte, war er doch sportlich und trainiert genug, um sich in seiner Anwesenheit geborgen zu fühlen. Aber gegen bewaffnete Angreifer oder eine Überzahl würden sie selbst gemeinsam nichts ausrichten können.
Doch auch dies war nicht der wahre Grund für ihr Bedrohungsgefühl. Es lag vielmehr an Erfahrungen mit Dunkelheit und Einsamkeit; Erinnerungen, die sie wohl mit allen Replikanten teilte.
Das warme Bett gab ihr ein Gefühl, für das sie kein Wort kannte. Die Menschen nannten es Geborgenheit, doch dafür war an diesem Ort, tief unter der Erdoberfläche, kein Raum. Zumindest hatte man keinen Platz dafür vorgesehen, denn es sollte in ihrem Leben keine Rolle spielen.
Die hellgrauen Wände fühlten sich kalt an, wenn sie sie berührte, so wie jetzt. Nach wenigen Sekunden zog Jade ihre schmale, zerbrechlich wirkende Hand unter den Schutz der wärmenden Bettdecke zurück. Sie winkelte ihre Beine an, um sich so klein wie möglich zu machen, und sehnte sich nach etwas Unbekanntem, von dem sie nur ahnte, dass es existierte; nicht körperlich, sondern als Gefühl, wie das Unbehagen, das sie in ihrer tristen Welt in jeder Sekunde ihres noch jungen Lebens empfand.
Sie wusste, dass es eine andere Welt gab, durch Bilder und Filme, die man ihr gezeigt hatte. Diese fremde Realität, viele Meter über ihr, fand sie verwirrend, wenn sie an das Leben in den Städten der Menschen dachte, und wunderschön, wenn sie sich den blauen Himmel, die Berge und grünen Wälder vorstellte, Flüsse und Seen, die Sonne, den Mond, Insekten und Tiere.
Einige Minuten lang träumte sie mit geschlossenen Augen von diesem schönen Teil der Welt und sehnte sich nach der Freiheit, ihn genießen zu dürfen und eins mit der friedlichen Harmonie zu werden, die es dort draußen zu geben schien. Ob sie jemals ein Teil davon sein würde? Könnte es ihr jemals gelingen, die Furcht vor der trostlosen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft aus ihrem Herzen zu vertreiben? Oder war es ihr Schicksal, für immer in diesem kalt und nüchtern wirkenden unterirdischen Komplex gefangen zu sein?
Sie und die anderen Kinder waren offenbar etwas Besonderes, und längst hatte sie verstanden, um was es ging: Tests, Messungen und Vergleiche mit bestimmten Daten, die die Männer und Frauen aus Tabellen ablasen. Meistens lagen die Ergebnisse über den Zahlen, die als Durchschnitt, Alterssoll oder entwicklungstypisch bezeichnet wurden, und ab und zu machten die weiß gekleideten Erwachsenen erstaunte Gesichter oder benutzten Worte wie unglaublich, fantastisch oder phänomenal.
Allmählich drang das leise Summen der auf ein Minimum reduzierten Nachtbeleuchtung und elektronischen Überwachungsgeräte wieder in ihr Bewusstsein. Die schönen Bilder ihrer Traumwelt verschwanden im Nirgendwo. Sie hoffte, sie wiederzufinden, sobald sie eingeschlafen war. Bis dahin wollte sie sich ganz still verhalten, denn ihr war klar, dass jede noch so kleine Bewegung und die leisesten Stimmen im Raum erfasst wurden, aber sie wusste nicht, ob selbst ihre Träume aufgezeichnet und analysiert wurden. Doch sie wusste, was auf sie wartete, sobald sie ihre Augen wieder öffnen würde ...
Peter fiel auf, dass seine Freundin beunruhigt war. Auch er hatte die ungewöhnliche Stille in diesem Bereich des Parks bemerkt. Immerhin war Sommer, und die Menschen genossen abends die Abkühlung bringende, ins Landesinnere wehende Meeresbrise. Erst allmählich würde sich der Park leeren. Doch seit sie sich auf dem Verbindungsweg befanden, waren sie allein, als hätten sie einen Bereich betreten, der von der Außenwelt abgeschnitten war.
Um Sarah zu beruhigen und das Gefühl von Sicherheit zu geben, verstärkte er den Druck der Umarmung und seiner Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. Gleichzeitig spürte er, dass sie ihn an der Taille noch näher zu sich heranzog. Sie hatten eine kleine, bewaldete Anhöhe in der Mitte des Weges fast erreicht, als sie entfernte Schritte hörten. Beide drehten sich um und erkannten eine zierliche Läuferin, die sich ihnen näherte.
Gott sei Dank, dachte Sarah und wunderte sich über ihre gedankliche Wortwahl. Sie war Replikantin, und doch hatte sie diese Ausdrucksweise der Gesellschaft, in der sie seit ihrer Flucht vor sechs Jahren lebte, übernommen. Aber war der Gott ihrer Erschaffer auch ihr Gott? Viele Menschen glaubten an den Schöpfer, waren mit Religionsunterricht, sonntäglichen Kirchengängen, Gebeten und Weihnachten aufgewachsen. So, wie Sarah es sah, waren 50 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger aktiv religiös, während die andere Hälfte ausschließlich an materielle Übervorteilung und Reichtum, der ein Gefühl von Macht und Überlegenheit verlieh, glaubte oder danach strebte.
Sie selbst glaubte an die Liebe zu Peter und seine Liebe zu ihr. Vielleicht würde Peter als praktizierender Christ sie eines Tages sogar zum Glauben an Gott führen. Aber derzeit war Religiösität für sie nicht greifbar. War es ein Gefühl, das man in sich hatte, eine Sehnsucht, Hoffnung oder Gewissheit? War es etwas, das dem Menschen als Kind anerzogen wurde?
Sie wusste, dass sie als Replikantin ein Kind der Wissenschaft war. Nicht Gott oder die Evolution, sondern Menschen hatten sie erschaffen, auf sehr unnatürliche Art und Weise, wie sie sich selbst eingestehen musste. Aber das war nicht ihre Schuld. Weder hatte sie sich freiwillig gemeldet noch war sie vorher gefragt worden. Dies war eine der Gemeinsamkeiten, die sie mit echten Menschen teilte. Menschen wurden geboren, Replikanten waren bis zum Verbot erschaffen worden. Die Probleme und Existenznöte kamen danach. So sehr unterschieden sie sich nicht voneinander. Sie alle wollten überleben und strebten, wenn möglich, nach irgendeiner Form des Glücks.
Trotzdem, wenn sie sich in die Lage eines geborenen Menschen versetzte, konnte sie das Misstrauen und die Abneigung manchmal beinahe verstehen. Äußere Unterschiede gab es nicht, aber die Herkunft, die Entstehung von Replikanten war gewöhnungsbedürftig, wenn nicht schlimmer. Manchmal glaubte sie selbst, dass sie gar nicht existieren durfte. Aber sie lebte, hatte Wünsche, Träume und Gefühle, empfand Zuneigung und Angst, Hunger, Durst und Schmerz. Sie hatte Rechte und einen Anspruch auf Gleichbehandlung, das war ihre feste Überzeugung. Es gab keine Rechtfertigung für das, was man Replikanten antat.
Sie drehte sich noch einmal zu der näher kommenden Joggerin um. Eine junge Chinesin, vielleicht 18 Jahre alt, in schwarzen, dreiviertellangen Sportleggings und neonpinkfarbenem Top. Sicher eine, die das Glück hatte, ein Mensch zu sein. Vermutlich entspannte sich die hübsche Asiatin nach der Arbeit oder dem Lernen und hielt sich in Form, indem sie lief. Wie würde sie reagieren, wenn sie wüsste, dass Sarah eine Replikantin war?
Sarah sah Peter an, und ihre Blicke begegneten sich. Peter lächelte. Siehst du, es ist alles okay ..., schien er mit Augen und Mimik sagen zu wollen. Er erreichte sein Ziel, denn tatsächlich empfand sie keine Angst mehr, sondern genoss den Moment an seiner Seite. Die Läuferin überholte sie, und Sarah sah ihr nach, bis sie hinter der nächsten Biegung von Bäumen verdeckt wurde.
Aus den Augenwinkeln erkannte Sarah, dass Peter keinerlei Interesse an der hübschen Joggerin hatte. Er sah niemals anderen Frauen hinterher. Er blickte verträumt oder nachdenklich zum Himmel, während er sie weiterhin zärtlich umarmte. An was er wohl dachte? Vielleicht sinnierte er darüber, wie sie ihre gemeinsame Zukunft gestalten würden? Sarah lächelte. Eine Zukunft an Peters Seite wäre schöner als alles, was sie sich je erträumt hatte.
Wenig später erreichten auch sie die Biegung. Hinter der Kurve, bereits im Schatten der Bäume, saß die Chinesin am Wegesrand auf einer Bank und sah ihnen entgegen. Sie wirkte nur leicht außer Atem. Vermutlich gönnte sie sich trotzdem eine kurze Pause, bevor sie weiterlief. Warum sie so feindselig zu ihnen sah, konnte Sarah sich nicht erklären. Vielleicht galt der Blick gar nicht ihnen?
Sarah drehte sich um, aber niemand war zu sehen. Dafür erkannte sie, dass der Weg nun mit dem Flatterband abgesperrt war. Jemand musste es in den letzten Minuten gespannt haben. Es verwirrte sie, da es keinen Sinn ergab. Nicht zu dieser Zeit. Als sie wieder nach vorn blickte, schenkte die Läuferin ihnen keine Beachtung mehr. Dafür hatte sie dünne, schwarze Sporthandschuhe angezogen und beschäftigte sich mit dem Inhalt einer Gürteltasche. Auf gleicher Höhe versuchte Sarah, einen Blick in die Tasche zu werfen. Sie erkannte ein braunes Fläschchen, ein weißes Tuch und ein schwarzes, etwa 11 Zentimeter langes Metallröhrchen.
Seltsamer Inhalt, dachte Sarah. Als sie bereits einige Meter entfernt waren, hörten sie eine scharfe Kommandostimme: »Stehenbleiben!«
Sarah erschrak und blieb, wie Peter, stehen. Sie lösten ihre Umarmungen, drehten sich um und sahen, dass die Chinesin aufgestanden war und eine Pistole mit Schalldämpfer auf sie, Sarah, richtete. Sarah spürte ihr Herz schneller schlagen. Während ihr Blick auf die Joggerin gerichtet war, suchte sie mit ihrer Rechten Peters Hand. Sie fand sie und spürte, dass Peter sie ganz fest hielt.
Die Läuferin ging einige Schritte zurück und entfernte sich von der Bank. »Kommt her!«, befahl sie. »Sonst stirbt sie!«, ergänzte sie, als Sarah und Peter zögerten. »Geht bis zur Bank!«
»Wer hat dich geschickt?«, fragte Peter. »Mein Vater?«
»Ich sag es nicht nochmal: Geht bis zur Bank!« Drohend und gezielter als zuvor, richtete die Läuferin ihre Waffe auf Sarahs Brust. Gehorchen war die vernünftigere Wahl, also gingen sie langsam vorwärts und blieben vor der hölzernen Bank stehen.
»Und jetzt?«, fragte Peter ruhig. Sein Blick war ernst, aber wenn er Angst hatte, so gelang es ihm, dies zu verbergen.
Sarah hatte Angst, denn ihre Knie fühlten sich weich wie Brei an. Ihre Herzfrequenz erhöhte sich deutlich, doch mit dem Verstand war sie nicht in der Lage, schrittzuhalten. Obwohl sie bereits zuvor eine abstrakte Bedrohung empfunden hatte, kam ihr die konkrete Gefahr unwirklich vor. Furcht und Sorge bemächtigten sich ihres Körpers, aber sie empfand sie noch nicht in ihrem Kopf. Eigenartig.
»Du siehst ein Tuch und eine Flasche mit einem Hypnotikum. Betäube sie, dann passiert ihr nichts. Tust du es nicht, wird sie sterben. Ihr beide werdet dann sterben. Entscheide dich! Ich gebe dir 10 Sekunden.« Die Ansage wirkte stakkatohaft. Offensichtlich wollte die junge Frau keine Zeit durch längere Diskussionen verlieren. Ihre Art zu reden und Anweisungen zu erteilen, bewies, dass sie gut vorbereitet war, genau wusste, was sie wollte, und zu keinerlei Zugeständnissen bereit war. Sie begann, zu zählen, und zielte auf Sarahs Kopf: »Zehn, neun, acht ...«
Peter handelte entschlossen. Er ging zur Bank, nahm Fläschchen und Tuch und stand vor Sarah, bevor die Chinesin bis sechs gezählt hatte. »Ich liebe dich«, sagte er schnell. »Sie wird dir nichts tun, sonst müsste ich dich nicht betäuben. Dir wird nichts geschehen.«
»Und dir?« Es überraschte sie. Alles ging viel zu schnell. Sie wusste, dass sie große Angst um Peter hatte, obwohl ihr Verstand immer noch klar und ihr Denken rational war. Man ließ ihr nicht die Zeit für Panik und Verzweiflung, hatte sie zu überraschend aus ihrem gewohnten Tagesablauf gerissen, aus ihren Träumen und dem perfekten Moment an Peters Seite. Erst wenige Sekunden waren seitdem vergangen.
»Mir passiert nichts. Mach dir keine Sorgen, Sarah. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch!« Die Antwort kam wie programmiert, war aber ehrlich gemeint wie sonst nichts auf der Welt und begleitet von der Gewissheit, dass sich ab diesen Momenten alles und für immer verändern würde.
Peter küsste sie bei drei. Gleichzeitig schraubte er das braune Gefäß auf und ließ den Deckel zu Boden fallen. Er löste sich von Sarah, legte das Tuch auf den Flaschenhals und tränkte es mit dem Narkosemittel, indem er die Flasche umdrehte. Dann nahm er das Tuch und drückte es gegen Sarahs Mund und Nase, genau in dem Augenblick, als die Chinesin bis null heruntergezählt hatte. Die Flasche ließ er fallen, um seine Freundin mit der linken Hand an Hals und Hinterkopf abzustützen.
»Ich liebe dich, Sarah«, war das Letzte, was sie hörte, und beginnende Verzweiflung war das Letzte, was sie empfand, bevor sie das Bewusstsein verlor und von Peter langsam und vorsichtig auf den Boden gelegt wurde. Er strich ihr zärtlich über die Wange und küsste sanft ihre Stirn. »Pass gut auf dich auf ...«, flüsterte er und betrachtete ihr Gesicht noch einige Sekunden lang.
Dann stand er auf und drehte sich zu der jungen Chinesin um. Während der Bewegung sah er einen Moment lang eine Frau, die mit vor den Mund gehaltener Hand und weit geöffneten Augen nur wenige Meter entfernt hinter Sträuchern und Büschen Deckung gefunden hatte. Er glaubte, die Frau trotzdem erkannt zu haben. Wann immer er im Central Park war, sah er sie mit ihrem kleinen Hund spazierengehen. An diesem Abend hatte er sie wenige Minuten zuvor abseits der Wege auf einer Wiese gesehen, ohne Hund und sich suchend umblickend. Vermutlich war ihr der graue Pudel entwischt, und die Suche nach dem Tier hatte sie querfeldein hergeführt. Unmöglich würde sie ihm beistehen können, aber wenn sie Glück hatte, würde die Chinesin sie nicht entdecken. Deshalb beschloss Peter Madlock, ihre Anwesenheit zu ignorieren und den Dingen ihren Lauf zu lassen ...
Sie befuhren den Broadway in südwestliche Richtung erst seit wenigen Sekunden. An der ersten Querstraße, der West 157th Street, glaubte Kara, ihren Augen nicht zu trauen, und erschrak, als plötzlich eine menschliche Gestalt auf die Straße lief. Die Agentin trat mit aller Kraft auf die Bremse, und obwohl das ABS im Gegensatz zu einigen anderen elektronischen Fahrassistentsystemen nicht deaktiviert war, hatte sie aufgrund der Nässe schwer damit zu kämpfen, den Wagen auf Kurs zu halten und das Schlingern zu kontrollieren.
Cynthia erkannte eine Frau in einem transparenten Plastikregenmantel. Die Kapuze musste beim Laufen vom Kopf nach hinten gerutscht sein. Die blonde Unbekannte kam hinter dem Eckhaus hervorgelaufen, überquerte den Gehweg und lief, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Fahrbahn. Als sie den roten Sportwagen bemerkte, machte sie den Fehler und blieb stehen. In ihrem von panischer Angst beherrschten Gesichtsausdruck zeigte sich Überraschung. Ihre Augen weiteten sich, und sie öffnete den Mund für einen spitz klingenden Schrei, als die Stoßstange des Fahrzeugs Kontakt mit ihren Schienbeinen bekam, so dass sie auf die niedrige Motorhaube der Corvette fiel.
Wäre sie nicht stehengeblieben, hätte sie es unbeschadet bis zur Mittelinsel, aufgrund des kaum vorhandenen Verkehrs sogar bis zur anderen Straßenseite geschafft. Doch der Aufprall war nicht sehr stark, denn Kara hatte schnell reagiert, und so hoffte Cynthia, dass die Fremde unverletzt war. Sie hatte außerdem den Eindruck, dass sich die etwas jüngere Frau geistesgegenwärtig nach vorn fallen ließ, um dem Aufprall einen Teil seiner Wucht zu nehmen und die Beine zu schützen.
»Verdammter Mist!«, fluchte Kara. Zeitgleich mit Cynthia öffnete Kara die Tür und stieg aus. »Hör mal, kannst du nicht aufpassen?«, herrschte sie die Unbekannte an, die am ganzen Körper zitternd versuchte, sich aus ihrer nahezu horizontalen Lage wieder zu erheben. Die vom Regen nasse Fronthaube erschwerte das Vorhaben der schnell und flach atmenden Blonden. Sie rutschte mit den Händen ab und schlug erneut unsanft mit Oberkörper und Kinn auf.
»Hee!«, rief Kara protestierend, da sie Beulen und Kratzer im Lack befürchtete. Sie ging zu der Unbekannten und zerrte sie grob von der Corvette weg.
Im gleichen Moment sah Cynthia drei entschlossen aussehende Männer herannahen. Die Agentin stufte sie auf Anhieb als gefährlich ein. Sie bremsten ihren schnellen Lauf ab und blieben wenige Meter entfernt stehen.
»Jetzt haben wir dich endlich, Replikantenschlampe!«, rief einer triumphierend und hob, sich überlegen fühlend, den Kopf an.
Kara blickte argwöhnisch zu der Unbekannten, konzentrierte sich aber sofort wieder auf die Verfolger. Die Männer trugen dunkelblaue Bomberjacken. Auf den Ärmeln in Höhe der Schultern befanden sich Embleme in Form eines sich auf eine imaginäre Beute stürzenden Adlers, der von den Wörtern Replicant und Hunter eingerahmt war.
»Das sind welche von diesen selbsternannten Replikantenjägern ...«, meinte Kara.
»Ganz recht, und wer seid ihr Schlampen?«, fragte der Anführer. Er sah die Agentinnen drohend an.
Kara ließ sich nicht einschüchtern: »Wir sind dein schlimmster Albtraum, du Pisser!«, lautete ihre kaltblütig gesprochene Antwort. Es war einer von Karas typischen Sprüchen in brenzligen Situationen. Angst kannte sie nicht; zumindest ließ sie es sich niemals anmerken. Auch diesmal blickte sie den fremden Männern furchtlos entgegen.
Der Anführer machte ein Gesicht, als könne er kaum glauben, was Kara gesagt hatte. Dann wurde sein Blick noch drohender. »Macht sie alle!«, schnauzte er seine beiden Kumpane an und untermalte den Befehl mit einer ungeduldigen Handbewegung. Seine Kumpel griffen unter ihre Jacken und hielten sodann Messer in den Händen. Es waren schmale, spitze Mordwerkzeuge, wie sie bei Straßenkämpfern beliebt waren. »Und danach mach ich die Replikantenschlampe fertig. Los jetzt!«
Seine Mitstreiter grinsten siegesgewiss. Sie schienen Cynthia und Kara nicht ernstzunehmen und schon gar nicht als gefährlich einzustufen. Einer fuchtelte mit dem Stilett, der zweite ließ seine Stichwaffe von einer Hand in die andere fliegen.
Derjenige, der es auf Kara abgesehen hatte, grinste und meinte: »Wird mir ein Vergnügen sein, dich abzustechen, Flittchen! Du erinnerst mich an meine Ex, die hatte auch so eine blonde Kurzhaarfrisur mit strähnig ins Gesicht fallenden Haaren. Sieht echt scheiße aus, wenn du mich fragst ...«
»Dich fragt aber keiner, Missgeburt!« Kara verengte die Augenlider und starrte ihren Gegner mit aufkommender Wut an. Wird dir noch leidtun, heute dein Rattenloch verlassen zu haben, Blödmann ... Diesen Tag überlebst du nämlich nicht!
Der Anführer verlor die Geduld: »Genug geredet, worauf wartet ihr?«, rief er aufgebracht. »Tötet sie!« Als hätten sie nur auf das Kommando gewartet, stürzten seine Gefolgsleute vor; einer brüllend auf Kara, der andere grinsend auf Cynthia.
Während der letzten Sekunden waren Cynthia und Kara einige Schritte zurückgewichen, um die Distanz zu den Angreifern zu vergrößern. Dies brachte ihnen genügend Zeit, unter ihre Jacken zu greifen und ihre Pistolen zu ziehen.
Überrascht blieben die Angreifer stehen. »Das sind Cops!«, meinte Karas Gegner.
»Wenn ich etwas mehr hasse als Replikanten, dann sind es Replikantenjäger!«, sagte Kara und schoss ihrem Angreifer ein Projektil in die Brust. Der Mann wurde durch den Aufprall nach hinten gestoßen und fiel rücklings zu Boden. Das Hemd unter der trotz der Kälte geöffneten Jacke färbte sich augenblicklich rot, und nach wenigen Zuckungen blieb der Angeschossene regungslos liegen.
Cynthias Gegner blickte fassungslos auf seinen toten Kameraden, wich langsam zurück und ließ das Messer fallen. »Ich bin unbewaffnet«, sagte er eingeschüchtert und blickte die Agentinnen abwechselnd an. »Ich bin unbewaffnet«, wiederholte er, die Arme seitlich ausgestreckt. Seine Hände begannen, zu zittern. Er sah nun in panischer Angst Kara an, die er als die Gefährlichere erkannt hatte.
»Stimmt, du bist unbewaffnet!«, bestätigte Kara. »Aber das bleibt unser Geheimnis ...«
» Kara, nicht!«, rief Cynthia, aber die blonde Agentin schoss dem Mann gnadenlos in die Stirn. Er fiel um, und der verbliebene Gegner blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die Toten. Sein Mund stand offen und er schien das Atmen vergessen zu haben. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich das Blatt gewendet. Plötzlich stand er allein da und sah sein Leben bedroht.
Kara richtete ihre Pistole auf ihn, und Cynthia ermahnte ihre Kollegin erneut: » Kara! Reiß dich zusammen!«
»Wieso?«, fragte Kara. »Der Typ hat mich mit seinem Messer doch angegriffen, oder? Ich musste mich verteidigen, oder hat hier jemand was anderes gesehen?« Sie hob den Arm mit der Pistole etwas an und zielte auf die Stirn des letzten Gegners. »Hast du vielleicht was anderes gesehen?«
Für einen Moment ging Cynthia durch den Kopf, dass beinahe das Guter Cop, böser Cop-Spiel ablief, allerdings in der Version Good agent, very bad agent. Nur, dass es kein Spiel war, sondern tödliche Realität. Sie nahm den Regen, der ihren Wintermantel spürbar durchnässt hatte, kaum wahr, sondern konzentierte sich auf Kara und den verbliebenen Verbrecher. Zwischen den Wassertropfen auf seiner Stirn glaubte sie, Schweißperlen zu erkennen. Er zitterte, und sein Gesicht war schreckensbleich. Er hatte große Angst, das war offensichtlich.
Kara lächelte spöttisch. »Ihr habt nicht das Niveau der echten Replikantenjäger«, stellte sie fest, als würde sie Bewunderung für die Mitglieder der früheren polizeilichen Jagdeinheiten empfinden und bedauern, dass die Zeiten des Tötens von Replikanten vorbei waren.
»Wer seid ihr? Ihr ... ihr habt sie ermordet! Ihr seid keine Cops, oder? So ... sowas dürftet ihr doch gar nicht!« Die Stimme des selbsternannten Replicant Hunters zitterte ebenso wie seine Hände. Mut und Überlegenheitsgefühl schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.
»Seit wann fragen Ratten wie du, was man darf und was nicht?«, fragte Kara. »Ihr schert euch doch einen Dreck um gesetzliche Verbote, gesellschaftliche Regeln und die Rechte anderer. Nenn mir nur einen einzigen Grund, warum ich dich nicht auch umlegen sollte, du mieses, stinkendes Arschloch ...«
Der Mann sah Verachtung und Wut in Karas Blick und zitterte heftiger, aber er antwortete nicht.
Cynthia hoffte sehr, dass Kara ihn nicht auch erschießen würde, aber sie war sicher, dass ihre Partnerin sich wieder unter Kontrolle hatte. »Wie wär’s mit Informationen?«, schlug sie vor, ging zum Wagen und kümmerte sich um die Gerettete.
Die junge Frau war leichenblass, starrte auf die Toten und bebte am ganzen Körper. Karas brutales Vorgehen, das unnötige Töten, schien sie ebenso zu ängstigen wie die Hetzjagd durch die Verbrecher. »Bist du in Ordnung?«, fragte Cynthia besorgt.
Unter dem Eindruck der schockierenden Ereignisse dauerte es einige Sekunden, ehe die Unbekannte die Frage verarbeitet hatte und zu Cynthia sah. »Ja, ich glaube schon ...«
»Versuch mal, zu laufen«, forderte die Agentin und streckte helfend ihre Hand aus. Die grazile Blonde ergriff sie und ging mit schmerzverzerrtem Gesicht einige Schritte. »Es scheint nichts gebrochen zu sein, das ist die Hauptsache«, meinte Cynthia. »Die Schmerzen hast du schon bald vergessen«, fügte sie aufmunternd hinzu, stützte die Frau ab und half ihr, sich auf den Beifahrersitz zu setzen.