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Zum 120. Geburtstag erscheint in deutscher Sprache die endgültige Darstellung von Bertolt Brechts Leben und Werk. Dieses Prädikat hat sich das Buch des englischen Germanisten und hervorragenden Brechtkenners Stephen Parker durch eine Reihe von Vorzügen erworben.
Hier wird zum ersten Mal das gesamte verfügbare Wissen über den Autor und dessen Arbeit dargeboten und zum Erzählen gebracht. Die lebendige und detailgenaue Darstellung eines aufgrund der politischen, persönlichen und literarischen Verhältnisse am Abgrund angesiedelten Lebens - nicht die chronologische Registratur - bilden das hervorstechendste Merkmal. Von außen kommend und mit einem unvoreingenommen neutralen Blick zeichnet Parker ein Bild der verschiedenen Lebensstationen und Schaffensperioden Brechts.
Kenntnisreich vollzieht er die damaligen wie heutigen parteiischen Tendenzen nach, so dass sie in ihrer historischen und literaturhistorischen Konstellation erkennbar werden. Engagement für die Sache und Liebe für das Werk Bertolts Brechts sind Stephen Parkers Antriebskräfte. Sein Enthusiasmus begleitet den Dichter von früh an durch alle Entwicklungen und bringt ihn uns in seiner ganzen Widersprüchlichkeit nahe.
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Seitenzahl: 1706
Veröffentlichungsjahr: 2018
Stephen Parker
Bertolt Brecht
Eine Biographie
Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller
Suhrkamp
Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal
War der Himmel schon so groß und weit und fahl
Blau und nackt und ungeheuer wundersam
Wie ihn Baal dann liebte — als Baal kam.
Bertolt Brecht, Der Choral vom großen Baal
Als der Denkende in einen großen Sturm kam,
saß er in einem großen Wagen und nahm viel Platz ein.
Das erste war, daß er aus seinem Wagen stieg. Das zweite
war, daß er seinen Rock ablegte. Das dritte war,
daß er sich auf den Boden legte. So überstand er
den Sturm in seiner kleinsten Größe.
Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner
Einführung
Danksagung
Vorspiel
Eugen Brecht geht draußen spielen
Teil Eins Lyrisches Erwachen
1 Die Familie Brecht. 1898-1903
2 Kirche, Schule, Kranksein. 1903-1912
3 Frühe Reife. 1912-1914
4 Heldentum und Irrsinn des Krieges. 1914-1916
5 Bert Brecht und seine Freunde. 1916-1917
Teil Zwei Ein Bilderstürmer auf der Bühne
6 Berufswunsch: Der größte Dramatiker zu sein. 1917-1918
7 Der Sanitätssoldat und die Revolution. 1918-1919
8 Die ›verlorenen‹ Brecht-Söhne. 1919-1921
9 Brecht ist verliebt. 1921
10 Die kalte Stadt Chicago. 1921-1922
11 Das Theatergenie. 1922-1924
12 Am Wendepunkt. 1924-1927
13 Monumentaler Erfolg. 1927-1928
Teil Drei Ein marxistischer Ketzer
14 Ein zuverlässiger Genosse: Bei Sturm abtauchen. 1928-1929
15 Regieren mit Notverordnungen. 1929-1931
16 Solidarisch mit der Arbeiterklasse. 1931-1933
17 Aus Nazi-Deutschland ins Exil. 1933
18 Svendborg. 1933-1934
19 London, Moskau und New York: Stanislawski dominiert die Bühnen. 1934-1936
20 Antifaschismus und die Schauprozesse. 1936-1938
Teil Vier Kleinlaut, aber am Leben
21 Überleben in Zeiten der Reaktion. 1938-1939
22 Flucht ostwärts in den Westen. 1939-1941
23 Abscheu. 1941-1942
24 Immer noch ein Enemy Alien. 1942-1945
Teil Fünf Streitsüchtig und umstritten
25 Nach den ›finsteren Zeiten‹ — Der Kalte Krieg. 1945-1947
26 Hydratopyranthropos inspiziert den Schaden. 1947-1949
27 Hunger nach Anerkennung — Machtfragen. 1949-1951
28 Führungskämpfe: Lässt sich der Ketzer bekehren? 1951-1953
29 Das neue Zeitalter des Theaters. 1953-1956
Verzeichnis der Siglen
Bibliographie
Register
Anmerkungen
Immer noch werfen die Folgen der verheerenden Ereignisse, die in den ›finsteren Zeiten‹ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal Europa und einen Großteil des Erdballs in den Abgrund gerissen und Krieg wie unendliches Elend mit sich gebracht haben, ihre Schatten auf unsere heutige Welt. Und das Töten auf den Kriegsschauplätzen der Welt hat kein Ende gefunden. Das hätte den Protagonisten dieser Studie, Bertolt Brecht, den mit messerscharfer Sprache begabten Kriegsgegner, kaum überrascht. Sein Drama Mutter Courage und ihre Kinder (1939) ist von den zutiefst widersprüchlichen Motiven geprägt, die das menschliche Verhalten an der Bruchlinie zwischen Barbarei und Zivilisation bestimmen. Dieses große Werk nimmt einen herausragenden Platz in einem umfangreichen Korpus vorwiegend dramatischer und lyrischer Texte ein. Es handelt sich um Dramen und Gedichte von einer seltenen künstlerischen Sensibilität, der es gelingt, schockierende Taten zum Ausdruck zu bringen und sie mit kühler, analytischer Präzision vorzuführen. Aus Nazi-Deutschland ins US-amerikanische Exil geflohen, schrieb Brecht seinem Sohn Stefan, welch grundlegende Erfahrung der Erste Weltkrieg für seine Generation gewesen war, weil er es erforderlich gemacht hatte, sich eine »UNEMPFINDLICHKEIT (unzerstörbarkeit, unverwüstlichkeit)« zuzulegen, ein Problem, »das, als ich jung war, uns sehr beschäftigte«1:
wir behandelten das thema der unempfindlichkeit, kommend aus einem grossen krieg, ganz persönlich. wie konnte man unempfindlich werden? die schwierigkeit, nicht sogleich sichtbar, bestand darin, dass die gesellschaft, den wunsch in uns erweckend, unempfindlich zu werden, zugleich die produktivität (nicht nur auf künstlerischem gebiet) abhängig machte von der empfindlichkeit, d. h. der produktive hatte den preis der verletztbarkeit zu entrichten.
Dieses Dilemma teilte Brecht mit einer vom Krieg geschädigten Generation. Es führte in den Zwanzigerjahren zu Werken, deren aggressiver, amoralischer Zynismus ihn so berühmt wie berüchtigt machte und die unser Bild des jungen Brecht geformt haben. Bei einem derart einzigartigen, geradezu unvergleichlichen Künstler überrascht es, dass die Sensibilität und Verletzlichkeit, die Brecht und seine Freunde meinten hinter einer Fassade der Unempfindlichkeit verbergen zu müssen, so wenig Aufmerksamkeit erregt haben. Im Laufe der Entwicklung von Brechts Haltung zum eigenen Selbst bildete er immer reserviertere, unpersönlichere Formen heraus und verdeckte so das Problem; ähnlich funktionierte die ideologische Brille, durch welche die Literaturkritiker ihn im Allgemeinen betrachteten, denn sein Bekenntnis zum Marxismus ließ als Glaubensfrage erscheinen, was für ihn wissenschaftlich erwiesen war. Hier liegen die wesentlichen Gründe, warum unser Verständnis von Brecht, dem Künstler, und das war er vor allem anderen, bemerkenswert einseitig blieb.
Die Geschichte eines Lebens zu erzählen war eine der von Brecht bevorzugten Verfahren dramatischer Erkundung. Sein eigenes Vorgehen dient hier als Vorbild, und das Ziel dieser Arbeit ist ein neues Verständnis von Brechts Leben und Werk. Im Licht von Brechts Brief an seinen Sohn soll ein zugleich verletzliches wie auch ein sich gegen seine Verletzlichkeit abschirmendes künstlerisches Empfindungsvermögen erforscht werden. Dieses Verhältnis ist ähnlich paradox wie die Komplexität, die Idiosynkrasie und der reine Widerspruchsgeist, die Kritiker bei Brecht immer wieder festgestellt haben. Als junger Mann gebrauchte er den Begriff »melancholerisch« und wollte damit ein Spiel der Extreme zwischen finsterem Grübeln und überschwänglichen Exzessen einfangen.2 Entsprechend zeichnete ihn sein Freund Caspar Neher als Hydratopyranthropos, als Wasser-Feuer-Mann, der die extremsten Gegensätze in sich verkörperte. In seinen Werken strebte Brecht nach gleichnishafter Klarheit, die er sodann in ironischer Inversion und mit sarkastischer Provokation zu untergraben suchte. Asketentum und Hedonismus existierten nebeneinander wie Draufgängertum und die obsessive Kontrolle von Gefühlen. Von Peter Thomson stammt die scharfsinnige Bemerkung, dass Brecht »Scheu und Streitlust vereinte wie kaum sonst ein Mensch«.3 Es steht einer literarischen Biographie, einer zwischen Empathie und kritischer Distanz pendelnden Form der Untersuchung, nicht schlecht an, dieses Knäuel sich widersprechender Phänomene zu entwirren. Die Ausrichtung, die diese Studie folglich nehmen muss, hat Max Frisch einmal umrissen: »Nur im Gedicht, also unter artistischer Kontrolle, war gestattet, was Brecht sonst durch Witz und Gestik isolierte: Gefühle.«4
Dank einer außerordentlich reichhaltigen Materialbasis, nicht zu letzt dank Brechts eigenen frühen Schriften und den Memoiren seiner Zeitgenossen, können wir seine Anfänge im wilhelminischen Kaiserreich in Bayern rekonstruieren. Der erste Teil dieser Studie, »Lyrisches Erwachen«, konzentriert sich auf die Sensibilität des jungen Brecht vor der Katastrophe im August 1914. Es entsteht das Bild eines kränklichen, überempfindlichen Kindes, von den Gleichaltrigen isoliert und voll und ganz beschäftigt mit seinen Krankheiten und seiner Poesie, die ihm bald half, seinen konfusen Gefühlen auf eine sehr eigene Weise Ausdruck zu verleihen. Anfangs war das Schreiben ein Refugium, aber dem Heranwachsenden diente es als ein Medium, sich zu behaupten. Sein einzigartiges Talent bewies sich in Liedern und Gedichten von magnetischer Anziehungskraft. Vor dem Hintergrund des Krieges schufen Brecht und seine Freunde eine jugendliche Gegenkultur von außerordentlicher künstlerischer Vitalität, produzierten sie erstaunliche Synthesen von Instinkt und Genuss im Stil ihrer Idole Frank Wedekind und Nietzsches Zarathustra.
Der Lyriker und Dramatiker Wedekind war Brechts Vorbild, dessen dramatischer Größe und Erfolg beim Publikum eiferte er nach. Davon handelt der zweite Teil, »Ein Bilderstürmer auf der Bühne«. Brechts emblematische Schöpfung aus der zweiten Hälfte der Zehnerjahre ist der monströse Hedonist Baal, eine großartige Replik auf den erstickenden Druck von Schule und Krieg. Brechts lyrisches Drama gleichen Namens widerstand all seinen Anstrengungen, den »prächtig ungeschlachten Leib« des erdgebundenen biophysikalischen Materialismus seines satyrhaften Urviechs Baal in eine handhabbare künstlerische Form zu zwingen.5 Als es schließlich zur Aufführung kam, spaltete es das Publikum zwischen Bewunderung und Abscheu, ein Vorgeschmack auf die tumultartigen Szenen, die von nun an die Inszenierungen seiner Stücke begleiten sollten. Mit einer Gesellschaft hadernd, die moralisch und finanziell korrumpiert aus dem Krieg hervorgegangen war, schuf Brecht in der Zeit bis zur Mitte der Zwanzigerjahre wirkmächtige lyrische Dramen über den Kampf ums Überleben, während er das erstaunlich chaotische Gewirr seiner persönlichen Beziehungen fortspann.
Warum Brecht dann seine künstlerische Position so radikal veränderte und welche seiner tiefer liegenden Verhaltensweisen dennoch konstant blieben, sind wesentliche Fragen der Brecht-Forschung, die diese Studie zu beantworten sucht. Im Laufe der Zwanzigerjahre entwickelte er seine dramatische Praxis in einer immer differenzierteren Terminologie als episches Theater, wobei er die Forderung aufstellte, die emotionale Reaktion des Zuschauers sollte von seinem Verstand kontrolliert werden. In dieser Zeit eignete er sich Denk- und Verhaltensmuster an, die eher denen eines Intellektuellen entsprachen. In dem kopflastigen, skeptischen und bescheidenen Revolutionär Herrn Keuner schuf Brecht das Modell eines Denkers, der er selbst sein könnte und dessen Aufgabe es war, Hedonisten wie Baal beizubringen, ihre Energie in gesellschaftlich nützlicher Form zu verausgaben. Das gegensätzliche Paar Baal – Keuner kann stellvertretend für die Auseinandersetzungen stehen, die Brecht für den Rest seines Lebens mit sich selbst führte, als er sich mühte, das Instinktwesen zu zähmen. Doch ganz gleich, wie er den urwüchsigen Hedonisten unterdrücken wollte, er war nicht totzukriegen.
Im dritten Teil, »Ein marxistischer Ketzer«, soll dargelegt werden, wie — als Brecht sich gegen Ende der Zwanzigerjahre im Kampf gegen den aufsteigenden Faschismus dem Marxismus-Leninismus zuwandte — sein biophysikalischer Materialismus eine potente Kraft blieb und Eingang in seine dramatischen und lyrischen Maximen und Intuitionen fand. Steve Giles hat darauf hingewiesen, dass ihn das auf Konfrontationskurs mit der kommunistischen Orthodoxie brachte, deren Verfechter stur auf sozio-ökonomische Gesetze pochten und daraus eine ebenso eng gefasste Literaturtheorie ableiteten.6 Die ersten Jahre des Exils in Dänemark, als die Moskauer Schauprozesse sein Engagement für die antifaschistische Volksfront weitgehend konterkarierten, stellten einen harten Test für die Belastbarkeit und den Erfindungsreichtum des staatenlosen Emigranten aus Nazideutschland dar, zumal der große Nonkonformist erleben musste, wie in Moskau ehemalige Verbündete zu Feinden wurden. Diese Schwierigkeiten sind bislang unzureichend verstanden worden. 1938 behandelte Brecht seine diffizile Lage in verdeckter Form in Leben des Galilei, sein persönlichstes Werk seit Baal und unverzichtbar für das Verständnis seiner Auseinandersetzung mit dem reaktionären Stalinismus in der Sowjetunion. Brecht sah sich gezwungen, einen unhaltbaren Leninismus gegen eine auf taoistischem Gedankengut basierende Überlebensstrategie einzutauschen. In dem großartig entworfenen Galilei, der Verkörperung von Vernunft und Appetit, entwirft Brecht die psychologische Desintegration des maßlos ehrgeizigen, unablässig innovativen Intellektuellen, dessen Wissensdurst keine Grenzen kennt und der in einem reaktionären Zeitalter nicht tragbar ist.
Galilei muss seinen Preis für das Überleben zahlen, wie auch Brechts andere Geschöpfe aus diesen ›finsteren Zeiten‹, die im vierten Teil, »Kleinlaut, aber am Leben«, analysiert werden. Gezwungen, vor einem durch die faschistische Expansion brutalisierten Europa in den USA Zuflucht zu suchen, warteten auf Brecht außerordentlich magere Jahre in seiner Kunst. Nach der Niederschlagung des Faschismus kehrte er auf einen durch Krieg und Völkermord verwüsteten Kontinent zurück, im Gepäck eine Vielzahl im Exil entstandener großartiger Werke, die sowohl vor dem Faschismus warnten als auch dazu mahnten, jetzt ein Zeitalter neuer menschlicher Werte einzuläuten. Er betrachtete sein neues Theater als ein Forum, in dem Form und Inhalt der neuen Gesellschaft diskutiert werden sollten. In Ostberlin bot sich die Möglichkeit, mit dem Berliner Ensemble sein Experiment in die Praxis umzusetzen. Das war der Ort folgenschwerer Auseinandersetzungen, die ein schon von Krankheit gezeichneter Brecht mit seinen Gegnern in Ost und West in Berlin inmitten des geteilten Deutschland bestreiten musste, nachgezeichnet in Teil Fünf, »Streitsüchtig und umstritten«. Die erneuten Anstrengungen der orthodoxen Kommunisten, den Ketzer unter Druck zu setzen und zu bekehren, kulminierten in äußerst heftigen und ausufernden Wortgefechten um den Aufstand vom 17. Juni 1953, aus denen Brecht, so unwahrscheinlich es klingt, als Sieger hervorging, fast wie ein traditioneller Theaterheld. In seinen letzten Jahren war es Brecht vergönnt, sein Lebenswerk als das Theater der Zukunft verkündet zu sehen, der Anstoß zur Brecht'schen Transformation des Welttheaters war getan. In den Jahrzehnten nach seinem Tod festigte sich Brechts Stellung nicht nur in der Welt des Theaters, sondern auch auf dem Gebiet der Poesie. Als Künstler hat er ikonischen Status erreicht und bleibt einer der weltweit am häufigsten aufgeführten Dramatiker, dessen literarisches Leben eine außergewöhnliche Geschichte für uns bereithält.
Die Material-Lage für ein Studium von Bertolt Brechts Leben und Werk, schon lange ausgesprochen umfänglich, hat sich seit dem Ende des Kalten Kriegs entscheidend geändert. Neben der Herausgabe der dreißigbändigen Berliner und Frankfurter Ausgabe hat Werner Hecht eine umfassende Chronik von Brechts Leben und Jan Knopf ein fünfbändiges Brecht-Handbuch mit maßgeblichen Beiträgen eines Teams führender Literaturwissenschaftler zusammengestellt. Unser Verständnis der Lebensläufe der Frauen, zu denen Brecht ein langjähriges Arbeits- und Liebesverhältnis unterhielt, wurde vor allem durch Sabine Kebirs Biographien von Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau und Hartmut Reibers Buch über Margarete Steffin entscheidend bereichert. Unter den neueren Arbeiten ragen Erdmut Wizislas Darstellung von Brechts Beziehung zu Walter Benjamin heraus — dank Nicholas Jacobs' Libris Verlag auch auf Englisch zugänglich — und Jürgen Hillesheims Studie über die Ästhetik des jungen Brecht. Dazu kommen Ronald Speirs' Essays im Brecht Jahrbuch und John Whites Untersuchung der Dramentheorie Brechts. Von diesen literaturwissenschaftlichen Arbeiten und von der Möglichkeit, das Manuskript einer der jüngsten Ergänzungen dazu, David Barnetts Geschichte des Berliner Ensembles, einsehen zu können, habe ich außerordentlich profitiert.
Die zwei Archive in Deutschland, die Brechts Leben und Werk gewidmet sind, das Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin und die Bertolt-Brecht-Forschungsstätte in Augsburg, waren unentbehrlich. Im letzteren habe ich Helmut Gier und Jürgen Hillesheim für Unterstützung und Rat zu danken, im ersteren Erdmut Wizisla und seinen Mitarbeitern, insbesondere Dorothee Aders, Iliane Thiemann, Anett Schubotz und Helgrid Streidt. Darüber hinaus habe ich Archivmaterial aus verschiedenen Einrichtungen herangezogen und möchte den Mitarbeitern der folgenden Institutionen für ihre Hilfe danken: der Akademie der Künste, Berlin; des Bundesarchivs, Berlin; und des Deutschen Literaturarchivs, Marbach am Neckar.
Englische Brecht-Ausgaben waren für lange Zeit gleichbedeutend mit Bloomsburys umfangreicher Reihe des Methuen Imprints, das über lange Jahre mit unermüdlicher Energie und wissenschaftlichem Ideenreichtum von ihrem Gründer und Herausgeber John Willett aufgebaut worden ist. Es ehrt mich, dass dank des derzeitigen Herausgebers Tom Kuhn und Bloomsburys Senior Commissioning Editor Mark Dudgeon diese erste Brecht-Biographie in englischer Sprache seit zwei Jahrzehnten bei Methuen Drama erscheinen konnte. Mark Dudgeon war ein ausgezeichneter Lektor, er vermittelte mir den Kontakt zu den Brecht-Erben und war ein umsichtiger Berater in allen Stadien des Projekts. Für kritische Lektüre und Korrekturen bin ich Henry Phillips, Ronald Speirs, Peter Thomson und Tom Kuhn zu Dank verpflichtet. Ihr enormes Fachwissen und ihre Erfahrung, nicht nur in Bezug auf Brecht, sondern auf dem Gebiet der Literatur und des Theaters im Allgemeinen, haben nicht nur einen Großteil von Spezialkenntnis beigetragen, sondern waren mir auch behilflich, manche Klippe zu umschiffen. Ich stehe zutiefst in der Schuld von Henry, Ron, Peter und Tom. Ähnliches kann ich über die Zusammenarbeit bei der Entstehung der deutschen Ausgabe berichten. Thomas Sparr und Raimund Fellinger haben das Projekt in schwierigen Zeiten für den Suhrkamp Verlag befürwortet. Raimund Fellinger hat in Irmgard Müller und Ulrich Fries zwei hochbegabte Übersetzer identifiziert, die als erfahrene Germanisten auch bereit waren, alle entstehenden Probleme mit dem Autor eingehend zu diskutieren. Dadurch konnte manche weitere Klippe umschifft werden. In der Schuld von Frau Müller und Herrn Fries stehe ich ebenfalls zutiefst.
Dies ist keine offizielle Biographie. Dennoch bin ich Brechts Tochter Barbara Brecht-Schall sehr dankbar, dass sie das Manuskript noch lesen und mir wertvolle Hinweise geben konnte. Ich danke ihr — wie auch dem Suhrkamp Verlag — für die Erlaubnis, aus Brechts Texten zitieren zu dürfen. Viele andere waren freundlicherweise bereit, die verschiedenen Entwicklungsstadien des Manuskripts zu kommentieren: David Barnett, Sabine Berendse, Steve Giles, Matthew Philpotts, mein Sohn Fred und meine Tochter Cara (sie hat den Index der englischen Ausgabe zusammengestellt und war bei der Auswahl der Fotografien behilflich), Nick Foulds, Steve Hall, Geoff Carter und, aus dem Blickwinkel des praktischen Arztes, Dave Gilbert. Wolfgang Frühwald, Martin Durrell, Ritchie Robertson, Ian Kershaw, Hans Ulrich Gumbrecht und der leider kürzlich verstorbene John White haben mir von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Schließlich war es eine ganz besondere Freude, Brechts Haus im dänischen Exil in Svendborg von der Stadtgemeinde so liebevoll restauriert zu sehen; ich danke Joergen Lehrmann Madsen, einem der Kuratoren, der mich dort liebenswürdigerweise herumgeführt hat.
Diese Studie hätte nicht ohne das Forschungsstipendium, das mir der Leverhulme Trust 2009-2012 verliehen hat, geschrieben werden können. Ich möchte Leverhulme für die generöse Unterstützung genauso danken wie auch der Universität Manchester, die mir dank eines ausgedehnten Studienurlaubs ermöglicht hat, diese Arbeit ohne Unterbrechung zu beenden. Maj-Britt und Victor, Cara und Fred ›durften‹ meine Ideen in all ihren Entwicklungsstadien verfolgen.
Ich widme dieses Buch meinen verstorbenen Eltern Mary und Bob.
Die Kinder rund um die Augsburger Bleichstraße hatten bei ihren Indianerspielen einen etwas seltsamen Spielkameraden.2 Nicht nur, dass der körperlich zarte, doch sehr wortgewandte Eugen Brecht ein Schwächling und Nervenbündel war. Wirklich beunruhigend war, dass dieser sonderbare Kauz nicht aufhören konnte, mit dem Kopf zu zucken und Grimassen zu schneiden.3 Auch war er nicht dazu bereit, wie die anderen zu spielen: Er musste immer der Anführer sein. Nur wenn er seine Wildwestgeschichten erzählen konnte, Karl Mays Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, wurde er ruhiger.4 Er kannte die Geschichten auswendig. Dann teilte er vollgekritzelte Blätter aus und wies jedem seine Rolle zu, oder die Kinder mussten zuhören, wenn er ihnen selbst verfasste Reime vortrug; und hinterher wollte er wissen, ob sie ihnen gefallen hätten.
Einige der Kinder — Karolina Dietz war eines von ihnen — konnten kaum fassen, auf was für Ideen er kam. Eines Tages fing der kleine Anton Niederhofer an zu heulen, weil er sich in die Hosen gemacht hatte. Im Nu rief Eugen: »Der Antonius von Padua / scheißt lustig über d'Wada rah«. Es war Unsinn, es war grausam und es war witzig. Der arme Anton, der mit seinen vollen Hosen um Hilfe rief, erinnerte Eugen an den heiligen Antonius, und aus dem Gottesdienst wusste er, dass man den anrufen konnte, wenn man etwas verloren hatte.5 Und Anton hatte bestimmt etwas verloren. Doch einige der älteren Kinder, hauptsächlich Jungens wie Georg Eberle, fanden Eugen nicht besonders witzig: »Seine Art war so, daß er immer den Ton angeben, immer jemanden kommandieren wollte.« Sie wollten einfach nur spielen und nicht Spielball eines Spinners sein. Sie spielten ihr eigenes Spiel: »[E]r wurde von uns öfters verprügelt.«
Eines Tages klaute die Bande aus der Klauckestraße — einige von ihnen waren so arm, dass sie barfuß laufen mussten — das knallbunte Indianerzelt des reichen Jungen. Es war ein echter Wigwam, ein Geschenk seiner Verwandten aus Amerika. Der Häuptling holte seinen Vater, Papyrus,6 der direkt in das Lager des Feindes marschierte und die Beute zurückholte. Unter dem Schutz von Papyrus ließ der Häuptling eine Flut von Schimpfworten auf seine Peiniger los. So etwas hatte man noch nie gehört. Aber am nächsten Abend, als der Häuptling für Papyrus Bier aus dem Wirtshaus holte, verpasste ihm die Bande aus der Klauckestraße eine ordentliche Tracht Prügel.
Teil Eins
1
1898-1903
Von dem Tag seiner Geburt an, dem 10. Februar 1898, war Eugen Berthold Friedrich Brecht das Sorgenkind seiner Mutter Sophie Brecht. Die Mutter fand so viel von sich selbst in ihrem Sohn wieder, sie erdrückte ihn fast mit ihrer Liebe. Sie sagte immer, wenn einer von ihnen beiden sich eine Krankheit einfinge, bekäme der andere sie auch. So nah seien sie einander. Sie versuchte ihm beizubringen, dass man durch Sauberkeit vermeiden könne, überhaupt erst krank zu werden, doch war das vergebliche Liebesmüh. Sophies Ehemann Berthold hatte für Kranke nur Spott und Verachtung übrig. Und so erinnert Walter Brecht — Sophie und Bertholds jüngerer Sohn — seinen Vater: »Da er der Krankheit, die er als fremd und feindlich empfand, ablehnend gegenüberstand, war er hart gegen sich selbst. Er klagte nie«.1 Und wehe dem, der es ihm nicht gleichtat.
Als Herrin des Brecht'schen Haushalts trat Sophie Brecht als elegante Dame auf, doch war sie seit jeher kränklich und verträumt.2 In ihrer Jugend hielt man sie für eine Melancholikerin, ihre Beschwerden verstand niemand wirklich. Eugen sollte es nicht anders ergehen. 1919, ein Jahr vor ihrem Tod im Alter von nur 49 Jahren, schrieb er, sie liege schon seit dreißig Jahren im Sterben. Und er selbst wusste von Anfang an, dass er nicht alt werden würde. Die Mutter hatte ihm immer gesagt, wenn sie nur auf Gott vertrauen würden, werde er sie beschützen. Sophie lebte ihren Glauben auf eine tiefe, schlichte Weise, die für die arme protestantische Landbevölkerung Württembergs, umgeben von einer fremden katholischen Welt, typisch war. Ihre Mutter Friederike Brezing hatte ihren Kindern viele biblische Geschichten und Lieder beigebracht, um damit den Anfeindungen der Welt zu begegnen. Und so sang Sophie für den kleinen Eugen, ihren Genele, Lieder und erzählte sie ihm Geschichten in ihrer ärmlichen Mietwohnung, Auf dem Rain 7, die am Fuß eines Hügels zwischen zwei Kanälen des Lechs in der Augsburger Altstadt lag.
Unter ihnen hämmerte und klopfte es in der Werkstatt der Feilenhauerei den ganzen Tag: ein Höllenlärm. Sophie versuchte mit ihrem Lieblingschoral gegen den Krach anzusingen, Julie von Hausmanns Preisung des 73. Psalms, Vers 23-24, mit seiner tröstlichen Botschaft, dass auch arme und schwache Seelen wie Sophie und Genele dereinst vom Vater im Himmel erlöst werden:
So nimm denn meine Hände
Und führe mich,
Bis an mein selig Ende
Und ewiglich.
Ich mag allein nicht gehen,
Nicht einen Schritt;
Wo Du wirst geh'n und stehen,
Da nimm mich mit.
Es dauerte nicht lange, und sie zogen in eine ruhigere Wohnung ganz in der Nähe, Bei den sieben Kindeln 1.
Die Mutter füllte den Kopf ihres Kindes mit Geschichten aus der Bibel und den Liedern und Gedichten, die sie liebte. Sie besaß eine wunderschöne illustrierte Ausgabe der Werke des österreichischen Romantikers Nikolaus Lenau, ein Geschenk ihres Bruders Eugen. Der Kult des Weltschmerzes in Lenaus Poesie traf genau ihre Traurigkeit über das Leid in dieser Welt. Sophie Brecht hatte ein Notizbuch, in dem sie Gedanken dieser Art aufschrieb. Dort notierte sie auch die Worte eines anderen Romantikers, Jean Paul: »Wenn man einen einzigen Schmerz tief empfunden hat, so versteht man alle anderen Leiden.«3 Leiden, Melancholie und Liebe bewegten sie, ihr Glaube stützte sie. Jedermann dachte, dass ihr Interesse an Literatur und Kunst, sogar an Philosophie, sie zu einer sehr kultivierten Dame machte, bestens dafür geeignet, ihr bedürftiges Kind großzuziehen.
Sophie Brecht besaß ein Poesiealbum mit ihren Lieblingsgedichten, und auch in ihrem Notizbuch schrieb sie Verse auf:
Wer da liebt, kann der vergessen?
Wer vergißt, hat der geliebt?
Lieben heißt ja »Nichtvergessen« —
Und Vergessen: Nie geliebt!4
Ehe sie nach Augsburg geheiratet hatte, hatte sie eine ganze Reihe junger Männer in Cannstatt und Esslingen, ihren früheren Wohnorten, gekannt. Sie hatte immer gut ausgesehen, war dank ihrer Ausbildung als Näherin adrett gekleidet, hatte stricken und mit einer Nähmaschine umzugehen gelernt. Ohne höhere Bildung und von sentimentalem Geschmack träumte die junge Sophie dieselben Träume wie zahllose andere Mädchen, und sie schrieb Verse wie diese:
Der Frühling des Jahres
Blüht einmal im Mai —
Nur einmal im Leben die Liebe […]
Treue Liebe kommt von Herzen
Treue Liebe brennet heiß.
O wie gut hats mancher Mensch,
der nicht weiß, was Liebe heißt!!!!5
Sie hielt die Namen und Adressen ihrer Verehrer fest. Da gab es einen Frank, und es gab einen Wilhelm Klinger aus Esslingen. Von einem Hermann war sie ganz eingenommen, vielleicht von demselben Hermann, den ihre Schwester Amalia heiratete.
Amalia Brezing fand ihren Traummann in dem gut aussehenden Hermann Reitter, einem Ingenieur in der Haindl'schen Papierfabrik in Augsburg. Als Sophie 1893 nach Augsburg zog, lebte sie für einige Zeit bei ihnen. Auch ihr zukünftiger Ehemann Berthold Brecht war ein ›Zugereister‹. Zwei Jahre älter als sie, 1869 geboren, kam er wie sie aus der alemannischen Provinz. Sophie Brezing und Berthold Brecht gehörten zu den Millionen Menschen, die in einer Massenbewegung vom Land in die rasant wachsenden Städte zogen, in die Kraftzentren von Deutschlands erstarkender wirtschaftlicher und industrieller Macht. Als ihr Sohn in den Zwanzigerjahren das Theater revolutionierte, erklärte er diese Migrationsbewegung zum Vorboten eines neuen städtischen Zeitalters, das von skrupellosen Unternehmern beherrscht werde, die aufgrund unerhörter finanzieller und technischer Mittel enorme Macht über ihre Arbeiter ausüben konnten.
Berthold Brecht hatte in Stuttgart als kaufmännischer Angestellter gearbeitet, bevor er nach Augsburg kam, aber seine Familie stammte aus Achern, einem jener kleinen idyllischen Orte des Rheintals am Fuß des katholischen Schwarzwalds, wo sein Vater Stephan eine Lithographie-Werkstatt besaß. Berthold begriff, dass unabhängig von den Qualitäten traditioneller Handwerker vom Schlage seines Vaters auf dem neuen Markt der Massenproduktion für den Umsatz in der Papier- und Druckindustrie der Vertrieb entscheidend war. In der Haindl'schen Papierfabrik fing er als Handlungsgehilfe auf der sozialen Leiter ganz unten an. Er befreundete sich mit Hermann Reitter und wurde von ihm nach Hause eingeladen, wo er dessen Frau und deren Schwester Sophie kennenlernte. Berthold und Sophie heirateten 1897. Pünktlich neun Monate später traf Eugen ein.
Sophie Brecht hatte geradezu Ehrfurcht vor ihrem Erstgeborenen, der sich schnell zu einem außergewöhnlich begabten Kind entwickelte. Sein Bruder Walter sah das so: »Es war ihr als Wunder erschienen, was da durch sie auf die Welt gekommen, vor ihren Augen aufgewachsen war — ein eng vertrautes und doch von ihr ganz unerwartet abrückendes Wesen.«6 Solange er noch ein kleines Kind war, nahm er ihre volkstümliche romantische Sentimentalität in sich auf. Doch in seinen Jugendjahren — er nannte sich nun Bert Brecht — fand er Gefallen daran, solche Gefühle durch eine fast schon kulthafte kaltschnäuzige Amoralität zu brüskieren, die seine Mutter und viele, die wie sie empfanden, schockierte. In seinem berühmten Gedicht »Vom armen B. B.« verband Brecht diese Kälte seiner Person mit der alemannischen Herkunft seiner Mutter:
Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.7
Die enge Bindung zwischen Mutter und Sohn wurde zum ersten Mal im Sommer 1900 nachhaltig gestört, als man Eugen in die tiefste Provinz, nach Pfullingen zu den Eltern der Mutter, Josef und Friederike Brezing, schickte, um Württembergs protestantische Luft zu atmen. Die Mutter erwartete ihr zweites Kind. Der Bahnhofsvorsteher Josef Brezing war ein alter Griesgram, aber Großmutter Brezing verstand es, den ängstlichen Eugen mit ihren Geschichten und Liedern zu beruhigen. Dann traf vom Vater des Jungen eine Postkarte mit der Nachricht ein, dass gerade ein liebes kleines Brüderchen angekommen sei.8 Eugen behielt immer einen Rest von Reserviertheit gegenüber seinem Bruder. Aber von dem Zeitpunkt an hatte jeder, ob Familie oder Freunde, ob alte oder neue, wo immer sie auch hinreisten, Eugen Postkarten zu schicken.
Für einen so kleinen Jungen besaß er bald eine beachtliche Sammlung. Die von ihm geschickten Karten sind nicht erhalten, aber aus der an ihn gerichteten Post lässt sich entnehmen, dass er bald anfing, eine große Anzahl selbst loszuschicken, und so seinen ersten Kreis von Korrespondenten etablierte. Als Eugen sich bei seinen Großeltern in Achern aufhielt, erhielt er regelmäßig Postkarten von seiner Mutter, deren Eltern und von Hans Eberle, einem Nachbarn aus der Bleichstraße. Zurück in Augsburg wechselte er Neujahrsgrüße mit seinen Acherner Freunden Luisa und Karl und mit seinen amerikanischen Cousins, den Wurzlers in Brooklyn. Berthold Brecht schickte seinen Jungen Karten von seinen Geschäftsreisen, manchmal von näher gelegenen Städten wie Reutlingen, Karlsruhe und Straßburg, öfter von entfernteren Orten wie Berlin, Hamburg, Zwickau und Düsseldorf. Eugen begann einen Briefwechsel mit einigen Freundinnen seiner Mutter aus deren Cannstatter Zeit, darunter Franziska Nallerer. Sie schickte ihm im April 1906 eine Karte aus Stuttgart, und zu Neujahr bedankte sie sich bei ihm für seinen schönen Brief.9 Noch 1910 schrieben sie sich Karten. Die Postkartensammlung des Jungen kann heute im Bertolt-Brecht-Archiv in Berlin eingesehen werden.
Sophie und Berthold Brechts Welt in Augsburg unterschied sich weitgehend von der ihrer auf dem Land lebenden Eltern. Augsburg, von den Römern gegründet, war eine der ältesten und ehemals mächtigsten Städte Deutschlands. Jahrhundertelang hatte sie den Status einer freien Reichsstadt mit eigenem Stadtrecht genossen. Augsburg wurde um 1600 als Sitz der Fugger, Europas reichster Banker, die Päpste und Kaiser finanzierten, in der Welt bekannt. Aus dieser opulenten Zeit datiert die großartige Architektur der Stadt, stammen die Denkmäler und die vielen öffentlichen Gebäude, z. B. der Dom Unserer Lieben Frau im Norden, der Perlachturm und das Rathaus in der Stadtmitte und die Basilika St. Ulrich und Afra im Süden der Innenstadt. Die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation hatten Augsburg zum Sitz des Reichstags gemacht. Während der Herrschaft Maximilians I. und Karls V. sicherten zwei Reichstagsbeschlüsse Augsburg einen bleibenden Platz in der Geschichte. 1530 legte das »Augsburger Bekenntnis« den Grundstein für die Glaubensartikel der Lutherischen Kirche, und der Augsburger Religionsfrieden von 1555 brachte ihr die offizielle Anerkennung. Die Beschlüsse, die das neue Zeitalter des Protestantismus besiegelten, förderten auch eine Atmosphäre religiöser Toleranz in der Stadt — zu jener Zeit die größte in Deutschland — mit einer vorwiegend katholischen Bevölkerung, aber einer beachtlichen protestantischen Minderheit. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Augsburg, wie fast ganz Kontinentaleuropa, völlig verwüstet. Die Einwohnerzahl Augsburgs schrumpfte im Zeitraum von 1630 bis zum Ende des Krieges 1648 von 45 000 auf 16 000. Die Stadt konnte nie wieder ihre frühere Stellung zurückgewinnen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde sie im Zuge der Reformen Napoleons Bayern zugeschlagen und verlor ihren Status als freie Reichsstadt. Trotz der umwälzenden Macht des neuen Geldes in den Gründerjahren nach der deutschen Reichseinigung von 1870/71, als Augsburg sich zu einem wichtigen Industriezentrum entwickelte, blieben in der konservativen Gesellschaft dieser süddeutschen Stadt die Wertvorstellungen der höheren Beamten und Militärs vorherrschend.
Nachdem die junge Familie im Sommer 1900 in eine Wohnung in der Bleichstraße in dem wenig angesehenen Klauckeviertel, wo die Arbeiter der Papierfabrik wohnten, umgezogen war, engagierte Berthold Brecht Dienstboten, erst Fanny, dann 1906 Afra Unverdorben und ab Oktober 1908 Marie Miller, als Hilfe für seine Frau im Haushalt und bei der Erziehung der Jungen. Sophie Brecht war nie besonders robust gewesen, aber seit Walters Geburt hatte sie ständig mit Krankheiten zu kämpfen und war oft bettlägerig. Für die stolze Herrin des Brecht'schen Haushalts hatte ein langes und mähliches Siechtum begonnen, das in einem Krebsleiden endete. Aus Sicht der Familie war ihr Leben von nun an ein einziger, sich quälend lang hinziehender Akt der Selbstaufopferung. Was immer ihr an Kräften verblieb, würde sie in den folgenden zwanzig Jahren für ihre Kinder einsetzen — während die Kluft zwischen ihr und ihrem Ehemann immer größer wurde.
Sophie Brecht hatte sich in Augsburg wieder ein protestantisches Umfeld aufgebaut. Ihre Eltern zogen in die Stadt, um ihren zwei Töchtern nahe zu sein, und so bildete sich eine erweiterte Sippe aus den Brezings, den Reitters und den Brechts. Wie die Brechts hatte die Familie Reitter ebenfalls zwei Söhne, Fritz und Richard. Großmutter Brezing hatte keine Mühe mit den Jungs: Wenn sie ihre Bibel-Geschichten erzählte, fraßen sie ihr aus der Hand. Sie saßen mit offenen Mündern da und hörten zu, während sie sich beim Stricken phantastische Erzählungen ausdachte und sie mit lebhaften Worten vortrug. Wenn es ein paar Tage hintereinander geregnet hatte, erinnerte sie daran, dass der Regen während der Sintflut nie aufgehört hatte: Ob er diesmal wohl aufhören würde? Wie verzaubert von ihren Worten bestürmten die Buben sie mit Fragen, und mit ihren Antworten erklärte sie die Moral der Geschichte.
In seinen Erinnerungen an die frühen Jahre mit seinem älteren Bruder in Augsburg gelingt es Walter Brecht bei aller Anstrengung nicht, die Risse in der Beziehung seiner Eltern zu verbergen. Walter beschreibt seine geliebte, seit langem leidende Mutter als den Mittelpunkt des Haushalts. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und sehr um das schulische Fortkommen und die protestantische Erziehung ihrer Söhne bemüht. Die Haltung des Vaters zur Mutter konnte Walter überhaupt nicht verstehen. Während er fühlte, dass sein Vater sie doch ganz gewiss lieben müsse, gab es dafür nicht das geringste Anzeichen, auch konnte der Vater ohne jeden ersichtlichen Anlass der Mutter und den Söhnen gegenüber in Wut ausbrechen. Zärtlichkeit war Berthold Brecht wesensfremd. In deutlichem Gegensatz zu Walter sah Eugen seit seiner Jugendzeit die Dinge mit einer oft krassen Kompromisslosigkeit, die später durch seine schonungslosen Satiren häuslichen Lebens bekannt werden sollte. Einer Freundin sagte er: »Meine Mutter ist ein Eindringling, sie ist die rebellierende Protestantin der Familie«.10 Sie hatte, wie Brechts Cousine Fanny bestätigte, »einen starken Willen«.11 Fanny beschreibt aber auch, weniger glaubhaft, die Brecht'sche Ehe als eine gute. Sophie Brechts Beziehung zu ihrem Mann geriet zu einem trost- und lieblosen Kampf, der erst mit ihrem Tod endete.
Dass eine Frau innerhalb einer Familie auf ihre religiöse Eigenständigkeit pochte, glich in den Augen der meisten Zeitgenossen tatsächlich einer Rebellion. 1897 hatte Sophie darauf bestanden, von einem protestantischen Pfarrer getraut zu werden, später darauf, dass ihre Jungen in der Barfüßerkirche eine protestantische Taufe erhielten. Sie nahm mit ihnen an dem regen protestantischen Gemeindeleben der Barfüßerkirche teil — eine völlig andere Welt als die Geschäftswelt ihres Mannes, der zudem der einzige Katholik in der engeren Familie war. Innerhalb dieser patriarchalischen süddeutschen Gesellschaft erwartete Berthold Brecht wiederum, dass seine Autorität als Familienoberhaupt respektiert würde. 1902 erwarb er das Heimatrecht in Augsburg, 1911 die Rechte eines Bürgers und damit auch das Wahlrecht. Jeder, der ihn traf, war sofort von Berthold Brecht beeindruckt: Von schneller Auffassungsgabe und wendig, äußerst kompetent in seinem Beruf, gab er bei jeder Feier den Ton an, und das ohne jedes affektierte Getue. Obwohl er ganz unten angefangen hatte, brachte er es bis zum Direktor der großen Haindl'schen Papierfabrik. Papierproduktion und der Druck von Büchern waren das Kerngeschäft. Für seine Söhne war er ›Papyrus‹.
Zu Berthold Brechts Zeit entwickelte sich das Haindl-Werk mit 300 Angestellten zum größten und besten Papierhersteller Europas. Noch heute gehört es als Teil eines von Finnland aus geleiteten multinationalen Konzerns zu den wichtigsten Papierproduzenten. Seine interkonfessionelle Ehe behinderte den steilen Aufstieg des katholischen Berthold Brecht in einem katholischen Familienunternehmen keineswegs. Seine fachlichen Fähigkeiten, zusammen mit seinem Scharfsinn, seiner Energie und seinem geselligen, gewinnenden Wesen waren von großem Vorteil für Haindl, ganz zu schweigen von seiner knallharten Aggressivität, die er bei Gelegenheit an den Tag legen konnte. Er übernahm die Verwaltung der vier Häuser der »Haindl'schen Stiftung« in der Bleichstraße und durfte dafür dort in Nummer zwei in der großen Wohnung im ersten Stock, zu der auch zwei Dachkammern gehörten, mietfrei wohnen. Mit seiner Beförderung zum Prokuristen stieg er 1901 in die obere Geschäftsführung auf und war berechtigt, im Namen der Firma Verträge aufzusetzen und gegenzuzeichnen. Er führte das Leben eines erfolgreichen, hart arbeitenden Geschäftsmannes, der auch abends noch im Büro saß und häufig Geschäftsreisen bis nach Paris und Hamburg unternahm. Und Berthold Brecht wusste, wie er sein Geld gut anlegen konnte. 1906 hatte er so viel zurückgelegt, dass er 15 000 Mark in die Restrukturierung der Druckerei Mühlberger in Augsburg investieren konnte.12 Mit seiner Beförderung zum kaufmännischen Direktor des Haindl-Werks hatte er 1917 den Höhepunkt seiner Karriere erreicht.
Mit vielen seiner Landsleute teilte Berthold einen Nationalstolz, wie er im von Preußen dominierten wilhelminischen Deutschland gepflegt wurde. Im Januar 1871 hatte Deutschlands aristokratische Elite mit viel Pomp und Propaganda die deutsche Einigung im Spiegelsaal zu Versailles gefeiert und damit Frankreich noch einmal die Niederlage im Krieg von 1870/71 gegen Preußen und seine Verbündeten schmerzlich vor Augen geführt. Der geschäftsorientierte Mittelstand glaubte überwiegend, dieser Patriotismus ließe sich mit einem fortschrittlichen Liberalismus vereinbaren. Tatsächlich war ihnen nicht klar, worauf sie sich einließen. Nachdem der prahlerische Kaiser Wilhelm II. den Thron bestiegen hatte, wurde ihre Unterstützung für seine imperialistischen Ziele und seine waghalsige Politik immer schriller, wobei die Glaubensartikel des Liberalismus einer nach dem anderen für die Rolle als weitere Großmacht im Eiltempo geopfert wurden. Aber um welchen Preis! Das ganze Gebilde entpuppte sich als äußerste Torheit, als 1918 das kaiserliche Haus der Hohenzollern inmitten der bitteren Auseinandersetzungen als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg einstürzte. Deutschland war bankrott und ohne Führung. Wie so viele seiner Landsleute sah Berthold Brecht seine Welt zusammenbrechen. Der Vertrag von Versailles — ein Akt der Strafe und Rache für die Demütigung Frankreichs 1870/71 — vervollständigte das Elend. Er bürdete Deutschland die Alleinschuld für den Krieg auf, beschnitt sein Territorium, erlegte dem Reich enorme Reparationsleistungen auf und enteignete die Kolonien — und führte damit Wilhelms Parole vom »Platz an der Sonne« ad absurdum. Ein erniedrigtes Deutschland hatte sich auf einen Weg gemacht, der in die Katastrophe von Hitlers »Drittem Reich« mündete. Doch im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute war Berthold Brecht weder ein Kleinbürger noch ein Reaktionär. Er hatte zwar nur Verachtung für den Spartakusaufstand in Berlin und den Aufstand in München — und Augsburg — in den Jahren 1918-1919 übrig, aber er stimmte nicht in den Ruf der radikalen Rechten nach der Macht ein, auch nicht 1933.
Für Berthold Brecht war das Familienleben durchaus nicht so unkompliziert wie Geschäftliches oder selbst noch die Politik. Seine sozialliberale Haltung galt zwar als eine seiner Stärken, aber wenn er mit Freunden am Stammtisch im Café Kernstock saß und man auf Religion zu sprechen kam, dann brummelte er missmutig: »Das kann jeder halten, wie er's will.«13 Seine düstere Stimmung sprach Bände. Die Ehe war nicht glücklich. Warum übernachtete Sophie bei ihren wenigen Besuchen in Achern nie bei seinen Eltern? Glaubt man Walter, so verstand seine Großmutter Karoline Brecht durchaus, dass eine Dame wie Sophie nicht in dem bescheidenen Haushalt der Brechts absteigen konnte, sondern vielmehr in einer feinen Residenz wie der Wilhelmshöhe außerhalb von Achern logieren musste. Aber war sie eine Prinzessin? War sie nicht immer noch die Tochter des Eisenbahners Brezing? Berthold Brecht schien da über klare Ansichten zu verfügen. Vielleicht hätte er sich damals mehr Gedanken machen sollen, als er die anderen Brezings kennenlernte. Amalia war bestimmt nicht die Klügste, von Sophies Bruder Eugen zu schweigen. Eugen war ein Tunichtgut, der eine nichtsnutzige Frau geheiratet hatte, beide Alkoholiker.14 Und doch hatte Berthold Brecht eingewilligt, seinem ersten Sohn dessen Namen zu geben. In der Familie war unter der Hand zudem die Rede davon, dass Eugen zur Epilepsie neige.15 Sein Sohn Max Hermann wurde als Epileptiker mit einer Hirnschädigung geboren. Weil er mit sechs Jahren schon eine Waise war, musste er ab Mai 1908 von Amalia gepflegt werden.16
Es kam vor, dass Berthold Brecht seinen Ärger nicht kontrollieren konnte. Dann hörten die Kinder, wie er seine Frau anschrie, dass die Gründe für ihre schlechte Gesundheit doch sternenklar seien: Die Eltern Brezing seien so geizig gewesen, dass sie ihre Kinder nicht ordentlich ernährt hätten.17 Es stimmte, dass der Eisenbahner nicht viel verdiente, und Besitz hatte Josef Brezing auch keinen. Aber Josef und Friederike Brezing lebten nach der typisch protestantischen Maxime: Zum Leben braucht es nicht viel. Sparsamkeit war für sie das höchste Gebot. Berthold selbst war in Achern auch nicht gerade im Luxus aufgewachsen, aber seine Eltern hielten es anders und genossen, was sie hatten, auch wenn sie auf ihr Geld achten mussten. Berthold zeigte seiner Frau, was es hieß, auf den Pfennig zu achten, und terrorisierte sie mit selbst erlerntem kaufmännischem Wissen. Jeden Samstag nach dem Abendessen ließ er sie über jeden einzelnen Posten des Haushaltsbuchs Rechenschaft ablegen.18 Sie hielt ihre Ausgaben in ihrem kleinen Notizheft fest, aber Berthold kannte alle buchhalterischen Kniffe und ließ sie nie mit den Positionen durchkommen, die sie unter der Rubrik ›Verschiedenes‹ zu verstecken gesucht hatte. Der Betrag war immer viel zu hoch, und er stellte Frage um Frage und hörte nicht auf, bis ihr die Antworten ausgingen. Dann, so erinnert sich Walter, schlug er mit der Faust auf den Tisch, und sie floh in Tränen.
Bertholds tiefe Frustration war erklärlich bei einer Frau, die die Hälfte der Zeit bettlägerig war und die andere Hälfte in Sanatorien verbrachte, Aufenthalte, für die er mit seinem hart verdienten Geld aufkommen musste. Für Berthold gab es eine einfache Regel, wie mit Krankheiten umzugehen war: Ihnen keinen Platz im Leben einräumen! Aber es dauerte nicht lange, und Sophie und Eugen verbrachten den Sommer wieder auf seine Kosten an wechselnden Kurorten. So unwahrscheinlich es klingen mag: In seiner Kindheit war Brecht ein Kenner des Sanatoriumslebens, das man in der modernen deutschen Literatur doch eher mit Franz Kafka und Thomas Mann assoziiert. Ein Sommerurlaub bedeutete im Jahr 1905 für Eugen und Walter, dass sie ihrer Mutter in die Kur nach Bad Rain bei Oberstaufen nachfolgen würden. Das erste erhaltene schriftliche Zeugnis von Brecht befindet sich auf einer Postkarte, die sein Vater am 20. Juni an Sophie in Bad Rain schickte, auf der der Junge, wenig bemerkenswert, schreibt: »L. Mama, viele Grüße sendet dir dein Eugen«.19 Berthold Brecht besuchte seine Frau und die Söhne dort für drei Tage. Die beiden Söhne und die Haushälterin Afra Unverdorben begleiteten Sophie auch im folgenden Sommer für einen vierwöchigen Aufenthalt nach Oberstaufen. Reiste Sophie allein nach Bad Rain, Oberstaufen oder Oberdachstetten, wo sie 1904 insgesamt drei Monate verbrachte, schrieb sie an Eugen und Walter beispielsweise solche Ansichtskarten: »Gar nichts darf man thun als ausruhen und Essen und Milch trinken. Zugenommen habe ich diese Woche nicht, aber essen habe ich doch gelernt.«20 Wie ihr Sohn Eugen hatte sie nie richtigen Appetit. Und wie sie würde er sein ganzes Leben gegen Gewichtsverlust und drohende Krankheiten zu kämpfen haben.
Berthold verbrachte einen guten Teil seiner freien Zeit außer Haus. Die wenigen Bücher, die erhalten sind und seinen Namenszug tragen, lassen seine Interessen erkennen: Er war Vorstandsmitglied des Augsburger Männerchors und des örtlichen Angelvereins. Der Chor genoss hohes Ansehen, und seine Mitglieder rekrutierten sich aus den ersten Kreisen der Stadt. Im Jahre 1911 nahm Siegfried Wagner die Einladung an, den Schlusschoral der Meistersinger von Nürnberg in einer Aufführung des Chors zu dirigieren. Nach den Vereinssitzungen blieb Berthold für gewöhnlich mit seinen Freunden im Café Kernstock und spielte Karten. Er und Franz Xaver Schirmböck, ein guter Freund aus dem Chor, pachteten ein »Fischwasser« mit Angelrechten, und Berthold verbrachte ganze Wochenenden mit Franz Xaver beim Angeln oder beim Wandern in den Voralpen. Berthold Brecht und Franz Xaver Schirmböck blieben ihr ganzes Leben lang enge Freunde.
Walter Brecht konnte nur mutmaßen, dass die Einstellung seines Vaters zu seiner Frau aus den widersprüchlichen Anforderungen seines beruflichen und privaten Lebens stammte: »Ohne Zweifel war er von Liebe für sie erfüllt. Doch das vom Alltag bestimmte nüchterne Verhalten stand ihm im Weg.«21 Allerdings gibt auch der loyale Walter zu, dass von seinem Vater einiges verheimlicht wurde. Wie wir noch sehen werden, wusste Walter durchaus mehr, als er preisgab. Und als 1910 herauskam, was Berthold bislang verheimlicht hatte, kam es zu einem Skandal, der die Familie zutiefst erschütterte, dann aber unter den Teppich gekehrt wurde. In den Jahren bis zu ihrem Tod kämpfte sich Sophie von Operation zu Operation, und selbst Berthold wurde ihr gegenüber allmählich sanfter. Aber er konnte sich nie damit abfinden, dass seine Frau ihm zwar zwei Söhne geschenkt hatte, danach jedoch zeitlebens kränklich war.
Die Brechts zogen nicht in eins der besseren Viertel Augsburgs, sondern blieben in der Bleichstraße 2 wohnen, in der »Kolonie« der Haindl-Arbeiter, wie die vier Häuser der »Haindl'schen Stiftung« genannt wurden. In der damaligen Zeit war es durchaus nicht unüblich, dass Arbeiter und höhere Angestellte einer Fabrik in unmittelbarer Nachbarschaft lebten. In dem Gedicht »Augsburg«, das er 1939 im Exil schrieb, erinnert sich Brecht an die Häuser, »weiß in der Dämmerung« an einem Frühlingsabend:
Die Arbeiter sitzen noch
Vor den dunklen Tischen im Hof.
Sie sprechen von der gelben Gefahr.
Ein paar kleine Mädchen holen Bier
Obwohl das Messingläuten der Ursulinerinnen schon herum ist.
In Hemdärmeln lehnen sich ihre Väter aus den Kreuzstöcken
Die Nachbarn hüllen die Pfirsichbäumchen an der Häuserwand
In weiße Tüchlein wegen des Nachtfrosts.22
Das »Weiße« rahmt das Gedicht ein und verweist darauf, dass die Bleichstraße nach den Bleichwiesen genannt worden war, die im Mittelalter hier nahe dem Stadtgraben gelegen hatten. Brecht spielt in seinen Versen oft mit der Bedeutung des Adjektivs ›bleich‹ im Sinne von ›todesbleich‹, am denkwürdigsten evoziert im Bild der bleichen Mutter Deutschland. Es ist nicht schwer, dahinter eine Erinnerung an Brechts eigene Mutter zu erkennen, aber der Straßenname war auch mit der Erinnerung an seine eigenen Krankheiten an diesem Ort verbunden.
Als der Offizierssohn Hanns Otto Münsterer 1917 zum ersten Mal das Haus seines Freundes besuchte, war er über die vollständige Abwesenheit jeglicher Individualität entsetzt. Das Haus, in dem die Brechts lebten, erzeugte mit seinem ummauerten, betonierten Innenhof ein Bild von Sterilität und Lieblosigkeit.23 Die Innenausstattung war kaum weniger trostlos als das Haus selbst. Die Brechts waren durchaus wohlhabend, hatten aber für die äußerlichen Symbole ihrer Zugehörigkeit zum Bürgertum gar nichts übrig. Berthold hielt sein Geld zusammen, und Sophies ganze Erziehung hatte im Zeichen der hohen Tugend des Verzichts auf materielle Güter gestanden. Sie besaßen zwar einige Bücher und stillten Eugens Lesehunger, aber hatten ganz gewiss nicht die Absicht, wie andere Familien ihrer Schicht eine Bibliothek als Zeichen ihrer Bildung zusammenzutragen. Andererseits waren die Brechts musikalisch, und in ihrem Wohnzimmer stand ein Klavier. Ein Mittelpunkt des Familienlebens war eine Spieluhr in einem Nussbaum-Gehäuse. »Stille Nacht« war eines der Lieder, die zu Weihnachten am liebsten gespielt wurden, und »La Paloma« war Eugens Lieblingslied für den Rest des Jahres. Den wichtigsten Platz im Wohnzimmer aber nahm ohne Zweifel Sophies Nähmaschine ein. Auf einem Podest nahe am Fenster zeigte sich Frau Brecht als die gelernte Schneiderin, die sie war. Von dort schaute sie auf die Straße, während sie an den Kleidungsstücken für ihre Jungen arbeitete: Harlekin-Kostüme mit Rüschen für die Foto-Aufnahmen mit ihren Vettern und Matrosenanzüge, die Eugen und Walter so lächerlich fanden. Doch sein ganzes Leben lang schätzte Brecht handgefertigte Kleidung, am liebsten aus Seide.
Hinter dem Haus, jenseits des Innenhofs, standen zum Norden hin einige Büsche, es gab auch einen Pfirsichbaum, den Berthold Brecht in einer windgeschützten Ecke gepflanzt hatte und hegte und pflegte. Brecht hat das Motiv der Kultivierung von Obstbäumen immer wieder in seinem Werk als Beispiel für das produktive und friedliche Zusammenwirken von Mensch und Natur genutzt. Nach Osten hin, hinter einem Waschhaus, gab es eine Rasenfläche, auf der drei Kastanienbäume standen. Dieser Fleck Land war von einem Zaun und einer Hecke begrenzt, durch welche die Kinder den Nonnen des Ursulinen-Franziskaner-Stifts St. Anna bei der Arbeit im Gemüsegarten zusehen konnten. Für Münsterer bot die Lage des Hauses, mit dem Blick auf die wunderschöne Altstadt, eine Kompensation für das trostlose Aussehen, denn es
war aber insofern eines der glücklichsten in dieser traurigen Gesellschaft, als sich seine Südseite frei nach der alten Kastanienallee und dem Stadtgraben öffnete, hinter dem die efeubewachsene, dunkelrote Kulisse der alten Befestigung aufragte. Da gab es Schwäne und in den Frühlingsnächten Kahnfahrten, Gesang, Papierlaternen und Mädchen; da trotzte der Fünfgratturm, und weiter oben führte die steile Treppe des »Dahinab« zur Altstadt empor — sie hieß so, weil angeblich Luther nach dem Reichstag mit diesen Worten hier zur Flucht verholfen worden war —, und all das, Wasser, Gemäuer und die weißen Blütenkerzen der Bäume, strahlte zu dem grauen Eckhaus hinüber.24
Eugen und die anderen Kinder plünderten die Bäume und Büsche, um Material für Speere, Pfeile und Bogen und Peitschen in den ständigen Kämpfen zwischen den Stämmen der Bleichstraße und der Klauckestraße zu beschaffen. In einer schönen Passage der autobiographischen Flüchtlingsgespräche ruft Brecht Fragmente seiner Erinnerungen an jene frühen Jahre auf, an Schule und häusliches Leben, an Spiele im Freien und Schelte für schlechtes Betragen:
Schneeballschlachten. Butterbrote. Pschiererhans. Mutters Kopfweh. Zu spät zum Essen. Schulunterricht. Schulbücher. Radiergummi. Freiviertelstunde. Kastanien schütteln. Der Hund vom Metzger am Eck. Ordentliche Kinder gehen nicht barfuß. Ein Taschenmesser ist mehr wert als 3 Kreisel. Kluckern. Reifeln. Rollschuh. Meerrohr. Fenstereinschmeißen. Nicht gewesen. Sauerkraut essen müssen ist gesund. Vater will seine Ruhe haben. Zu Bett gehen. Otto bereitet seiner Mamma Kummer. Man sagt nicht scheißen. Beim Handgeben in die Augen schauen.25
Während Berthold und Sophie zu Hause die Regeln vorgaben, kümmerten sich die meiste Zeit die Dienstmädchen um die Brecht-Jungen, zunächst Fanny, dann Afra und nach ihr Marie. Sie gehörten zur Familie und auch wieder nicht, arbeiteten für einen Hungerlohn praktisch rund um die Uhr und hatten fast nie frei oder Ausgang. Sie brachten die Jungen zur Schule, im Winter auf einem Schlitten, auch wenn Eugen darauf bestand, die letzten Meter zu Fuß zu laufen. Walter erinnert sich an Marie mit besonderer Zuneigung, sie wurde wegen ihrer dicken schwarzen Haare ›Schwarze Marie‹ genannt. Doch während sie in Walters Erinnerung den Kindern ganz selbstlos zugetan war, erinnert sich Brecht in den Flüchtlingsgesprächen, dass sie und die Jungen immer viel Spaß an einem Spiel hatten, bei dem sie kleine Objekte wie etwa einen Radiergummi an ihrem Körper versteckte. Allerdings war Walter blöd genug, seiner Mutter davon zu erzählen, die das Spiel verbot und den Jungen klarzumachen versuchte, dass die Schwarze Marie gar nicht so tugendhaft sei, wie sie gedacht hätten. Über die unterschiedlichen Temperamente seiner beiden Söhne berichtete Berthold Brecht seinen Freunden im Café Kernstock: »Eugen sei ein verträumter und grüblerischer Bub, wogegen Walter viel lustiger und realistischer sei.«26 Walter kam mehr nach seinem Vater: Er wurde ein zweiter Papyrus und machte eine Karriere in der Papierindustrie, die der des Vaters gleichkam. Eugen fand seinen ganz eigenen Zugang zu dieser ›Industrie‹: Er lernte schon sehr früh lesen und verschlang die Bücher geradezu. Schon bald wünschte er sich zu Weihnachten kein Spielzeug mehr, sondern wollte nur noch immer mehr Bücher haben.
Walter hatte es nie leicht mit seinem älteren Bruder, der deutliche Zeichen von brüderlicher Eifersucht erkennen ließ. Tatsächlich hätte Eugen einmal beinahe seinen jüngeren Bruder ganz fürchterlich geschlagen. »Einmal, als ich noch sehr klein war und im Bettchen schlief, kam Papa dazu, wie Eugen die kurze Kohlenschaufel […] ergriff und zum Schlag ausholte, um eine Fliege, die auf mir auf der Wange saß, zu töten.« Und das war nur der Anfang. »Eugen machte von dem Recht des Älteren ziemlich rücksichtslos Gebrauch.«27 Er stahl die leckersten Bissen vom Teller seines Bruders und kommandierte ihn herum, gleich, ob sie sich um ihre Haustiere kümmerten oder draußen spielten. Einmal sprang er auf Walters neues Dreirad, ein Weihnachtsgeschenk, raste damit los und fuhr es zu Bruch. Er ließ keine Gelegenheit aus, seine größere körperliche Geschicklichkeit und Stärke zu demonstrieren, etwa beim Hüpfspiel oder beim Rollschuhlaufen, und er lernte bald, richtig Fahrrad zu fahren. Eine Zeitlang hatte er Geigenunterricht und versuchte sich auch am Klavier. In Walters Augen war Eugen ein guter Eisläufer und Schwimmer, obwohl sich die Dinge für Eugen bald dramatisch veränderten. Andere sahen ihn später ohnehin ganz anders.
2
1903-1912
Da Sophie Brecht nun schon längere Zeiten bettlägerig war, wurde Eugen früh, im Januar 1903, in einen Kindergarten geschickt. Selbstverständlich wurde der Kindergarten bei der Barfüßerkirche gewählt, unweit der »Schule der Barfüßer«, auf die er als Nächstes gehen würde. Nicht anders als zu Hause waren hier Geschichten aus der Bibel die Grundlage der Erziehung: Von der Passionsgeschichte war der Junge, dessen Intelligenz nicht zu übersehen war, fasziniert. Ehrfürchtig bestaunten die anderen Kinder sein unglaubliches Gedächtnis, denn er konnte die Geschichten, die der Lehrer ihnen Tage zuvor erzählt hatte, Wort für Wort wiederholen. Das fiel ihm nicht schwer, schließlich tat er nur, was er bei seiner Mutter und Großmutter schon immer gemacht hatte.
Der Kindergarten gab einen ersten Vorgeschmack auf die 13 Jahre religiöser Erziehung, die Eugen von den Geistlichen der Barfüßerkirche im Gottesdienst und in der Schule erhalten würde. Seit September 1904 besuchte er die Barfüßer-Volksschule, eine kirchliche, keine staatliche Schule. Nach zwei Jahren wechselte er für zwei weitere Jahre auf die Volksschule am Stadtpflegeranger. Seine erste Begegnung mit den Institutionen der Kirche und des Staates innerhalb des Schulsystems begann vielversprechend, doch schon bald sollten sich die Dinge deutlich verschlechtern. Nicht nur, dass das Fach Religion im Lehrplan eine wichtige Rolle einnahm: In Bayern wurde der Religionsunterricht grundsätzlich von Geistlichen gehalten, in einer von Kirche und Staat gebildeten Allianz zur Verbreitung der geistlichen wie säkularen Dogmen.1 Eugens Religionslehrer, die Pfarrer Detzer und Krausser, wurden zusammen mit ihren Kollegen zu Schlüsselfiguren für die christliche Erziehung des Jungen bis zur Konfirmation an der Barfüßerkirche und darüber hinaus auf dem Gymnasium bis hin zu seinem 19. Lebensjahr.
In der nationalistisch aufgeheizten Atmosphäre jener Tage wurde eine Dreieinigkeit aus Gott, Kaiser und Vaterland propagiert, die die chauvinistische protestantische Kriegstheologie vorwegnahm, der der Junge im August 1914 ausgesetzt wurde. Eugens Volksschule förderte seine patriotische und christliche Erziehung zum folgsamen Untertanen seines Kaisers, eine zutiefst prägende Erfahrung für einen Schriftsteller, der, nachdem er dieses Wertesystem abgelegt hatte, sein ganzes Leben lang mit den Paradoxa theologischer und säkularer Denkwelten rang. Brechts spätere Parteinahme für Atheismus und Marxismus, nicht zu vergessen sein bravouröser pseudo-lutherischer Tonfall, können nur vor dem Hintergrund seiner tiefgehenden religiösen Erziehung verstanden werden.
So nahm Religion — noch vor Lesen, Schreiben und Rechnen — im Lehrplan den ersten Platz ein. Während der vier Jahre in der Volksschule und den folgenden vier Jahren auf der höheren Schule lasen die Kinder nicht die Bibel selbst, sondern speziell für die Schule bearbeitete Texte, die zu den vorliegenden Themen die gewünschte pädagogische Interpretation lieferten. Grundlage bildeten das Gesangbuch, Luthers Kleiner Katechismus und zwei Bücher mit biblischen Geschichten in evangelischer Fassung. Die Kirche impfte ihren Zöglingen diese Inhalte geradezu ein und versah die moralische Botschaft mit der Gewissheit des Dogmas als ein unumstößliches Glaubensgebilde. Um sicher zu gehen, dass die Jugend den christlichen Glauben verinnerlichte, ließ man die Kinder in althergebrachter Weise lange Textabschnitte auswendig lernen. Das konnte Eugen hervorragend. Der Katechismus, die Geschichten und Kirchenlieder blieben ihm im Gedächtnis, ein immenser Vorrat, der seiner Vorstellungskraft eine Struktur lieferte, die er wieder und wieder nutzen würde, um die Unfehlbarkeit der Dogmen, die ihm eingetrichtert werden sollten, in Frage zu stellen, selbst wenn Brecht, wie er selbst eingestand, durchaus »ein wenig doktrinär« sein konnte.2
Die Vorrangstellung des Faches Religion bestimmte den restlichen Lehrplan an der Barfüßer-Volksschule. Der Schultag begann mit Kirchenliedern und Gebeten in einer Andacht. Gesangsstunden boten Gelegenheit, neben Volksliedern und anderen patriotischen Gesängen Choräle zu üben. Wie in den anderen Ländern des neuen Reichs wurden in Bayern eifrig der große nationale Sieg über Frankreich von 1870 und andere heroische Schlachten aus der Geschichte der bis vor kurzem zerstückelten deutschen Nation gefeiert, besonders die Freiheitskriege von 1813-1815, in denen die deutschen Länder von der napoleonischen Herrschaft befreit wurden. Lieder wie Theodor Körners »Aufruf 1813« waren äußerst populär: »Wasch' die Erde, dein deutsches Land, mit deinem Blute rein!« Bestärkt vom Nationalismus des Vaters und dem leidenschaftlichen evangelischen Glauben der Mutter war der Junge nicht anders als Millionen anderer Kinder im Vorkriegs-Europa diesem Hurrapatriotismus ausgesetzt.
Eugen Brecht schien ein vorbildlicher Schüler zu sein. Er war gefügig und gehorsam, seine Lehrer hatten es leicht mit ihm, und er erhielt fast durchgehend sehr gute Noten. Seine Mitschüler erinnern ihn als eher passiv und abwartend. Offensichtlich neigte der Junge zu dieser Haltung, wenn die Situation außerhalb seiner Kontrolle war. Später konnte er sich nur zu einem einzigen Wort über seine Volksschulzeit bequemen: Langeweile. Doch wandelte sich die Passionsgeschichte Christi aus dem Munde der Pfarrer Detzer und Krausser zu etwas völlig Anderem, als es die Bibelgeschichten aus seiner Kindheit gewesen waren, zu etwas ungemein Faszinierendem. Die Botschaft der Lehrer, dass der Tod Bestandteil der christlichen Opfermission sei, setzte das Kind mit dem nationalen Anliegen gleich: »Dulce et decorum est pro patria mori!« (»Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben!«) Nur sollte das kränkliche Kind bald und unerwartet mit dem Tod aus einer ganz anderen Perspektive bekannt werden, mit dem Tod als ultimativem Mysterium in einer erschreckenden Begegnung, die sein ganzes künftiges Leben beeinflussen sollte.
Ehe Berthold Brecht zu seiner Frau und den zwei Jungen zum Sommerurlaub in einem Sanatorium in Oberstaufen stieß, schickte er ihnen ein paar selbstgereimte, aus gängigen Versatzstücken zusammengesetzte Zeilen:
Wir wanderten durch Tal und Hain
Ich wollt, ihr könntet bei uns sein.
Doch sind zu klein noch eure Haxen
Die müssen erst noch tüchtig wachsen
Erst wenn sie tüchtig sind gediehn
Könnt, wenn ihr brav seid,
mit mir zieh'n.3
Aufzuwachsen war keine einfache Sache für Eugen Brecht. Im August 1905 erkrankte er wie schon mehrmals zuvor. Seine Tante Marie und ihre Tochter Fanny schickten ihm aus Hamburg eine Karte mit guten Wünschen für eine schnelle Besserung. Dem schlossen sich andere Frauen in der Verwandtschaft und Familienfreunde an. Von seiner Tante Anna erhielt er eine Ansichtskarte von einem Ausflug auf den Hohenasperg mit vier weiteren Unterschriften.4 Die Brecht-Jungen hatten die üblichen Hautausschläge und Kinderkrankheiten wie Ziegenpeter und Keuchhusten.5 Von Scharlach und Diphtherie blieben sie verschont, doch litten sie endlos an Halsschmerzen. Ohne Antibiotika war eine Hals- oder Rachenentzündung eine völlig andere Angelegenheit als heute: Die bakterielle Infektion konnte wieder- und wiederkehren. Damals wusste niemand, dass Eugen — anders als Walter, aber wie Tausende anderer Kinder — anfällig für Komplikationen durch eine Pharyngitis oder eine von Streptokokken hervorgerufene Rachenentzündung war.6
Die Symptome, die er entwickelte und die im Jugend- und Erwachsenenalter immer wieder auftraten, entsprachen einer Erkrankung an rheumatischem Fieber, ein Syndrom, das die Gelenke, das Hirn, das Herz und die Haut befällt, weil das Immunsystem den von der Racheninfektion ausgehenden Streptokokken-Angriff nicht abwehren kann. Über rheumatisches Fieber wusste man zu Anfang des 20. Jahrhunderts kaum etwas. In seiner Praxis muss der Hausarzt der Familie Brecht, Doktor Georg Müller, zahlreiche kränkliche, nervöse Kinder mit Rheumatismus gesehen haben, darunter auch einige mit einem schwachen Herzen. Es gab viele traditionelle Heilmittel für Entzündungen und rheumatische Beschwerden: Lorbeerblatt, Heilerde, Heublumen und Arnika. Doktor Müller konnte seinen Patienten versichern, dass, wie so vieles, die Entzündung durch Ruhe abklingen würde. Man brauchte sich nur ins Bett zu legen, dann würde es vorbeigehen und alles gut werden. Aber es wurde nicht gut. Unbehandelt können Streptokokken-Entzündungen und rheumatische Fieber viele unangenehme Komplikationen mit wiederholten Rückfällen hervorrufen. Der Körper des Jungen wurde zu einem Schlachtfeld. Es war, wie er später schrieb, als würde der Sturm, der draußen vor seinem Fenster die Bäume peitschte, in seinem Inneren toben und ihn zu übermannen drohen.7 Ihn sollte die Befürchtung, die Kontrolle über seine Gliedmaßen zu verlieren, nie verlassen. Ein makabrer Sinn für die nackte physische Realität des Todes und dessen Angriff auf den Körper sollte eine Spur in seinem Schreiben hinterlassen, nicht unähnlich der Kunst des Spätmittelalters und der Renaissance von Bosch und Breughel, die Brecht so bewunderte.
Während seiner Kindheit und Jugend verbrachte Eugen Brecht lange Kuraufenthalte mit seiner Mutter in süddeutschen Sanatorien, weit entfernt von seinen Freunden und den Dingen, die Kinder so treiben. Man diagnostizierte bei ihm eine Herzerweiterung. Er sagte später, ihm sei erklärt worden, er habe sie sich durch Überanstrengung beim Radfahren und Schwimmen zugezogen. Diesen Befund, zusammen mit der etwas späteren Diagnose eines »Herzschocks«, führte er stets an, wenn er als Erwachsener von seinen Kindheitsbeschwerden erzählte. Dem Kritiker Herbert Ihering schrieb er 1922, dass seine Herzbeschwerden durch »allerlei Sport« ausgelöst worden seien, während er 1944 in seinem Arbeitsjournal notierte, dass sein Herz »durch Schwimmen und Radfahren etwas verbreitert war«. Er scherzte Ihering gegenüber — die erlittene Qual auf diese Weise mit ironischer Untertreibung überdeckend —, dass sein Herzfehler ihn »mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt« gemacht habe.8 Und das war wohl auch so. Er sah zunehmend das Leben im Lichte des Todes und entwickelte eine anhaltende Angst, lebendig begraben zu werden.9 Er war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, als Kind schwer erkrankt gewesen zu sein, und so blieb er sein ganzes Leben über bemüht, seinen Zustand zwar zu verstehen, aber die daraus resultierenden Befürchtungen mit ironischen Tricks auf Distanz zu halten.
Heute haben wir ein wesentlich besseres Verständnis von seinem Zustand. Es steht fest, dass die wiederkehrenden bakteriellen Infektionen eine Karditis erzeugten, eine entzündliche Erkrankung des Herzens, die sich mit der Zeit zu einer chronischen Herzinsuffizienz ausweitete. In der Folge wurden die Herzklappen angegriffen und die Aortenklappe beschädigt. Eine damit zusammenhängende Komplikation war die Erweiterung des Herzens, das sich überdehnte, um seine Schwäche zu kompensieren. Die spätere Diagnose des kardiogenen Schocks meinte im Wesentlichen dasselbe Phänomen. Wenn sich das Herz in der Kindheit erweitert, weisen die Patienten in manchen Fällen jahrelang keine Symptome auf. Chronische Herzinsuffizienz kann für Kinder tödlich enden, aber der Zustand kann sich auch in späteren Jahren etwas beruhigen.
Eugen Brecht zeigte alle Symptome für eine Herzinsuffizienz: Arrythmia (Herzrhythmusstörungen), Dyspnoea