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VERLIEBT IN DEN FEIND von LAURIE PAIGE Der reiche Anwalt Cade Parks findet seine neue Nachbarin Sara einfach bezaubernd. Auf zärtliche Stunden der Liebe folgt jedoch die bange Frage: Hat die hinreißende Frau etwa nur seine Nähe gesucht, um ein dunkles Kapitel in seiner Familiengeschichte aufzuklären? WER BIST DU WIRKLICH, MARK? von RACHAEL THOMAS Ein starker Mann wie aus ihren Träumen! Seit der Schriftsteller Mark Banning in ihr Leben getreten ist, schwebt die Buchhändlerin Brooke in Romantik und Glück. Da erfährt sie, wer Mark wirklich ist und was er mit einem dunklen Familiengeheimnis zu tun hat! WAS VERSCHWEIGST DU, GELIEBTE? von JUDY DUARTE Er darf nie von ihrer Vergangenheit erfahren! Auch wenn Rowan alles ist, was sich Louanne je erträumt hat – in ihr Herz darf sie ihn nicht lassen. Das würde nicht nur ihr Leben in Gefahr bringen. Auch das Wohlergehen ihres kleinen Sohnes steht auf dem Spiel … DIE BRAUT DES KRONPRINZEN von LOIS FAYE DYER Ja, der Kronprinz von Daniz ist atemberaubend gutaussehend. Aber das ist noch kein Grund, so unverschämt mit ihr zu flirten! Schließlich ist Emily nur in das Fürstentum am Mittelmeer gekommen, um seine Hochzeit zu organisieren. Und noch ahnt sie nicht, wer die Braut sein soll … VERLIEBT IN DEN FALSCHEN? von ELISSA AMBROSE Warum nur musste sich Detective Tyler Carlton so unsterblich in Linda Mailer verlieben? Eigentlich wollte er die attraktive Frau doch nur über ihren kriminellen Chef aushorchen. Als Linda das erfährt, zweifelt sie plötzlich an seinen heißen Gefühlen und wendet sich ab … DICH WILL ICH BESCHÜTZEN von GINA WILKINS Der erfolgreiche Privatdetektiv Sam Fields soll Jessica Parks überwachen. Doch seit Sam die schöne junge Frau kennt, will er nur noch eins: sie vor ihrem mächtigen, tyrannischen Vater beschützen. Sein Glück kennt keine Grenzen, als die junge Kunstmalerin seine leidenschaftlichen Gefühle erwidert. Aber ihre stürmische Liebe droht zu zerbrechen: Jessica erfährt, dass Sam zunächst im Auftrag ihres Vaters tätig war, und glaubt, dass er sie verraten hat …
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Seitenzahl: 1216
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Verliebt in den Feind
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1. KAPITEL
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10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
Wer bist du wirklich, Mark?
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16. KAPITEL
Was verschweigst du, Geliebte?
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13. KAPITEL
Die Braut des Kronprinzen
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9. KAPITEL
Verliebt in den Falschen?
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12. KAPITEL
Dich will ich beschützen
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PROLOG
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Contents
IMPRESSUM
Verliebt in den Feind erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2004 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „Romancing the Enemy“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA , Band 1514 Übersetzung: Patrick Hansen
Umschlagsmotive: Getty Images / inarik, ELIZABETH POLIASHENKO
Veröffentlicht im ePub Format in 1/2022
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck
ISBN 9783751512756
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag: BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Im dezenten Luxus des Büros über Parks Fine Jewelry, dem Konkurrenten von Tiffany’s, New York, an der Westküste, läutete das Telefon. Es war die private Direktleitung.
Walter Parks nahm den Hörer ab. „Ja?“, meldete er sich, bevor er kurz zuhörte und eine Frage stellte. „Sind Sie sicher?“
Der Anrufer bejahte.
„Schicken Sie mir eine Kopie des Totenscheins“, befahl Walter dem Privatdetektiv. „Nein, nicht hierher“, fügte er ärgerlich hinzu, als hätte der Mann es wissen müssen. „An mein Postfach.“
In fünfundzwanzig Jahren hatte er gelernt, seine Spuren zu verwischen. Das Fach gehörte zu einem privaten Postservice zwei Türen weiter. Niemand in seiner Familie wusste davon. Aber in seiner Familie wusste niemand viel von den Dingen, die Walter lieber für sich behalten wollte.
Er legte auf, ging ans Fenster und schaute in den Dezemberregen hinaus, der unaufhörlich vom grauen Himmel fiel. Der einzige Ort, der so kalt und trübe war wie San Francisco im Winter, war San Francisco im Sommer, wenn der Küstennebel die Stadt einhüllte.
Also war Marla tot. Das wurde auch Zeit. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er sich ihretwegen Sorgen machen müssen, hatte er wegen ihr und ihrer Gören manchmal sogar ein schlechtes Gewissen gehabt. Damit war jetzt Schluss.
Wie sein alter Herr, der so arm wie die sprichwörtliche Kirchenmaus gewesen war, oft gesagt hatte – das Leben war, was es war, und ein Mann musste sein Schicksal in die Hand nehmen.
Das stimmte. Die Glücksgötter lächelten jenen zu, die eine Gelegenheit ergriffen, sobald sie sich ergab. Ein langsamer Mann war ein Verlierer. Walter war schnell.
Er atmete tief durch und versuchte zu fühlen, wie die Last von seinen Schultern wich. Aber das geschah nicht. Er verzog das Gesicht. Und wenn schon. Die letzte Verbindung zu seiner Vergangenheit, zum gefährlichen Teil jedenfalls, war gekappt.
Er legte eine Hand an die Brust. Sodbrennen. Er sollte gesünder leben, das wusste er. Und kein Alkohol, höchstens ein Paar Gläser Wein. Die waren gut für die alte Pumpe, behaupteten die Ärzte.
Der Regen, der gegen die Scheibe prasselte, ließ ihn frösteln. Er rieb sich den Nacken und zuckte zusammen, als das Telefon wieder läutete. Er warf einen Blick auf den Apparat. Es war die Büroleitung.
„Parks.“
Der Anrufer war sein ältester Sohn, der die Firma eines Tages übernehmen sollte. Der Stolz verbesserte seine Stimmung. Er und Anna hatten eine feine Nachkommenschaft produziert.
Cade war der Beste – klug, attraktiv, mit kühlem Kopf. Walter hatte den Jungen bei sich im Büro haben wollen, aber Cade war nicht an Diamanten und Schmuck und dem weltweiten Handel damit interessiert gewesen. Ihn hatte das Recht fasziniert. Walter hatte zugeben müssen, dass ein Anwalt in der Familie keine schlechte Sache war.
Jetzt arbeitete der Junge in einer angesehenen Kanzlei – wofür Walter persönlich gesorgt hatte – und kümmerte sich um die Verträge und Steuern der Firma. Mit neunundzwanzig kannte Cade jeden Aspekt des Diamantengeschäfts und war durchaus fähig, seine Nachfolge anzutreten. Und genau das würde er tun, denn sein Pflichtgefühl ließ nichts anderes zu.
„Cade, treffen wir uns zum Lunch?“, fragte Walter jovial. „In einer halben Stunde im Top o’ the Mark ?“
„Einverstanden. Ich habe die Informationen, die du über König Abbar und seinen Sohn Prinz Lazhar von Daniz haben wolltest. Der König ist krank, und der Sohn regiert praktisch allein. Soll ich die Mappe mitbringen?“
„Ja.“
Lächelnd legte Walter auf. Daniz war eines jener winzigen Länder, von denen die meisten Leute noch nie etwas gehört hatten. Was nur bewies, wie dumm die meisten Leute waren. Denn Daniz’ Diamanten gehörten zu den wertvollsten der Welt. Erst seit Kurzem produzierten die Minen champagnerfarbene Steine, die zum Glück unter den Schönen und Reichen der Welt äußerst begehrt waren. Ein gutes Geschäft mit dem Herrscher konnte für sie beide höchst einträglich sein.
Zwei gute Nachrichten an einem Tag. Besser konnte man ein neues Jahr nicht beginnen. Die Götter lächelten wirklich auf ihn herab, auch wenn der Himmel es nicht tat. Er rief seine Sekretärin an, bestellte den Wagen und nahm den Regen kaum noch wahr, als er zum Lunch aufbrach.
Sara Carlton fröstelte, als ein Windstoß sie traf. Jemand sollte dem Wetterdienst sagen, dass der Winter sechs Monate her und es inzwischen Juni, nicht Januar war.
Sie zog die Jacke fester um die Schultern und starrte auf das elegante Haus, das inmitten eines ganzen Blocks ebenso teurer Bauten im georgianischen Stil stand.
Da sie vor ihrem Umzug von Denver nach San Francisco ihre Hausaufgaben gemacht hatte, wusste sie, dass eine Vorschullehrerin wie sie sich die Miete in einem so feinen Viertel wie St. Francis Woods niemals leisten konnte. Zum Glück brauchte sie das auch nicht.
„Ist es nicht hübsch?“, meinte Rachel Hanson.
Rachel war eine Kollegin in Lakeside, der angesehenen Privatschule, die nur drei Querstraßen entfernt lag. Ab Montag würde auch Sara dort unterrichten. Außerdem war Rachel die ältere Schwester von Saras bester Freundin aus ihren Highschool-Tagen in Denver. Sie hatte Sara sofort unter ihre Fittiche genommen, als Sara sich im Januar nach einer Stelle als Lehrerin erkundigt hatte.
Mit vierunddreißig war Rachel fünf Jahre älter als Sara. Sie hatte das College absolviert, geheiratet und war an die Westküste gezogen, als die beiden jüngeren Mädchen noch zur Schule gingen. Ihr Ehemann hatte sie verlassen, also nahm Sara an, dass sie geschieden war. Rachel wusste, warum Sara und ihr Bruder hergekommen waren, und hatte vollstes Verständnis dafür.
„Sehr hübsch“, bestätigte Sara und ließ den Blick vom schmiedeeisernen Zaun aus durch den kleinen Vorgarten wandern. „Ich kann mein Glück noch immer nicht fassen? Ich soll wirklich sechs Monate lang auf dieses Haus aufpassen? Bist du sicher, dass dein Künstlerfreund einverstanden ist?“
Rachel lachte. „Nur auf die Hälfte“, verbesserte sie. „Es ist ein Doppelhaus. Und ja, ich habe mir die Erlaubnis schriftlich geben lassen. Der Eigentümer ist der Freund eines Freundes. Lass uns hineingehen.“
Drei Stufen führten zu einer marmornen Schwelle hinauf, an der sich zwei identische Türen befanden. Mit dem Schlüssel, den sie von Rachel bekommen hatte, öffnete Sara die linke. Ein kühler Luftstrom strich über ihr Gesicht, als sie das kleine Foyer betrat – wie eine kalte, unfreundliche Hand. Die eines Gespenstes, das über unser Eindringen nicht glücklich ist, dachte sie unwillkürlich.
„Dort ist ein Kamin“, sagte Rachel. „Es ist kalt hier. Mal sehen, ob wir den Thermostat finden.“
Sara folgte ihr ins Wohnzimmer.
„Gefällt es dir nicht?“, fragte Rachel.
Sara setzte ein unbeschwertes Lächeln auf. „Was sollte mir hier nicht gefallen?“
Sie sah sich um. Die Wände und Vorhänge waren korallenfarben, schwarz und weiß abgesetzt. Die Kombination stammte von einer über einen Meter großen chinesischen Vase, die neben dem Kamin auf einem schwarzen Sockel stand und friedliche Gartenszenen zeigte.
Die Hälfte des Raums wurde von einer Galerie überragt, in deren Bücherschränken chinesische Kunstgegenstände und unzählige Bücher standen. Eine Leiter führte nach oben und konnte zur Seite gestellt werden, wenn sie nicht gebraucht wurde.
Sara bezweifelte, dass sie jemals auf dem mit korallenfarbenem Samt bezogenen Sofa sitzen würde. Der Tisch davor war schwarz mit eingelegten Vögeln aus Elfenbein und Bambusstäben aus Jade. In einer verschlossenen Vitrine befand sich eine Sammlung chinesischer Kästen. Der Teppich sah orientalisch aus.
„Alles zu teuer, um es zu benutzen“, murmelte Sara.
„Stimmt. Die Küche und das Arbeitszimmer sind hier drüben“, erklärte Rachel. „Die sind gemütlicher.“
Links und rechts vom Kamin führten Glastüren in die benachbarten Räume. In der Küche gab es Arbeitsflächen aus schwarzem Granit und weiße Schränke. Auch hier waren die Wände korallenfarben und der Boden aus – für ihren Geschmack zu dunklem – Holz.
Nicht, dass jemand sie jemals nach ihrer Meinung fragen würde.
Früher einmal hatte sie nur wenige Meilen von hier in einem großen Haus gelebt, aber das war Jahre her. Damals war sie noch zur Vorschule gegangen. Bevor ihr Vater auf rätselhafte Weise verschwunden war. Angeblich ertrunken, vor der Küste Kaliforniens von Bord einer Jacht gefallen. Bevor ihre Familie ihre Firma verloren und aufgehört hatte, mit Diamanten und Schmuck zu handeln. Sie schob die bitteren Gedanken zur Seite und setzte die Besichtigung ihres neuen, wenn auch nur vorübergehenden Zuhauses fort.
Die modernen Geräte bildeten einen auffallenden Kontrast zur orientalisch anmutenden Atmosphäre. Zwischen Küche und Arbeitszimmer lag ein kleines Esszimmer – Tisch und Stühle aus glänzend schwarzem Holz, zwei Vasen mit Pfauenfedern, chinesische Schriftrollen mit schwarzen Zeichen an den Wänden.
„Oh“, entfuhr es Sara, als sie das Arbeitszimmer betrat. „Wie hübsch.“
Während Boden und Wände das orientalische Thema fortsetzten, war die Couch mit Leder, die Sessel mit Stoff bezogen, alles in erdigen Brauntönen. In einer weiteren Vitrine standen winzige Figurinen aus Jade, Onyx und Elfenbein. Auch hier gab es einen Kamin, der allerdings in Gebrauch zu sein schien. Eine Treppe führte zu den Schlafzimmern im Obergeschoss.
„Hier sind der Fernseher und die Stereoanlage.“ Rachel öffnete einen Wandschrank. „Und der Thermostat. Welche Temperatur möchtest du?“
„Zwanzig Grad.“
„Brr, das ist mir zu kalt, aber wer wie du aus Colorado kommt, hat vermutlich Frostschutzmittel im Blut.“
Sara war damit aufgewachsen, jeden Penny zu zählen. Ihre Familie hatte mit Heizung, Strom, Wasser, Lebensmitteln und Kleidung sehr sparsam umgehen müssen, doch das sagte sie nicht. Sie hörte ein leises Klicken, dann bewegte sich die Luft im Raum. „Na ja, ich schätze, ich richte mich jetzt besser ein. Sieht nach Regen aus.“
Rachel schüttelte den Kopf. „Nicht um diese Jahreszeit. Das ist nur der Morgennebel. Bis Mittag ist er wieder weg.“
Es war Mittwoch, der letzte Junitag, und es herrschten kühle siebzehn Grad. Am Montag würde sie ihre Stelle in Lakeside antreten. Dass ihre Vorgängerin gerade jetzt in den Mutterschaftsurlaub ging, war reines Glück.
Sie holten Saras Kleidung und ein paar andere Dinge herein, die sie in ihrem uralten Kleinwagen mitgebracht hatte. Sie entschied sich, die Töpfe und Pfannen im Karton zu lassen und ihn in den Schrank zu stellen. Nach weniger als zwei Stunden waren sie fertig.
„Gehen wir essen“, schlug Rachel vor. „Ganz in der Nähe gibt es einen tollen Chinesen. Die Nudeln sind extrem lecker.“
Sara schloss die Haustür hinter sich ab. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die niedrige Wolkendecke, als sie zu ihrer Freundin auf den Bürgersteig trat. Die Stadt war plötzlich in warmes Licht getaucht, und sie sah es als gutes Omen an. Unwillkürlich schaute sie zum Himmel hinauf. Bei der Suche nach der Wahrheit über den Tod ihres Vaters konnte sie jede Hilfe gebrauchen.
Und bei dem Rachefeldzug für all das, was ihre Familie erlitten hatte?
Vielleicht würde sie einen Weg finden. Mit der Unterstützung ihres Bruders. Tyler war Detective bei der Polizei von San Francisco. Zusammen würden sie alles tun, um die Rätsel ihrer Vergangenheit zu lösen.
Das Erste, was Cade auffiel, als er an diesem Abend heimkam, war der alte Kleinwagen in der Einfahrt des Nachbarhauses. Hmm, der Bewohner war angeblich im Fernen Osten, um die chinesische Kunst zu studieren, die ihn so faszinierte. Wer war es dann?
Er würde nachforschen, aber erst musste er nach Stacy und Tai sehen. Er fuhr in die Garage und eilte die kurze Treppe zur Küche hinauf.
Seine fünf Jahre alte Tochter und ihr Babysitter waren stark beschäftigt. „Jetzt rühren“, befahl Stacy.
Gehorsam rührte Tai in der Schüssel. Sie war einundzwanzig und studierte Medizin. An jedem Nachmittag holte sie Stacy aus dem Kindergarten ab und blieb bei ihr, bis Cade von der Arbeit kam. Außerdem machte sie für sie drei das Abendessen. Manchmal kam Cade sehr spät, aber Tai beschwerte sich nie. Sie nutzte die Zeit zum Lernen.
Cade blieb in der Tür stehen und lächelte. Wie so oft fragte er sich, wer hier im Haus das Sagen hatte, dabei wusste er es längst – es war Stacy.
„Daddy!“, rief sie, als sie ihn sah. „Wir backen einen Kuchen. Es ist eine Überraschung.“
Er schloss die Augen. „Ich sehe nicht hin.“
Sie kicherte. „Er ist nicht für dich. Er ist für Sara.“
„Sara?“ Cade warf Tai einen fragenden Blick zu.
„Sie ist deine neue Nachbarin. Sie hat gerade im Vorgarten Unkraut gejätet, als wir nach Hause kamen.“
„Das erklärt den fremden Wagen in der Einfahrt“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass Ron das Haus in seiner Abwesenheit vermieten wollte. Normalerweise vertraut er seine Kollektion niemandem an.“
„Sie ist die Freundin einer Freundin“, erwiderte Tai.
„Sie passt auf das Haus auf“, fügte Stacy hinzu.
„Ein Housesitter, was?“ Cade hob seine Tochter vom Hocker und in die Luft. Sie lachte fröhlich. Nach ein paar Drehungen hielt er inne, und sie rieben ihre Nasen aneinander. Stacy hatte einen Film über Eskimos gesehen und gelernt, dass sie sich so küssten.
„Sie ist hübsch“, verkündete sie danach. „Ihr Haar ist so dunkel wie Tais, aber ihre Augen haben die Farbe wie die von Mrs Chong.“
Mrs Chong war die sehr dicke und grünäugige Katze von Mrs Ling, der die Eisdiele um die Ecke gehörte. Cade und Stacy waren dort Stammgäste.
„Haben wir genug zu essen, um sie einzuladen?“, fragte er.
„Sicher“, antwortete Tai. „Es gibt Hackbraten mit grünen Bohnen, Röstkartoffeln und Salat. Alles fertig. Ich muss los. In dieser Woche lerne ich Knochen auswendig.“
„Ich auch“, sagte Stacy.
„Großartig“, erwiderte Cade. „Sollen wir unsere Nachbarin fragen, ob sie mit uns essen möchte?“
„Ja, aber der Überraschungskuchen ist noch nicht fertig.“
„Vielleicht hilft sie uns dabei.“
„Bis morgen“, sagte Tai im Hinausgehen.
Cade nahm ihren Platz an der Rührschüssel ein. Nachdem er den Kuchen in den Ofen gestellt hatte, streckte er die Hand aus.
„Lernen wir unsere Nachbarin kennen.“
„Ich kenne sie schon.“
„Gut, dann kannst du uns bekannt machen.“
Sie gingen nach nebenan und läuteten. Sekunden später erschien eine Gestalt hinter dem Fenster.
„Komm herein … Oh!“, rief das atemberaubendste Geschöpf, das er je gesehen hatte, und riss die Tür auf. Dann zuckte es zusammen.
Obwohl Stacy ihn vorgewarnt hatte, starrte er die junge Frau an. Sie war tatsächlich hübsch, aber die Kombination aus schwarzem Haar und grünen Augen mit langen schwarzen Wimpern war mit Worten nicht zu beschreiben.
Sie war mittelgroß und besaß exakt die Figur, die er an Frauen mochte – langbeinig wie ein Fohlen, aber mit Rundungen an genau den richtigen Stellen, woran das jadegrüne Outfit keinen Zweifel ließ.
Eine Sekunde lang blieb ihm die Sprache weg.
Dann huschte ein Gefühlsausdruck über ihr Gesicht. Schock? Schmerz? Zorn? Er war nicht sicher.
Nein, er musste sich getäuscht haben, denn sie lächelte erst höflich, dann wärmer, als sie Stacy fragend ansah.
„Entschuldigung“, sagte er. „Ich bin Cade Parks, Stacys Dad. Offenbar erwarten Sie jemanden …“
„Nein“, erwiderte sie rasch. „Nicht wirklich. Ich bin Sara Carlton, die neue Lehrerin in Lakeside. Tai hat mir erzählt, dass Stacy in meine Klasse kommt.“
„Sara, komm mit“, rief Stacy aufgeregt. „Wir haben eine Überraschung für dich.“
„Du musst sie Miss Carlton nennen“, sagte Cade.
„Muss ich?“, fragte Stacy ihre neue Lehrerin.
„Ja, solange ich deine Lehrerin bin.“
Stacy nickte.
„Tai meint, wir haben genug für einen Gast. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mit uns zu Abend essen“, sagte Cade zu der wunderschönen Frau, die wie eine Wächterin in der Tür stand. „Und Stacy hat eine Überraschung vorbereitet.“
Die Nachbarin lächelte.
Es war seltsam, aber sein Herz begann zu klopfen. Und ihm wurde warm. Abgesehen von flüchtigen Dates hatte er für so etwas keine Zeit mehr gehabt, seit seine Ehefrau vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er hatte seine ganze Energie auf sein Kind und seine Arbeit verwendet.
„Einer Überraschung konnte ich noch nie widerstehen“, sagte die Nachbarin. „Ich hole nur rasch die Schlüssel.“
Stacy ging ins Haus, obwohl sie nicht hereingebeten worden waren. Auch Cade trat ein.
„Schließen wir ab“, rief er Sara nach. Ihr gefiel, wie sie sich bewegte. Mit fast katzenhafter Geschmeidigkeit. Sie nahm ihre Tasche von einem Tisch. „Wir können hinten durchgehen.“
Als sie nickte, verriegelte er die Haustür und folgte Stacy, die hinter ihrer neuen Lehrerin herrannte. Sein Blick ruhte auf ihrem hinreißenden Hüftschwung, als sie ihre Schritte verlangsamte und die Hand seiner Tochter nahm. Stacy redete ununterbrochen, während sie das Haus verließen und über die gemeinsame Terrasse seines betraten.
Der Duft aus dem Ofen hieß sie willkommen. „Mmm, ist das die Überraschung, die ich rieche?“, fragte Sara.
„Es ist ein Schokoladenkuchen“, verkündete Stacy.
„Den mag ich am liebsten“, erwiderte Sara, und ihre Augen wurden groß. „Woher wusstest du das?“
Stacy strahlte. „Weil Daddy und ich den auch am liebsten mögen.“
Ihr Lachen ging ihm unter die Haut und trug zur Intimität des Moments bei. Ohne Sara aus den Augen zu lassen, nahm er die Teller aus dem Schrank und fragte sich, ob er ihr schon mal begegnet war.
Ihm war, als würden sie sich irgendwoher kennen. Vielleicht in einem anderen Leben. Vielleicht waren sie Lover gewesen, die ein tragisches Schicksal getrennt hatte, aber dazu bestimmt, sich wieder zu sehen …
Das Verlangen, das in ihm aufstieg, war überwältigend und fast schmerzhaft. So etwas hatte er noch nie gefühlt, nicht einmal dann, als er sich in seine Frau verliebt hatte. Rita Lambini war die Debütantin des Jahres gewesen, damals vor sechs Jahren, eine hübsche Tochter aus bestem Haus, die ihn mit ihren glutvollen Blicken verzaubert hatte.
Es hatte nicht lange angehalten.
Nach weniger als sechs Monaten war der Zauber verflogen und hatte die bittere Erkenntnis zurückgelassen, dass sie ihn nur wegen des Geldes geheiratet hatte, das er eines Tages erben würde. Er hatte die Ehe beenden wollen, aber inzwischen war sie schwanger gewesen.
Angesichts seiner eigenen Vergangenheit, mit einer Mutter in einem Sanatorium in der Schweiz und einem nur am Geschäft interessierten Vater, wusste Cade, dass er sein Kind nie im Stich lassen würde. Also hielt er bis nach Stacys Geburt durch.
Rita wehrte sich gegen die Scheidung und versuchte, ihn mit einem langwierigen Streit um das Sorgerecht zu erpressen. Sie drohte sogar damit, ihn wegen Kindesmissbrauchs anzuzeigen, wenn er sie hinauswarf.
Selbst jetzt fühlte er sich noch schuldig, weil er über ihren Tod fast so etwas wie erleichtert gewesen war. Sie war auf dem Heimweg von einer ihrer zahlreichen gesellschaftlichen Verpflichtungen gewesen. Ein paar Drinks und ein viel zu hohes Tempo auf der kurvenreichen, vom Nebel feuchten Straße … Der Wagen war durch die Leitplanke gekracht und von der fünfzig Fuß hohen Klippe gestürzt.
„Daddy!“ Stacy zog an seinem Arm.
„Tut mir leid. Was hast du gesagt?“
„Wir sind so weit. Sar… Miss Carlton und ich haben den Tisch gedeckt.“
Er lächelte den beiden zu. „Gute Arbeit.“
Der Timer summte. Er nahm die Kuchenbleche aus dem Ofen und legte drei Brötchen hinein.
„Ist dies Ihre erste Stelle als Lehrerin?“, fragte er, als sie sich an den Tisch setzten.
„Nein. Ich habe in Denver fast fünf Jahre unterrichtet.“
„Und was bringt Sie nach San Francisco?“
Sie zögerte. „Ich habe hier Freunde. Sie haben alles für mich arrangiert“, antwortete sie.
Die Enttäuschung traf ihn hart. „Ein Freund?“
Sie schüttelte den Kopf. „Eine Kollegin. Sie ist die Freundin einer Freundin des Künstlers, dem die andere Haushälfte gehört.“
„Miss Hanson“, informierte Stacy ihren Vater.
„Ja. Rachel und mein …“
Wieder machte sie eine Pause, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihm so viel über sich verraten sollte.
„Rachel und mein Bruder fanden, dass ich wegmusste.“
„Aus Denver?“
Sie nickte.
„Warum?“
„Meine … Mutter ist nach langer Krankheit gestorben. Sie liebte den Frühling in Colorado und die Wildblumen. Sie sagte immer, dass Blumen und Kinder der einzige Trost sind, den das Leben zu bieten hat.“
Sie klang so traurig, dass Cade sich dafür schämte, sie zum Reden zu bringen. „Ich wollte Ihnen nicht wehtun“, sagte er. „Es tut mir leid.“
„Nein, nein, ist schon gut.“ Sie lächelte matt. „Es war Zeit für einen neuen Anfang.“
Wieder hatte er das Gefühl, das hier nicht zum ersten Mal zu erleben. Es war, als hätten sie schon mal so miteinander geredet, Geheimnisse geteilt und zusammen gelacht. Es war eigenartig.
„Die Brötchen sind fertig“, rief Stacy.
Cade servierte das Abendessen, dann öffneten sie eine Tube mit Schokoladenguss und verstrichen ihn auf dem Kuchen. „Lasst uns Happy Birthday singen“, bat Stacy.
„Aber niemand hat Geburtstag“, sagte er zu seiner Tochter.
„Meiner war im Frühjahr“, erzählte Sara. „Niemand hat mir einen Kuchen gebacken, also kann dieser hier mein Geburtstagskuchen sein.“
Er dachte an all das, was sie nicht aussprach – die Trauer um ihre Mutter, die Einsamkeit in ihren Augen, die Zerbrechlichkeit, die seinen Beschützerinstinkt weckte.
„Großartig“, sagte er. „Stacy, du fängst an …“
„Happy Birthday, liebe Sar… Miss Carlton.“
Er stimmte ein und passte seine Stimmlage der seiner Tochter an. Ihr Gast sah ihn erstaunt an. Er lächelte und freute sich darüber, dass er sie ein wenig aus der Reserve gelockt hatte.
„Wie alt bist du?“, fragte Stacy, während er den Kuchen aufschnitt und ihrer Nachbarin das erste Stück gab.
„Neunundzwanzig.“
„Stacy, man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter“, tadelte er.
„Warum nicht?“
Er tat so, als würde er nachdenken. „Keine Ahnung“, erwiderte er schließlich. „Jemand hat mir gesagt, dass es unhöflich ist. Weil Frauen nur ungern zugeben, wie alt sie sind.“
„Uns macht es doch nichts aus, alt zu sein, oder, Sar… Miss Carlton?“
„Überhaupt nichts. Das Alter macht einen weise, habe ich gehört.“
Ein volles, ungezwungenes Lächeln umspielte ihre sinnlichen Lippen. Cade schaffte es nicht, seinen Blick davon loszureißen. „Das Lächeln habe ich schon mal gesehen“, sagte er. „Wo sind wir uns begegnet?“
Sara war auf die Frage nicht vorbereitet. Nach fünfundzwanzig Jahren hatte sie nicht erwartet, dass er sich erinnern würde. Sie versuchte, das Lächeln beizubehalten, aber das erwies sich als unmöglich.
„Vor langer Zeit waren wir zusammen in der Vorschule“, antwortete sie leise. „Du, ich und deine Zwillingsschwester Emily. Hier, in San Francisco.“
Seine Augen wurden schmal. „Ja“, sagte er nach einem Moment. „Sara Carlton. Ja. Das erklärt die Augen. Und das Lächeln. Ich wusste, dass ich es kenne. Ich war in dich verliebt. Dann bist du eines Tages verschwunden. Es brach mir das Herz.“
„Wir sind umgezogen.“
Er nickte. „Ich erinnere mich. Dein Vater ist gestorben. Ein Bootsunfall oder so etwas.“
Oder so etwas. Oder die Ermordung meines Vaters durch deinen, dachte Sara und unterdrückte die Worte nur mit Mühe. Sie hasste Lügen, aber in diesem Fall waren sie nötig.
„Ein hartes Jahr für dich“, murmelte er. „Für alle.“
Sein Lächeln war ebenso traurig wie mitfühlend. Sie wusste, dass seine Mutter später im selben Jahr „aus gesundheitlichen Gründen“ fortgeschickt worden war.
Sie wehrte sich dagegen, für ihn und seine Familie Mitleid zu empfinden. Schließlich war sie hier, um Rache zu üben …
Nein, was sie suchte, war Gerechtigkeit. Sie war hier, um dafür zu sorgen, dass Walter Parks für seine Verbrechen bezahlte.
Am Donnerstagabend saß Sara auf der Couch im Arbeitszimmer und beobachtete, wie ein Tropfen an der Fensterscheibe nach unten rann und dabei immer schneller und größer wurde.
Es regnete nicht. Mit Einbruch der Dunkelheit war der Nebel vom Meer hereingezogen und hatte sich über die flachen Hügel der Küste gelegt. Im Kamin brannte ein Feuer. Die glühenden Scheite waren künstlich, die Flammen von Gas gespeist, aber es war trotzdem gemütlich.
Sie hatte Lebensmittel eingekauft, andere Dinge erledigt und war zur Lakeside School gelaufen, damit sie sie am Montag finden würde. Die Privatschule für besonders begabte Kinder befand sich in einem eleganten Gebäude aus rotem Backstein, das der Gründer zur Erinnerung an seinen Sohn gestiftet hatte.
Wie Rom, so war auch San Francisco auf Hügeln erbaut worden, die allerdings nicht mit den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains in der Nähe ihres alten Zuhauses in Denver zu vergleichen waren.
Im Herbst und Winter hatte sie manchmal stundenlang zu ihnen hinaufgeschaut, während sie darauf wartete, dass das Leben ihrer Mutter zu Ende ging …
„Sara?“, flüsterte die schwache Stimme.
„Ja, Mom?“ Sara stand auf und trat ans Bett ihrer Mutter.
Marla Carlton sah ihre Tochter durchdringend an. „Du erinnerst dich doch an alles, was ich dir gesagt habe? Kathleen und die Zwillinge … sie wissen es auch, oder?“
Sara nahm die schmale, knochige Hand. „Ja, sie wissen es. Wir alle wissen es.“
„Finde meinen Bruder. Finde Derek.“
„Er ist hier, Mutter. Seit heute Morgen. Er kommt wieder, wenn Besuchszeit ist.“
„Er weiß … er hat alles … gesehen.“
„Psst, ruh dich jetzt aus.“
Es tat weh, ihre Mutter anzusehen. Noch war ein Hauch ihrer einstigen Schönheit zu erkennen. Volle, sinnliche Lippen. Ein bezauberndes Lächeln. Schwarzes, ergrauendes Haar, das aber noch immer dicht und kräftig war. Grüne Augen mit langen schwarzen Wimpern. Aber mit fünfundfünfzig streikte ihr Herz, und die Ärzte konnten nichts tun.
Jetzt verstand Sara, welch schreckliche Last Marla fünfundzwanzig Jahre lang hatte tragen müssen, seit ihr Ehemann vor der Küste Kaliforniens von Bord einer Jacht verschwunden war. Jetzt verstand sie auch, warum ihre Schwester und sie aus der vertrauten Welt von San Francisco gerissen und nach Denver, in ein Leben voller Ungewissheit und Sorge, verfrachtet worden waren.
„Derek war da“, sagte Marla und umklammerte die Hand ihrer Tochter. „Er hat Walter gesehen …“
Sara beugte sich hinab, doch die Augen ihrer Mutter schlossen sich, und ihre Worte gingen in ein unverständliches Murmeln über. Die Geschichte, die sie im Laufe der letzten Woche gehört hatte, war ein entsetzliches Weihnachtsgeschenk gewesen – eine Geschichte von Gier und Mord, über einen Mann, der angeblich der Freund und Geschäftspartner ihres Vaters gewesen war.
Walter Parks.
Sie starrte in das blasse Gesicht ihrer Mutter. Der Mann hatte gedroht, Marla zu töten, wenn sie nicht für immer aus San Francisco verschwand. Sie und ihre Kinder Sara und Kathleen. Er hatte nicht gewusst, dass sie schwanger war. Mit Tyler und Conrad, den Zwillingen.
Und auch nicht, dass die beiden ungeborenen Babys von ihm waren …
Die Türglocke holte Sara aus den schmerzhaften Erinnerungen. Es war fast neun. Vielleicht tauchte ihr Bruder endlich auf. Sie hatte schon gestern mit ihm gerechnet.
„Das wurde auch Zeit“, sagte sie, als sie öffnete und Tyler vor ihr stand.
Er trug noch den Anzug, in dem er seinen Dienst als Detective verrichtete. Lächelnd zog er sie an sich.
Es erstaunte sie auch heute noch, dass aus den Zwillingen – die sie mit fünf für lebende Puppen gehalten hatte – erwachsene Männer mit breiten Schultern und muskulösen Körpern geworden waren.
„Tut mir leid, Schwesterherz“, sagte er, als sie keuchend nach Luft schnappte. „Gott, es kommt mir vor, als wäre es Jahre her. Ich bin froh, dass du hier bist.“
„Ich auch, glaube ich.“
In stummer Übereinkunft trafen sich ihre Blicke. Sie waren hier, um ihren verschwundenen Onkel zu finden, den einzigen Zeugen des Verbrechens, und ihren Fall der örtlichen Staatsanwaltschaft zu übergeben.
„Das Arbeitszimmer ist hier entlang.“ Sie ging vor.
Tyler war vor wenigen Monaten in San Francisco eingetroffen und hatte nicht nur einen Job als Detective, sondern auch in Nick Banning, seinem Partner bei der Polizei, einen guten Freund gefunden.
Nick hatte dafür gesorgt, dass sie in diesem Haus untergekommen war, direkt neben dem von Cade Parks, dem Sohn des Mannes, hinter dem sie her waren.
„Nette Unterkunft“, sagte Tyler, während er sich in einen der Sessel vor dem Kamin fallen ließ. „Du solltest sehen, was Nick für mich aufgetrieben hat.“ Sein trockenes Lachen ließ erkennen, dass er nicht neidisch war. Ihr kleiner Bruder verschwendete keine Zeit mit nutzlosen Emotionen.
„Irish Coffee?“, fragte sie. „Oder Milchkaffee?“
„Kannst du beides machen?“
Sara goss aufgeschäumte Milch in den frischen Kaffee, gab einen kräftigen Schuss Whiskey hinzu und kehrte mit den beiden Bechern zu ihrem Bruder zurück.
„Hast du deinen Nachbarn schon kennengelernt?“, fragte er.
Sara gab ihm seinen Becher. „Ja, gestern. Cades Tochter Stacy ist nett und neugierig. Als sie mich Unkraut jäten sah, kam sie sofort herüber und wollte wissen, ob ich die neue Gärtnerin bin und wo Mr Lee ist.“
„Cade?“, wiederholte Tyler.
„Er und Stacy haben mich gestern Abend zum Essen eingeladen. Sie hatten einen Überraschungskuchen gebacken. Und sie haben Happy Birthday für mich gesungen.“
Tyler murmelte ein Schimpfwort. „Ich habe deinen Geburtstag vergessen.“
„Das macht nichts. Ein paar Freunde sind in Denver mit mir ausgegangen.“
„Du hast Gewicht verloren. Wird das hier zu hart für dich sein? Nick und ich können allein weitermachen.“
„Nein, nein. Ich will die Wahrheit über unseren Vater und seinen Partner herausfinden.“
Als Tyler ihr in die Augen sah, wurde ihr bewusst, dass ihr Vater nicht sein Vater war. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass der Mann, den sie vor Gericht bringen wollte, der Vater der Zwillinge war.
„Glaubst du Mutters Geschichte nicht?“, fragte er so unverblümt, wie es seine Art war. Tyler nahm nie ein Blatt vor den Mund.
„Doch, aber wir können nichts beweisen, ohne den Onkel zu finden, den ich erst kurz vor ihrem Tod gesehen habe. Woher wusste er, dass sie krank war? Sind die beiden all die Jahre hindurch in Kontakt geblieben?“
„Wer weiß? Mutter konnte sehr verschwiegen sein. Ich habe nur herausgefunden, dass er nach der Beerdigung einen Flug genommen hat, der in San Francisco endete. Im Internet und in den Telefonbüchern ist er nicht zu finden. Er hat nie in einer Jury gesessen, nie einen Strafzettel bekommen und offenbar immer pünktlich seine Steuern gezahlt.“
„Kurz bevor du kamst, musste ich daran denken, wie unterschiedlich wir alle reagiert haben“, sagte sie.
„Stimmt.“ Betrübt schüttelte Tyler den Kopf. „Kathleen, die Krimiautorin, verschwand sofort wieder nach New York. Man sollte meinen, dass es sie interessieren würde, ein fünfundzwanzig Jahre altes Verbrechen aufzuklären.“
„Und Conrad wollte Colorado nicht verlassen. Sie wollen beide Gerechtigkeit, aber sie tun nichts dafür.“ Sie rührte im Becher, nahm einen Schluck und genoss die Wärme, die sich in ihr ausbreitete.
„Es ist ziemlich schwer, sich vorzustellen, dass der Mann, den man für seinen Vater gehalten hat, es gar nicht ist. Und dass der Mann, der dich in Wirklichkeit gezeugt hat, den Mann getötet hat, von dem du es geglaubt hast. Mann, versuch all das mal einer Jury zu erklären“, schloss er grimmig.
„Willst du Walter Parks mit seiner Vaterschaft konfrontieren?“
„Ja.“
„Wann?“
„Bald. Ich will sehen, wie der Mistkerl reagiert, wenn seine Sünden ihn einholen.“
„Tyler, sei vorsichtig. Er hat schon einmal getötet und …“
„Soweit wir wissen“, unterbrach Tyler sie.
„Vermutlich ist es beim zweiten Mal leichter“, warnte sie, und der Zorn und die Trauer ließen ihre Augen feucht werden. „Manchmal bin ich so voller Hass. Und dann denke ich wieder, ich sollte das alles lieber vergessen. Es ist so lange her, und so viele unschuldige Menschen könnten leiden, wenn wir es aufdecken.“
Tyler musterte sie. „Dein Nachbar, zum Beispiel?“
„Sein kleines Mädchen, zum Beispiel.“
„Warum sollten sie ungeschoren davonkommen?“, fragte er. „Unsere Familie ist es auch nicht.“ Er schlug mit der Faust auf sein Knie.
Anspannung erfüllte das wunderschöne Stadthaus, das nach den Grundsätzen des Feng Shui gestaltet worden war, um der menschlichen Seele Gelassenheit zu verschaffen.
„Die Gerechtigkeit kann bitter sein“, murmelte Sara. „Es gibt einen alten chinesischen Wunsch, der wie ein Segen klingt, aber in Wirklichkeit ein Fluch ist.“
„Wie lautet er?“
„Mögest du in interessanten Zeiten leben. Kleiner Bruder, ich glaube, uns stehen interessante Zeiten bevor.“
Er leerte seinen Becher und stand auf, als die Kaminuhr zehn schlug. „Gut. Wir werden sehen, wer stehen bleibt, wenn das Kartenhaus der Parks zusammenfällt.“
Nachdem sie ihn zur Tür gebracht und seinem Wagen nachgeschaut hatte, starrte sie die Straße entlang. Der Nebel umströmte eine Laterne, und ihr verschwommenes Licht versprach dem Mann, der sich ihrem Schein näherte, Wärme und Beistand. Er blieb an der Ecke stehen und schaute über die Schulter, bevor er weiterging.
Sara fragte sich, vor welchen nächtlichen Dämonen er sich fürchtete.
Am Freitag machte Sara sich wieder mit der Stadt vertraut. Nicht, dass sie sich an viel erinnerte, aber sie versuchte es. Sie besuchte den Zoo und machte eine Rundfahrt zu den Sehenswürdigkeiten.
Eine der beiden Windmühlen am alten Cliff House war restauriert worden. Sie aß im Restaurant zu Mittag und wusste, dass sie als Kind hier gewesen war, konnte sich jedoch nicht an den Anlass erinnern. Vielleicht hatte jemand Geburtstag gehabt.
Ein anderes Viertel dagegen, unten am Great Pacific Highway in Richtung der Half Moon Bay, brachte deutliche, fast schmerzliche Erinnerungen mit sich. In einer exklusiven Siedlung mit Villen auf fünf Morgen großen Grundstücken entdeckte sie mit der Hilfe der Adresse, die sie im Nachlass ihrer Mutter gefunden hatte, ihr altes Zuhause.
Als sie vor dem verschlossenen Tor des imposanten, aber heruntergekommenen Anwesens stand, stiegen Bilder in ihr auf. Sie war Fahrrad gefahren. Ihr Vater rief ihr zu, dass sie bremsen sollte. Auf der abschüssigen Zufahrt wurde sie immer schneller, bis sie das Gleichgewicht verlor und hart aufs Pflaster prallte.
Ihre Eltern brachten sie in die Unfallaufnahme, wo die Ärzte ein gebrochenes Schlüsselbein feststellten. Sie hatte versucht, nicht zu weinen, aber der Schmerz war der schlimmste gewesen, den sie je gefühlt hatte.
Sara strich über den längst verheilten Bruch und dachte an das Leben, das sie danach geführt hatte. An die Ängste ihrer Mutter. Ihre Tränen. Die Umzüge von einer billigen Wohnung in die nächste, bis sie endlich in Denver heimisch geworden waren. Ihre eigene kindliche Begeisterung über den Schnee, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Geburt der Zwillinge. Noch mehr Freude für sie, aber noch mehr Schmerz für ihre Mutter.
Das Haus war unbewohnt. Der alte Mann, der es gekauft hatte, indem er die rückständigen Steuern bezahlte, hatte nach dem Tod seiner Frau allein hier gelebt. Vor ein paar Jahren war auch er gestorben, und laut Tyler stritten die Kinder sich um das Erbe.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme ließ sie zusammenzucken.
Ein Streifenwagen hielt am Straßenrand.
Sara schüttelte den Kopf. „Ich habe mal hier gewohnt. Vor langer Zeit“, fügte sie hinzu, als der Polizist sie skeptisch musterte.
„Das Haus steht schon lange leer. Ich versuche, es im Auge zu behalten. Wir wollen nicht, dass Drogenhändler sich darin einnisten.“
„Das wäre schrecklich.“
„Sie sollten lieber weiterfahren“, sagte er freundlich. „Ihre Neugier hat eine Lady in der Nachbarschaft nervös gemacht. Deshalb bin ich hier.“
„Tut mir leid. Ich wollte keinen Ärger machen.“
Sie ging zu ihrem Wagen zurück und war den Tränen nahe, als die Nostalgie sie zu überwältigen drohte. Auf der Rückfahrt fragte sie sich, was aus den Geschäften ihres Vaters geworden war. Aus seinem Geld? Und wie hatte ihre Mutter es mit vier Kindern und ohne Job geschafft? Erst nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie ein Sparbuch gefunden, von dessen mageren Erträgen sie gelebt hatten. Vielleicht wäre es ihrer Mom besser ergangen, wenn sie gearbeitet und Menschen getroffen hätte, anstatt ihre Tage allein in dem winzigen Haus am Rand von Denver zu verbringen.
Als sie vor dem Stadthaus eintraf, sah sie Stacy auf der Treppe sitzen.
„Ich habe geläutet, aber du warst nicht zu Hause“, sagte das Mädchen und machte ihr Platz.
Sara setzte sich zu ihr. „Ich habe eine Stadtrundfahrt gemacht“, erzählte sie. „Ich habe mir Fisherman’s Wharf und die Golden Gate Bridge angesehen und im Cliff House zu Mittag gegessen. Mein Tisch war am Fenster, also konnte ich aufs Meer schauen.“
„Hast du Schiffe gesehen?“
„Ja. Ein riesiges.“ Sie musste daran denken, wie sie mit vier am Fenster gestanden und sich gefragt hatte, ob ihr Daddy mit einem Schiff davongefahren war und ob er zurückkommen würde.
„Hast du Kopfschmerzen?“, fragte Stacy.
Erst jetzt wurde Sara bewusst, dass sie sich die Schläfe gerieben hatte. Hastig legte sie die Hand in den Schoß. „Nein, ich habe nur nachgedacht.“ Sie lächelte aufmunternd.
„Meine Mommy hatte oft Kopfschmerzen. Immer dann, wenn Daddy böse auf sie war.“
Erstaunt sah Sara sie an. War das Mädchen nicht viel zu jung, um sich an die Streitigkeiten ihrer Eltern zu erinnern?
„Daddy!“, rief Stacy und sprang auf.
Cade Parks hielt in seiner Garage, stieg aus, eilte seiner Tochter entgegen und nahm sie in die Arme. „Warum sitzt du vor dem Haus? Du weißt doch, dass du das nicht tun sollst.“
„Tai hat gesagt, ich darf auf dich warten. Du kommst spät“, drehte sie den Spieß um.
Sara musste lächeln. Die Männer in Stacys Umfeld würden es nicht leicht haben, wenn sie erwachsen war.
„Hmm. Tut mir leid“, erwiderte ihr Vater. „Grandpa hat angerufen. Du weißt ja, wie hartnäckig er sein kann, wenn er etwas wissen will.“
Grandpa. Das musste Walter Parks sein. Nun ja, Stacy hatte noch einen zweiten Großvater, aber laut Tyler hatten die beiden Familien nicht viel Kontakt.
Lachend hob Stacy ihrem Dad das Gesicht entgegen. Zu Saras Verblüffung rieb der Großstadtanwalt seine Nase fast feierlich an der seiner Tochter, bevor er sich mit ihr auf dem Schoß auf die Stufe setzte.
„Schönes Wetter heute“, sagte er.
„Ja.“
„Hast du dir die Stadt angesehen?“
„Ja.“
Tai erschien in der Haustür. „Ich muss jetzt zur Bibliothek. Wir sehen uns am Montag, Stacy.“ Sie beugte sich hinab und küsste sie auf die Stirn.
„Die Kanzlei ist am Montag geschlossen, da der vierte Juli in diesem Jahr auf einen Sonntag fällt“, erinnerte Cade Tai. „Also brauchst du Sara erst am Dienstag abzuholen.“
„Das ist gut.“ Mit ihrem Rucksack voller Bücher eilte die Medizinstudentin davon.
„Ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde“, murmelte Cade, während Stacy Tai zur Pforte begleitete und ihr nachwinkte. „Sie ist absolut zuverlässig.“
„Als ich klein war, habe ich mal versucht, allein einen ganzen Kuchen zu essen“, rief Stacy. „Tai hat ein Foto davon gemacht. Es sieht lustig aus.“
Sara sah die Wärme in Cades Blick, als er nickte. Sie erinnerte sich daran, wie ihr eigener Vater früher heimgekommen war und sie und ihre jüngere Schwester Kathleen an sich gedrückt und geküsst hatte. Dann hatte er ihrer Mutter in bester Hollywood-Manier einen leidenschaftlichen Kuss gegeben. Sie hatten alle lachen müssen.
„Was denn?“, fragte Cade und schaute ihr in die Augen.
„Wie bitte?“
„Du sahst gerade so traurig aus.“
Sara ging auf, dass sie vorsichtiger sein musste. „Überhaupt nicht. Ich habe nur daran gedacht, wie toll du mit Stacy umgehst. Ich wünschte, andere Väter wären auch so.“
Er schwieg einige Sekunden lang. „Ich will anders sein als mein Vater. Uns Kindern war immer klar, dass seine Geschäfte für ihn an erster Stelle stehen.“
„Ich erinnere mich an deine Zwillingsschwester Emily. Hast du noch andere Geschwister?“
Tyler hatte ihr alles über die Parks erzählt, aber Sara hielt es für besser, sich unwissend zu geben.
„Zwei. Jessica ist Malerin. Ihre Bilder fangen langsam an sich zu verkaufen. Und Rowan ist der Wilde in der Familie. Manchmal bringt er unseren alten Herrn um den Verstand.“
„Wie?“
„Er rast auf seinem Motorrad durch die Gegend. Lässt sich mit der Ehefrau eines Politikers fotografieren – in flagranti. Die alltägliche Rebellion eines mittleren Kindes, das zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat.“
„Also bist du der gute Sohn“, folgerte sie. „Der Älteste, der in die Fußstapfen des Patriarchen treten soll.“
Cade schmunzelte. „Ich bin Anwalt geworden, anstatt mich für Diamanten zu interessieren.“
„Warum?“
„Mit gefällt die Reinheit des Rechts, die Fairness …“
„Es ist nicht immer fair“, unterbrach sie ihn. „Es hat schon Unschuldige in der Todeszelle gegeben.“
„Nun ja, ich rede von den Idealen des Rechts, nicht von den Fehlern bei seiner Anwendung.“ Er zögerte. „Stacy und ich werden heute Abend Burger grillen. Möchtest du dazukommen?“
„Ich will mich nicht aufdrängen.“
„Das tust du nicht. Wir haben gern Gesellschaft. Außerdem wird es Stacy den Anfang in Lakeside erleichtern.“
Sie konnte nicht anders. Sie musste lachen.
„Was ist?“, fragte er und stieß mit seiner Schulter gegen ihre.
Sein strahlendes Lächeln erhellte das dunkle Gesicht. Vermutlich hat er es von einem Piraten unter seinen Vorfahren geerbt, dachte Sara, während die spielerische Berührung sie schneller atmen ließ. Seine Augen zeigten eine faszinierende Mischung aus Braun und Grün, mit goldenen Flecken um die Pupille.
„Wenn Stacy noch selbstbewusster wird, wird sie die Klasse übernehmen, und ich sitze in der Ecke.“ Sara warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Ich glaube, ihr Daddy macht sich mehr Sorgen als sie.“
Er seufzte. „Es ist, als würde sie ein völlig neues Leben beginnen. Eins, mit dem ich nichts zu tun habe. Ich kümmere mich um sie, seit sie geboren wurde. Jetzt wird jemand anderes sie beeinflussen. Wer weiß, vielleicht kommt sie schon bald nach Hause und verkündet, dass sie heiraten will.“
Als er sich stöhnend den imaginären Schweiß von der Stirn wischte, musste Sara erneut lachen. Stacy war auf die Pforte geklettert und summte fröhlich eine Melodie.
„Ein paar Jahre hast du noch Zeit“, erwiderte Sara.
„Da bin ich aber froh. Komm, die Burger warten. Die hat Stacy extra bestellt. Sie sagt, Burger sind ihr Lieblingsgericht.“
„Gleich nach Schokoladenkuchen. Ist noch welcher übrig?“
„Klar.“ Er stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen.
Sara ließ sich aufhelfen, er rief Stacy, und sie gingen zu dritt auf die Terrasse, um den Grill anzuheizen. Später beobachteten sie, wie die Sonne am Horizont unterging.
„Achte auf das grüne Aufleuchten“, sagte Cade, ohne den Blick vom Meer zu nehmen.
„Was ist das?“, fragte Sara.
„In dem Moment, in dem die Sonne im Pazifik verschwindet, flackert das Wasser grünlich. So kurz, dass man es verpasst, wenn man blinzelt. Wenn du es siehst, bringt es dir Glück. Ah, da ist es. Hast du es gesehen?“
„Ich ja“, verkündete Stacy nun begeistert. „Du auch?“ Sie sah Sara an.
Sara nickte. So erstaunlich es war, sie hatte es gesehen. Sie hatte es tatsächlich gesehen.
Eine Methode, an vertrauliche Informationen zu gelangen, bestand darin, sich in das Leben des Informanten zu schleichen. Genau das gehörte zu dem Plan, den Tyler und sie geschmiedet hatten.
Trotzdem fragte Sara sich am Sonntagabend, warum es ihr ein schlechtes Gewissen bereitete, dass sie sich schon wieder von Cade und Stacy einladen ließ.
Sie legte sich einen warmen Pullover über den Arm, steckte das Portemonnaie ein und ging zur Tür, als es mehrmals läutete.
Es war Stacy, mit einem strahlenden Lächeln. Sara erwiderte es und kam sich schäbig vor. Warum fühlte es sich so falsch an, das Richtige zu tun?
Weil sie diesem Kind nicht schaden wollte. Weil sie selbst einmal in Stacys Alter gewesen und ihre Welt auf den Kopf gestellt worden war.
„Komm“, drängte Stacy. „Wir wollen los.“
Sara verschloss die Tür und folgte ihrer jungen Gastgeberin zu der teuren Limousine, die mit Cade am Steuer am Straßenrand wartete.
„Wir haben Kekse“, verkündete Stacy, während sie hinten auf dem Kindersitz Platz nahm und sich fachmännisch anschnallte.
Sara saß vorn, und der Umgang mit Cade kam ihr viel zu intim vor.
Nein, das war das falsche Wort. Zu vertraut . Als wären sie eine Familie.
Was ihr in Denver so praktisch und logisch erschienen war, kam ihr jetzt hinterhältig vor. Sie mochte die beiden. Leider hatte sie das nicht vorhersehen können.
Und da gab es noch ein Problem.
Sie hatte nicht erwartet, Cade Parks attraktiv zu finden. Er war groß, trug das dunkelbraune Haar kurz, wie es sich für einen Anwalt gehörte, und sah in jedem Outfit großartig aus. Egal, ob in einem Anzug mit Weste oder in Jeans, T-Shirt und grünem Cordhemd wie jetzt.
Seine Ernsthaftigkeit erweckte Vertrauen, aber er lächelte oft. Er war unendlich geduldig, konnte jedoch auch streng sein.
Vielleicht sollte sie Tyler fragen, was ihr Plan für den Fall vorsah, dass einer von ihnen sich in jemanden aus der Parks-Familie verliebte. Was jetzt? Auf der kurzen Fahrt nach Twin Peaks fiel ihr keine Antwort ein.
Die Abenddämmerung brach bereits an, als Cade vor einem Parkplatz am Aussichtspunkt hielt und der Jugendliche, der ihn mit seinem Liegestuhl für sie reserviert hatte, aufstand und ihn räumte.
„Gut, wenn man Freunde an den richtigen Orten hat“, murmelte Sara.
„Gut, wenn man eine Sekretärin hat, deren Sohn für Geld fast alles tut. Er spart für seinen ersten Wagen.“
„Wann fängt das Feuerwerk an?“, fragte Stacy, während sie ihren Gurt löste und sich zwischen den Vordersitzen nach vorn beugte.
„Bald“, versprach Cade und warf Sara einen Blick zu. „Die Städte an der Bucht brennen ihre Feuerwerke zum vierten Juli nacheinander ab. Von hier oben werden wir mindestens drei verschiedene sehen können.“
„Hmm, morgen früh wird es in den Schulen eine Menge müder Lehrer geben“, sagte sie. „Wir haben eine ganze Woche zur Einführung und Orientierung, bevor der Unterricht beginnt.“
Auf der Rückfahrt seufzte sie zufrieden.
„Erschöpft?“, fragte Cade.
„Ja, aber auf angenehme Weise. In den letzten Jahren habe ich von den Feierlichkeiten zum vierten Juli nicht viel mitbekommen.“
„Weil deine Mutter krank war?“, fragte er sanft.
„Zum Teil auch deswegen.“
Sie starrte in die Dunkelheit. Sie hatte sich allein um ihre Mom kümmern müssen. Kathleen konnte mit Krankheit nicht umgehen. Ihre Schwester war verwöhnt und nicht sehr belastbar. Aber Sara war selbst schuld, denn es war einfacher gewesen, alles selbst zu erledigen, als Kathleen zur Hilfe zu bewegen.
Bei Conrad war es ähnlich gewesen. Tyler hatte die ganze Verantwortung übernommen, und sie und ihr älterer Bruder hatten sich die Arbeit geteilt.
„Da sind wir“, sagte Cade. „Stacy schläft. Ich trage sie hinein.“
„Ich kann helfen“, bot Sara an.
Sie hielt ihm die Türen auf. Im Kinderzimmer sah sie zu, als er Stacy Jacke und Schuhe auszog. Den Schlafanzug hatte sie vorher schon angezogen. Er küsste sie auf die Stirn und deckte sie sorgfältig zu. Er war der liebevollste Mann, dem Sara je begegnet war.
Sie wich zurück, als er auf den Flur trat und die Tür leise schloss.
„Wie wäre es mit einem Kaffee?“, fragte er.
Sie zögerte. Es war kurz vor Mitternacht. Ein gefährlicher Zeitpunkt. „Gern“, hörte sie sich sagen und war überrascht. Eigentlich hatte sie ablehnen wollen.
Unten stand sie an dem Tresen, der die Küche vom Wohnbereich trennte. Cades Stadthaus war nicht annähernd so elegant eingerichtet wie das benachbarte. Im Arbeitszimmer waren die Wände sonnig gelb, in der Küche und im Esszimmer hellbraun.
Die Möbel waren alt und bequem. Sie vermutete, dass einige davon antik waren. Falls ja, so waren sie perfekt aufgearbeitet worden.
„Mein Bruder Rowan hat ihn restauriert und Rita und mir zur Hochzeit geschenkt“, sagte Cade, als ihr Blick auf einen Sekretär aus Ahorn mit Intarsien aus Rosenholz fiel.
„Er ist wunderschön.“
„Es war eine Überraschung“, fuhr er mit nachdenklicher Miene fort. „Damals habe ich ihm noch nicht mal zugetraut, Eiche von Pinie zu unterschieden. Inzwischen verdient er sein Geld als Möbeltischler.“
„Manche Menschen können einen wirklich erstaunen“, murmelte sie und dachte an ihre Mutter und deren Geheimnisse.
„Du siehst schon wieder traurig aus“, meinte Cade.
„Bin ich aber nicht“, versicherte sie und lächelte, um es ihm zu beweisen.
Er schwieg, aber sein Blick war skeptisch. Sie musste ihre Gefühle besser verheimlichen. Er sah einfach zu viel.
Als der Kaffee fertig war, gingen sie mit den Bechern ins Wohnzimmer. Er machte ein Feuer im Kamin.
„Du hast richtiges Holz“, sagte sie.
„Ja. Ich kaufe den Pfadfindern jedes Jahr ein Klafter ab. Für zwanzig Dollar mehr stapeln sie es mir in der Garage auf.“
Sie nickte. „Ich möchte wissen, was der Künstler nebenan in seiner Garage hat. Die Tür ist verschlossen.“
„Nichts Schlimmes“, meinte Cade. „Er bringt seine Werke dort unter, bis er sie in seiner Galerie ausstellt.“
„Aha.“
Sara schaute auf die Flammen. Sie saßen auf der Couch, jeder an einem Ende. Cade stellte den Becher ab und drehte sich zu ihr.
„Sara“, sagte er leise, nahm ihr ihren aus den zitternden Händen und stellte ihn zur Seite.
Seine heisere Stimme machte sie noch nervöser. Sie räusperte sich. „Ja, was ist?“
Er rückte näher, bis er einen Finger unter ihr Kinn legen und ihr Gesicht zu seinem drehen konnte. „Nur … das hier“, flüsterte er. Dann küsste er sie.
Seine Lippen waren warm und geschmeidig, die Berührung zärtlich, aber entschlossen und erfüllte sie mit einem Verlangen nach etwas, das nicht sein durfte. Nicht zwischen ihnen beiden.
Hinter den geschlossenen Lidern wurden ihre Augen feucht. Eine Träne löste sich aus dem Winkel und rann über die Wange.
Sie legte die Hände an seine Brust und schob ihn behutsam von sich.
„Was belastet dich so sehr?“, fragte er verwirrt und fing die Träne mit der Fingerspitze auf. „Liegt es an mir? Oder ist es etwas aus deiner Vergangenheit? Aus der Zeit, als wir beide Kinder waren?“
All das zusammen.
Doch sie sprach es nicht aus. „Es ist lange her, dass ich das letzte Mal geküsst worden bin.“ Sie versuchte zu lächeln, doch ihre Lippen zitterten zu sehr. Sie presste sie aufeinander.
„Warum?“ Er senkte den Kopf, um sie genauer zu betrachten. „Warum bist du so lange nicht mehr geküsst worden?“
Sie wich seinem Blick aus und starrte in die Flammen. „Letztes Jahr um diese Zeit war ich auf einer Party. Mit meinem Verlobten.“
Cades Gesicht verriet keinerlei Reaktion. „Und?“
„Wir haben uns gestritten, und er … ist allein nach Hause gefahren. Er hatte getrunken, und ich fand, dass er nicht fahren sollte, aber er hörte nicht auf mich, also … ließ ich ihn gehen. Er hatte einen Unfall und … und …“
„Starb?“, beendete Cade den Satz für sie.
„Ja. Zum Glück war kein anderer Wagen in den Unfall verwickelt. Er wurde erst am nächsten Tag gefunden. Er war über die Böschung gerast, und der Wagen war von der Straße aus nicht zu sehen. Ein Mann und sein Sohn, die zum Angeln an den Fluss wollten, haben die Reifenspuren bemerkt. Sie fanden ihn, aber es war zu spät.“
„Das tut mir leid“, sagte Cade.
Er schob die Hände in ihr Haar und küsste ihre Augen, die Wangen und die Mundwinkel. Jede Berührung war unglaublich zärtlich.
„Ich hätte die Polizei anrufen sollen. Oder ihm wenigstens damit drohen sollen. Vielleicht hätte er dann auf mich gehört. Aber ich habe es nicht getan. Ich war wütend.“
„Es war nicht deine Schuld.“ Er küsste ihre Tränen fort. „Wirklich nicht“, beharrte er, als sie widersprechen wollte. „Menschen treffen Entscheidungen. Manchmal sind sie falsch. Aber jeder ist nur für seine eigenen verantwortlich, nicht für die anderer.“
Er küsste sie auf den Mund. Sie wich zurück. „Das kannst du nicht wissen.“
„Doch, ich weiß es. Der Wagen meiner Frau ist vor zwei Jahren von einer Klippe gestürzt. Ich war erleichtert, dass sie weg ist, und habe mich deswegen schrecklich schuldig gefühlt. Das tue ich noch. Aber wir müssen weiterleben“, fügte er sanfter hinzu. „Es war weise, dass du hergekommen bist.“
„Weise?“, wiederholte sie.
„Du musstest im letzten Jahr mit gleich zwei Tragödien fertig werden. Denver zu verlassen bedeutet, dass du bereit bist, dich einem neuen Leben zu stellen. Für Stacy und mich ist es ein großes Glück, dass du nach Kalifornien gekommen bist.“
Sie wehrte sich gegen die frischen Tränen. „Ich frage mich, ob du das auch in einem Jahr noch finden wirst“, sagte sie leise, bevor sie aufstand und über die Terrasse zu ihrer Haushälfte eilte.
Dort schloss sie die Tür ab, presste im Dunkeln die Stirn gegen das Holz und lauschte dem heftigen Klopfen ihres Herzens. Sie lebte nicht für die Zukunft, sondern war dabei, in die Vergangenheit zurückzukehren.
Um fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein.
Sara verbrachte die erste Woche in Lakeside mit Besprechungen. Am Freitagmittag ging die Orientierungsphase für die Lehrer zu Ende, und sie und Rachel hatten beschlossen, in einem nahe gelegenen Chinarestaurant zu feiern.
Kaum hatten sie Platz genommen, lächelte Rachel über Saras Schulter hinweg. „Hallo. Was für ein gut aussehender Typ“, sagte sie.
Sara drehte sich um. „Hallo, Tyler“, begrüßte sie ihren Bruder überrascht. Sie hatte die ganze Woche nichts von ihm gehört.
„Hallo, Schwesterherz. Hallo, Rachel. Freut mich, euch zu sehen.“ Er setzte sich zu ihnen. „Ich habe euch beide gesucht.“
„Wie hast du uns gefunden?“, fragte Sara.
„Ich habe in der Schule gefragt. Das Mädchen im Sekretariat hat mir erzählt, wohin ihr wolltet.“ Als die Kellnerin kam, bestellte Tyler das Nudelgericht des Tages, dann warf er den beiden Frauen einen Blick zu. „Nick und ich haben morgen Abend frei. Wie wäre es mit Essen und Kino? Wir laden euch ein. Schließlich verdienen Cops wesentlich mehr als Lehrer.“
„Das ist ein Angebot, dem ich nicht widerstehen kann“, murmelte Sara belustigt. „Was meinst du, Rachel?“
Ihre Freundin überlegte kurz. „Hmm … Der Hotdog-Verkäufer an der Fisherman’s Wharf verdient mehr als Cops, glaube ich. Aber er sieht nicht halb so gut aus. Wann wollt ihr uns abholen? Oder treffen wir uns irgendwo?“
Tyler grinste. „Um sechs bei Sara? Wir essen früh und gehen in die Zwanzig-Uhr-Vorstellung.“
Nach dem Lunch ging Tyler wieder zur Arbeit, während Rachel und Sara sich entschieden, einen Schaufensterbummel zu machen. „Es gibt da noch einen Laden, den ich mir unbedingt ansehen will“, sagte Sara, als sie ein Kaufhaus am Union Square verließen.
„Parks“, erwiderte Rachel. „Hier entlang.“
Sara fühlte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie das edle Juweliergeschäft erreichten und hineingingen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine elegant gekleidete Frau.
Sie trug eine Halskette mit den größten Perlen, die Sara je gesehen hatte. Auch die Ohrringe passten perfekt zu ihrer hellen Haut und dem dunklen Haar.
„Wir sehen uns nur um“, erwiderte Rachel unbeschwert und klang, als könnten sie beide sich einen spontanen Kauf leisten.
Die Verkäuferin nickte und zog sich zurück.
So unauffällig wie möglich schaute Sara in die Runde. Der Verkaufsraum war in Beige, Blau und Rot gehalten, den Farbtönen des Orientteppichs, der einen kleinen Sitzbereich abgrenzte. Auf blauem Samt lagen goldgefasste Brillanten. Andere, mit Weißgold oder Platin kombinierte Steine ruhten auf rotem Samt. In einer Vitrine waren Hunderte von losen Steinen so arrangiert, dass sie einem Fluss aus Eis glichen, der durch eine samtene Landschaft strömte.
Wohin sie auch sah, erblickte sie puren Luxus – von den Bildern an den Wänden bis hin zu den schweren Vorhängen und dem wie ein Kunstwerk geschmiedeten Gitter, das den Zugang zu den hinteren Räumen versperrte. Aus unsichtbaren Lautsprechern kam leise klassische Musik.
Alles um sie herum strahlte dezenten Reichtum aus.
Dies alles gehörte der Parks-Familie und war das, was deren Kinder für ihr rechtmäßiges Erbe hielten. Aber ein Teil dieses Reichtums stand Saras Familie zu, denn Tyler und Conrad waren auch Walter Parks’ Söhne.
Als die Eingangstür sich öffnete, veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. Die Frau im schwarzen Kostüm straffte sich ein wenig. Ein jüngerer Mann, der einen glänzenden Tresen polierte, gab sich noch mehr Mühe. Drei ältere Damen, die sich über ein Geschenk für ihre Nichte unterhielten, hoben die Köpfe und lächelten dem Mann zu, der hereinkam.
Sara erkannte ihn sofort.
Walter Parks war sechzig, wirkte jedoch fit und athletisch. Sein Gesicht war tief gebräunt. Tennis, dachte sie. Golf. Exklusive Country Clubs.
Er war so groß wie Cade, das Haar grau meliert, die Augen braun.
Sie hasste ihn auf der Stelle.
Rachel legte eine Hand auf ihren Arm, während der Mann durch den Laden und hinter einen Tresen ging. Sara nickte.
„Ist der Kurier gekommen?“, fragte er den Geschäftsführer.
„Ja. Das Päckchen ist im Safe.“
Er nickte und verschwand nach hinten.
Mörder. Mörder. Mörder.
Das Wort hallte in Saras Kopf wider. Sie hörte die matte Stimme ihrer Mutter, hörte sie seinen Namen flüstern, während sie ins Koma fiel und ihr Herz den Kampf ums Leben aufgab.
„Zieht ihn … zur … Rechenschaft“, hatte Marla geflüstert, als ihre Kinder sich um ihr Sterbebett versammelt hatten.
„Das werden wir“, hatte Tyler geschworen.
„Gehen wir“, sagte Sara zu Rachel. „Lass uns von hier verschwinden.“
Rachel nahm ihren Arm und führte sie hinaus. Draußen lehnte Sara sich gegen die Wand und atmete tief durch.
„Bist du in Ordnung?“, fragte ihre Freundin besorgt.
„Ja.“ Sara rang sich ein Lächeln ab. „Das bin ich. Wirklich.“
„Ich habe nicht damit gerechnet, dass er ausgerechnet dann durch die Tür kommt, wenn wir da sind“, gab Rachel zu. „Er hat uns beide überrascht.“
„Allerdings. Er sieht aus wie …“
„Cade?“
Sara nickte. „Ich glaube, ich möchte jetzt nach Hause“, sagte sie dann.
Rachel setzte sie dort ab und kurbelte die Seitenscheibe herunter. „Vergiss unser großes Date morgen Abend nicht“, rief sie lachend.
„Das werde ich nicht.“ Sara winkte ihr zu und schloss die Haustür auf. Nebenan schien niemand da zu sein.
Unwillkürlich dachte sie an Stacy und das, was sie dem kleinen Mädchen und seinem Vater antun würde. Aber es verblasste vor all dem Leid, mit dem Marla Carlton und ihre vier Kinder hatten leben müssen.
„Du hast dich schick gemacht“, meinte Stacy am Samstagabend, als sie aus der Tür kam und sich zu Sara auf die Treppe setzte.
Sara trug einen roten Hosenanzug, den sie sich im Jahr zuvor gegönnt hatte, als sie noch glücklich gewesen war. Bevor erst ihr Verlobter Chad und dann ihre Mutter gestorben waren.
„Ich gehe heute Abend mit meinem Bruder und einem Freund essen. Miss Hanson kommt auch mit.“
Stacy nickte ernst, als wäre sie damit einverstanden.
Sara schaute die Straße entlang. „Eigentlich müsste sie schon hier sein.“
„Vielleicht hatte sie einen Unfall, genau wie meine Mutter.“
Die nüchternen Worte des Mädchens erstaunten Sara. Stacys kleine Welt war aus den Fugen geraten, als sie drei Jahre alt war. Sie fragte sich, wie viel das Kind noch wusste. Ob es sich an etwas erinnerte, was ihr Großvater und Vater damals vielleicht gesagt hatten …
Hastig verwarf Sara die Idee, ein Kind über seine Familie auszufragen. Sie war kein Detective wie Tyler, dessen Beruf es war, aufdringliche Fragen zu stellen und Menschen einer Lüge zu überführen.
„Hallo“, ertönte hinter ihnen eine männliche Stimme.
Sara stand auf und sah Cade an. Sein Lächeln war herzlich und offen, als wären seine Gedanken so unschuldig wie die seiner Tochter.
Seit sie ihn kannte, war ihr klar, wie egoistisch ihr Verlobter gewesen war. Cade dagegen war rücksichtsvoll und gutmütig.