Bestialisch - Jack Kerley - E-Book

Bestialisch E-Book

Jack Kerley

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Beschreibung

Detective Carson Ryder wird nach New York beordert, wo eine Psychiaterin auf grausame Weise getötet wurde. Dr. Evangeline Prowse betreute einen psychopathischen Serienmörder, der nun auf der Flucht ist. Carson Ryder verschweigt, dass er den Verdächtigen kennt – es ist sein Bruder Jeremy. Und die neuesten Morde passen nicht in Jeremys Schema. In einem Katz-und-Maus-Spiel versucht er, den echten Mörder zu finden und Jeremy zu retten. »Kerley verfügt über einen unbändigen und grausigen Ideenreichtum, der einen wach liegen lässt - noch lange, nachdem man die letzte Seite umgeblättert hat.« Kirkus Reviews

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Kurzbeschreibung:

»Kerley verfügt über einen unbändigen und grausigen Ideenreichtum, der einen wach liegen lässt - noch lange, nachdem man die letzte Seite umgeblättert hat.« Kirkus Reviews 

Detective Carson Ryder wird nach New York beordert, wo eine Psychiaterin auf grausame Weise getötet wurde. Dr. Evangeline Prowse betreute einen psychopathischen Serienmörder, der nun auf der Flucht ist. Carson Ryder verschweigt, dass er den Verdächtigen kennt – es ist sein Bruder Jeremy. Und die neuesten Morde passen nicht in Jeremys Schema. In einem Katz-und-Maus-Spiel versucht er, den echten Mörder zu finden und Jeremy zu retten.

Jack Kerley

Bestialisch

Ein Carson-Ryder-Thriller

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2008 by Jack Kerley

The publication of this work has been arranged by Michael Meller Literary Agency GmbH, Munich.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-109-6

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Für meine Schwester April und meinen Bruder Mark …

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Epilog

PROLOG

Auf dem Land in Südalabama, Mitte der achtziger Jahre

Der gertenschlanke, blonde Teenager kickt einen Kiefernzapfen über eine staubige Landstraße, die von einem dichten Wald und einem Baumwollfeld gesäumt wird. Obwohl die nackten Arme und Beine des Jungen der unerbittlichen Sonne Alabamas ausgesetzt sind, ist er so blass, als wäre seine Epidermis undurchlässig, als könnte das harsche Licht seiner Haut nichts anhaben.

Ein Geräusch veranlasst den Jungen, den Kopf zu drehen. Hundert Meter hinter ihm funkelt der Kühlergrill eines Transporters. Der Junge geht von der Straße, damit das Fahrzeug passieren kann, doch der Fahrer drosselt das Tempo und das Auto kommt langsam näher. Als das Fahrzeug auf gleicher Höhe mit ihm ist, steigt dem Jungen der Geruch von Motorenöl in die Nase.

»He, ich kenne dich aus der Zeitung«, ruft der Mann hinter dem Steuer aus dem offenen Fenster und grinst dabei bis über beide Ohren. Er ist Anfang dreißig, hat kurze Haare, kantige Züge und trägt eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern. »Du bist dieser Bursche, der bei diesem HTB die höchste Punktzahl erreicht hat, oder?«, fragt er mit starkem Südstaatenakzent.

Der Junge mit den hellblauen, beinah feminin anmutenden Augen senkte verschämt den Blick. »Es heißt HBT. Das steht für Hochbegabtentest«, murmelt er.

»Und nun hast du ein Stipendium bekommen und kannst aufs College gehen. Wir sind alle sehr stolz auf dich. Soll ich dich mitnehmen?«

»Danke für das Angebot, aber ich gehe lieber zu Fuß.«

Als der Fahrer wieder breit grinst, funkeln seine weißen, ebenmäßigen Zähne. »Da draußen muss es doch an die fünfunddreißig Grad haben. Kommt überhaupt nicht in Frage, dass unser hiesiges Genie einen Hitzschlag kriegt. Wohin willst du?«

»In die Stadt. In die Bibliothek.«

Der Mann nickt zufrieden, als der Junge nun doch in das Fahrzeug steigt. Beim Schalten tanzen die kräftigen Armmuskeln des Fahrers unter der Haut. Er fährt eine Viertelmeile die Landstraße hinunter, ehe er abbiegt und auf einen unbefestigten Weg rollt, der kaum breiter als der Transporter ist. Äste schlagen gegen die Seiten des Fahrzeugs.

»He!«, ruft der Junge. »Sie haben doch gesagt, Sie fahren in die Stadt.«

Der Laster holpert auf eine kleine Lichtung und bleibt dort abrupt stehen. Der Junge schaut sich nervös um. Insektenschwärme schwirren aus den Bäumen.

»Junger Mann, du kennst diese Stelle doch, oder?«, fragt der Fahrer. »Du warst schon mal hier. Stimmt’s?«

Die Stimme des Mannes klingt auf einmal härter, und der Südstaatenakzent ist auch verschwunden.

»Mister, hören Sie, ich, ähm, ich muss in die …«

»Letztes Jahr wurde hier ein Toter gefunden, der an diese dicke Kiefer gefesselt war. Da hat sich jemand beim Töten Zeit gelassen. Richtig viel Zeit.«

Die Hand des Jungen tastet nach dem Türgriff. Er drückt ihn herunter und presst die Schulter gegen die Tür. Sie lässt sich aber nicht öffnen. Mit angsterfüllter Miene dreht der Junge sich zum Fahrer um.

»Verriegelt«, erklärt der Mann mit ruhiger Stimme. »Ich habe vorgesorgt. Ich behalte gern die Kontrolle. Sieh mal hier …«

Der Fahrer zieht das blaue Arbeitshemd hoch. In seinem Gürtel steckt eine Pistole. In dem Moment überwältigen Bilder und Stimmen aus der Vergangenheit den Jungen, und mit einem Mal erinnert er sich, wer dieser Mann ist, wo er ihn zum ersten Mal gesehen hat, wovon damals gesprochen wurde.

Der Junge schließt die Augen und denkt: Jetzt ist es aus und vorbei.

Der Fahrer stiert in den dunklen Wald. »An dem Tag, als dieser Mann getötet wurde, war hier überall Blut. Damals wunderte sich jemand darüber, dass in den Adern eines Menschen so viel Blut fließt.«

»Sie täuschen sich, Mister«, protestiert der Junge mit hoher, zitternder Stimme. »Ich habe nichts angestellt. Und hier bin ich auch noch nie gewesen. Ich schwöre, dass ich noch nie … «

»HALT DIE SCHNAUZE, JUNGE!«

Die Insekten verstummen. Die Vögel in den Bäumen rühren sich nicht mehr. Für einen Moment ist es, als bliebe die Zeit stehen. Als der Mann weiterspricht, ist der Bann gebrochen, und die Erde dreht sich wieder.

»Ich habe viel über den Tag nachgedacht, mein Sohn. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Weißt du, was dabei rausgekommen ist?«

»Was denn?«, flüstert der Junge.

»Dass ich noch nie erlebt habe, wie jemand seiner Wut so unverhohlen Luft macht. Alles … rauslässt. Weißt du, was ich mit rauslassen meine?«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortet der Knabe nach einer längeren Pause.

»Dieser Ausbruch hat mich an Wasser erinnert, das sich hinter einem Damm staut. Das kannst du dir doch vorstellen, oder?«

Der Junge bewegt den Kopf unmerklich und nickt. Der Fahrer spricht weiter.

»Der Damm hält das Wasser zurück, staut es im Becken, bändigt die Fluten. Doch gegen den Regen ist der Damm machtlos. Stell dir mal vor, es regnet Tag und Nacht. Der Wasserspiegel steigt, das Becken droht überzulaufen. Das kannst du doch nachvollziehen, oder? Kennst du dieses Gefühl vielleicht?«

»Ja.« Der Junge spricht so leise, dass seine Antwort beinah im Summen der Insekten untergeht.

»Der Damm ist stark und möchte halten, aber es regnet unaufhörlich. Das Wasser steigt, stößt an die Ränder des Beckens. Und was passiert dann deiner Meinung nach?«

Der Junge verzieht vor Angst die Miene. Seine Augen werden feucht. Eine einzelne Träne kullert ihm über die Wange.

»Es regnet weiter, und der Damm bricht.«

Der Mann streckt die Hand aus und wischt mit dem Daumen die Träne weg.

»Nein, mein Sohn. Die Schleusen öffnen sich gerade im richtigen Moment und sorgen dafür, dass der Damm nicht bricht.«

KAPITEL 1

Dies war der Morgen, an dem ich – Detective Carson Ryder vom Police Department in Mobile, Alabama – innerhalb einer knappen halben Stunde gleich mehrmals Neuland betrat.

Ich landete zum ersten Mal auf dem LaGuardia Airport, wurde zum ersten Mal in meinem Leben direkt von einer Boeing 737 abgeholt, während die anderen Passagiere noch sitzen bleiben mussten. Ich wurde erstmals von Sicherheitsbeamten durch ein Flughafengebäude geschleust und fuhr zum ersten Mal in einem Streifenwagen mit eingeschalteter Sirene durch ein graues, verregnetes Manhattan.

»Würde mir mal jemand verraten, worum es hier eigentlich geht?«, fragte ich meinen Fahrer, auf dessen Namensschild Sergeant Koslowski stand. Wir schlitterten schräg über eine Kreuzung. Um Haaresbreite wären wir mit einem Taxi zusammengestoßen, hätte Koslowski nicht in allerletzter Sekunde das Steuer herumgerissen und Vollgas gegeben. Die gelangweilte Miene des Taxifahrers stimmte mich nachdenklich. Ob es wohl irgendetwas gab, womit man einen New Yorker Taxifahrer aus der Ruhe bringen konnte?

»Da mir keiner was gesagt hat«, knurrte Koslowski, »kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.« Das Knurren passte zu diesem Mann, der an eine Bulldogge in Uniform erinnerte.

»Was hat man Ihnen denn gesagt?«, erkundigte ich mich.

»Dass ich Sie am Flughafen abholen und irgendwo im Village absetzen soll. So, und jetzt sind Sie genauso schlau wie ich.«

Noch vor zwei Stunden hatte ich in Mobile an meinem Schreibtisch gesessen, Kaffee getrunken und darauf gewartet, dass mein Partner Harry Nautilus zur Arbeit erschien. Und dann hatte mich mein Vorgesetzter, Lieutenant Tom Mason, ganz unvermittelt in sein Büro gerufen und die Tür geschlossen. Der Hörer seines Telefons lag nicht auf der Gabel, sondern neben dem Apparat.

»Sie haben einen neuen Fall, Carson. In zwanzig Minuten geht Ihr Flug nach New York. Das Ticket ist für Sie am Schalter hinterlegt, und die Maschine wartet wahrscheinlich auf Sie.«

»Was soll das denn? Ich kann doch nicht so einfach alles stehen und liegen … «

»Draußen steht ein Streifenwagen bereit, der Sie fährt. Los jetzt.«

Koslowski schlitterte wieder quer über die Fahrbahn und bog in eine kleine Straße. Vor einem dreistöckigen Backsteingebäude trat er mit voller Kraft auf die Bremse. Wir rutschten an vier Funkstreifen mit eingeschaltetem Blaulicht, dem Kombi von der Spurensicherung und einem Wagen vorbei, der – wie ich mutmaßte – als mobile Kommandozentrale diente. Der Gerichtsmediziner war auch schon vor Ort. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sich hier zugetragen hatte, aber eins stand fest: Jemand hatte die ganze Truppe zusammengetrommelt.

Ein korpulenter Mann mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und grauem Regenmantel, der im Wind flatterte, näherte sich uns und öffnete die Beifahrertür. Ich stieg aus.

Er war Ende fünfzig, hatte ein rundes Gesicht, eine große Hakennase und sah so verbissen drein wie ein Bluthund, der Witterung aufgenommen hatte. Dieser Mann mit den Tränensäcken und schweren Lidern schaute vermutlich auch dann noch traurig aus der Wäsche, wenn eine Frau Ja sagte. Im Gegensatz zu allen anderen schien er es überhaupt nicht eilig zu haben. Er begrüßte mich mit ausgestreckter Hand: »Ich bin Sheldon Waltz vom NYPD. Freunde nennen mich Shelly, und vielleicht tun Sie das ja auch. Wie war Ihr Flug?«

In seiner Stimme schwangen Wärme und Aufrichtigkeit mit, was mich veranlasste, auf Höflichkeiten zu verzichten und mit der Wahrheit herauszurücken. »Ich hasse Flieger, Shelly. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man mich mit einer Kanone hier hochgeschossen hätte.« Ich legte eine kurze Pause ein. »Werden Sie mir erzählen, worum es überhaupt geht?«

Er seufzte und klopfte mir auf die Schulter. Selbst seine Berührung wirkte bekümmert. »Um ehrlich zu sein, ich hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen.«

In dem Lagerhaus roch es nach abgestandenem Wasser und frischem Rattenkot. Wir gingen über Holzbohlen zu einem Lastenaufzug. Ein Fingerabdruckspezialist bestäubte die Wände, von denen die Farbe abblätterte, mit Puder. Zuerst glaubte ich, dass der Spezialist mich schief musterte, doch dann merkte ich, dass ich mit meiner Einschätzung falschlag. Sein Interesse galt Waltz. Ein junger Mann, der eine Jacke mit dem Aufdruck TECHNISCHER DIENST trug und mit einem kleinen Videomonitor auf dem Schoß im Schneidersitz auf dem Boden saß, beäugte Waltz ebenfalls. Er erweckte den Eindruck, als stecke er voller Tatendrang und warte nur darauf, dass ihm endlich jemand sagte, was er tun sollte.

Rechter Hand gab es einen Flur, der in den angrenzenden Raum führte. Jemand hatte die alten Neonröhren an der Decke eingeschaltet, die laut surrten und dem Ort eine gespenstische Atmosphäre verliehen. Drinnen standen drei Detectives. Das Alphatier, eine Frau Anfang dreißig, herrschte ihre Untergebenen an, die eilfertig nickten. Sie hatte ein ovales Gesicht, schmale Hüften und dunkle, streng zurückgekämmte Haare, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Effektiv und aerodynamisch. An der Brusttasche ihres rostfarbenen, schlichten Kostüms hing eine goldene Polizeimarke. Sie hatte kluge Augen und die durchtrainierte Statur einer Tänzerin.

Nach einer kleinen Weile richtete die Frau den Blick auf mich und musterte mich so angriffslustig, als hätte ich ihr in die Suppe gespuckt und wäre lachend davongelaufen. Ich winkte ihr freundlich zu, woraufhin sie sich umdrehte und mit ihren Marionetten im Schlepptau den Raum verließ. Ich hörte, wie einer der Männer das Wort Landet murmelte.

»Wer war das, Shelly?«, fragte ich, als wir in den Lastenaufzug – einen Drahtkäfig mit festem Boden – traten. Waltz drückte einen Knopf, und wir ruckelten nach oben.

»Ist im Moment unwichtig.«

Der Fahrstuhl kam ruckartig zum Stehen. Wir traten in einen großen Raum mit einem Labyrinth aus halbfertigen Rigipswänden. »Das Gebäude wird in Lofts umgewandelt«, erklärte Waltz. »Als der Vorarbeiter um sechs Uhr früh auftauchte, um die Arbeitspläne für die Trockenbauer vorbeizubringen, hat er das Opfer gefunden. Der Vorarbeiter ist schon älter und leidet an Angina Pectoris. Der Anblick war zu viel für sein Herz. Um zu verhindern, dass er auch noch den Löffel abgibt, haben die Sanitäter ihn in die nächste Notaufnahme gebracht.« Waltz deutete mit dem Kinn auf eine andere Tür. »Das Opfer ist dort hinten.«

Ich folgte Waltz in den abgetrennten Raum, der nach Fertigstellung schätzungsweise fünfzehn Meter lang und sieben Meter breit sein würde. Im hinteren Teil lag auf zwei Sägeböcken eine Sperrholzplatte und darauf ein zugedecktes Gebilde, bei dem es sich um einen menschlichen Körper handelte.

»Wegen der Kälte zeigt der Leichnam noch keine Spuren der Verwesung«, meinte Waltz, als er meine Irritation bemerkte. »Macht die Sache einfacher.«

»Für wen?«

»Für Sie.«

Auf dem Boden war von der Spurensicherung vorsichtshalber ein Plastikläufer ausgelegt worden, damit keine Beweise vernichtet wurden. Neben dem Läufer entdeckte ich eine Haarsträhne, eine dünne braune Locke. Daneben lag ein weißes Knäuel. Ich ging in die Hocke, schürzte die Lippen und blies vorsichtig auf die Fundstücke. Härchen stoben durch die Luft. »Unterschiedliche Haarfarben«, konstatierte ich. »Eigenartig.«

Waltz drehte sich um. »Kommen Sie, Detective. Die Zeit drängt. Um die Details kümmert sich die Spurensicherung.«

Da der Läufer sehr glatt war, bewegten wir uns so vorsichtig wie Männer auf einem zugefrorenen See. Als wir vor der Gestalt standen, packte Waltz einen Zipfel der weißen Decke. Ich holte tief Luft und nickte. Los. Waltz schlug die Decke zurück und präsentierte mir einen kopflosen Frauenkörper. Nein, rebellierte mein Verstand plötzlich, der Kopf ist da. Der Kopf mit den weit aufgerissenen Augen starrte mich nämlich aus der aufgeschnittenen Bauchhöhle an. Das Bild, das sich mir bot, war grauenvoll und völlig grotesk.

In dem Moment traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz: Ich kannte dieses Gesicht.

Mir stockte der Atem. Ich bekam weiche Knie, und der Raum begann zu wanken. Waltz schob eine Hand unter meine Achsel und stützte mich. Ich schloss die Augen. Mehrere Sekunden verstrichen, ehe ich sie wieder öffnen konnte.

»Sie kennen sie, oder?« Waltz studierte mein Gesicht. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

Ich wartete, bis sich der Raum nicht mehr drehte, bis ich die Kraft fand, die Worte herauszupressen. »Ihr Name ist Dr. Evangeline Prowse. Sie ist die Leiterin des Alabama Institute of Aberrational Behavior. In dieser Einrichtung landen einige der abartigsten Mörder Amerikas. Fleischgewordene Alpträume.«

»Ich habe von dieser psychiatrischen Klinik gehört. Sind Sie sicher, dass sie Prowse ist?«

Ich nickte und trat an ein offenes Fenster, um Luft zu schnappen. Vielleicht legte sich der Schwindel dann. Waltz brachte mir einen Pappbecher mit Wasser und dirigierte mich zu einem Stuhl.

»Besser?«, fragte er, als ich das Wasser in tiefen Schlucken trank.

»Wird schon«, log ich.

»Wie gut haben Sie sie gekannt?«

»Sie hat die Polizei von Mobile bei mehreren Fällen beraten. Wir mochten uns. Man könnte uns sogar als Freunde bezeichnen. Wir hätten uns gern häufiger gesehen, konnten es aber leider nur selten einrichten.«

Und nun würden wir es nie mehr einrichten können. Das Wissen, dass ich mich mit Vangie nie mehr unterhalten würde, war schier unerträglich.

»Wann haben Sie Dr. Prowse zum letzten Mal gesehen?«, wollte Waltz wissen.

»Vor zwei Monaten. Ich war in der Nähe von Montgomery und schaute kurz bei ihr rein. Wir saßen in ihrem Büro, haben uns ein Sandwich geteilt und eine halbe Stunde lang geplaudert. Mehr war nicht.«

Das behauptete ich zumindest. Denn da war noch viel mehr, worüber ich aber nicht sprechen mochte. Ich hatte ein Geheimnis, in das nur fünf Menschen eingeweiht waren. Zu den Auserwählten hatte auch Evangeline Prowse gehört.

»Hat sie erwähnt, dass sie einen Trip nach New York plante?«

»Vangie ist in Queens aufgewachsen und hat bis Anfang dreißig in dieser Stadt gelebt. Sie kam regelmäßig hierher. Das war nichts Besonderes.«

»Hatte ihre Reise einen beruflichen Anlass? Haben Sie und Dr. Prowse vielleicht kooperiert? Gemeinsam einen Fall bearbeitet?«

»Nicht in den letzten Jahren.«

»Sind Sie sich sicher? War da wirklich nichts?«

»Shelly, verflucht noch mal, wieso bin ich hier? Wieso haben Sie keinen Kollegen angefordert oder einen …«

Leicht entnervt stieß er einen Seufzer aus. »Wir stehen hier vor einem Rätsel. Folgen Sie mir.«

Waltz und ich kehrten zum Fahrstuhl zurück, wo die anderen Ermittler warteten. Die gepflegte Alpha-Lady lehnte betont nonchalant mit verschränkten Beinen an der Wand und hatte ein Handy zwischen Schulter und Wange geklemmt. »Keine Ahnung, was der Südstaatler hier zu suchen hat. Ich warte nur darauf, dass er eine Lupe aus der Tasche zieht und mich fragt, wo die Spuren sind, denen er folgen soll … «

Sie beendete das Gespräch und tippte mit einem pinkfarben lackierten Nagel auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt los, Waltz. Und da wir jetzt diesen verdammten Kongress an der Backe haben, vermute ich, dass Sie es auch eilig haben. Lassen Sie uns endlich loslegen und dieses Theater hinter uns bringen.«

Waltz spitzte die Lippen und stieß einen Pfiff aus. Der junge Mann, der die Jacke mit dem Aufdruck TECHNISCHER DIENST trug, tauchte mit einem batteriebetriebenen Videogerät auf, das wie ein Säugling in seiner Armbeuge lag. Auf seinem Namensschild stand J. Cargyle. Der Bursche hob das Gerät hoch. Waltz drückte auf die Play-Taste. Alle Anwesenden scharten sich um ihn.

Als die Elektronen zum Leben erwachten, rutschte mir das Herz in die Hose: Auf dem Monitor war eine Nahaufnahme von Vangies Gesicht zu sehen, im Hintergrund eine weiße Wand. Das winzige Mikrophon der Kamera verzerrte die Hintergrundgeräusche so stark, dass man nur noch ein undefinierbares Rauschen hörte. Sie zog die Kamera mit zitternden Händen heran, bis ihr Gesicht deutlich im Bildausschnitt zu erkennen war. Vangie wirkte müde, unter ihren braunen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.

»Für den Fall, dass Sie diese Aufnahme finden, möchte ich Sie bitten, sich mit Carson Ryder von der Polizei in Mobile in Verbindung zu setzen.«

Als ich meinen Namen hörte, zuckte ich zusammen, wandte den Blick jedoch nicht vom Monitor ab.

»Ich habe mit Dutzenden von Koryphäen zusammengearbeitet, die auf die Erstellung von Täterprofilen und die Ergreifung von geistesgestörten Mördern spezialisiert sind. Nach meinem Wissensstand kann diese Leute keiner so gut ergründen wie Detective Ryder. Er besitzt eine gespenstische Gabe, die man nicht unterschätzen sollte. Momentan bin ich mit Dingen befasst, die alles andere als sinnvoll erscheinen, aber ich brauche einen seriösen …«

Plötzlich tat es einen Schlag, und man hörte ein Geräusch, das wie ein Knurren klang. Vangie riss die Augen auf, und die Kamera wirbelte herum. Ich sah ein Stück von einem Spiegel und die Kante, wo Wand und Decke zusammenstießen. Wieder krachte und knurrte es. Eine Handfläche und Finger huschten über den Bildschirm, und dann wurde der Monitor schwarz.

»Es dauert nicht mehr lange«, meinte Waltz. »Sie muss die Kamera irgendwo verstaut haben. Vermutlich in ihrer Tasche.«

»Was bedeutet das? Wo war …«

»Warten Sie.« Waltz deutete wieder auf den Bildschirm. Vangie holte die immer noch laufende Kamera aus ihrer Tasche, als wollte sie ein Schlusswort sprechen, und richtete das Objektiv auf ihr Gesicht. Tränen kullerten über ihre Wangen.

»Carson, es tut mir unendlich leid«, sagte sie.

KAPITEL 2

»Wissen Sie, wovon sie redet, Detective?«, fragte die Alpha-Lady mit vor der Brust verschränkten Armen. »Mal abgesehen davon, dass Sie sich mit Irren richtig gut auskennen?«

»Nein.«

»Und Sie haben auch keine Ahnung, was sie meint, wenn sie sagt, dass sie gerade etwas macht, das nicht sinnvoll erscheint?«

»Ich habe keinen Schimmer, Lieutenant.«

»Ms Prowse sagt: ›Ich brauche einen seriösen …‹, bevor sie unterbrochen wird. Was könnte sie damit meinen?«

»Woher soll ich das wissen? Wo wurde die Aufnahme überhaupt gefunden?«

»Die Speicherkarte steckte in einem Umschlag, auf dem Im Notfall öffnen stand«, antwortete Waltz. »Unter den gegebenen Umständen hielten wir es für sinnvoll, ihrer Bitte zu entsprechen. Selbstverständlich habe ich den Mitarbeiter von der Spurensicherung sofort gebeten, das Video abzuspielen. Und dann …«

»Mussten wir stundenlang Däumchen drehen, anstatt zu ermitteln, und auf einen Außenseiter warten, der sich nun an unserem Tatort breitmacht«, beendete der Lieutenant den Satz und schüttelte den Kopf.

Leise seufzend drehte Waltz sich zu der Frau um. »Ich habe noch nie von einem Fall gehört, wo das Opfer dem Ermittlungsteam die Expertise eines anderen Detectives ans Herz legt. Von daher hielt ich es für besser, alles so zu lassen, wie es war, und den betreffenden Polizisten herzubitten, damit er den Tatort mal unter die Lupe nimmt. Die Jungs von der Gerichtsmedizin konnten ungestört arbeiten, und die Spurensicherung ging etwas langsamer vonstatten, wurde aber nicht gestoppt. Falls Sie ein Problem mit meiner Entscheidung haben, Lieutenant, schlage ich vor, dass Sie Ihr Missfallen an höherer Stelle zum Ausdruck bringen.«

Waltz fischte ein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und hielt dem Lieutenant das Telefon vor die Nase. In dem Raum wurde es mucksmäuschenstill. Ich hörte, wie es mehrmals läutete und jemand abnahm.

»Hier ist das Büro des Polizeichefs …«

Dem Lieutenant wich alle Farbe aus dem Gesicht.

»Hallo? Ist da jemand?«

Sie riss Waltz das Handy aus der ausgestreckten Hand, klappte es zu und hielt es ihm hin. Sie kapitulierte und übertrug nun ihre Frustration von Waltz auf mich. Mit eisiger Stimme sagte sie: »Nach dem zu urteilen, was von ihrer Bekleidung übrig geblieben ist, trug sie Joggingklamotten. Wahrscheinlich ist sie gelaufen, auf der Straße aufgegriffen und hierhergebracht worden. Hat sie daheim auch gejoggt?«

»Das war ihre Passion. Trotz ihrer 63 Jahre hat sie noch an Marathons teilgenommen«, sagte ich. »Sie war ein Fitness-Junkie.«

»Ist sie manchmal spätabends gelaufen?«

»Sie rannte, wann immer es ihr die Zeit erlaubte oder wenn sie gestresst war. Hat sie irgendwelche Verletzungen, die darauf hindeuten, dass sie sich gewehrt hat?«

»Wie wäre es, wenn Sie Ihre Klappe halten und die Fragen dem Lieutenant überlassen?«, raunzte mich ein Detective an, ein Koloss von Mann mit Schultern und Hals wie ein griechisch-römischer Ringer. Ich schätzte ihn auf Ende dreißig – ein paar Jahre älter als ich. Sein Gesicht war blass und von Aknenarben übersät. Die kleinen Augen wirkten wie winzige grüne Erbsen in einer Schale Haferbrei. Seine Haare waren weder blond noch braun, sondern irgendein Farbton dazwischen. Ich hatte gehört, wie ihn jemand Bullard genannt hatte.

»Auf ihren Unterarmen haben wir blaue Flecken gefunden. Allem Anschein nach hat sie sich gewehrt«, sagte Waltz. »Unter ihren Nägeln, die sie bedauerlicherweise kurz trug, haben wir nichts entdeckt. Sobald wir von hier verschwinden, wird das Team von der Spurensicherung den Boden absaugen. Vielleicht finden sie ja etwas, was uns weiterhilft.«

»Wieso hat das Opfer ausgerechnet Sie ins Spiel gebracht?«, meldete sich die Alpha-Lady wieder zu Wort. »Und weshalb hat sie Sie um Verzeihung gebeten?«

»Ich bin gerade eben erst hier eingetroffen. Woher, verflucht noch mal, soll ich das wissen?«

»He«, bellte Bullard. »Hüten Sie Ihre Zunge.« Er drückte den Rücken durch, um mir zu zeigen, dass er größer und breiter war als ich.

»Sachte, Bubba«, warnte die Alpha-Lady. »Ich brauche endlich einen Anhaltspunkt. Waltz hat mir von dem Irrenhaus erzählt, wo sie arbeitete, dieser Klinik. Könnte es sein, dass ein ehemaliger Patient einen Groll gegen sie hegt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«

»Ist Wahrsagen auch eins Ihrer Talente?«

»Aus der Klinik kommt man nur raus, wenn man seinen letzten Atemzug getan hat. Dort geht es nicht um Wiedereingliederung, sondern um die Analyse der Insassen.«

Waltz nickte. »Er hat recht. Ich kenne die Einrichtung.«

»Haben Sie überprüft, wo Dr. Prowse seit ihrer Ankunft gewesen ist, Lieutenant?«, fragte ich. »Vielleicht wurde sie von dem Täter schon früher ins Visier genommen. Möglicherweise gleich auf dem Flughafen. Man könnte …«

Sie hob die Hand und schenkte mir ein nachsichtiges Lächeln, das gespielt war. »Ich will gern glauben, dass Sie sich daheim hervorragend machen, Detective, aber lassen Sie mich Ihnen eines versichern: Wir wissen, was wir tun. Schließlich machen wir das nicht zum ersten Mal.« Dann wandte sie sich mit ihrem falschen Lächeln an Waltz. »Gehen Sie mit ihm Mittag essen, Detective. Zeigen Sie ihm die Freiheitsstatue. Lassen Sie ihn ein paar Postkarten kaufen. Und dann ist es höchste Zeit, dass unser geschätzter Leiharbeiter wieder nach Mississippi zurückkehrt.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, drehte sie mir den Rücken zu und stolzierte mit ihren Lakaien im Schlepptau davon. Und damit war der kleine Kompetenzstreit, von dem Waltz sich offenbar nicht beeindrucken ließ, beendet.

»Im Monolog des guten Lieutenants habe ich irgendwo das Wort Mittagessen aufgeschnappt«, meinte er. »Ein paar Blocks von hier gibt es ein ganz passables Restaurant. Sollen wir da mal vorbeischauen, Detective Ryder?«

*

Das Restaurant bestand eigentlich nur aus einer langen schmalen Theke und ein paar Tischen an einer Wand, die mit vergilbten Sardinienpostern zugekleistert war. Da ich keinen Hunger hatte, stocherte ich lustlos in meinem Salat herum. Waltz, der anscheinend ebenfalls unter Appetitlosigkeit litt, nahm einen kleinen Bissen von seinem Hühnchensandwich.

Auf Waltz’ Position in der Polizeihierarchie konnte ich mir keinen Reim machen. Er hatte den Dienstgrad eines Detectives, während Alice Folger, die Alpha-Lady, Lieutenant war. Waltz gegenüber gab sie sich recht barsch, obwohl sie augenscheinlich darauf achtete, ihn nicht zu sehr in die Enge zu treiben. Und ich hätte auch zu gern gewusst, wer Waltz die Befugnis gab, eine Ermittlung mehrere Stunden lang ruhen zu lassen, bis ich in New York gelandet war. Für so eine Aktion brauchte man außergewöhnliche Verbindungen.

Gerade als ich ihn das fragen wollte, schob Waltz sein kaum angerührtes Sandwich beiseite. »Lassen Sie uns mal annehmen, Dr. Prowse wähnte sich in Gefahr. Warum hat sie dann nicht beim NYPD um Schutz gebeten?« Er hielt inne. »Das legt den Schluss nahe, dass sie keine Angst hatte. Und dass sie mitten in der Nacht joggen gegangen ist, untermauert diese These.«

»Was ist mit der Videoaufzeichnung?«

»Wir wissen nicht, wann sie gemacht wurde. Oder aus welchem Grund. Haben Sie wirklich keine Ahnung, warum sie kurz vor ihrem Tod Ihren kompetenten Umgang mit Psychopathen erwähnt?«

Waltz’ Plauderton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich verhört wurde. Ich schaute schnell nach unten. Da wurde mir klar, dass so etwas immer verdächtig wirkt und einem als Unehrlichkeit ausgelegt werden kann. Also kratzte ich mich schnell am Knöchel und tat so, als wäre der Blick nach unten zielgerichtet gewesen.

»Ich tappe im Dunkeln. Genau wie Sie, Shelly.«

»Und Sie können sich nicht vorstellen, was ihr leidgetan hat? Oder was es mit diesem seriösen Etwas auf sich hat, das sie brauchte?«

Diesmal konnte ich ihm in die Augen schauen. »Auf all das kann ich mir keinen Reim machen.«

»Wie ist Ihr Werdegang, Detective Ryder … wenn ich das fragen darf?«

»Ich bin seit acht Jahren bei der Polizei, fünf davon bei der Mordkommission. Einen Monat lang habe ich an der FBI Behavioral Division studiert. Außerdem gehöre ich einer Sondereinheit an, die sich PSET nennt: Psycho- und Soziopathologisches Ermittlungsteam.«

»Klingt eindrucksvoll.«

»Ja, die Bezeichnung macht viel her, doch die Einheit, die von allen Piss-it genannt wird, besteht nur aus mir und meinem Partner Harry Nautilus. Wir werden schätzungsweise fünfmal pro Jahr gerufen. In den meisten Fällen handelt es sich um falschen Alarm, aber wenn wir die Ärmel hochkrempeln müssen, ist unsere Aufklärungsrate ganz ordentlich.«

»Wie hoch liegt sie?«

»Bei hundert Prozent. Trotzdem … wie meinte Ihr widerborstiger Lieutenant so treffend: Das hier ist New York. Sie müssen sich hier jeden Tag mit mehr Irren herumschlagen als die Polizei von Mobile in einem ganzen Jahr.«

Waltz schwenkte den Eistee in seinem Glas. »Dr. Prowse zufolge besitzen Sie eine ganz besondere Gabe, die sich bei Irren als Vorteil erweist. Sie nannte es eine gespenstische Gabe. Was hat es damit auf sich?«

Mit der Gabel spießte ich ein Blatt Römersalat auf. Da ich nicht lügen wollte, aber auch nicht mit der Wahrheit herausrücken konnte, bewegte ich mich auf dünnem Eis.

»Mein Hauptfach auf der Uni war Psychologie, Shelly. Ich habe mit weggesperrten Psycho- und Soziopathen Interviews geführt. Dr. Prowse war der Ansicht, ich hätte einen Draht zu ihnen und könnte sie dazu bewegen, aus der Deckung zu kommen. Das ist wahrscheinlich die Gabe, von der sie gesprochen hat.«

Ich spürte, dass Waltz sich fragte, ob ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, doch er wechselte das Thema. »Da ich noch nicht gewillt bin, auf Ihre Hilfe zu verzichten, habe ich mich an die gewandt, die etwas zu sagen haben, und sie überredet, dass Sie uns noch ein paar Tage unterstützen dürfen. Man kann ja nie wissen.«

Dass Waltz, ohne zu zögern, seine direkte Vorgesetzte überging, wunderte mich. »Klingt ganz so, als hätten Sie sich nicht an Lieutenant Folger, sondern an eine höhere Stelle gewandt.«

»Stimmt. Ich möchte jedoch anmerken, dass das weder als Kritik an ihrer Person noch an ihrer Qualifikation gemeint ist. Meines Erachtens ist sie mit ein paar Aspekten ihres Lebens unzufrieden, was sie manchmal etwas reizbar macht. Auf der anderen Seite ist der Lieutenant mit einem extrem analytischen Verstand gesegnet. Und falls man den Prophezeiungen trauen darf, landet sie irgendwann noch ganz oben.«

»Für ihr Alter besitzt sie ziemlich viel Autorität.«

»Folger ist zweiunddreißig und nimmt auf der Karriereleiter immer drei Stufen auf einmal. Nach ihrem Abschluss in Strafjustiz – sie war Klassenbeste und hat die höchsten Auszeichnungen erhalten – fing sie in Brooklyn als Streifenpolizistin an. Da hat sie ihren Verstand genutzt, Verbrechensmuster analysiert und realistische Lösungen vorgeschlagen, was Aufmerksamkeit erregte. Eine Weile lang hat sie undercover ermittelt, verdeckte Ermittlungen geleitet, Drogendealer gegeneinander ausgespielt und eine Hehlerorganisation auffliegen lassen, die landesweit operierte …«

»Dann war sie also alles andere als eine gewöhnliche Streifenpolizistin.« Auf einmal sah ich gewisse Parallelen zwischen mir und Alice Folger. Mein Aufstieg begann, als ich – noch in Uniform – ein bedeutendes Verbrechen aufklärte.

Waltz nickte. »Es hatte fast den Anschein, als müsste sie allen beweisen, wie kompetent sie war. Ein paar einflussreiche Leute sind auf sie aufmerksam geworden und haben sie an die hohen Tiere in One Police Plaza, dem Polizeipräsidium, weiterempfohlen. Dort hörte man auf ihre Förderer, beschleunigte ihren Aufstieg und schickte sie probeweise zu uns. Wir sind ein großes Revier, und unsere Ermittlungsteams kümmern sich um alles, angefangen von geisteskranken Stadtstreichern bis hin zu mordlüsternen Börsenmaklern. Also genau der richtige Ort für einen Detective, der ein paar Asse mehr im Ärmel hat als andere.«

Vielleicht trifft das auch auf Sie zu, Shelly, dachte ich.

»Ich bin doch auch Polizist. Weshalb traut Folger mir also nichts zu?«

»Johnny Folger, Alice’ verstorbener Vater, war beim NYPD. Seine drei Brüder ebenfalls. Einer starb am 11. September. Eine Tante arbeitet in der Asservatenkammer. Und das ist nur diese eine Generation. Davor …«

Ich hob abwehrend die Hand. »Ich hab’s kapiert, Shelly. Die Polizeiarbeit liegt ihr im Blut.«

»Oder sie legt sich so sehr ins Zeug, damit sich diese Gene endlich ausbilden.«

»Wie bitte?«

Er winkte ab. »Nichts. Ich war immer der Meinung, dass Familie mehr mit Gewohnheiten und Tradition als mit Blutsverwandtschaft zu tun hat, aber das ist Ansichtssache. Lange Rede, kurzer Sinn … Folger ist eine Partisanin und hält Sie für … für … ähm …« Waltz suchte nach dem richtigen Wort.

»Ein Landei«, beendete ich den Satz für ihn. »Einen Hinterwäldler, der keine Ahnung hat und nur stört, während die Profis richtig anpacken.«

Waltz’ Seufzer verriet Zustimmung. Ich schob meinen halb aufgegessenen Salat neben sein Sandwich, beugte mich vor und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

»Wie bin ich hier gelandet, Shelly? Sie wissen, worauf ich hinauswill. Warum kann ein Detective während einer laufenden Ermittlung auf die Pause-Taste drücken und das NYPD veranlassen, dass ich in Windeseile von Mobile nach New York geschafft werde?«

Waltz schien sich in seiner Haut unwohl zu fühlen. Er fuhr mit den Fingern über den Rand seines Glases. »Vor fünf Jahren ist die Tochter eines Stadtratsmitgliedes mit einem durchgeknallten Sektenanführer weggelaufen. Ich habe ihn in Alaska erwischt und die Kleine persönlich zurückgebracht. Ihre Deprogrammierung war erfolgreich, und niemand hat von diesem hässlichen Zwischenfall Wind bekommen.«

Ich schürzte die Lippen und atmete langsam aus. »Dann gibt Ihnen also ein dankbares Stadtratsmitglied Rückendeckung? Kein Wunder, dass Sie einfach so den Polizeichef anrufen können.«

Er zuckte mit den Achseln. »Der besagte Fall und ein paar andere Erfolge haben mir einen gewissen Ruf eingebracht. Ich befasse mich mit ähnlichen Fällen wie Ihr PSET und konnte Ergebnisse liefern. Von daher genieße ich Spielräume, die anderen nicht vergönnt sind, und kann etwas bewegen.«

Während ich über Shellys Einfluss nachdachte, fiel bei mir der Groschen. »Sind Sie einer der Förderer, die für Alice Folgers Aufstieg in die Oberliga verantwortlich waren?«

Er winkte ab, als wäre das überhaupt nichts Besonderes. »Ich habe ihr Talent erkannt und die entsprechenden Stellen darauf aufmerksam gemacht.«

Wenn mich nicht alles täuschte, hatte Shelly Folger auf die Probe gestellt, um zu sehen, ob sie es wirklich draufhatte oder nur eine Blenderin war. Nach der unterschwelligen Bewunderung zu urteilen, die in seiner Stimme mitschwang, hatte Folger seine Erwartungen erfüllt.

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte ich.

»Ich habe für Sie ein Zimmer in einem Hotel um die Ecke reserviert. Checken Sie ein und besorgen Sie, was Sie brauchen. Wir erstatten Ihnen die Kosten. Wenn Sie möchten, können Sie aufs Revier kommen. Wenn nicht, schicke ich Ihnen die Berichte ins Hotel. Vielleicht können Sie ja doch einen Beitrag leisten.«

»Und das ist alles?«

»So wollte es die Lady, und so machen wir es.«

So wollte es die Lady, dachte ich. Er sprach nicht von »Opfer«, was ihn mir sympathisch machte.

*

Waltz’ Angebot, mich ins Hotel zu fahren, schlug ich aus. Ich wollte den Kopf frei bekommen und ging deshalb lieber zu Fuß. Mit hochgezogenen Schultern lief ich durch den Nebel. Mich beschäftigten die Ereignisse, die mich und Dr. Evangeline Prowse zusammengeführt hatten, und die Folgen, die auf immer und ewig in meiner Seele nachhallten. Ereignisse, von denen ich Sheldon Waltz nicht erzählt hatte, nicht erzählen konnte.

Im Alabama Institute of Aberrational Behavior waren durchschnittlich etwa fünfzig geisteskranke Mörder und Mörderinnen untergebracht. Unter Dr. Prowse’ Leitung – sie hatte sich zeit ihres Lebens mit der Psycho- und Soziopathologie beschäftigt – war die Klinik zu einer der fortschrittlichsten Einrichtungen im Lande geworden. Es hieß, dass niemand, der zum Thema abnormale Psychologie promovierte, mehr als fünf Seiten schreiben konnte, ohne Vangie zu zitieren.

In einem ihrer Fälle hatte ein sechzehnjähriger Junge seinen gewalttätigen Vater ermordet, ihm mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt und ihn bei lebendigem Leib seziert, wobei das Opfer langsam und qualvoll verendete. Aufgrund der Brutalität, die der Mörder an den Tag gelegt hatte, kam die örtliche Polizei gar nicht auf die Idee, den intelligenten und sanftmütig wirkenden Jungen zu verdächtigen, und verhörte ihn nur ganz kurz.

Mehrere Jahre später wurden fünf Frauen auf bestialische und makabere Weise ermordet. Die Taten besaßen große Symbolkraft. Nach dem Fund des dritten verstümmelten Opfers leitete das FBI die Unterlagen des Falles an Vangie weiter. Beim Studium der bizarren und rituell anmutenden Tatorte stieß sie auf Anzeichen, die auf eine gepeinigte Kinderseele hindeuteten. Schließlich konzentrierte sich die Polizei auf einen sechsundzwanzigjährigen Mann, dessen Vater viele Jahre zuvor in den Wäldern umgekommen war. Der Verdächtige legte ein Geständnis ab, wurde für unzurechnungsfähig erklärt und auf Antrag von Dr. Prowse ins Alabama Institute of Aberrational Behavior überstellt.

Zu der Zeit, als der Mörder überführt wurde, besuchte ich das College. Dass Dr. Prowse und ich uns kennenlernten, war diesem Fall zuzuschreiben, und im Lauf der Jahre freundeten wir uns an. Das Opfer war mein Vater gewesen und der Mörder mein Bruder Jeremy.

*

»Jeremy, komm sofort zurück, du kleiner Feigling … hör auf zu flennen … ich werde gleich dafür sorgen, dass du Grund zum Flennen hast…«

»Nicht, Daddy, bitte nicht. Daddy …«

Obwohl mein Vater, Earl Eugene Ridgecliff, ein angesehener Bauingenieur war, litt er unter krankhaftem Jähzorn. Als Kinder lebten mein Bruder und ich in der ständigen Furcht, dass alles – ein Wort, ein Blick, eine falsch verstandene Geste – einen Wutausbruch von unvorstellbarem Ausmaß auslöste. In der Regel bekam mein sechs Jahre älterer Bruder den Zorn meines Vaters zu spüren und steckte Prügel ein. Noch heute wache ich nachts manchmal schweißgebadet in meinem Bett auf, weil mich die gellenden Schreie meines Bruders im Schlaf verfolgen.

»Hilf mir, Mama, hilf mir, Mama … Daddy will mich umbringen …«

Für das, was mein Bruder unserem Vater angetan hat, habe ich nie das Wort Mord in den Mund genommen. »Versuchte Erlösung« schien mir die treffendere Bezeichnung. Hätte man Jeremy damals überführt und verurteilt, wäre er heute vielleicht frei. Bestimmt hätte die Jury eingesehen, dass jemand, der solche Qualen erdulden musste, am Ende gar nicht anders konnte, als seinen Peiniger zu töten.

Doch die jahrelangen Misshandlungen waren wie eine Saat, die in meinem sanftmütigen Bruder aufging und ihn um den Verstand brachten. Selbst während wir in den Eichen unsere Forts bauten und wie Schiffe auf hoher See weiße Laken hissten, während wir in den langsam dahinplätschernden Bächen des Südens Welse angelten oder im Sommer im hochstehenden Gras lagen und die Wolken betrachteten, keimte diese Saat und bildete Ranken, die sich um seine Seele wanden und sie erstickten.

Meine Mutter, eine schöne und emotional labile Frau, war zwanzig Jahre alt, als sie meinem Vater begegnete. Er war achtzehn Jahre älter als sie und kam wegen eines Bauvorhabens in die Kleinstadt, in der sie lebte. Zwei Monate später waren sie verheiratet, und meine Mutter träumte von einem Leben wie im Märchen. Stattdessen fand sie sich in einem höllischen Alltag wieder, der ihre Vorstellungskraft so sehr überstieg, dass ihr nur eine Zuflucht blieb: Sie verzog sich in ihr Zimmer und frönte ihrem einzigen Können, der Anfertigung von Hochzeitskleidern aus wogenden, weißen Satin- und Tüllstoffen.

Die mutierende Saat in meinem Bruder ließ ihn glauben, unsere Mutter hätte in jenen grauenvollen Nächten, in denen unser Vater Schläge austeilte, eingreifen können. In Wahrheit hätte sie eher einer Flut Einhalt geboten.

»Die Alabama State Police hat heute die Ergreifung eines Mannes bekanntgegeben, der der bizarren und brutalen Ermordung von mindestens fünf Frauen verdächtigt wird …«

Mein Bruder war so sehr von der Komplizenschaft meiner Mutter überzeugt, dass er ein paar Jahre nachdem er unseren Vater beseitigt hatte, anfing, unsere Mutter zu töten. Das ist metaphorisch gemeint: Hätte er tatsächlich sie umgebracht, wäre ich zu Pflegeeltern gekommen, was er niemals zugelassen hätte. So behalf er sich und ermordete andere Frauen, um sein unergründliches Verlangen zu stillen.

Da ich mich für die Taten meines Bruders schämte, änderte ich meinen Namen, verschleierte meine persönliche Geschichte und weigerte mich, ihn zu besuchen.

Es war Vangie, die mich mit Jeremys Hilfe fand und überredete, eine Beziehung zu meinem Bruder aufzubauen. Und später hatten Jeremy und ich gelegentlich zusammengearbeitet – falls man es so nennen kann –, und er hatte mir mit seinen einzigartigen Einsichten geholfen, die Verbrechen zu verstehen. Sein Gespür für Geisteskranke war so feinkalibriert, dass er einmal geprahlt hatte, er könnte durch eine x-beliebige Shopping-Mall spazieren und ein halbes Dutzend Menschen herausfiltern, die »entweder davon überzeugt waren, dass Marsianer ihre Gedanken lasen, oder so finstere Ansichten hegten, dass sich selbst Torquemada übergeben müsste«.

Mein Bruder war nicht nur geisteskrank, sondern auch ein Geigerzähler für den Wahnsinn anderer.

KAPITEL 3

Das Empfangspersonal in dem Midtown-Hotel war über meine Ankunft informiert und behandelte mich äußerst zuvorkommend, obwohl meine Garderobe angeschmutzt war und meine Schuhe auf dem Marmorboden Abdrücke hinterließen. Man nannte mir ein nahe gelegenes Geschäft, wo ich eine Hose, drei Baumwollhemden, eine helle Sportjacke, ein Paar Laufschuhe, Unterwäsche und Socken erstand.

Kaum hatte ich das triste, ausschließlich in Schwarz, Grau und Grauweiß gehaltene Doppelzimmer in der dritten Etage betreten, schaltete ich den Fernseher ein. Ich brauchte dringend etwas Farbe im Raum und Ablenkung. Nach dem Duschen packte ich meine neuen Oberhemden aus, wusch sie im Handwaschbecken, damit die Falten und die Appretur herausgingen, und wrang sie aus, so gut es ging. In der kühlen Luft aus der Klimaanlage würden sie bis zum nächsten Morgen trocknen und konnten dann gebügelt werden. Mit den Unterhemden verfuhr ich ebenso.

Das Telefon läutete, und der Empfang informierte mich darüber, dass gerade ein Paket für mich abgegeben worden war. Ein kleiner Latino brachte mir den Umschlag aufs Zimmer. Links oben in der Ecke prangte der NYPD-Stempel. Das waren die Berichte, von denen Waltz gesprochen hatte. Wie er schon angedeutet hatte, ließ der Stand der Dinge zu wünschen übrig, doch das verwunderte angesichts der kurzen Dauer der Ermittlung nicht.

Der vorläufige Bericht der Spurensicherung, die Vangies Zimmer untersucht hatte, kam zu folgendem Ergebnis: keine Kampfspuren, kein Blut, keine erkennbaren Körperflüssigkeiten, keine Anzeichen, dass etwas geraubt oder der Raum durchsucht worden war. Vermerkt war auch, dass man in ihrem Schrank ausschließlich Freizeitbekleidung gefunden hatte, die etwa für eine Woche reichte und darauf hindeutete, dass ihre Reise nicht beruflich motiviert gewesen war.

Andererseits hatte Vangie Prowse mit einer Kamera ein Video gedreht, meine Erfahrung mit Serienmördern erwähnt und verkündet, sie hätte eine befremdliche Entscheidung getroffen und wäre »mit Dingen befasst, die nicht unbedingt sinnvoll erscheinen, aber ich brauche einen seriösen …«.

Vangie war nicht in der Lage gewesen, den Satz zu beenden. Sie brauchte einen seriösen was? Wieso befasste sie sich mit Dingen, die nicht unbedingt sinnvoll erschienen? Und als wäre die Botschaft nicht schon kryptisch genug, blickte sie auch noch in die Kamera und entschuldigte sich.

»Carson, es tut mir unendlich leid.«

Was zum Teufel hatte Vangie getan?

Ich lag auf dem Bett, starrte an die Decke und ließ mir diese Frage hundertmal durch den Kopf gehen, bis ich langsam eindöste und in einen unruhigen, schweißgebadeten Schlaf fiel.

Das Läuten des Telefons auf dem Nachttisch weckte mich. Ich ließ versehentlich den Hörer fallen, zog ihn an der Strippe hoch und presste ihn ans Ohr.

»Hmm?«

Waltz. »Wir haben eine Tote, Detective Ryder. Ziemlich schlimme Sache.«

»Kenne ich sie?«, murmelte ich, noch halb verschlafen.

»Mann, wachen Sie endlich auf, Detective. Nein, Sie kennen sie nicht. Gott, das hoffe ich jedenfalls. Ich bin am Tatort und schicke Ihnen einen Wagen. Warten Sie vor dem Hotel.«

»Äh, Waltz, hören Sie. Ich muss mich erst mal …«

Er hatte schon aufgelegt. Auf der Uhr war es zehn nach acht Uhr abends. Ich hatte zwei Stunden geschlafen. Da meine gewaschenen Hemden noch feucht waren, blieben mir nur die getragenen Klamotten, die nach Schweiß und Verzweiflung rochen. Beim Anziehen hielt ich die Luft an und stürmte dann nach draußen.

Das Tageslicht schwand schnell. Die tiefstehende Sonne färbte den Himmel bernsteinfarben. Der Großstadtlärm schallte durch die von Menschen geschaffenen Straßenschluchten. Gleich neben der Hoteltreppe wartete ein Streifenwagen neben dem Bürgersteig. Ich saß noch nicht richtig, da fädelte sich das Fahrzeug schon in den brausenden Verkehr ein. Ich drehte den Kopf zum Fahrer: Koslowski. Mein Geruch veranlasste ihn, die Nase zu rümpfen, mir einen Blick von der Seite zuzuwerfen und das Fenster herunterzukurbeln.

»Wo befindet sich der Tatort?«, brüllte ich gegen die eingeschaltete Sirene an. Der Verkehr bestand hauptsächlich aus Taxis. Koslowski, der davon ausging, dass die Taxis ihm Platz machten, nahm den Fuß nicht vom Gaspedal. Und so war es auch – alle anderen Fahrzeuge preschten zur Seite.

»SoHo. Wenn ich Sie nicht in fünf Minuten dort abliefere, macht Waltz mich zur Schnecke.«

»Das kann ich mir bei Waltz gar nicht vorstellen.«

»O doch, das tut er, und zwar ohne Worte. Was eigentlich noch schlimmer ist.«

»Er ist ein interessanter Typ«, sagte ich in der Hoffnung, mehr Informationen über den Detective mit dem traurigen Blick aus Koslowski herauszuholen. »Was halten Sie von ihm?«

Statt einer Antwort fuhr Koslowski vor ein italienisch anmutendes Backsteindoppelhaus, in dessen Vorgarten ein ZU-VERKAUFEN-Schild stand. Am Bordstein parkten ein Streifenwagen und ein ramponierter Geländewagen mit dem Schriftzug NYPD-SPURENSICHERUNG auf der Tür, daneben das Fahrzeug des Gerichtsmediziners. Ein blauweißer Streifenwagen blockierte zwei Spuren, um die Schaulustigen fernzuhalten. Das Flackern des eingeschalteten Blaulichts verlieh der Straße eine gespenstische Atmosphäre. Ich sprang aus dem Wagen und hetzte zu dem Haus.

»He, Dixie«, rief Koslowski.

Ich wirbelte herum. »Was?«

»Sie haben mich doch gefragt, was ich von Shelly Waltz halte.« Er legte einen Gang ein. »Wenn überall auf der Welt Nacht ist und alle schlafen, fliegt Shelly Waltz auf einem silbernen Einhorn durchs Universum.«

»Wie bitte?«

Doch da fuhr Koslowski schon mit einem Affenzahn davon, und ich sah nur noch seine roten Rückleuchten immer kleiner werden. Kopfschüttelnd betrat ich das Gebäude. Ein Mann und eine Frau vom Büro des Gerichtsmediziners standen hinter der Eingangstür und öffneten einen Koffer. Sie waren aschfahl und wirkten ziemlich mitgenommen. Die beiden wiesen mir den Weg zu einem Schlafzimmer ein Stück den Flur hinunter. Der Geruch von Blut drehte mir den Magen um.

Zögernd trat ich in den Raum. Wie in den auf die Straße hinausgehenden Zimmern gab es auch hier keine Möbel. Shelly stand mutterseelenallein neben einer verhüllten Gestalt, die in der Mitte des Zimmers auf dem Boden lag. Man konnte zusehen, wie sich das weiße Tuch langsam rot färbte. Waltz rieb sich mit den Handflächen die Augen.

»Was gibt es, Shelly?«

Er schüttelte den Kopf und hob das Tuch. Ein nackter Frauenkörper. Mit weit aufgerissenen Augen starrte mich der Kopf aus der Bauchhöhle an. Ihr Haupt war eingerahmt von Blut, Faszie und gelbem Fettgewebe, das herausgequollen war, als der Täter den Kopf in die klaffende Öffnung gesteckt hatte. Ich prägte mir das Grauen ein, zählte stumm bis fünf und schloss die Augen.

»Schöne Scheiße«, befand Waltz.

»Schlimmer geht’s kaum«, bestätigte ich.

Waltz ließ den Tuchzipfel fallen, was einen kleinen Windstoß verursachte und Haare vom Boden aufwirbelte. Genau wie bei Vangies Tatort waren sie von unterschiedlicher Farbe und Beschaffenheit. Als ich mich umschaute, entdeckte ich sie überall: auf dem Fliesenboden, in den gerinnenden Blutlachen, auf dem Fensterbrett.

Im Flur ertönten schwere Schritte und Folgers lautes Organ. Wir drehten die Köpfe.

»Waltz? Sind Sie da hinten?«

Lieutenant Folger und ihre beiden Spießgesellen vom Morgen gesellten sich mit finsteren Mienen zu uns. Ihre Begleiter waren der Koloss Bullard und Abel Cluff, ein kleinerer, älterer Mann mit Glupschaugen und spitzem Wieselgesicht. Cluff schnaufte schwer, als wäre er in den fünften Stock gerannt. In Wahrheit musste man nur fünf Stufen erklimmen, um von der offenen Veranda hierher zu gelangen. Beide Männer trugen dunkle Anzüge und weiße Hemden. Da Bullards dicke Handgelenke fünf Zentimeter aus den Jackettärmeln herausragten, sah es so aus, als wäre er noch gewachsen, seit er sich den Anzug zugelegt hatte.

Das an uns vorbeirauschende Trio wich den Blutlachen und -schlieren aus. Cluff beugte sich hinunter und hob das Tuch an, das den Leichnam verhüllte. Sein Blick verriet weder Überraschung noch Betroffenheit, woraus ich schloss, dass einen alten Hasen wie ihn nichts mehr schrecken konnte.

»Du meine Güte«, stöhnte Folger beim Anblick der Leiche. »Sagen Sie mir, dass ich träume, dass da draußen kein wahnsinniger Schlächter herumläuft.«

»Die Abtrennung des Kopfes könnte auf den Versuch einer Entpersonalisierung hindeuten«, versuchte ich mich nützlich zu machen. »Und indem der Täter ihn anschließend in den Bauch steckt, will er vielleicht seine Macht demonstrieren: Seht, wozu ich imstande bin. Oder es könnte …«

Folger wirbelte zu mir herum. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?« Sie holte Luft, verzog die Nase und versuchte, durch Wedeln ihrer Hand meine Ausdünstungen zu vertreiben. »Herrje, gibt es denn da unten, wo Sie leben, weder Seife noch Deo?«

»Ich habe Detective Ryder gerufen, Lieutenant«, sagte Waltz. »Bei seiner Erfahrung mit Geisteskranken dachte ich, er würde …«

»Er ist hier überflüssig«, meinte sie. »Setzen Sie ihn in einen Bus und schicken Sie ihn nach Hause.«

Bullard hielt seine Nase zu und lachte gurgelnd. »Vielleicht sollte man ihn vorher mit etwas einsprühen.«

»Haben Sie sich einen Überblick verschafft, Detective?«, fragte Waltz und warf mir einen Blick zu, der mir signalisierte, dass er wusste, dass dem nicht so war, er diesmal jedoch klein beigeben musste. Um den Frieden zu wahren, nickte ich, und wir gingen nach draußen. Inzwischen standen drei Streifenwagen, ein Krankenwagen, der Van von der Spurensicherung, ein Befehlskraftwagen als eine Art mobile Einsatzzentrale und Waltz’ verbeulter blauer Chevy Impala auf der Straße. Die Gegend war mit gelbem Absperrband gesichert. Cargyle, der Mitarbeiter des Technischen Dienstes, stürmte mit dem Handy am Ohr und einer schweren Schultertasche an uns vorbei.

»Sieht ganz so aus, als würden Ihre Leute jetzt so richtig loslegen, Shelly. Ich nehme mir besser ein Taxi und haue ab.«

»Eine Frage noch, Detective. Die Augen der beiden Opfer. Was halten Sie davon?«

»Sie spielen darauf an, dass sie offen sind?«, hakte ich nach. »Nicht geschlossen, zugedeckt oder verstümmelt?«

»Genau.«

»Er schämt sich nicht für das, was er tut, Shelly. Meiner Meinung nach erfüllt es ihn mit Stolz, wenn seine Opfer ihm bei der Arbeit zuschauen.«

Waltz nickte traurig und wurde so blass wie ein Mann, der vom Blitz getroffen wurde – was auch der Wahrheit entsprach, denn als ich mich umdrehte, sah ich ganz in der Nähe einen Fotografen mit Kamera und Blitzlicht.

Blitz.

»He, Detective Waltz, was ist da denn los? Wer ist das Opfer?«

Blitz. Blitz.

Ich sah blaue, durch die Luft schwirrende Quadrate. Waltz bedeutete einem Streifenpolizisten, den Fotografen fortzuschaffen. Der kleine Bursche mit den Plattfüßen entfernte sich, grinste über beide Ohren und hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass er sich geschlagen gab. Alles an dem Mann war rund – Gesicht, Bauch und Hintern.

Ich blickte zu Waltz hinüber. »Ein Vertreter der vierten Macht im Staat?«

»Dieses Stück wandelnde Scheiße ist der berüchtigte Benny Mac. Ein gefeierter Schmierfink vom New York Watcher. Das ist ein Blatt für Menschen, die nicht gern lesen. Und morgen sind wir auf der Titelseite, es sei denn, er findet etwas, was er für wichtiger hält, beispielsweise einen Promi, der betrunken Auto fährt. Oder eine Katze, die sich auf ein richtiges Klo setzt.«

Ich beobachtete, wie der Bursche die Straße überquerte und einen Arm hochriss wie ein Imperator, der dem Volk zuwinkt. Einen Straßenblock weiter unten sprang ein Motor an und ein in zweiter Reihe parkender Hummer raste zu Benny Mac. Der Journalist stieg ein, brüllte seinem Fahrer etwas zu, fuhr davon und grinste dabei süffisant aus dem Fenster.

KAPITEL 4

»Miiister Ryder? Zimmerservice. Ich bringe Ihnen das Frühstück.«

Die Stimme mit spanischem Akzent und das Türklopfen ertönten gleich neben meinem Ohr. Ich spürte etwas Hartes an meiner Nase, etwas Grobkörniges unter meiner Wange.

»Miiister Ryder?«

Schlagartig öffnete ich die Augen. Ich lag auf dem Boden neben der Tür, meine Nase auf den Holzdielen, die Wange auf dem Teppich. Gerade hatte ich noch geträumt.

»Eine Minute«, murmelte ich und richtete mich auf. »Bin gleich so weit.«

Zwischen Bett und Tür lagen Bettdecke, Laken und Kissen. Mehrmals pro Jahr quälten mich Träume, die so grauenvoll waren, dass ich im Schlaf versuchte, vor ihnen zu fliehen. Die Bilder, die mich heimsuchten, ähnelten sich stark: stöhnende Schatten, nur aus Zähnen bestehende Gesichter, ein hermetisch wirkendes Haus mit Fenstern, die sich nur weiter ins Haus hinein öffneten. Diese Träume hatten ihren Ursprung in meiner Kindheit.

Ich warf die Kissen und Decke aufs Bett, las das Laken auf, wickelte es um meinen nackten Körper und ging zur Tür. Falls die Dame vom Zimmerservice sich darüber wunderte, dass ihr ein Gast in einer Bettlaken-Toga öffnete, ließ sie sich das nicht anmerken. Ganz im Gegenteil – sie grinste, als würde sie mich kennen, griff nach der Zeitung auf ihrem Wagen und wedelte damit vor meiner Nase herum. »Is err.«

»Nein, danke.« Ich dachte, sie wollte mir die Zeitung geben. »Is err«, wiederholte sie, schlug die Zeitung auf und hielt sie mir vors Gesicht. »Is err berühmt.«

Ich schob die Zeitung weg und starrte die Frau an. »Wie bitte?«