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Man muss ein Dieb sein, um einen Dieb zu überführen. Und wie fasst man einen Serienmörder? Detective Carson Ryder hat auch hierfür gute Voraussetzungen: Sein Bruder sitzt als Frauenkiller hinter Gittern und versorgt ihn immer wieder mit wertvollem Insiderwissen. Doch diesmal scheint der Mörder schneller zu sein ...
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Seitenzahl: 487
Kurzbeschreibung: Man muss ein Dieb sein, um einen Dieb zu überführen. Und wie fasst man einen Serienmörder? Detective Carson Ryder hat auch hierfür gute Voraussetzungen: Sein Bruder sitzt als Frauenkiller hinter Gittern und versorgt ihn immer wieder mit wertvollem Insiderwissen. Doch diesmal scheint der Mörder schneller zu sein ...
Jack Kerley
Einer von hundert
Roman Ins Deutsche übertragen von Andree Hesse
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH
© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
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Copyright © 2021 by Jack Kerley
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency, München.
Covergestaltung: Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-384-7
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Für meine Eltern, Jack und Betty Kerley
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Epilog
Anmerkung des Autors
Ich habe mir die Freiheit genommen, die Beschreibungen von Schauplätzen, Orten sowie verschiedener Institutionen und Gesetzesorgane dem Wohle der Geschichte unterzuordnen. Außer der Naturschönheit der Stadt Mobile und ihrer Umgebung sollte alles als Werk der Fiktion betrachtet werden. Ähnlichkeiten zwischen Charakteren dieses Romans und realen Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Sekunden vor einem der am meisten herbeigesehnten Ereignisse in Alexander Caulfields Erwachsenenleben, einem Ereignis, auf das er Jahre hingearbeitet hatte, einem Ereignis, das seinen Eintritt in die Fachwelt, ein anständiges Gehalt und den Respekt seiner Kollegen bedeutete, begann sein linkes Auge zu zwinkern wie das eines Gigolos in einem drittklassigen italienischen Film.
Zuck
Caulfield fluchte innerlich. Als Arzt diagnostizierte er einen vorübergehenden, halbseitigen Gesichtsspasmus: Augenzucken oder -flattern als Reaktion auf Ereignisse, die Angst auslösen oder eine Bedrohung darstellen.
Zuck
Angst zu haben war lächerlich, belehrte er sich und drückte das lästige Auge zu. Als Assistenzarzt hatte er hunderte von Autopsien vorgenommen oder bei ihnen assistiert. Der einzige Unterschied lag darin, dass dies seine erste hauptverantwortliche Autopsie war. Sie saß nur fünf Meter weit weg.
Caulfield öffnete langsam sein Auge.
Zuck
Aus dem Augenwinkel schaute er hinüber zu Dr. Clair Peltier. Sie befand sich im Büro des Autopsiesaales und öffnete gerade einen Brief, der anscheinend ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Caulfield fühlte sich unzulänglich, unvorbereitet, zitterig. Heute waren routinemäßige Nachuntersuchungen und ein Treffen mit seinen neuen Kollegen im Büro des Gerichtsmedizinischen Instituts von Alabama in Mobile vorgesehen.
Dann hatte sie beiläufig vorgeschlagen, er sollte ihren Platz während der Untersuchung einnehmen.
Zuck
Caulfield fokussierte erneut die an der Decke angebrachte chirurgische Lampe. Auf dem Tisch lag die Leiche eines weißen Mannes in mittleren Jahren. Unter der Leiche rann Wasser, es klang, als würde ein kleiner Bach über Metall plätschern. Er schielte wieder hinüber zu Dr. Peltier: Sie studierte immer noch ihre Post. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, rückte zum dritten Mal seine Maske zurecht und betrachtete die Leiche. Würde ihm der Schnitt genau in der Mitte gelingen? Würde er gerade sein? Glatt? Würde er ihren Ansprüchen genügen?
Er holte tief Luft und zählte bis drei. Wie ein Vorhang öffnete sich der bläulich weiße Bauch zwischen Schambein und Brustbein. Sauber und gerade, eine Öffnung nach Lehrbuch.
Caulfield schaute wieder zu Dr. Peltier hinüber. Sie beobachtete ihn.
Zuck
Dr. Peltier lächelte und widmete sich wieder ihrer Post. Caulfield schob seine Angst in die hinterste Ecke seines Kopfes und konzentrierte sich auf die Untersuchung und Beurteilung der Organe. Seine Ergebnisse sprach er laut aus, ein Kassettenrekorder hielt sie für die spätere Abschrift der Berichte fest.
»Auf den ersten Blick scheint Größe und Stärke des Myokardgewebes normal zu sein. Zonen des Myokards in der linken Herzkammer lassen auf eine frühere Herzmuskelentzündung schließen ...«
Die vertrauten Anblicke und Worte ließen Caulfield sicherer werden; er bemerkte nicht einmal, wie das Zucken nachließ.
»... Leber fleckig, erste Anzeichen einer Zirrhose ... Nieren normal ...«
Nach einem Notruf war der Mann in seinem Vorgarten liegend gefunden worden. Obwohl die Rettungssanitäter, die einen Herzinfarkt vermuteten, alle Anstrengungen unternommen hatten, ihn wiederzubeleben, war der Mann bei seiner Ankunft im Universitätskrankenhaus tot gewesen. Caulfields erste Ergebnisse unterstützten die These eines massiven Herzinfarktes, das unbeschädigte Gewebe schien jedoch gesund und frei von Epikarditis und Arteriosklerose zu sein. Caulfield bewegte sich in der Öffnung weiter nach unten.
»Im Dickdarm ist eine Verstopfung festzustellen ...«
Caulfield kniff in den Klumpen im Gedärm. Hart und ebenmäßig, ein künstliches Objekt. Das war nicht ungewöhnlich, Notärzte hatten häufig mit Patienten zu tun, denen sie Vibratoren, Kerzen, Gemüse oder andere Gegenstände entfernen mussten. Auf der Suche nach sexueller Befriedigung waren die Menschen sehr einfallsreich.
»Vermittels einer Klinge Nummer zehn wurde ein zehn Zentimeter tiefer Schnitt durch die äußere Wand des Dickdarms vorgenommen ...«
Caulfield zog den Darm zurück, um die Ursache der Verstopfung freizulegen.
»Ein Gegenstand wird sichtbar, silbern und zylindrisch, ähnlich einem Taschenlampengehäuse ...«
Durch den Schlitz des Gedärms schimmerte feuchtes Metall, an einem Ende mit schwarzem Stoff umwickelt. Nein, nicht mit Stoff, sondern mit Isolierband. Caulfields Finger klopften vorsichtig auf das Gehäuse. Wie ein ungebetener Eindringling hatte der Gegenstand etwas Bedrohliches an sich.
Zuck
Er hörte, wie Dr. Peltiers Stuhl zurückgeschoben wurde und sich das Klackern ihrer hohen Absätze näherte. Sie musste seine Worte vernommen haben. Seine Finger glitten in die Öffnung und packten den Gegenstand. Vorsichtig zog er daran. Erst rutschte er leicht durch den Schlitz, dann blieb er hängen. Caulfield griff fester zu und zog kräftiger.
Zuck
Gleichzeitig: Ein weißer Blitz, ein dumpfer Knall. Caulfields Kopf wurde nach hinten geschleudert, er knallte mit dem Rücken auf den Boden. Roter Nebel und Rauch erfüllten die Luft. Der Schrei einer Frau drang durch das Tosen in seine Ohren. Über ihm schwenkte jemand einen stumpfen Stock, einen Knüppel.
Nein, das war kein Knüppel ...
Das Licht flackerte zweimal und erlosch.
Als der Bericht der Autopsie abgetippt wurde, war sich die Protokollantin Marie Manolo unsicher, ob sie die letzten sechs Worte von Dr. Caulfield vom Band übernehmen sollte. Von Dr. Peltier dazu ausgebildet, klinisch nüchtern und gründlich zu sein, schloss Marie kurz die Augen, holte tief Luft und fuhr dann mit dem Schreiben fort:
Meine Finger. Wo sind meine Finger?
»Eines Abends führt ein Typ seinen Hund Gassi ...«
Ich schaute zu, wie Harry Nautilus an einem Autopsietisch lehnte und einem Dutzend Zuhörer, die mit Servietten umwickelte Becher und Weingläser aus Plastik hielten, den »besten Witz auf Erden« erzählte. Die meisten Leute waren Beamte der Stadt Mobile und des Countys. Zwei waren Anwälte, selbstverständlich Vertreter der Anklage. Harry und ich waren die einzigen Cops. Ein Menge Würdenträger waren zugegen, vor allem im Empfangsbereich, wo die Hauptfeierlichkeiten anlässlich der Wiedereröffnung des Gerichtsmedizinischen Instituts stattfanden. Vor einer Stunde war feierlich das Band durchschnitten worden, ein goldenes Band, kein schwarzes, wie mehrere Witzbolde vorgeschlagen hatten.
»Was für ein Hund?«, wollte Arthur Peterson wissen. Peterson war stellvertretender Ankläger und seine Frage klang wie ein Einspruch vor Gericht.
»Eine Promenadenmischung«, brummte Harry und kniff angesichts der Unterbrechung ein Auge zusammen. »Ein Typ führt seine Promenadenmischung namens Fido Gassi, und da fällt ihm ein Typ auf, der auf allen vieren unter einer Straßenlaterne herumkrabbelt.«
Harry trank einen Schluck Bier, leckte Schaum von seinem Schnurrbart, der die Ausmaße einer Bulldozerschaufel hatte, und stellte seinen Becher ungefähr an die Stelle auf den Tisch, wo normalerweise der Kopf der Leiche lag.
»Der Typ mit dem Hund fragt den Mann, ob er was verloren hat. ›Ja‹, sagt der Mann, ›meine Kontaktlinse ist rausgefallen.‹ Der Typ bindet Fido an einen Telegrafenmasten und kniet sich auf den Boden, um zu helfen. Im Schein der Straßenlaterne suchen die beiden alles ab, jeden erleuchteten Winkel. Eine Viertelstunde später sagt der Hundebesitzer: ›Kumpel, ich kann deine Linse nirgendwo finden. Bist du sicher, dass sie hier herausgefallen ist?‹ ›Nein‹, meint der Mann, ›ich habe sie da drüben im Park verloren.‹ ›Im Park?‹, brüllt der Hundebesitzer. ›Warum zum Teufel suchen wir dann hier?‹«
Harry machte eine dramatische Pause.
»Der Mann zeigt auf die Straßenlaterne und sagt: ›Hier ist das Licht besser.‹«
Harry lachte, ein melodisches Trällern, das nicht zu einem Schwarzen mit der Statur eines Dampfkessels passen wollte. Sein Publikum kicherte höflich. Eine attraktive Rothaarige in einem marineblauen Hosenanzug runzelte die Stirn und sagte: »Verstehe ich nicht. Warum soll das der beste Witz auf Erden sein?«
»Weil er mythologischen Gehalt hat«, entgegnete Harry, wobei die rechte Hälfte seines Bartes interessiert zuckte, während die linke verächtlich hinabhing. »Vor die Wahl gestellt, mühsam im Dunkeln herumzustochern oder aber zu hoffen, einfach bei Licht fündig zu werden, entscheiden sich neunundneunzig von hundert Menschen für das Licht.«
Peterson hob eine anklägerische Augenbraue. »Und wer ist der eine von hundert, der immer im Dunkeln herumstochert?«
Harry grinste und zeigte in meine Richtung.
»Er«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf, kehrte Harry meinen Rücken zu und ging in den Empfangsbereich, wo es laut und voll war. Wie ein Haufen Mäuse wuselten lokale Wichtigtuer umher, buhlten um die Nähe von noch größeren Wichtigtuern oder sprangen vor jede Kamera eines Nachrichtensenders. Vor dem Buffet drängelten sich die Gäste in Dreierreihen. Ich sah, wie sich eine korpulente Frau in Abendgarderobe erst zwei Sandwiches in ihre Handtasche stopfte, bevor sie über die Fleischbällchen in Bratensoße herfiel. Ein paar Meter weiter plapperte ein kräftiger Bezirksabgeordneter zu einem Nachrichtenteam.
»... begrüße Sie alle zur Eröffnung der neuen Einrichtung ... eine der hervorragendsten des Landes ... ich bin stolz, für die Bewilligung der Mittel gestimmt zu haben ... die Tragödie Dr. Caulfields sollte uns ermahnen, stets wachsam zu sein ...«
Am anderen Ende des Saales sah ich Willet Lindy, stürzte mich in die brodelnde Masse und bahnte mir entschuldigend meinen Weg in seine Richtung. Eine Reporterin von Channel 14 starrte mich an und schnitt mir dann den Weg ab.
»Ich kenne Sie, oder?«, sagte sie und tippte mit einem scharlachrot lackierten, krallenartigen Fingernagel an ihre geschürzten Lippen. »Waren Sie nicht vor ein paar Monaten an einer irgendwie großen Sache beteiligt? Nein, sagen Sie nichts ...«
Ich wich ihr aus und ließ sie sich den Kopf über meine fünfzehn Minuten Ruhm zerbrechen. Willet Lindy lehnte an der Wand und nippte an einem Saft. Ich kämpfte mich aus dem Gewimmel und stellte mich neben ihn.
»Das ist ja wie bei Wal-Mart drei Tage vor Weihnachten, Will«, sagte ich, lockerte meine Krawatte und zuckte zusammen, als ich sah, dass etwas Dunkles auf mein Hemd getropft war. Dem gleichen kosmischen Gesetz folgend, das dafür sorgte, dass die gebutterte Seite eines Brotes immer nach unten fiel, war der Fleck unmöglich mit meinem Jackett zu verbergen. Lindy grinste und rutschte zur Seite, damit ich mich auch an die Wand lehnen konnte. Obwohl er mir mit dreiunddreißig nur vier Jahre voraus war, machte ihn sein gnomenhaftes Gesicht und der zurückgehende Haaransatz zehn Jahre älter. Lindy war für die nicht medizinischen Dinge des Instituts wie Wartung und Einkauf zuständig. Ich kannte ihn jetzt ungefähr ein Jahr, seit mich meine Stellung als Kriminalbeamter mit den Geheimnissen des Leichenschauhauses vertraut gemacht hatte.
»Hübsch renoviert der Laden«, sagte ich. »Sieht alles brandneu aus.« Lindy war kleiner als ich, einen Meter achtundsechzig oder siebzig, deshalb musste ich mich zu ihm hinabbeugen. Allerdings nicht viel; man sagte, dass ich schon natürlicherweise eine gebeugte Haltung habe. Wie eine große Puppe an lockeren Fäden.
Lindy nickte. »Abgesehen von den Schönheitsreparaturen haben wir einen Großteil der Technik ausgetauscht. Und wir haben ein paar komplette Neuerungen ...« Er zeigte auf einen fliegengroßen Punkt in einer Deckenplatte. »Überwachungskameras. Miniaturausgaben. Wenn so etwas wie bei Caulfield noch einmal passiert, kann das Bombenkommando den Tatort aus der Ferne untersuchen.«
Caulfield war ein unerfahrener Pathologe, dessen Hand von einer Bombe verstümmelt worden war, die einen Mann hatte töten sollen, der bereits tot gewesen war. Ein schrecklicher Vorfall, noch ungelöst. »Es sind nicht viele Polizisten hier, Will«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.
Lindy hob eine Augenbraue. »Der Polizeichef ist hier, ein paar Stellvertreter, ein oder zwei Captains.«
Ich meinte Cops, echte Polizisten, aber ich hatte nicht die Zeit und vielleicht auch nicht die Worte, um den Unterschied zu erklären. Wie aufs Stichwort kam Captain Terrence Squill vorbei, sah mich und kehrte um. Bisher hatten Squill und ich kaum ein Wort gewechselt; er war so weit oben auf der Leiter, dass ich mich schon anstrengen musste, um seine Schuhsohlen zu erkennen.
»Ryder, richtig? Was zum Teufel haben Sie hier verloren?« Er erblickte den Fleck auf meinem Hemd und rümpfte die Nase. Der Leiter der Kriminalabteilung war ein kompakter und gepflegter Mann, dessen geradlinige Züge und wässrige, feminine Augen an einen vierzigjährigen Orrin Hatch erinnerten. Der Knoten seiner Krawatte war so fest und symmetrisch, dass er aus Marmor gemeißelt zu sein schien. Ich hatte keine Ahnung von grauen Anzügen, vermutete aber, dass ich auf einen maßgeschneiderten schaute.
»Ich habe eine Einladung erhalten, deswegen dachte ich, ich komme vorbei und repräsentiere die Polizei, Sir.«
Er kam näher und senkte seine Stimme. »Das ist keine Angelegenheit für die unteren Ränge. Haben Sie irgendeinen Idioten in der Stadtverwaltung dazu gebracht, Ihren Namen auf die Gästeliste zu setzen? Oder haben Sie sich durch die Hintertür hereingeschlichen?«
Ich war erstaunt, wie viel Wut in seinem Blick lag, während sein Mund weiterhin lächelte. Jeder außer Hörweite hätte angenommen, wir plauderten über Fußball oder Angeln. »Ich schleiche mich nie ein«, sagte ich. »Wie gesagt, ich habe eine ...«
Lindy meldete sich zu Wort. »Entschuldigen Sie, Captain?«
»Was ist los, Mr Lindy?«
»Detective Ryder wurde von Dr. Peltier eingeladen. Sie hat auch seinen Partner eingeladen, Detective Nautilus.«
Squill schürzte die Lippen, als wollte er sprechen oder spucken, schüttelte den Kopf und verschwand in der Menge. Ich quittierte den Vorfall mit einem Achselzucken, sagte, dass ich mich bei Dr. Peltier für die Einladung bedanken wollte, und mischte mich wieder unter die Gäste.
Clair stand an der Tür zu ihrem Büro und sprach mit Alabamas Justizminister und seinem Stab. Ein schlichtes schwarzes Kleid hob ihre samtweiche Porzellanhaut hervor, und ich genoss den Anblick, wie sie ihr Publikum dominierte. Als eindrucksvolle vierundvierzigjährige Frau mit kurzem, anthrazitfarbenem Haar und eisblauen Augen hätten Dr. Clair Peltier, Leiterin der Mobiler Abteilung des Forensischen Instituts von Alabama, nur Speer und Helm gefehlt, um die Bühne bei einer Wagner-Oper für sich zu beanspruchen. Diese Wirkung wurde noch verstärkt durch ungefähr fünfzehn zusätzliche Pfund, die sie an ihren Schenkeln und Schultern trug. Nachdem der Generalstaatsanwalt und sein Gefolge davonmarschierten, ging ich zu ihr. Mit ihren hohen Absätzen war sie beinahe groß genug, dass unsere Augen auf einer Höhe waren.
»Will Lindy meinte, Sie seien der Grund, dass ich hier bin«, sagte ich und hob meinen Becher diesen unglaublichen Augen entgegen. »Danke.«
»Sie müssen sich nicht bedanken, Ryder. Die Gästeliste war voll mit Polizeiprominenz. Da wir Besuch von den Medien haben, hielt ich es für angemessen, dass ein paar Detectives anwesend sind. Sie und Detective Nautilus habe ich ausgewählt, weil Sie durch den Adrian-Fall vielleicht noch in Erinnerung sind.«
Von wegen Ehre, Carson Ryder und Harry Nautilus waren also die Alibi-Beamten auf der Gästeliste. Allerdings bezweifelte ich, dass wir noch in Erinnerung waren. Wie die Reaktion der Reporterin gezeigt hatte, hatte das Aktualitätsdenken der Medien den ein Jahr alten Fall irgendwo zwischen der Normannischen Eroberung und der Industriellen Revolution eingeordnet. Als ich mich trotzdem noch einmal bei Doc P bedanken wollte, stieß mich ein nach oben strebender junger Staatsanwalt zur Seite und stellte seiner kichernden Verlobten »einen der besten weiblichen Gerichtsmediziner vor«.
Ich ging davon und musste lächeln. »Einen der besten weiblichen Gerichtsmediziner ...« Wenn die beiden das nächste' Mal zusammenarbeiteten, würde Clair dem kleinen Arschloch die Hölle heiß machen.
Eine schwere, schwarze Hand drückte meine Schulter. Harry.
»Hast du dich unter die Menge gemischt, Amigo?«, fragte ich.
Er zwinkerte. »In einem solchen Haufen halb angesoffener Politikheinis und Möchtegerns kann man gar nicht umhin, ein bisschen Milch abzukriegen, Cars.«
Milch war Harrys Wort für interne Informationen, welche die Polizei oder ihre Einflussbereiche betrafen. Obwohl er selbst kein Taktiker war, liebte er Polizeitratsch und hatte immer mehr Milch parat als eine Ziegenherde. Er kam in Flüsternähe. »Gerüchten zufolge rollt und trollt sich Chief Hyrum nächsten Frühling, spätestens im Sommer.«
»Er nimmt Tanzstunden?« Manchmal amüsierte mich Harrys Lust an Reimen, manchmal irritierte sie mich. Heute herrschte Irritation vor.
»Vorzeitiger Ruhestand. Zwei Jahre früher.«
Ich war drei Jahre Streifenpolizist gewesen, seit einem Jahr war ich Detective. Obwohl mir das Dickicht der Polizeipolitik bekannt war, war es mir gleichgültig. Harry hatte die Machenschaften fünfzehn Jahre lang bis in die Molekularebene studiert. Ich bat um eine Übersetzung. Er hielt inne und setzte eine weise Miene auf.
»Machtspielchen, Carson. Sich selbst in den Vordergrund spielen, den anderen in den Rücken fallen und frei von der Leber lügen. Leute, die nichts anderes tun, als den ganzen Tag in den Sessel zu furzen, werden behandelt, als wären sie der heißeste Gaul im Stall.«
»Und wie viel Mist wird auf unseren Köpfen landen?«, wollte ich wissen.
Harry schaute finster auf sein leeres Glas und drängte in Richtung Bar, wobei sich die Menge teilte wie Wasser für einen schwarzen Moses in rosa Hosen und lila Hemd. »Mach dir nicht in die Hose, Bruder«, sagte er über die Schulter. »Wir sind viel zu weit unten auf der Leiter, um von dem Scheißeregen was abzukriegen.«
Mein Eistee bestand fast nur noch aus Eiswürfeln, ich kippte sie auf meine Finger und fuhr mir anschließend mit den Eisstückchen über mein schwitzendes Gesicht und den Nacken. Die kalte Erfrischung und die angenehme Säure des Tees waren eine Wohltat bei der nächtlichen Hitze. Ich seufzte auf angesichts solch kleiner Freuden und lehnte mich in meinem Liegestuhl zurück. In der feuchten Luft schwebte über mir der Mond, etwas größer als ein Halbmond, in seinem dunstigen Hof. Seit der Eröffnung der Leichenhalle waren Stunden vergangen, mit meinen nackten Füßen auf dem Geländer beobachtete ich die goldene Gasflamme der Bohrinsel drei Meilen weit draußen im Golf. Das Feuer auf dem dunklen Wasser schien so exotisch wie ein Papagei in einem kahlen Kiefernwald.
Ich lebe auf Dauphin Island, dreißig Meilen südlich von Mobile, einige davon Wasser. Nach den Maßstäben der Insel war mein Heim beschämend bescheiden, eine aus zwei Zimmern bestehende, auf Pfählen errichtete Hütte über dem Strand, die jeder Makler allerdings für vierhundert Riesen anbieten würde. Als meine Mutter drei Jahre zuvor gestorben war, hatte sie mir genug überlassen, um das Geschäft zu machen. Es war eine Zeit in meinem Leben, in der ich einen sicheren Zufluchtsort brauchte, und welcher Ort wäre dazu geeigneter gewesen als eine in der Luft hängende Kiste über einer Insel?
Das Telefon klingelte. Automatisch tastete ich erst dahin, wo Taschen wären, wenn ich angezogen gewesen wäre, dann nahm ich das Telefon vom Tisch. Es war Harry.
»Wir werden an einem Tatort verlangt. Könnte Piss-it’s Coming-out-Party werden.«
»Für einen Aprilscherz kommst du zwei Monate zu spät, Harry. Was ist wirklich los?«
»Unser Debütantenball, Partner. In der Stadt sucht eine Leiche nach ihrem Kopf.«
Harry und ich waren Detectives der Mordkommission in Mobiles erstem Distrikt, wir waren Partner. Durch die sinnlose Gewalt in jeder Stadt, in der die Armen zahlreich sind und zusammengepfercht leben, war unser Job ziemlich krisensicher. In dieser Welt verbrachten wir unseren Alltag, es sei denn ein Mordfall zeigte, laut jüngst überarbeiteten Vorschriften, »auffällige Hinweise auf psychopathologische oder soziopathologische Tendenzen«. Dann wurde, ungeachtet der Zuständigkeit, das Psychopathologische und Soziopathologische Ermittlungsteam – kurz PSET – eingeschaltet. Das gesamte PSET, innerhalb der Mordkommission als Piss-it bekannt, bestand allerdings lediglich aus Harry und mir sowie ein oder zwei Fachleuten, die wir bei Bedarf hinzuziehen durften. Obwohl das Team im Grunde nur ein Projekt der Öffentlichkeitsarbeit – und noch nie zum Einsatz gekommen – war, gab es einige in der Polizei, die nicht glücklich damit waren.
Zu denen gehörte im Moment auch ich.
»Komm so schnell her, wie du kannst«, sagte Harry und las mir die Adresse vor. »Ich warte draußen auf dich. Schalte Sirene und Blaulicht an. Mach dich schleunigst auf die Socken und trödel nicht herum.«
»Du willst also nicht, dass ich dir von unterwegs eine Tüte Milch und ein Brot mitbringe?«
Der Hörer wurde aufgelegt.
Ich sprang in die Jeans, zog ein halbwegs sauberes Hemd an und nahm ein cremefarbenes Leinenjackett von der Garderobe, um das Schulterhalfter zu verdecken. Ich stolperte die Stufen hinunter, stieg in den unmarkierten Taurus unter dem Haus und wirbelte einen Sprühregen aus Sand und zerbrochenen Muscheln auf. Das Blaulicht und die Sirenen blieben aus, bis ich den tintenschwarzen Sund des Mississippi überquert hatte, dann jagte ich die Lichtorgel hoch, schmiss das Gejaule an und legte das Gaspedal flach.
Die Leiche lag in einem kleinen Park am südwestlichen Rand von Mobile, zwei Hektar Eichen und Pekanbäume, eingerahmt von einem Viertel aus der Jahrhundertwende, das sich aus dem Stadium des Zerfalls zu einer noblen Gegend mauserte. Drei Streifenwagen mit Blaulicht standen vor dem Park, dazu ein Van der Spurensicherung. Zwei unmarkierte Wagen flankierten einen glänzenden schwarzen SUV I, den ich für Squills Gefährt hielt. Der allgegenwärtige Van eines Nachrichtensenders hatte seine ausgefahrene Antenne aufgestellt. Harry war zehn Meter davor und marschierte zum Parkeingang. Ich parkte am Bordstein, und als ich ausstieg, strahlte mir plötzlich überfallartig ein Kamerascheinwerfer in die Augen.
»Jetzt erinnere ich mich an Sie«, ertönte eine dunkel bekannte Stimme hinter dem grellen Licht. »Sie sind Carson Ryder. Sie hatten etwas mit dem Joel-Adrian-Fall zu tun, richtig?«
Ich blinzelte und erkannte die Reporterin von der Wiedereröffnung des Leichenschauhauses. Sie stand in der ganzen Pracht einer Fernsehjournalistin vor mir: mit Spray gefestigtes Haar und scharlachrote Krallen, die ein Mikrofon umklammerten wie ein Kondor einen Hasen. Ihre andere Hand packte meinen Bizeps. Sie hob das Mikro an ihre Lippen und starrte in die Kamera.
»Hier ist Sondra Farrel von Action Fourteen News. Ich stehe vor dem Bowderie Park, in dem eine kopflose Leiche gefunden worden ist. Neben mir steht Detective Carson Ryder von der ...«
Ich schaute finster in die Kamera und ließ eine Serie von Sehimpfworten in drei wirklichen und einer spontan erfundenen Sprache vom Stapel. Nichts hassen Reporter mehr als einen überfallartig eroberten Interviewpartner, der ausfällig wird. Die Reporterin schubste meinen Arm weg. »Scheiße«, sagte sie zu dem Kameramann. »Cut.«
Ich holte Harry vor dem Eingang des Parks ein, der von einem jungen Streifenpolizisten bewacht wurde. Er sah mich komisch an.
»Sie sind Carson Ryder, stimmt’s?«
Ich schaute zu Boden und brummte etwas, das als Ja oder Nein hätte durchgehen können. Als wir an ihm vorbeigingen, deutete der Cop auf seine Uniform und fragte Harry: »Wie komme ich hier so schnell raus wie Ryder?«
»Dann müssen Sie entweder verdammt gut oder verdammt verrückt sein«, rief Harry über die Schulter.
»Und was ist Ryder?«, wollte der junge Polizist wissen. »Gut oder verrückt?«
»Ein bisschen von beidem«, rief Harry. Und dann zu mir: »Beeilung.«
Die Techniker der Spurensicherung bauten Scheinwerfer auf, die genug Watt hatten, um einen Jumbojet einzuweisen, und richteten sie auf ein zwanzig Quadratmeter großes, mit mannshohen Büschen durchzogenes Areal aus. Bäume umgaben uns und verdeckten die meisten Sterne. Unter jedem Schritt lauerte Hundescheiße. Ungefähr acht Meter entfernt teilte ein gewundener Betonweg den Park in zwei Teile. Dort, wo der Park an die Straße mündete, versammelten sich immer mehr Schaulustige vor dem Zaun, darunter eine an einem Taschentuch nestelnde alte Frau, ein Händchen haltendes junges Paar und ein paar schweißtriefende, von einem Fuß auf den anderen hüpfende Jogger.
Innerhalb der abgesperrten Zone arbeiteten zwei Kriminalisten, einer kniete über dem Opfer, der andere stocherte am Wurzelwerk eines Baumes herum. Harry trottete hinüber zu den Schaulustigen, um nach Zeugen zu fragen. Ich blieb am gelben Absperrband stehen und betrachtete den Tatort aus vier Metern Entfernung. Wie ein Schlafender lag die Leiche flach ausgestreckt mit dem Rücken im Gras, die Beine leicht gespreizt, die Arme angelegt. In dem unbarmherzigen Licht, das die Farben zu hell und die Kanten zu scharf zeichnete, wirkte die Szene surreal: Der Mann schien unvollständig aus einer anderen Welt getrennt und in diese eingefügt worden zu sein. Er trug legere, einer Frühlingsnacht angemessene Kleidung: Jeans ohne Gürtel, graue Laufschuhe, weißes T-Shirt mit einem »Old Navy«-Logo. Das Hemd war bis zu den Brustwarzen hochgezogen, der Reißverschluss der Jeans geöffnet.
Über die Leiche gebeugt war der ranghöchste Beamte der Spurensicherung, Wayne Hembree. Schwarz, fünfunddreißig Jahre alt und dünn wie armer Leute Bruder hatte Hembree ein Mondgesicht und an den Seiten und am Hinterkopf hinabfallende Haarfransen. Er wippte zurück auf seine Absätze und warf die Haarwellen von seiner Schulter. Seine Stirn glänzte vor Schweiß.
»Ist es okay, wenn ich hier langgehe, Bree?«, rief ich und deutete auf eine Linie zwischen meinen Schuhen und der Leiche. Ich wollte nicht in irgendetwas Wichtiges treten. Ganz zu schweigen von der Hundescheiße. Hembree nickte und ich schlüpfte unter dem Absperrband hindurch.
Ich musste an die Worte eines alten Streifenpolizisten denken, der schon alles im Dschungel der Innenstadt gesehen hatte. »Einen Kopf ohne Leiche zu finden, ist unheimlich, Ryder«, hatte er mir einmal erzählt, »aber irgendwie hat das etwas Stimmiges. Eine Leiche ohne Kopf zu finden, ist gleichzeitig beängstigend und traurig – so ganz allein, weißt du?« Als ich auf die Leiche schaute, verstand ich, was er meinte. In den drei Jahren bei der Polizei von Mobile hatte ich Erschossene gesehen, Erstochene, Ertrunkene, bei Autounfällen Verstümmelte, eine Leiche, der die Gedärme herausquollen, aber noch nie eine Leiche ohne Kopf. Der alte Polizist hatte es getroffen: Diese Leiche war so allein wie der erste Tag der Schöpfung. Ich erschauderte und hoffte, dass es niemand sah.
»Ist er hier ermordet worden?«, fragte ich Hembree.
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich kann nur sagen, dass er enthauptet worden ist, wo er jetzt liegt. Vor zwei oder drei Stunden, glauben die Mediziner. Damit liegt die Todeszeit zwischen acht und zehn Uhr.«
»Wer hat es gemeldet?«
»Kinder, Teenager. Die hatten hier ihre Verabredung und ...«
Schritte hinter mir. Captain Squill und sein massiger, allgegenwärtiger Schatten, Sergeant Earl Burlew. Burlew kaute wie immer Papier. In seiner Tasche bewahrte er eine Seite des Mobile Register auf und steckte sich Schnipsel zwischen seine puppengroßen Lippen. Ich wollte schon immer mal fragen, ob es einen Unterschied zwischen den einzelnen Teilen gab, ob der Sportteil vielleicht mehr nach Wild schmeckte als der Leitartikel. Oder schmeckten alle Seiten nach Huhn? Aber wenn ich dann Burlews winzige, austernfarbene Augen sah, dachte ich mir immer, ich frage ihn lieber ein anderes Mal.
»Schauen Sie mal, wer hier ist, Captain«, sagte Burlew, »Folgers löslicher Detective. Nur Schlagzeilen dazugeben und umrühren.« Er wischte mit einer Hand über sein schwitzendes Gesicht. Burlews zentrierte Züge waren zu klein für seinen Kopf, für einen Augenblick verschwand er hinter seiner eigenen Hand.
»Rachemord unter Schwulen«, sagte Squill und schaute auf die Leiche. »Die hacken doch gerne, oder? Idealer Ort dafür, nachts ist im Park tote Hose. Das ist eine Yuppie-Gegend. Die Stadträtin Philips wohnt zwei Blocks weiter. Damit sie ihre Ruhe hat, fahren hier ständig Streifenwagen rum.«
Ich hatte schon gehört, dass Squill für jedes Publikum eine spezielle Redeweise auf Lager hatte. Wenn uniformierte Polizisten in der Nähe waren, redete er wie in einem Polizeifilm. Es war ernüchternd, dachte ich, dass ein ranghoher Polizist mit siebzehn Dienstjahren den Bullen spielte, anstatt einfach einer zu sein.
»... der Mörder haut dem Opfer auf die Nuss oder knallt ihm in die fresse. Der Täter zieht sein Messer und schneidet den Kopf ab.« Squill zeigte auf die Büsche um uns herum. »Unsub lädt ihn hier ab, damit die Leiche außer Sichtweite ist.«
Ich unterdrückte den inneren Zwang, meine Augen zu verdrehen. Unsub war die Kurzform für »unbekanntes Subjekt«, häufig benutzt von den Typen vom FBI. Unsub war FBI-Jargon.
»Er wurde hier getötet und geköpft?«, fragte ich.
»Haben Sie was an den Ohren, Ryder?«, meinte Squill.
Obwohl die Leiche teilweise unter einem Busch mit kleinen weißen Blüten lag, war sie nicht von Blütenblättern bedeckt. Direkt vor der Absperrung gab es die gleichen Büsche. Ich ging hinüber und ließ mich hineinfallen.
»Was macht der denn da für einen Scheiß?«, blaffte Squill.
Ich stand auf und beobachtete, wie die Blütenblätter von meinem Hemd rutschten. Hembree schaute von mir zur Leiche.
»Wenn das Opfer in die Büsche gefallen ist, müsste es mit Blüten bedeckt sein, aber ...« Er betrachtete die Leiche und den Boden. »Blüten liegen um die Leiche herum, aber nicht auf ihr. Der Täter hat die Zweige zur Seite gebogen, damit nichts auf die Leiche fällt. Vielleicht ist unser Freund hier in die Büsche gezogen worden.«
Ich schaute tiefer in die Vegetation hinein. »Oder herausgezogen.«
»Absurd«, sagte Squill. »Warum sollte die Leiche aus dem Versteck gezogen werden?«
Hembrees stämmiger Assistent holte eine Taschenlampe hervor und bückte sich unter die Büsche. »M al sehen, was da drinnen zu finden ist.«
Squill starrte mich zornig an. »Das Unsub hat dem Opfer hier aufgelauert und die Leiche unter dem Busch versteckt, Ryder. Und wenn nicht ein paar geile Teenies vorbeigekommen wären, dann wäre sie versteckt geblieben, bis sie zu stinken begonnen hätte.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Leiche versteckt worden ist«, erwiderte ich und legte meine hohlen Hände wie Scheuklappen an die Augen, um das Licht der Scheinwerfer abzublocken und durch Eichenzweige und spanisches Moos zu einer fünfzehn Meter entfernten, hellen Straßenlaterne zu schauen. Ich hockte mich neben die Leiche und sah die Straßenlaterne von den Zweigen eingerahmt.
»Können wir das Licht ausmachen?«, fragte ich.
Squill schlug sich theatralisch gegen den Kopf. »Nein, Ryder. Wir haben hier zu arbeiten und das können wir nicht mit weißen Kerzen und Blindenhunden.« In Erwartung beifälligen Gelächters schaute er zu den Uniformierten, aber sie starrten auf die Straßenlaterne.
»Wir können die Lichter danach ja wieder einschalten«, sagte Hembree.
Squill hatte keine Kontrolle über die Techniker, was er hasste. Er drehte sich um und flüsterte Burlew etwas zu. Ich war mir sicher, dass Squills Lippen das Wort Nigger formten.
Hembree wandte sich an einen Assistenten im Van der Spurensicherung. »Sag den Leuten in den Streifenwagen, sie sollen ihre Lichter ausmachen. Und dann schalte die Strahler ab.«
Unsere Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann sah ich, was ich vermutet hatte: Ein schmaler Strahl der Straßenlaterne schien durch die Zweige und zwischen zwei große Büsche und beleuchtete die Leiche wie ein Scheinwerfer.
»Sie ist nicht versteckt«, sagte Hembree und überprüfte die Blickwinkel. »Jedem, der auf dem Weg um die Kurve kommt, sticht sie direkt ins Auge. Mit dem weißen Hemd kann man sie gar nicht übersehen.«
»Spekulativer Schwachsinn«, meinte Squill.
Der Techniker, der durch die Büsche krabbelte, rief: »Hier sind frische Blutspuren. Bringt mir die Ausrüstung und eine Kamera.«
»Im Dunkeln abgelegt und dann ins Helle gezogen«, sagte Hembree und zwinkerte mir zu. Die uniformierten Beamten nickten zustimmend. Als die Scheinwerfer wieder angingen, waren Squill und Burlew verschwunden.
Ich vollführte ein Tänzchen wie an der Endzone beim Baseball, schlug einen unsichtbaren Ball und hob meine Hand, um mit Harry abzuklatschen. Er rammte seine Baseballhandschuhe in die Taschen, knurrte »Komm mit« und marschierte davon.
Harry Nautilus und ich hatten uns vor drei Jahren im Staatsgefängnis von Alabama kennen gelernt; als Besucher, nicht als Insassen. Ich war von Tuscaloosa hergefahren, um im Rahmen meiner Diplomarbeit in Psychologie ein paar Häftlinge zu interviewen. Harry war aus Mobile gekommen, um Informationen aus einem Insassen herauszuholen, dessen Halsschlagader leider ein paar Stunden vorher aufgeschlitzt worden war. Harrys Tag war verdorben gewesen. Er kam mir in einem engen Flur entgegen, unsere Ellbogen stießen aneinander, sein Kaffee wurde verschüttet. Er betrachtete meine Kleidung – Jeanshose und Jeansjacke, eine verspiegelte Sonnenbrille mit roter Fassung, ausgeblichene Baseballkappe über einem selbst zugefügten Haarschnitt – und fragte einen Wächter, wer diesen langen, dämlichen Dorftrottel aus seiner Zelle gelassen hatte. Ich hatte gerade zwei Stunden mit einem angeberischen Päderasten hinter mir und übertrug meine unterdrückte Aggression auf Harrys Nase. Zwei lachende Wächter brachten uns auseinander, als er mir an die Gurgel ging.
Danach starrten wir beide betreten zu Boden und kamen uns lächerlich vor. Aus hingenuschelten Entschuldigungen wurden Erklärungen, warum wir beide an diesem Tag im Gefängnis waren und was uns dazu gebracht hatte, das Temperament von missgestimmten Pitbulls anzunehmen. Die Dummheit machte einem Lachen Platz und wir beendeten den Tag mit ein paar Drinks an der Bar von Harrys Motel. Nach einigen Runden begann Harry Anekdoten aus dem Polizeialltag zu erzählen, die mich amüsierten und faszinierten. Ich konterte mit Erzählungen aus meinen jüngsten Interviews mit den herausragenden Psychopathen und Soziopathen des Südens.
Harry tat meine Interviews mit einer Handbewegung ab. »Hinter jeder Ausgeburt dieser kaputten Roboter steht ein Größenwahnsinniger, der sich gebauchpinselt fühlt, wenn er reden darf. Reporter, Seelenklempner, Studenten wie du – die Verrückten erzählen ihnen alles, was sie hören wollen. Für die ist es ein Spiel.«
»Kennen Sie den Albert-Mirell-Fall, Detective?«, fragte ich und bezog mich dabei auf den psychopathischen Pädophilen, mit dem ich die grausamen zwei Stunden verbracht hatte.
»Sein letzter Mord hat in Mobile stattgefunden, Studiosus, erinnerst du dich? Wenn du mit Mirell gesprochen hast, ist dir nur ein dämliches Grinsen und Schwachsinn aufgetischt worden. Richtig?«
Ich senkte meine Stimme und erzählte Harry, was mir Mirell offenbart hatte, während Speichel aus seinem Mund getropft war und er unter dem Tisch die Hände geknetet hatte. Harry beugte sich so weit vor, dass sich unsere Köpfe fast berührten. »Es gibt vielleicht zehn Leute auf der Welt, die von diesem Zeug wissen«, flüsterte er. »Was geht hier ab, Mann?«
»Ich schätze, ich habe Mirell einfach dazu gebracht zu reden«, sagte ich und tat so, als wäre das ein Kinderspiel gewesen.
Harry studierte ausgiebig mein Gesicht.
»Lass uns in Kontakt bleiben«, meinte er.
Damals lebte meine Mutter noch und ich war ein armer Student an der Universität von Alabama. Dennoch fuhr ich alle paar Wochen nach Mobile oder Harry machte sich auf den Weg nach Tuscaloosa. Wir bestellten uns Huhn und sprachen über seine sich auflösende Ehe oder mein schwindendes Interesse am Studium nach sechs Jahren und vier Studiengängen. Wir diskutierten Aspekte von Fällen, die ihm zu schaffen machten, oder sprachen über meine verrückteren Interviews. Manchmal saßen wir stumm da und hörten Blues oder Jazz, was auch in Ordnung war. Das ging etwa drei Monate so. Eines Abends bemerkte Harry, dass meine Mahlzeiten zu Hause für gewöhnlich aus Bohnen und Reis bestanden und dass ich unter den Sofakissen nach Kleingeld suchen musste, wenn ich irgendwo ein Bier trinken wollte.
»Der Lehrbetrieb ist nicht gerade eine hoch bezahlte Branche, oder?«, fragte er.
»Im Grunde eine Branche ohne Bezahlung«, korrigierte ich ihn. »Aber woanders gibt es auch keine freien Stellen.«
»Vielleicht wirst du eines Tages ein berühmter Seelenklempner, Carson Freud, und kutschierst mit einem dicken, alten Benz herum.«
»Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass ich auf einer Bohrinsel mit den Rohren herumkutschiere«, sagte ich. »Warum?«
»Ich denke, du würdest einen guten Polizisten abgeben«, sagte Harry.
Zehn Minuten nachdem wir den Park verlassen hatten, folgte ich Harry an einen hinteren Tisch in der Cake’s Lounge, eine dunkle Spelunke für Heruntergekommene, eingezwängt zwischen Fabriken und Lagerhäusern nahe der Bucht. An der Theke tranken ein paar abgerissene Einzelgänger, ein paar andere hockten an Tischen. Zwei taumelnde Männer spielten Pool.
»Warum hier, warum gehen wir nicht ins Flanagan’s?«, fragte ich und rümpfte die Nase. Im Cake’s stank es, als wäre die Luft seit einer Dekade nicht ausgewechselt worden, das Flanagan’s dagegen servierte billige Drinks und eine anständige Gumbo und zog eine Menge Cops an.
»Squill könnte dort sein, und über Squill müssen wir reden. Das war ein dämlicher Taschenspielertrick mit den Blumen und den Lichtern. Warum wolltest du ihn vor allen anderen übertrumpfen?«
»Ich wollte niemanden übertrumpfen, Harry, ich habe ermittelt. Wir haben einen Kerl ohne Kopf und Squill wollte den großen Macker markieren. Was hätte ich tun sollen?«
»Vielleicht nicht so ein Theater veranstalten, sondern Squill die Dinge so unterbreiten, dass er glaubt, es wäre seine Idee gewesen. Wofür hast du eigen dich Psychologie studiert?«
»Ideen in Squills Kopf zu beamen wäre Parapsychologie, Harry, eines der wenigen Fächer, in denen ich nie eingeschrieben war.«
Harry kniff ein Auge zusammen. »Squill ist ein machtbesessener Hai, Carson. Wenn du dir ihn zum Feind machst, wird von dir nichts übrig bleiben als ein roter Fleck auf dem Wasser.«
Ich stellte eine Frage, die mir jetzt schon seit fast einem Jahr durch den Kopf ging. »Wie wird so ein Schleimscheißer wie Squill überhaupt Leiter der Kriminalabteilung?«
Mittlerweile weiß ich, dass ich mich mal wieder begriffsstutzig anstelle, wenn Harry die Hände vors Gesicht schlägt. »Carson, du bist wirklich wunderbar, mein unschuldiger Engel. Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«
»Pervertierte Quotenregelung?«
»Du, Carson. Du hast Captain Terrence Squill dahin gebracht, wo er heute ist.«
Harry stand auf und nahm die Flaschen vom Tisch. »Ich besorg uns noch eine neue Runde und dann werde ich dir eine kleine Geschichtsstunde geben, Bruder. Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen.«
Mit zwei klirrenden Flaschen in der Hand begann Harry seinen Vortrag schon auf dem Rückweg von der Theke. »Jahrelang war Squill ein sesselfurzender Lieutenant der Abteilung Eigentumsdelikte, ein Bürohengst mit einem Talent: Öffentlichkeitsarbeit. Er hielt Vorträge bei Nachbarschaftstreffen, Eröffnungen von Einkaufszentren oder Kirchenfeiern ...«Harry stellte die Bierflaschen auf den Tisch und setzte sich. »Er verfeinerte seinen Stil, bis er als Pressesprecher der Polizei von Mobile in die Bresche sprang. Für die meisten Leute ist das eine Sackgasse.«
Ich nickte. »Man setzt die Vorgesetzten ins rechte Licht, wodurch sie sich gerne angepisst fühlen.« An der Universität hatte ich einige Assistentenkarrieren erlebt, die durch akademische Eifersucht abgeschossen worden waren.
»Nicht so bei Squill. Das Arschloch wusste genau, wann er sich bei den Oberen einschleimen musste. Wenn eine Ermittlung schief gelaufen war und die hohen Tiere sich verstecken wollten, begab sich Squill ins Zentrum der Aufmerksamkeit und zog das Feuer auf sich.«
»Squill?«, sagte ich. »Der ist in die Schusslinie gesprungen?«
»Die Medien haben ihn geliebt, er hat ihnen immer was geboten: Reuig, angepisst, bewegt – was eben gerade nötig war. ›Captain sagt, die ungerechtfertigte Verhaftung macht die Mobiler Polizei sehr betroffen, Abendnachrichten‹ ... ›Hochrangiger Polizist beschimpft die Kritiker von der Amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ACLU als törichte Heulsusen, Artikel auf Seite vier‹, und so weiter und so fort.«
Harry nahm ein Streichholzheftchen aus dem Aschenbecher und spielte damit herum. »Dann begann Joel Adrian seine Mordserie. Tessa Ramirez. Jimmy Narley. Nach dem Tod der Porters bauschte sich der Fall auf. Aber die Ermittlung verlief ergebnislos. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es war ...«
»Wer hat denn Tessa entdeckt, Harry? Wer stand in dem von Ratten wimmelnden Abwasserkanal und hat auf ihre Leiche geschaut?«
Harry schüttelte den Kopf. »So meine ich das nicht, Bruder. Ich rede hier über Politik. Die Rücktrittsforderungen. Der Polizeichef mit Schimpf und Schande aus einem Winn-Dixie-Supermarkt vertrieben. Die Medien haben uns durch den Fleischwolf gedreht. Jeder hat die Schuld einem anderen zugeschoben und plötzlich taucht dieser verrückte Streifenpolizist auf – Kid Carson.«
»Ich hatte ein paar Ideen. Du hast dich eingeschaltet.«
»Sie haben uns dafür mit Füßen getreten«, sagte Harry. »Bis es keine andere Möglichkeit mehr gab.«
Die Schluckspechte am Pooltisch begannen in ihrem Suff einen Streit über die Frage, wo die weiße Kugel liegen sollte. Für ein paar Augenblicke beobachteten wir die beiden.
»Ich hatte Glück, Harry. Mehr nicht.«
Er kniff ein Auge zusammen. »Glück kann auch bedeuten, dass man weiß, wo man suchen muss, stimmt’s?«
Das traf mich unvorbereitet. »Was meinst du?«
»So als wenn man nicht nur einfach eine Karte zieht, sondern auch weiß, wer gegeben hat.«
»Nein. Es war wahrscheinlich nur Intuition, ich weiß nicht ...«
Harry starrte mich einen Moment neugierig an, dann ging er nicht weiter auf meine Ausflucht ein. »Nachdem du mit deiner unorthodoxen Theorie ankamst und den Fall geknackt hast, ging das Hauen und Stechen los. Jeder versuchte Streifenpolizist Ryders Lone-Ranger-Heldentat als persönlichen Gewinn zu verbuchen. Und wer konnte das am besten?«
»Squill?«
Harry riss ein Streichholz aus dem Heftehen und betrachtete es. »Während der ganzen Tortur hat er dafür gesorgt, dass die Pipeline der Medien nicht austrocknet, und danach hat er begonnen, reinstes Öl in seine eigenen Tanks zu schöpfen. Ist dir schon mal aufgefallen, wie schnell dein Heldenruhm verblasst ist?«
Ich rief mir die Ereignisse ins Gedächtnis. Zwei Tage lang war ich der Mann, der den verrückten Adrian gestoppt hatte. Am dritten Tag war es der Triumph der Polizeiführung und ich ein Faktotum. Am fünften Tag war ich ein falsch geschriebener Name am Ende eines kurzen Artikels. Harry sagte: »Squills Gesetz: Nach oben buckeln, nach unten treten. Er hat dich vom Pferd geschubst, damit die hohen Tiere es reiten konnten, unter anderem er selbst. Er ritt den Gaul bis auf den Chefsessel der Kriminalabteilung.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Dann wurde ich eben ein bisschen verarscht. Aber als sich der Rauch gelegt hatte, war ich Detective. Ich kann mich nicht beschweren.«
Der Streit am Pooltisch wurde hitziger. Einer der Männer legte die Kugel zurecht und der andere schlug sie weg. Harry verdrehte die Augen angesichts des Pennerduos und entzündete das Streichholz, nur um es brennen zu sehen. Die Flamme gab seinem Gesicht eine goldene Farbe.
»Du bist mit der Beförderung zum Detective belohnt worden. Aber Squill hat bekommen, worauf er seit Jahren aus war: einen Platz am großen Tisch. Und du hast ihn dahin gebracht, Cars.«
Ich runzelte die Stirn. »I ch verstehe das Problem nicht.«
»Du verstehst nicht, worum es geht. Squill möchte sich gerne als Mann sehen, der sich aus eigenen Kräften hochgearbeitet hat. Aber wenn er dich sieht ...« Harry riss zischend das Streichholz nach unten. »... dann bricht sein Kartenhaus zusammen.«
»Er kann mich einfach ignorieren.«
»Das tut er auch. Ein Jahr lang warst du nichts als ein Name auf dem Dienstplan. Und PSET bestand nur auf dem Papier. Aber wenn PSET eingeschaltet wird ...«
Ich führte seinen Gedankengang fort: Indem PSET eingeschaltet worden war, standen Harry und ich im Rampenlicht. Wir würden das Vorgehen koordinieren, die Berichte unterschreiben und uns mit den hohen Tieren treffen.
»Okay, ich bin wieder an der Front, vor seinen Augen.«
Harry schnippte das ausgehende Streichholz in den Aschenbecher. »Genau. Nur betrachte es mal von seinem Standpunkt aus.«
Der Streit am Pooltisch wurde unschön. Einer der Männer unterstrich sein Argument, indem er sein Queue an das Ohr des anderen schnellen ließ. Der Getroffene fiel hin, presste die Hand auf sein Ohr und stöhnte. Der Barkeeper betrachtete das Paar und schaute dann Harry an. »Sie sind doch Polizist. Wollen Sie nichts dagegen unternehmen?«
Harry legte seine große Faust an die Stirn und öffnete und schloss sie ein paarmal.
»Was soll das denn?«, fragte der Barkeeper.
»Mein Außer-Dienst-Licht.«
Wir standen auf und gingen draußen in der schwülen Nacht zu unseren Wagen.
»Danke für die Geschichtsstunde, Professor Nautilus«, sagte ich.
»Schreib’s dir hinter die Ohren, Angeber«, entgegnete Harry.
Ich fuhr langsam mit heruntergekurbelten Fenstern nach Dauphin Island und ließ die nächtlichen Gerüche des Sumpfes und des Salzwassers meine Gedanken durchspülen wie eine reinigende Flut, doch der kopflose Mann tauchte immer wieder an die Oberfläche. Zu Hause angekommen zündete ich ein paar Kerzen an, setzte mich im Schneidersitz auf mein Sofa und machte die Atemübungen, die mir Akini Tabreese, ein guter Freund, der die Kunst fernöstlicher Kampftechniken beherrschte, empfohlen hatte. Akini machte eine Menge Atemübungen, bevor er heuballengroße Eisblöcke mit seiner Stirn zertrümmerte. Ich würde ein bisschen Luft holen und den Vorschlaghammer nehmen.
Nähere dich dem Tatort ... instruierte ich meine mit Sauerstoff erfüllten Gedanken. Betrachte den Park.
Beim Ein- und Ausatmen verflog meine Wut über Squill und Burlew und ich stellte mir vor, was der Mörder sah, als er dem Opfer begegnete, vielleicht auf dem gewundenen Weg. Da die Straßenlaterne so nah ist, verschwinden sie in den Büschen. Hier schien Squill Recht zu haben, Sex war der Köder, wenn nicht das Motiv. Das Opfer stirbt, vielleicht durch einen Schuss oder einen harten Schlag. Wenn es dem Mörder allein um den Kopf gegangen wäre, dann hätte er ihn verborgen im Dunkeln entfernen können, die Klinge hätte schnell ihre Aufgabe erledigt. Aber unerklärlicherweise zieht der Mörder die Leiche in den Schein der Straßenlaterne und verstreut dadurch die Blütenblätter. Er kniet nieder, führt seine groteske Operation durch und verschwindet.
Im Geiste spielte ich die Szene wiederholt durch, bis um 2:45 Uhr das Telefon klingelte. Ich dachte, es wäre Harry. Auch er würde sich Gedanken über die Tat machen, in einem erleuchteten Zimmer, »Jazz zum Nachdenken« auf dem Plattenteller, vielleicht Thelonius Monk, die Soloaufnahmen, bei denen er durch die Lautsprecher zu brechen schien und allein dem spröden Strom der Musik folgte.
Anstatt Harry hörte ich die bebende Stimme einer alten Frau. »Hallo? Hallo? Wer ist da? Ist da jemand?« Dann plötzlich, als wären Jahre von der Stimme abgefallen, hörte ich die Stimme einer Frau Mitte dreißig, die Stimme meiner Mutter.
»Carson? Ich bin’s, Mommy. Bist du hungrig? Soll ich etwas zu essen machen? Ein leckeres Velveeta Sandwich? Ein paar Kekse? Oder wie wäre es mit EINER GROSSEN SCHÜSSEL VERFICKTER SPUCKE?«
Nein, dachte ich, das kann doch nicht sein. Das ist ein Albtraum, wach auf.
»CARSON!« Die Stimme kreischte und war nicht mehr weiblich. »Sprich mit mir, Bruder. Ich muss ein bisschen von der GUTEN ALTEN FAMILIENWÄRME spüren!«
Ich schloss meine Augen und sank gegen die Wand. Wie konnte er nach draußen telefonieren? Das war nicht erlaubt.
Der Anrufer schlug den Hörer gegen etwas Hartes und schrie. »Kommt es dir UNGELEGEN, Bruder? Ist eine FRAU bei dir? Ist sie GEIL? Ich höre es, wenn sie geil werden, sie fangen an zu TROPFEN. Hey, Kumpels, ich möchte euch meine Eroberung vorstellen, die Johnstown-Flut. ZIEHT STIEFEL AN, WENN IHR SIE FICKT!«
»Jeremy«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu dem Anrufer.
»Es gab da mal ein Mädchen aus NANTUCKET, du musstest jedes Mal Stiefel tragen, wenn du sie GEFICKT HAST ...«
»Jeremy, verdammt noch mal ...«
»Aber die Männer in der Stadt sind einer nach dem anderen ertrunken in dem Gift, das wie aus KÜBELN aus ihr heraustropfte!« Er wechselte wieder in den besorgten Tonfall meiner Mutter. »Alles in Ordnung, Carson, Mommy ist hier. Du hast deine Spucke noch nicht aufgegessen. Ist sie zu kalt? Soll ich sie dir aufwärmen?« Er machte ein schnarrendes Geräusch.
»Jeremy, würdest du bitte aufhören ...«
Im Hintergrund hörte ich eine Tür aufgehen, gefolgt von einem Gerangel und dem Fluchen eines Mannes. Mein Anrufer schrie. »NEIN! GEH WEG. Das ist ein PRIVATER ANRUF! Ich spreche gerade mit MEINER VERGANGENHEIT!«
Auf ein lautes Krachen folgte ein Scharren, als wenn das Telefon fallen gelassen und dann über den Boden getreten wurde. Brummend und fluchend gesellten sich weitere Stimmen hinzu, Kampfgeräusche. Während ich in meinem kühlen Zimmer stand und atemlos zuhörte, lief Schweiß von meinen Achseln hinab.
Seine Worte kamen jetzt aus der Ferne, und ich stellte mir Männer in Weiß vor, die ihn über den Boden schleiften. »DER MORD, CARSON! Erzähl mir davon. Es muss mehr dahinter stecken als ein FEHLENDER KOPF, es steckt immer mehr dahinter. Hat er auch die SCHWÄNZE abgeschnitten? Hat er WÜRSTE IN IHREN ARSCH GERAMMT BIS SIE AUS DEM HALS HERVORSCHOSSEN? Ruf mich an! Du BRAUUUCHST MICH WIEDER ...«
Erneut Geräusche eines Gerangels. Dann nichts mehr.
Das Studio von Channel 14 in Montgomery musste die Geschichte von der Enthauptung im Park in den Spätnachrichten gebracht haben. Fernsehen war ein rarer Luxus, der Jeremy erlaubt war, und er wird den Beitrag mit gelehrter Aufmerksamkeit verfolgt haben. Ich blies die Kerzen aus, legte mich auf das Sofa und verbarg mein Gesicht in einem Kissen. Der Schlaf, als er endlich kam, war federleicht und durchzogen von Ratten und dem Geruch verbrannter Seide.
Gleich nach Tagesanbruch klingelte mein Wecker. Benommen stolperte ich in den Golf und schwamm geradewegs eine halbe Meile in die Wellen hinaus, drehte dann um und quälte mich zurück. Anschließend lief ich vier Meilen am Strand entlang, wonach ich schweißgebadet und von Wadenkrämpfen geplagt war. Nach verbissenem, beinahe wütendem Training mit den Hanteln begann ich die Ereignisse klarer zu sehen und schrieb Jeremys Anruf als Verwirrung ab; beängstigend einfallsreich hatte er sich irgendwie Zugang zu einem Telefon verschafft.
Aber hatte ich nicht gehört, wie es ihm weggenommen worden war? Es würde nicht noch einmal passieren, die Sache war vorbei.
Ich duschte und frühstückte Andouille mit geraspeltem Käse. Meine Laune besserte sich und ich fuhr zur Arbeit. Harry warf eine Münze, die Rückseite brachte mir den Autopsiedienst ein. Da ich vor der Sezierung noch etwas Zeit hatte, ging ich in die Büros der Spurensicherung, eine Mischung aus Computerladen und Labor. Zwei Techniker in weißen Kitteln untersuchten den Schwimmer einer Toilettenspülung, als wäre es der heilige Gral. Ein anderer klopfte mit einem Bleistift gegen ein Glas voller krabbelnder Käfer. Hembree saß Kaffee schlürfend neben einem Mikroskop.
»Wir haben einen Treffer bei den Fingerabdrücken des Geköpften«, sagte er und nahm ein Blatt Papier.
Ich machte einen Trommelwirbel mit meiner Zunge. »Und der Gewinner ist?«
Hembree imitierte einen Tusch. »Ein Jerrold Eltern Nelson, auch bekannt als L’il Jerry, auch bekannt als Jerry Elton, auch bekannt als Nelson Gerald oder Elton Jelson.«
»Eine lange Liste von Decknamen.«
»Und eine peinliche Liste an Vorstrafen«, sagte er und las von dem Blatt ab. »Fünfundzwanzig Jahre alt. Augen und Haare sind blau beziehungsweise braun, wo immer sie jetzt auch sein mögen. Verurteilungen in Stadt und County wegen solcher Bagatellen wie Ladendiebstahl, Prostitution, Besitz von Diebesgut sowie Besitz von ein paar Joints. Im März hat ihn eine Frau angezeigt, weil sie ihm elf Riesen geliehen und er sie nicht zurückgezahlt hat, die Anzeige wurde später zurückgezogen.«
»Stricher und gleichzeitig betrügerischer Gigolo? Scheint nach beiden Seiten offen zu sein«, erwiderte ich und wandte mich ab. Obwohl die Autopsie erst in einer Stunde war, wollte ich sofort in die Gerichtsmedizin fahren.
»Ach, was ich fast vergessen hätte«, sagte Hembree, als ich schon halb aus der Tür war. »Das Ding gestern Nacht mit den Blüten und der Straßenlaterne war genial, Carson, das hat Sherlock alle Ehre gemacht. Squill ist so hochnäsig, dass er nur noch den Himmel sieht und dabei gegen jede Wand rennt. Hat mir gefallen, wie du ihm das klar gemacht hast.«
Der Empfangstisch des Gerichtsmedizinischen Instituts war nicht besetzt und meine Schritte auf dem Flur veranlassten Will Lindy, an die Tür seines Büros zu kommen. Das neue Institut war offiziell erst seit ein paar Tagen geöffnet, aber Lindy hatte sich schon eingerichtet; auf seinem Schreibtisch stapelten sich Formulare, in den Regalen standen Handbücher in alphabetischer Reihenfolge, an den Wänden hingen Kalender und Dienstpläne.
»Morgen, Detective Ryder.«
»Wie geht’s, Will? Ich bin hier wegen der Obduktion von Nelson. Ist Clair da?«
Ich war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der Dr. Peltier bei ihrem Vornamen nannte; ich hielt das so, seit wir einander vorgestellt worden waren, und bisher hatte sie mich noch nicht massakriert. Sie konterte, indem sie nur meinen Nachnamen benutzte, während sie jeden anderen mit Vornamen oder Titel ansprach. Lindy schaute auf seine Uhr. »Sie müsste um neun kommen, das heißt ...«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. 8:58 Uhr. »Sie wird in einer Minute hier sein.«
Aus dem Flur hörten wir männliches Gelächter und sahen dann zwei Mitarbeiter des Friedhofs, die eine Leiche zur Beerdigung abholten. Sie schoben die zugedeckte Leiche zu der hinteren Rampe und lenkten die klappernde Bahre im Zickzack durch den Gang, wie Kinder, die mit einem Einkaufswagen im Supermarkt spielen. Lindy war im Nu auf dem Flur.
»Hey, Kumpels«, sagte er. »Was ihr zu Hause macht, ist eure Sache. Aber hier zeigen wir Respekt.«
Die Typen vom Friedhof erstarrten und liefen rot an. Sie murmelten Entschuldigungen und setzten ihren Weg langsam und ruhig fort.
»Gut gemacht, Will«, lobte ich ihn, als er zurückkam.
Lindy schenkte mir ein halbes Lächeln; komisch, wie ein Lächeln auch Traurigkeit ausdrücken kann. »D er arme Kerl tritt seine letzte Reise an, Detective Ryder. Es gibt keinen Grund, daraus ein Spiel zu machen.«
Ich bewunderte Will Lindy für seinen Standpunkt; zu viele Polizisten der Mordkommission und Mitarbeiter des Leichenschauhauses vergessen, dass die Leichen, mit denen sie zu tun haben, einmal der Mittelpunkt des Universums waren, auf jeden Fall für sie selbst. Niemand weiß, warum wir auserwählt wurden, auf der Welt zu sein, oder inwieweit die Entscheidungen, die wir während unserer Anwesenheit treffen, in unserer Hand liegen. Für diejenigen, die in die Leichenhalle kamen, war dieser Teil der Reise ohnehin vorbei. Schlechte Menschen, gute Menschen, die indifferenten – sie alle werden die letzte geheimnisvolle Reise antreten und eine leere, vergängliche Hülle zurücklassen, die nicht immer beklagenswert, aber in jedem Fall zu respektieren ist.
Ein eindringliches Klackern ließ Lindy und mich uns umwenden: Doc Peltier kam mit hochhackigen Schuhen auf uns zu. Ich nahm an, dass sie mit ihrem Ehemann Zane gefrühstückt hatte, denn er ging neben ihr und bearbeitete seine Zähne mit einem Zahnstocher. Zane war neunundfünfzig, sah aber mit den kühlen grauen Augen in seinem gemeißelten Gesicht, einer Nase so schmal wie der Rücken eines dünnen Buches und einer unabhängig von der Jahreszeit mahagonibraunen Haut jünger aus. Er trug einen pechschwarzen, dreiteiligen Anzug, um seinen Bauchansatz zu verbergen, und ging schnell, um mit seiner Frau Schritt zu halten.
»Ein bisschen früh, Ryder, oder?«, sagte sie, als ich in ihren Windschatten sprang. Bei ihrem Parfüm konnte man glauben, dass Champagner aus Rosen gemacht wird.
»Ich würde vor der Obduktion gerne einen Blick auf die Leiche werfen.«
Das versuchte ich immer zu tun, da ich das Gefühl hatte, dadurch eine engere Beziehung zu den Opfern herstellen zu können. Die Leichen waren noch nicht zu schlimm zugerichtet. Nach der Obduktion, der Invasion, schienen die Verstorbenen anders zu sein. Als wären sie von unserer Welt in den Vorraum der nächsten gewechselt.
Clair verdrehte die Augen. »Ich habe heute keine Zeit, um Ihnen den Gefallen zu tun.« Sie hielt nicht viel von meiner Beziehungstheorie.
»Bitte, Clair. Nur eine Minute.«
Clair seufzte. Wir blieben vor der Tür des Autopsiesaales stehen. Sie erinnerte sich an ihre Manieren. »Haben Sie schon meinen Mann kennen gelernt, Zane?«
»Im Kunstmuseum, vor ein paar Monaten«, antwortete ich und streckte meine Hand aus. »Detective Ryder.«
Zane Peltier hatte einen dieser Händedrücke, die fast Daumen mit Daumen umschlossen, und schüttelte meine Knöchel. »Natürlich erinnere ich mich«, sagte sein Mund, während seine Augen es leugneten. »Schön, Sie wiederzusehen, Detective.«
Clair öffnete die Tür. Ihr Mann sagte: »Ich warte hier draußen, Liebling.«
»Sie beißen nicht, Zane.«
Er lächelte, blieb aber trotzdem der Tür fern. Ich konnte sein Zögern verstehen. Ich bin überzeugt, dass Menschen den Tod genauso deutlich spüren wie Vieh ein herannahendes Gewitter, ein atavistisches Warnsystem, das in uns sein wird, bis wir uns zu reinen Vernunftswesen mit begrenzten Bedürfnissen entwickelt haben.
Clair und ich betraten den Saal. »Beeilen Sie sich, Ryder«, mahnte sie. »Ich habe einen anstrengenden Tag vor mir und kann keine Ablenkung gebrauchen.«
»Jawohl, Eure Majestät«, entgegnete ich, was sie mit einem vernichtenden Blick, ansonsten aber kommentarlos quittierte. Sie schob die Leiche aus dem Kühlfach und zog das Laken weg.
Ich betrachtete das seltsame Bild für ein paar Augenblicke. Ohne den Kopf bekam ich kein Gefühl für das Geschöpf, sondern nur für den Verlust. Alles was ich wahrnahm, waren die körperlichen Dimensionen des Opfers, die Breite der Schultern, die schmalen Hüften, das Muskulöse. Der Tod verändert das Aussehen und die Formen, aber in diesen Körper waren offensichtlich Zeit und Arbeit investiert worden.
Clair beobachtete mich missbilligend und betrachtete dann die Leiche mit professionellen Blicken. Als sie das Laken wieder zurückzog, hielt sie plötzlich inne.
»Was zum Teufel?«, sagte sie und beugte sich über den Schambereich. »Was ist das?«
»Ein Penis?«
»Nein, verdammt. Über dem Schamhaar. Machen Sie sich nützlich, Ryder, und holen Sie mir ein Paar Handschuhe.«
Ich lief los und zog ein Knäuel Latexhandschuhe aus einer Schachtel neben einem Autopsietisch. Clair streifte sie über und presste das verfilzte Haar zur Seite.
»Da steht etwas geschrieben«, murmelte sie. »So klein, dass ich es kaum lesen kann. ›Eine Hure entstellt‹«, sagte sie, während sie auf Worte blinzelte, die ich nicht sehen konnte. »Eine Hure entstellt. Abartige Huren. Ein ganzer Haufen abartiger Huren. Rats back. Rats back. Rats back. Rats. Rats. Rats. Back. Back. Back.«
Als Clair sich aufrichtete, schnellte ich nach vorn. In präziser Lavendelschrift waren dort zwei horizontale Wortreihen, eben jene, die Clair vorgelesen hatte.
Ohne sich von der Leiche abzuwenden, rief sie: »Dr. Davanelle, kommen Sie her.«
Ich schaute zu dem kleinen Büro in der Ecke, wo eine zierliche und blasse Frau eine Akte studierte, so mucksmäuschenstill, dass ich sie nicht bemerkt hatte. Sie hatte dunkle, schulterlange Haare und eine eulenartige Brille. Ihr Name war Evie oder so, sie war erst vor kurzem angestellt worden, sodass ich noch mit keinen Fällen zu tun hatte, die sie bearbeitete. Sie eilte herbei. Während ich lächelte und nickte, ignorierte sie mich.
Clair tippte auf das Schambein des Opfers. »Da Sie so freundlich waren, heute zur Arbeit zu erscheinen, Doktor – immerhin ist ja Montag –, möchte ich Sie auf diese Schrift hier im Schambereich aufmerksam machen. Rufen Sie Chambliss und sagen Sie ihm, er soll mit der Mikrokamera kommen und Aufnahmen von der Inschrift machen. Und überprüfen Sie die Leiche nach weiteren Schriften. Verstanden?«
»Das hätte ich sowieso getan, Dokt ...«
»Worauf warten Sie? Wir stimmen nicht darüber ab. Gehen Sie.«
Evie oder so ging in das Büro zurück und rief den Fotografen an. Die Sprechanlage knisterte, dann hörte ich die Stimme der Empfangsdame Vera Braden, deren Südstaatenakzent in Honig getunkt und angebraten zu sein schien.
»Dr. Pel-tee-a? Bill Ah-nett vom Eff-Bee-Aye ist auf Leitung vier. Er hat die Ergebnisse Ihrer Gewebeprobe von letzter Woche.«
»Legen Sie den Anruf in mein Büro«, rief Clair und klackerte aus der Nebentür in ihr Büro. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein paar Schritte weiter auf die Toilette zu gehen. Als ich wenig später zurückkehrte, sah ich, dass Zane Peltier in den Autopsiesaal gekommen war. Mit bleichem Gesicht stand er neben der Leiche. Seine Knie zitterten wie Espenlaub und er wisperte immer wieder: Jesus.
»Immer mit der Ruhe, Mr Peltier«, sagte ich, stellte mich neben ihn und legte stützend eine Hand auf seinen Rücken. »Atmen Sie tief ein.«
»Wer ist denn das?«, krächzte er. »Jesus.«
»Ein Mann namens Jerrold Nelson.«
»Jesus.«
»Atmen Sie«, wiederholte ich. Er atmete.
»Ich wollte nur schauen, wo Clair bleibt und ... Jesus. Wo ist der Kopf?«
»Das wissen wir noch nicht.«
»Wer tut so etwas emem anderen Menschen an?« Er holte ein paarmal tief Luft und seine Farbe begann zurückzukehren.
»Alles ... alles in Ordnung, Detective. Ich habe noch nie eine Leiche ohne ...« Er rang sich ein zittriges Lächeln ab. »Ich hätte draußen bleiben sollen.«