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Mobile, Alabama: Eine junge Reporterin wird auf brutale Weise ermordet. Der Mann, dessen Fall sie untersuchte, stirbt im Gefängnis an Gift. Bei einem Hochhausbrand kommt eine Prostituierte ums Leben. Die scharfsinnigen Ermittler Carson Ryder und Harry Nautilus, spezialisiert auf bizarre Fälle, glauben nicht an das Werk eines einzelnen Psychopathen. "Kerley verfügt über einen unbändigern und wirklich grausigen Ideenreichtum, der einen wach liegen lässt – noch lange, nachdem man die letzte Seite umgeblättert hat." Kirkus Reviews
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Seitenzahl: 514
Kurzbeschreibung:
Mobile, Alabama: Eine junge Reporterin wird auf brutale Weise ermordet. Der Mann, dessen Fall sie untersuchte, stirbt im Gefängnis an Gift. Bei einem Hochhausbrand kommt eine Prostituierte ums Leben. Die scharfsinnigen Ermittler Carson Ryder und Harry Nautilus, spezialisiert auf bizarre Fälle, glauben nicht an das Werk eines einzelnen Psychopathen.
Jack Kerley
Den Wölfen zum Fraß
Ein Carson-Ryder-Thriller
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2006 by Jack Kerley
Copyright first German edition © 2007 by Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin
The publication of this work has been arranged by Michael Meller Literary Agency GmbH, Munich..
Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München.
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-026-6
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Beim Verfassen dieses Romans habe ich mir große Freiheiten in der Beschreibung von Schauplätzen und Polizeibehörden erlaubt. Einige Unternehmen und Institutionen existieren nicht oder sind Amalgame. Mit Ausnahme der naturgegebenen Schönheit Mobiles und seiner Umgebung ist alles Fiktion. Jedwede Ähnlichkeiten von Figuren dieses Romans und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
»Bist du sicher, dass er hier lang gelaufen ist? Ich kann nichts sehen.«
»Verflucht noch mal, sprich nicht so laut. Finger weg vom Blut. Und benutz die Taschenlampe nur, wenn’s unbedingt sein muss.«
Lucas hörte in der Ferne Stimmen und schlug die Augen auf. Die Welt drehte sich langsam, als wäre er in einem gallertartigen Strudel gefangen. Nach Halt suchend breitete Lucas die Arme aus und spürte Gras unter den Fingern. Obwohl es Nacht war, erkannte er die dunklen Schatten der nahen Bäume. Kometen rauschten durch die Stämme, erstrahlten und verblassten: Komet, kein Komet. Hier im Kometenland war die Luft frisch, roch nach Tau und nassem Laub. Ein ziemlich merkwürdiger Effekt, wie er fand. Und genauso merkwürdig war dieser einzelne Stern am Himmel, direkt über ihm, der blinkte, als würden sich die Kometen und der Stern miteinander unterhalten.
»Da ist ein Wagen! Hinter den Bäumen, unter den Zweigen. Er steckt hier irgendwo.«
»Wir müssen die Karre loswerden. Und zwar pronto. Ruf einen Abschleppdienst.«
Lucas schloss die Augen und atmete die kalte Luft tief ein. Der einzelne Stern blinkte. Wieder flammte ein Komet am Himmel auf. Nein, das sind keine Kometen, dämmerte es seinem langsam erwachenden Verstand, das ist der Schein von Taschenlampen im Nebel. Er lag in einem Feld am Waldrand und das feuchte Gras berührte seine Wangen. Wie war er auf diesem Acker gelandet? Und warum waren da Taschenlampen?
Sie suchten etwas.
Suchten ihn.
Was hatte er getan?
Schritte waren zu hören. Körper schoben Äste beiseite, traten auf Zweige. Die Lichtkegel der Taschenlampen fegten über Gras und Bäume. Als der Kegel über ihn glitt, wurde Lucas’ Welt in Weiß getaucht. Er zwang sich, vollkommen reglos auszuharren. Die Lichter wanderten weiter.
Doch in dem Augenblick, wo alles hell wurde, war ihm etwas Seltsames aufgefallen: Seine Hand war rot. Mit perverser Verzückung starrte er auf seine dunklen Finger und musste feststellen, dass nicht nur seine Hand, sondern auch sein blauer Schlafanzug voller Blut war.
Die Stimmen meldeten sich wieder. Lauter und aus geringerer Entfernung.
»Da bewegt sich was unter dem Sendemasten. Schätzungsweise links von dir. Siehst du das Blinklicht des Mastens über den Bäumen?«
»Sei vorsichtig. Er ist … ausgefuchst.«
Eine Serie von Bildern schwirrte Lucas durch den Kopf, frische Erinnerungen, die sich wie ein holperiger Film vor seinem geistigen Auge abspulten. Während er Rückschau hielt, krampfte sich ihm der Magen zusammen. Er hätte sich ausrechnen können, dass sie kommen würden. Er wusste zu viel.
»Sollte der Arzt nicht hier sein? Warum hast du ihn nicht verständigt?«
»Halt die Klappe. Ich arbeite mich zur Rückseite des Turms. Stell das Walkie-Talkie leiser und schalt die Taschenlampe aus. Ich geb dir Bescheid, wenn du dich in Bewegung setzen sollst.«
Für einen Augenblick herrschten Dunkelheit und Ruhe. Lucas wischte sich die blutigen Hände an der Pyjamahose ab und lockerte Finger, Arme und Beine. Jetzt konnte er sich rühren. Konnte fliehen. Als die Kometen wieder blinkten, richtete er sich auf, ging in die Hocke und schwankte leicht. Seine Welt wurde weiß. Schwerfällig und mit puddingweichen Knien erhob er sich. Er taumelte. Lauf, kreischte eine Stimme in seinem Kopf.
»Ich seh ihn, er ist aufgestanden.«
»Ich komm dir entgegen. Halt den Elektroschocker bereit.«
Lucas holte tief Luft, berechnete, aus welchen Richtungen sich seine Häscher näherten, überlegte, wie er an ihnen vorbeikam, und bündelte alle Energie, die er aufbringen konnte.
Gerade als er sich in Bewegung setzte, wurde ihm weiß vor Augen.
»Verdammt, er ist eben gegen eine Maststütze geknallt. Jetzt liegt er am Boden und rollt sich herum.«
»Los!«
Er hörte rasche Schritte. Spürte, wie sich Körper auf ihn warfen, ihn umdrehten und sein Gesicht fest ins nasse Gras drückten. Er roch Schweiß. Aftershave. Und den durchdringenden Gestank von Angst, die nicht seine war.
»Verpass ihm eine!«
»Er wehrt sich nicht.«
»Ich hab dir gesagt, du sollst –«
Es gab eine flackernde bläuliche Explosion, ehe die Kometen wieder auftauchten. Jeder von ihnen verwandelte sich in einen Schauer aus herumflirrenden, hüpfenden, tanzenden Sternen. Es war atemberaubend schön.
In der Ferne ertönten wieder Stimmen.
»Er ist ganz verschmiert. Grundgütiger, Crandell, das ist Blut.«
»Heb ihn auf und schaff ihn weg. Wir müssen von hier verschwinden.«
Und dann spürte er einen feuchten, heißen Mund an seinem Ohr, einen höchst zufriedenen Mund, der anscheinend gerade einen Leckerbissen vertilgt hatte.
»Was hast du angestellt, Lucas?«, flüsterte der zufriedene Mund. »Welche Scheußlichkeit hast du dir dieses Mal einfallen lassen?«
Eine stationäre Wetterfront brütete Gewitterzellen aus, die von New Orleans bis nach Pensacola reichten. Es regnete in Strömen und Blitze zuckten am Himmel auf. Dann, als würde ein Schalter umgelegt, versiegte die Sintflut plötzlich und die Luft wurde samtweich. Zehn Minuten später lagen Erde und Himmel wieder im Clinch. Mobile, Alabama, war im Auge des Orkans.
»Was meinst du, Carson?« Mein Partner, Detective Harry Nautilus, spähte durch die Scheibenwischer. »Ist es an der Zeit, die Tiere paarweise einzuschiffen?«
»Was hältst du davon, wenn wir diesmal die Mücken draußen lassen?«
Es war halb zehn Uhr abends. Die Straßen waren wie ausgestorben und alle vernünftigen Menschen saßen daheim in ihrer warmen Stube. Harry und ich parkten in der Nähe der innerstädtischen Bibliothek. Wir schoben Spätschicht, die wir mehrmals die Woche übernahmen, da die meisten schweren Jungs Nachteulen waren. Nicht, dass wir heute von der Sorte viel zu Gesicht bekamen. Von den fünf Stunden im Wagen hatten wir zwei am Bordstein gestanden und vor lauter Regen nichts sehen können.
Das Funkgerät schaltete sich ein, doch das Übertragungssignal wurde von den Blitzen zerhackt.
»TP … Eldredge und … LKW-Fahrer auf dem Weg zum …enhaus.«
»Haben die TP gesagt?«, fragte Harry. TP stand für tote Person. Er schnappte sich das Mikrofon.
»Nautilus hier, Zentrale. Sie sind wegen der Störungen nicht richtig zu verstehen. Bitte wiederholen.«
»TP … Ecke Industrial und Eldredge. Wurde von einem LKW-Fahrer gemeldet. Fahrer ist mit Stechen in der Brust auf dem Weg ins Krankenhaus.«
Wir waren acht Blocks entfernt.
»Nautilus und Ryder bestätigen Eingang der Meldung«, antwortete Harry. »Wir machen uns auf den Weg.«
Mit einem Ruck warf er den Gang ein und raste mit dem Crown Vic Richtung Tatort. Bei dem Tempo produzierten wir vermutlich eine Heckwelle wie ein Schnellboot. Das Funkgerät knisterte wieder. Diesmal meldete sich nicht die Zentrale, sondern ein anderes Detective-Team, das ebenfalls in der Nähe war.
»Hier sind Logan und Shuttles. Wir sind näher dran, nur fünf Blocks weg. Wir übernehmen den Fall.«
Mit leisem Grunzen schaltete Harry das Mikro ein. »Nautilus und Ryder sind am Ball.«
»Seit wann treibt sich Logan um diese Uhrzeit draußen herum?«, wunderte ich mich. »Habe ich ja noch nie erlebt, dass der faule Sack nach halb sechs noch im Dienst ist.«
Aus dem Funkgerät knatterte Pace Logans Stimme. »Zentrale, hier ist Logan. Der Fall gehört uns, wir sind gleich da.«
Ich spürte, wie der Wagen beschleunigte. Harry knurrte: »Negativ, Zentrale. Carson und ich übernehmen.«
»Verfluchter Mist, Nautilus, der Fall gehört uns«, bellte Logan direkt ins Funkgerät, ohne über die Zentrale zu gehen.
Harry ließ das Mikro fallen. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, murmelte er, schaltete Sirene und Blaulicht ein und jagte so schnell um die Kurve, dass ich beinah in seinem Schoß landete.
Er heizte um die nächste Ecke und schlitterte auf eine Reihe geparkter Autos zu, die im Regen nur schemenhaft zu erkennen waren. Mit angehaltenem Atem wappnete ich mich gegen einen Zusammenprall, der sich aus unerfindlichem Grund nicht ereignete. Als wir über eine ausgestorbene Kreuzung rauschten, blinkte in der Parallelstraße einen Block weiter drüben Blaulicht: Logan und Shuttles. Wir waren drei Straßenblocks vom Tatort entfernt.
»Großer Gott, Harry. Das ist ja wie bei einem Straßenrennen.«
»Ich werde nicht noch mal hinter Logan aufräumen«, sagte er. »Das kommt überhaupt nicht in die Tüte.«
Pace Logan war ein mürrischer, hitzköpfiger alter Hase, der nur noch darauf wartete, in Rente zu gehen, einen Wohnwagen in Florida oder Branson zu kaufen und einer Reihe von einsamen Frauen, die er auf zweitklassigen Kegelbahnen auflas, das Leben zur Hölle zu machen. Logans siebenundzwanzigjähriger Partner Tyree Shuttles, der erst seit kurzem als Detective arbeitete, hatte das Pech gehabt, an einen Dinosaurier gekettet zu werden.
Vor sechs, sieben Wochen hatte Logans schluderiger Umgang mit Beweisen in einem Mordfall fast dazu geführt, dass dem Verteidiger die Einstellung des Verfahrens auf dem Silbertablett serviert wurde. Harry und ich waren in letzter, vielleicht sogar in allerletzter Minute dazugerufen worden. Wochenlang mussten wir zwölf Stunden am Tag Logans Ermittlungsschritte nachvollziehen und unsaubere Beweise durch neue Erkenntnisse ersetzen. Am Ende konnte Harry das Ruder gerade noch herumreißen, indem er mit Informationen aufwartete, die Logan in seinen eigenen Akten übersehen hatte.
Da ich den größten Teil meiner Zeit damit verbracht hatte, mich um unsere eigenen Fälle zu kümmern, von denen es wie üblich mehr als genug gab, hatte Harry die Sache eigentlich allein bearbeitet. Wir zwei schoben meistens Doppelschichten und am Ende lief es auch noch darauf hinaus, dass Harry den Besuch bei seinen Verwandten in Memphis verschieben musste. Deshalb war er immer noch auf hundert wegen des Schlamassels, den Logan angerichtet hatte.
Ich kurbelte das Fenster ein bisschen runter. Durch unser Sirenengeheul hindurch hörte ich das Martinshorn von Logan und Shuttles. Das Rennen war äußerst knapp.
»An der nächsten Ecke biegst du ab, Harry.«
An den Straßenenden stand je eine Funkstreife und versperrte eine Kreuzung am Rand des Lagerhallenbezirks. Auf einer Ecke befand sich ein Großhändler für Restauranteinrichtungen, schräg gegenüber war eine Großwäscherei.
Aus der einen Richtung rasten wir die Straße hinunter, Logan und Shuttles näherten sich aus der anderen. Mitten auf der Straße stand ein Sattelschlepper und nur ein paar Meter vor dem Kühlergrill des großen Lastwagens ein roter Mazda. Harry kam schlitternd zum Stehen und stürzte in den Regen hinaus. Er nahm sich nicht die Zeit, sich eine Jacke überzuwerfen. Ich zog meinen Plastikregenschutz an und folgte ihm.
Mit großen Schritten platschte Harry auf den Mazda zu, während Logan aus seinem Dienstwagen sprang und fast auf der Stoßstange des Mazda landete. Logan baute sich vor Harry auf, stieß mit seinem Finger in dessen Brust und brüllte wütend los. Die uniformierten Beamten, von der bevorstehenden Auseinandersetzung angezogen, rückten näher. Während ich zu der Szene hinüberlief, rann mir der Regen in die Augen.
»Das ist mein Tatort, Nautilus«, meinte Logan. »Steig wieder in deine Karre und zieh Leine.«
»Das wird nicht passieren, Logan«, erwiderte Harry. »Der Fall gehört uns.«
»Ich bin länger bei der Truppe als du, Nautilus.«
»Dann geh doch zum 50-plus-Treff«, schlug Harry vor. »Noch mal rette ich deinen wertlosen Arsch nicht.«
Logan erstarrte. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Das war ein Fehler der Gerichtsmedizin und nicht meiner.«
»Du hättest den Fall fast versaut, Logan«, zischte Harry. »Hab jetzt wenigstens den Schneid, dafür einzustehen.«
Logan ballte die Hände zu Fäusten. »Nautilus, dafür, dass du so ein schlichtes Gemüt hast, bist du ein ganz schön scheinheiliger Hurensohn.«
»Und dafür, dass du ein Cop bist, hast du verdammt viel Ahnung von Strafverteidigung, Logan.«
Logan stieß einen wütenden Laut aus und wollte Harry die Faust in die Magengrube jagen. Harry blockte den Schlag ab, umklammerte Logans Handgelenk, drehte sich und kniete sich hin. Logan ging zu Boden. Harry zog Logan den Arm auf den Rücken. Der alte Detective krümmte sich auf dem nassen Gehweg, fluchte und drohte uns.
»Messer!«, rief jemand. Dieses Wort beschwor Albträume herauf. Alle erstarrten, drehten die Köpfe, tasteten nach dem Pistolenhalfter.
»Nur die Ruhe, Jungs«, sagte Tyree Shuttles, der einen Schritt hinter dem Mazda stand und auf den im Dunkeln liegenden Bordstein deutete. »Ich habe ein großes Messer gefunden. Hier im Rinnstein.«
Harry ließ Logans Handgelenk los. Logan, ein starker Raucher, richtete sich keuchend und pfeifend auf. Er lehnte sich an den Mazda, um Atem zu holen. Offenbar erregte irgendetwas am Bordstein seine Aufmerksamkeit, denn einen Moment lang stand er nur wie angewurzelt da. Ich wandte mich um und schaute in seine Richtung, entdeckte aber nur Wasser, das den Rinnstein hinunterfloss und im Gulli verschwand.
Harry und ich gingen zu Shuttles hinüber, der vor einem metallenen Gegenstand neben dem Gulli kniete. Nur ein Stück des Griffs ragte aus dem Wasser. Logan kam schnaufend näher, musterte zuerst die Waffe, dann Shuttles. Harry wich zurück, stieß einen Seufzer aus und war so höflich, aus dem Stegreif eine Vorgehensweise zu erfinden.
»Shuttles hat ein Beweisstück gefunden, Logan. Also kriegt ihr den Fall.«
Logan lehnte sich an die Fahrertür des Mazda und warf einen Blick in das Fahrzeug. Nachdem er einen Augenblick ins Wageninnere gestarrt hatte, fischte er seine Taschenlampe heraus, spähte wieder in den Wagen und schüttelte den Kopf. Und dann lachte er ohne eine Spur von Humor.
»Du willst diesen Fall, Nautilus? Er gehört dir.«
Logan machte auf dem Absatz kehrt, marschierte zu seinem Dienstfahrzeug zurück und klemmte sich auf den Beifahrersitz. Shuttles drehte sich kurz zu dem Wagen um, in dem Logan saß und schmollte. Der junge Detective schaute verlegen drein.
»Tut mir leid, wie Pace sich eben verhalten hat«, meinte Shuttles. »Er ist seit ein paar Wochen schlecht drauf.«
Harry wischte sich den Regen vom Gesicht, trat einen Schritt näher an Shuttles heran und senkte die Stimme, damit die Uniformierten ihn nicht hörten. »Ich weiß, du wirst nicht darum bitten, dass man dir einen anderen Partner gibt, Tyree. Das respektiere ich. Aber lass dich in einen anderen Bezirk versetzen. Auf die Weise kriegst du auch einen neuen Partner. Logan wird deiner Karriere nicht förderlich sein.«
»Pace geht in zwei Monaten in Rente, Harry. Dauert also nicht mehr lange, bis er weg ist.«
»Bist du sicher?«
Shuttles nickte.
Harry verpasste dem jungen Detective einen sanften Klaps auf die Schulter und meinte: »Halt durch.«
Der schlanke schwarze Beamte schlenderte zu seinem Fahrzeug hinüber, blieb stehen und drehte sich zu Harry um. Seine Lippen formten ein »Danke«. Dann stieg er ein, schaltete den hinter dem Kühlergrill flackernden Warnblinker aus und fuhr weg. Ich beneidete ihn nicht um den Rest seiner Schicht, denn Logan würde die ganze Zeit meckern, jammern und Geschichten erfinden, wie man ihn übers Ohr gehauen hatte.
Harry sagte den Streifenpolizisten, dass die Show vorbei war und sie den Verkehr umleiten sollten für den Fall, dass ein Wagen auftauchte. Ich zog Latexhandschuhe an und öffnete die Tür des Mazda. Da sich der Darm des Opfers entleert hatte, roch es in dem Fahrzeug schwer nach Blut und Exkrementen. Die Tote lag quer über dem Schaltknüppel, ihr Kopf auf dem Beifahrersitz und die mit Perlen verzierten Zöpfchen standen wie bei einer Stoffpuppe in alle Richtungen ab. Die Nase schien gebrochen zu sein. Die Unterlippe war aufgeplatzt. Ihr Körper war von Wunden übersät. Die blutgetränkte Bluse schimmerte. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.
Ich atmete tief durch und fuhr mit meiner visuellen Bestandsaufnahme fort. Eine Hand sah eigenartig aus. Sie hing vom Beifahrersitz herunter, kaum sichtbar im Dunkeln. Als ich auf die andere Seite trat und die Tür aufmachte, bestätigten sich meine Befürchtungen. Drei Finger waren gebrochen, an den Knöcheln zurückgebogen. Dieser Anblick hatte etwas Verstörendes, so als wäre die Hand falsch zusammengesetzt worden.
Ich versuchte, mich auf das zu konzentrieren, was aus dem Fahrzeug entwendet worden war. Jemand hatte die Stereoanlage herausgerissen. Die Drähte hingen lose herunter. Das Handschuhfach stand offen, der Inhalt war im ganzen Auto verstreut. Halb aufgefaltete Karten, der Kraftfahrzeugbrief, das Handbuch und der Reifendruckmesser lagen am Boden. Die Sonnenblenden waren heruntergeklappt. Manchmal klemmten die Fahrzeughalter ein paar Dollar dahinter für gebührenpflichtige Straßen oder Parkuhren. Überall war Blut, gerade so, als wäre das Innere mit einer Arterie abgespritzt worden.
Ich wusste schon, weshalb Logan uns den Fall überlassen hatte. An diesem Tatort beschlich einen sofort ein mieses Gefühl. Ein Blick genügte, um den Gruselfaktor abschätzen zu können. Wieder musterte ich die Frau, bis mir ganz flau im Magen wurde. Als ich den Geruch nicht mehr ertragen konnte, wich ich zurück.
»Man hat sie verprügelt und hinterher aufgeschlitzt«, erklärte ich Harry. »Das hier ist richtig schlimm.«
Harry war zum Wagen gegangen, um seine Regenjacke zu holen. Nicht, dass sie ihm jetzt noch von Nutzen sein konnte. Er steckte den Kopf in den Mazda, blickte prüfend im Innenraum umher und speicherte die Bilder im Kopf ab. Hin und wieder veranlasste ihn ein Detail zu ächzen oder zu seufzen. Er inspizierte den Boden unter den Füßen der Frau, fuhr mit der Hand in das Fahrzeug, berührte den Boden und untersuchte seine Fingerspitzen. Anschließend richtete er das Licht der Taschenlampe auf eine Stelle gleich neben der Tür und wiederholte den Vorgang.
»Was ist denn, Bruder?«, drängte ich.
Harry hörte mich nicht. Er drehte das Gesicht Richtung Himmel, als suche er dort oben nach Antworten auf eine Frage.
Lucas kauerte im Dunkeln neben dem stinkenden Müllcontainer des Schnellrestaurants. In der Faust hielt er kalte Pommes frites, die er sich in den Mund stopfte. Er ging davon aus, dass er mit den unberührten Pommes auf der sicheren Seite war. Die entsorgten Sandwiches waren allesamt angeknabbert.
Lucas strich sich die triefnassen, dreißig Zentimeter langen schwarzen Haare aus den Augen und kratzte das Pommessalz aus seinem dichten Bart. Er neigte sich ins Licht. Neben dem Restaurant befand sich eine Bank, eine kleine Filiale mit einem Autoschalter zum Geldziehen. Die Geldbeschaffung war von entscheidender Bedeutung für Lucas’ Plan. Hatte er nicht immer wieder zu hören gekriegt, dass Geld sich vermehrt? Es war fast wie ein Mantra: Geld vermehrt sich.
In der halben Stunde, die er hier schon wartete, hatten mehr als ein Dutzend Wagen am Schalter gehalten. Die Fahrer hatten kurz Geld abgehoben und waren wieder verschwunden. Zwei von ihnen hatten auf Höhe der Rückseite des Restaurants geparkt. Lucas hatte beobachtet, wie sie die Innenbeleuchtung einschalteten und Bankunterlagen durchsahen.
Die Hintertür des Restaurants wurde aufgestoßen, woraufhin Lucas in seinem übelriechenden Versteck erstarrte.
»Du da, du«, rief eine wütende Stimme. Lucas merkte, wie er instinktiv die Muskeln anspannte und die Hände zu Fäusten ballte.
»Meinst du mich?«, fragte drinnen jemand.
»Du – bist du das, Daryl?«
»Daniel«, grunzte die Stimme.
»Ich habe da draußen ein paar Softdrinkkanister stehen. Schaff sie rein.«
»Ich bin noch nicht mit dem Wisch…«
»Jetzt sofort.«
Die Tür schlug zu. Lucas kroch hinter den rollbaren Müllcontainer. Als er feststellte, dass er seine Geldbörse vergessen hatte, rutschte ihm das Herz in die Hose. Das billige weiße Vinylding lag direkt vor dem Müllcontainer, gleich neben dem Lichtkegel des Schnellrestaurants. Die Tür öffnete sich wieder und Füße tauchten auf. Kanister wurden durch die Tür gewuchtet.
Die Tür fiel zu. Lucas krabbelte hinter dem Müllcontainer hervor. Nun hing auch noch der Dreck vom Gehweg an seinem T-Shirt und seiner Hose, die er aus einem Kleiderhaufen vor einem Goodwill-Laden gezogen hatte. Die Anstaltsklamotten hatte er mit allem anderen entsorgt.
Lucas drückte das Portemonnaie an die Brust und beobachtete wieder den Geldautomaten. Bei Frauen rechnete er sich die größten Chancen aus, doch er würde das Schicksal nehmen, wie es kam, und dann improvisieren.
Er wartete zwanzig Minuten. Nur ein Fahrzeug hielt am Geldautomaten, ein Laster mit Doppelbereifung und einem Stars-and-Stripes-Aufkleber am Fenster. Ein Südstaatler, dachte Lucas. Einer von der Sorte, die gern ein Stück Rohr unter dem Sitz bunkern. Oder eine Waffe.
Dieses Risiko wollte er nicht eingehen.
Minuten später rollte ein kleiner Wagen auf das Bankgelände: eine Frau, die langsam fuhr. Lucas nahm die Geldbörse und warf sie in eine dunkle Ecke des Geländes, keine acht Meter von ihm weg. Die Börse landete genau in dem Moment auf dem Boden, wo das Scheinwerferlicht des Wagens über den Asphalt wanderte. Das Licht fiel auf die Börse, wanderte weiter und näherte sich dem Geldautomaten.
Die Fahrerin nahm den Fuß vom Gas.
Knapp vier Meter vor dem Geldautomaten hielt sie an. Lucas stockte der Atem.
Friss den Köder.
Der Wagen setzte zurück. Lucas ging in die Hocke. Spannte die Muskeln an. Der Wagen stoppte neben der Geldbörse. Er hörte, wie die Türschlösser entriegelt wurden.
In dem Moment stand Lucas auf und rannte los.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte der Himmel die Farbe von ungebranntem Ton. Harry und ich hatten bis drei Uhr morgens gearbeitet und alles zusammengetragen, was wir mit dem Namen des Opfers und dem Fahrzeugbrief herausfinden konnten. Donnergrollen in der Ferne kündigte eine neue Gewitterzelle an. Gerade als ich mir Kaffee einschenkte, läutete das Telefon. Danielle Danbury, meine Freundin, war am Apparat.
»Carson, kannst du vor der Arbeit bei mir vorbeikommen?« Ihre Stimme klang belegt.
»Stimmt was nicht, Dani?«
»Bitte mach schnell.«
»Bin schon unterwegs.«
Obwohl Danis Beruf – sie war Fernsehjournalistin – uns zu natürlichen Feinden machte, hatten wir uns im vergangenen Jahr notgedrungen zusammengetan, als wir Sammler von Serienmörder-Memorabilien aufspürten. Dieser bizarre Vorfall hatte Dani und mich – ihr Spitzname DeeDee wollte mir einfach nicht über die Zunge gehen – nach Paris verschlagen, wo wir gemeinsam einen älteren Kunstprofessor befragten. Während unserer Zeit in der Stadt der Lichter hatten wir uns ineinander verliebt, woran sich bis zu diesem Tag nichts geändert hatte.
Unsere unberechenbaren und langen Arbeitszeiten führten dazu, dass unsere Treffen eher zufällig als geplant stattfanden, und wenn man die Zeit, die wir schliefen, herausrechnete, verbrachten wir gerade mal fünfzehn Stunden die Woche miteinander. Zumindest war das die Norm gewesen, bis Harry vor ein paar Monaten Logans Chaosfall übernommen und ich achtzehn Stunden täglich gearbeitet hatte, damit bei uns nicht allzu viel liegen blieb.
Ich lief die Stufen meines auf Stelzen stehenden Strandhauses hinunter, sprang in meinen alten Pick-up und schaffte es in zwanzig Minuten zu Danis Haus. Sie trug ihre Reporterkluft: schicke Jeans, weiße Seidenbluse, burgunderfarbene Leinenjacke, eine Perlenkette und passende Ohrringe. Als Zugeständnis an die Kamera hatte sie das blonde Haar mit Unmengen von Spray festzementiert. Sie drückte eine Ausgabe von Woodwards und Bernsteins Watergate-Affäre an die Brust. Ihre Augen waren rot und geschwollen.
Mit klopfendem Herzen trat ich ein. »Was ist denn, Dani? Ist alles in Ordnung?«
»Ich bin okay, Carson. Es geht um eine Freundin … Sie ist gestern Abend ums Leben gekommen. Ermordet. Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen.«
Gestern Abend war nur ein Mord geschehen.
»Taneesha Franklin«, sagte ich und schloss Dani in meine Arme. »Ich war am Tatort. Es tut mir leid. War sie eine enge Freundin?«
Dani rieb die Augen und lehnte sich zurück, um mir ins Gesicht zu schauen.
»Wir waren eher so was wie Mentor und Schützling, würde ich sagen. Aber sie war ein wunderbarer Mensch.«
»War sie Reporterin?«
»Sie hat bei einem kleinen Radiosender namens WTSJ gearbeitet. Hat dort erst vor kurzem angefangen und über Stadtratsreffen, Einweihungen und labernde Politiker berichtet … die übliche Anfängernummer eben. Ich habe ein paar Mal mit ihr zu Mittag gegessen. Sie hat mir Fachfragen gestellt und ich habe Auskunft gegeben. Sie war klug und engagiert und ganz aus dem Häuschen wegen ihres kleinen Reporterjobs. Was ist passiert, Carson? Die Zeitung hat ihr nur vier Spalten gewidmet, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen und es klang … übel.«
»Es war schlimm. Wahrscheinlich ein Raubüberfall, bei dem der Täter durchgedreht ist.«
Dani und ich kriegen in unserem Job so viele Lügen aufgetischt, dass wir einander nichts vormachen. Nicht mal kleine Notlügen gestehen wir uns zu. Dani hielt sich immer noch an der Watergate-Affäre fest. Ich tippte mit dem Finger auf den Buchdeckel und versuchte zu lächeln.
»Was deinen Lesestoff angeht, bist du aber dreißig Jahre hinterher, Baby.«
»Das war ein Geschenk von Teesh. Ich habe ihr erzählt, dass sich meine Ausgabe in ihre Einzelteile auflöst, und da hat sie mir eine neue besorgt. Vor ein paar Wochen kam sie damit an. Lies mal die Widmung, Carson.«
Dani schlug die erste Seite des Buches auf. Dort stand in hübscher und flüssiger Handschrift geschrieben:
»Ist das nicht toll?«, fragte Dani.
»Vielleicht eine Spur zu extrem.«
»Die Guten sind am Anfang immer so«, meinte Dani, während ihr eine Träne die Wange hinunterkullerte.
Harry traf ich im Präsidium. Zusammen fuhren wir ins Krankenhaus. Gestern Abend hatte man uns nicht erlaubt, den Lastwagenfahrer zu verhören, der die Tote gefunden hatte. Der Mann hatte einen Herzinfarkt erlitten, war jetzt aber wieder stabil.
Neben Arlin Dells Bett standen fünf verschiedene Apparaturen, die irgendetwas kontrollierten oder ihm tröpfchenweise eine Flüssigkeit verabreichten. Der Arzt gab uns fünf Minuten. Ich zog einen Stuhl heran. Harry lehnte sich an die Wand. Dell war blass und seine Stimme klang dünn. Er wirkte ein bisschen benommen, als hätte man ihm ein leichtes Narkotikum verabreicht.
»Ich bin gerade mit einer vollen Ladung Elektrogeräte vom Hof gerollt, die nach Memphis sollten. Ich fahre also diese Seitenstraße runter, es regnet in Strömen, und ich überlege schon, ob es die ganze Strecke bis Tennessee so gießt, als ich diesen roten Wagen mitten auf der Straße sehe. Ohne Licht. Und da latsche ich so fest auf die Bremse, dass sich der Anhänger fast quer stellt.«
»Haben Sie in der Nähe des Mazda jemanden bemerkt?«
Dell stieß einen Pfeifton aus, als würde er lachen oder husten. »Ein Affe ist aus dem Wagen gesprungen, direkt auf meine Scheinwerfer zugerannt, dann ausgewichen und im Dunkeln verschwunden.«
»Ein Affe?«, fragte Harry.
»Ich bin vom Sattelschlepper runtergestiegen«, fuhr Dell fort, »und habe einen Blick in den Wagen geworfen. Als ich sah, was da drinnen war, hatte ich das Gefühl, als würde eine Faust mein Herz zermantschen. Ich habe es gerade noch bis in die Fahrerkabine geschafft und die Polizei verständigt.«
»Sagen Sie mir, dass Sie nicht wirklich einen Affen gesehen haben.«
»Das war ein haariger Bursche.« Dell tätschelte seine Wangen. »Haare im Gesicht, Haare bis auf die Schultern. Wie ein Affe. Oder eins von diesen Dingern aus den Star-Wars-Filmen.«
»Ein Wookie?«, schlug ich vor.
Dell zuckte mit den Achseln. »Affe. Wookie. Oder vielleicht einer von diesen ZZ-Top-Typen.«
»Bärtige Täter gehen mir total gegen den Strich«, meinte Harry, als wir das Krankenhaus verließen und mit dem Crown Vic zu WTSJ, dem Arbeitgeber des Opfers, fuhren. »Der Scheißkerl muss sich nur rasieren und schon hat er ein nagelneues Gesicht.«
Ich war im Geiste gerade Dells Erinnerungen durchgegangen und hatte mir vorgestellt, hoch droben in einer Trucker-Kabine zu sitzen.
»Weißt du, was mir echt an die Nieren gegangen ist, Bruder? Der Täter ist direkt auf den Sattelschlepper zugerannt, in der letzten Sekunde ausgewichen und verschwunden. Ein paar Meter ist er schnurstracks Richtung Scheinwerfer gelaufen.«
Harry trommelte mit den Daumen aufs Lenkrand. »Scheinwerfer, laufender Motor, Fenster wie Augen … der Laster hätte einem Kerl, der gerade ein Kapitalverbrechen begangen hat, eigentlich eine Heidenangst einjagen müssen. Normalerweise läuft man dann doch in die entgegengesetzte Richtung.«
»Hat sich vielleicht eingebildet, er könnte den Laster angreifen«, gab ich zu bedenken. »War womöglich auf Crack oder PCP. Oder auch geisteskrank.«
»Das Messer hatte er schon weggeworfen. Es lag auf der anderen Seite des Fahrzeugs. Wenn er auf den Laster losgehen wollte, dann mit bloßen Fäusten.«
»Furchtloser Schweinehund«, meinte ich. »Oder völlig bekloppt.«
»Das sieht nicht gut aus«, bemerkte Harry. »Mir schmeckt keine der beiden Alternativen.«
WTSJ war in einem flachen Betongebäude in der Nähe von Pritchard untergebracht, einer Stadt im Norden von Mobile. Die Augen der Empfangsdame waren von Trauer umwölkt, doch sie rang sich ein Lächeln ab.
»Lincoln ist der Leiter des Senders. Er ist noch zwei Minuten auf Sendung.«
Sie führte uns in einen kleinen Vorraum. Lincoln Haley, den man durch eine dicke Fensterscheibe sehen konnte, saß im angrenzenden Studio. Der Leiter war Mitte vierzig, hatte ein kantiges Kinn und einen ordentlich getrimmten Bart. Seine hohe Stirn sprang deutlich hervor, als wären sämtliche Songs dort gespeichert. Hinter seinem Rücken standen CD-Regale. Er hatte einen schwarzen Kopfhörer auf und sprach in ein Mikrofon von der Größe einer Bierdose. Als er merkte, dass wir ihn anstarrten, signalisierte er uns mit den Fingern, dass er noch zwei Minuten brauchte, und beugte sich dann über das Mikro. Aus den Lautsprechern im Vorraum schallte seine Stimme.
»… und jetzt, zur vollen Stunde, die Nachrichten. Anschließend präsentiert Ihnen unsere Queen Bee, Miss Pearlie Winston, die besten Funk- und Bluesscheiben in den ganzen Vereinigten Staaten … Und nun kommen wir zum Spitzenreiter, Marlon Saunders …«
Musik ertönte. Haley stand auf, legte den Kopfhörer auf den Tisch und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Der Mann war vollkommen erschlagen. In der Studiotür tauchte eine große, bunt gekleidete Frau auf, die Haley die Hand reichte. Kurz darauf trat er in Khakis, Sandalen und einem Pulli in den Vorraum. Seine Hände steckten in den Hosentaschen.
»Ich werde alles tun, was hilft, um dieses Tier zu kriegen, das Teesh auf dem Gewissen hat.«
Durch die Glasscheibe sah ich, wie die Frau die Kopfhörer aufsetzte und das Mikro zu sich heranzog. Sie holte tief Luft, und ein breites aufgesetztes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Hier ist Pearlie Winston, die Queen der Funkszene …«
Haley tippte auf einen Schalter und drehte damit den Lautsprechern den Saft ab.
»Pearlie ist total am Ende, aber sie hört sich an, als würde sie gleich ein Liedchen trällern. Das ist hart. Taneesha war für mich, für alle hier, wie eine Tochter. Sie war … w-war …«
»Erzählen Sie mir, wie Miss Franklins Job aussah«, bat Harry. »Und lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie mögen.«
Haley nickte und sammelte sich.
»Wir sind ein kleiner Sender, Detective. Wenn Pearlie nicht auf Sendung ist, verkauft sie Werbezeit. Wenn ich nicht sende oder irgendwelche Sachen manage, spiele ich den Elektriker. Teesh war unsere Reporterin, schrieb allerdings hin und wieder auch Werbetexte.«
»Sie sind wahrscheinlich noch nicht reif für eine Übernahme durch Clarity Broadcasting«, meinte ich. Clarity gehörte Channel 14, wo Dani arbeitete.
Haleys Blick verdüsterte sich. »Alles, was Clarity anfasst, verwandelt sich in Schrott. Profitablen Schrott, aber seelenlos.«
»Wie lange hat Ms Franklin hier gearbeitet?«, wollte Harry wissen.
»Sie hat vor zwei Jahren als Praktikantin angefangen. Das Mädchen besaß grenzenlosen Enthusiasmus.«
»Wollte sie DJ werden, auf Sendung gehen oder so was in der Art?«
»Über mehrere Monate hat sie die Mitternachtsendung gemacht, doch nur zwischen den Songs zu reden reichte Teesh nicht. Ihr Traumberuf war Reporterin. Teesh besaß die nötige Aggressivität und Energie. Sie brauchte nur noch den richtigen Schliff. Ich habe sie in unsere winzige Nachrichtenabteilung verfrachtet. Man hätte denken können, ich hätte ihr einen Job bei CNN besorgt.«
»Hat sie gestern Abend an einer Story gearbeitet?«, fragte Harry.
»Einen Auftrag hatte sie nicht, aber Teesh war ständig auf der Suche nach der großen Geschichte, wollte immer herausfinden, was niemand wissen sollte, wollte etwas ans Tageslicht bringen. Ich habe ihr klargemacht, dass wir für derlei Recherche nicht das Budget haben, doch für sie war es Training, dem sie in ihrer Freizeit nachging.«
»Ziemlich viel Selbstantrieb«, sagte ich.
»Wissen Sie, wem sie nacheiferte? Dieser Journalistin auf Channel 14, ähm, ich habe kein Namensgedächtnis … blond, große Augen, unverblümt, aber auch sexy …«
»Ähm, Danbury?«, schlug ich vor.
Haley schnippte mit den Fingern. »DeeDee Danbury. Teesh hat sich ein paar Mal mit Ms Danbury unterhalten. Hat ihr eine Menge Fragen gestellt. In Teeshs Augen war sie eine knallharte Lady, die ihren eigenen Kopf hat.«
»Das ist mir auch schon zu Ohren gekommen«, murmelte ich.
Wir verließen den Sender und fuhren zur Gerichtsmedizin. Als wir ins Hauptlabor marschierten, lag Wayne Hembree, stellvertretender Direktor der Spurensicherung, mit über die Schulter geworfener Krawatte auf dem weißen Fußboden. Die Brille saß schief auf seinem runden schwarzen Gesicht, ein dünner Arm lag unter seinem Kreuz, den anderen hatte er über den Kopf gelegt.
»Ich bin angeschossen worden«, stöhnte er.
»Wer hat das getan?«, fragte ich. Für derlei clevere Fragen werden Detectives schließlich bezahlt.
Hembree deutete mit dem Kinn auf die gegenüberliegende Seite des Raums, wo ein älterer Mann in einem grellen Hawaiihemd eine Waffenattrappe in der Hand hielt und grinste, als hätte er gerade eben Orgasmuspillen entdeckt.
»Nicht Thaddeus da drüben«, entgegnete Hembree. »Von seinem Winkel aus hätte mich die Wucht des Treffers genau in die andere Richtung geschleudert. Mein Arm wäre dann nicht unter meinem Kreuz, sondern auf meinem Bauch.«
Ich ergriff Hembrees Hand und zog ihn hoch. Er strich seinen Laborkittel glatt, schrieb ein paar Notizen auf ein Klemmbrett und sagte dem Schützen, sie würden es in ein paar Minuten aus einem anderen Winkel probieren. Der Mann namens Thaddeus salutierte, tat so, als würde er ein paar Schüsse auf Harry und mich abfeuern, und verließ das Labor. Hembree überflog einen Bericht und erläuterte, was die Voruntersuchung ergeben hatte.
»Sieht ganz nach einem Raub aus, bei dem was schiefgelaufen ist. Der Wagen hält auf der Kreuzung, der Täter kommt aus den Büschen gerannt, schlägt das Fenster auf der Fahrerseite ein und fällt über das Opfer her.«
»Und warum foltert er es?«, wollte ich wissen.
»Motivation fällt nicht in meine Zuständigkeit«, erwiderte Hembree. »Vielleicht hat sie etwas gesagt, was ihn auf die Palme gebracht hat.«
»Muss ja ziemlich schlimm gewesen sein«, meinte ich.
Harry hatte geschwiegen und zugehört. Nun trat er näher.
»Ich habe da auch was, das mir eigenartig vorkommt. Wie lange war sie tot, als Ihre Leute dort aufgetaucht sind, Bree?«
»Weniger als eine halbe Stunde, könnte ich wetten. Euer Lastwagenfahrer hat gesehen, wie der Täter nach seinem Eintreffen aus dem Wagen gesprungen ist. Warum fragen Sie?«
»Das Fenster auf der Fahrerseite, das eingeschlagen wurde, war dem Wind zugekehrt«, sagte Harry. »Jedenfalls stand der Wagen eher zum Wind.«
Hembree runzelte die Stirn. »Ich begreife nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich habe den Boden berührt. Im Wagen stand das Regenwasser etwa fünf Zentimeter hoch. Ich meine, gestern Abend hat es ganz schön geschüttet, aber zehn Zentimeter in der Stunde?«
Hembree runzelte wieder die Stirn. »Der Regen fiel, wie bei Gewitterzellen so üblich, nicht überall gleichmäßig. Wenn eine ganze Reihe Gewitterzellen über dieses Gebiet hinweggezogen ist, sind acht, neun, zehn Zentimeter Niederschlag pro Stunde durchaus möglich. Ein Gebiet eine Meile weiter weg kriegt vielleicht nur drei, vier Zentimeter ab.«
»Macht Sinn«, fand Harry. »Eine Sache weniger, über die ich mir den Kopf zerbrechen muss.«
Ich hörte meinen Klingelton und fischte das Handy aus der Tasche. Der Anruf kam vom Empfangspult im Polizeipräsidium.
»Carson, Jim Haskins am Apparat. Du und Harry, ihr leitet doch die Ermittlungen in dem Raubmord von gestern Abend, stimmt’s?«
»Ja. Was liegt an?«
»Hier am Empfang ist eine Frau, die ihre Mutter vorbeigebracht hat. Die Mutter ist völlig durch den Wind, faselt etwas von einem Geldbeutel, einem Geldautomaten und einem Langhaarigen in ihrem Wagen. Dachte, ihr wüsstet gern Bescheid.«
Zwölf Minuten später waren wir dank Sirene und Blaulicht im Präsidium. Die Tochter hieß Gina Lovett, war um die vierzig, plump und trug Brille. Ihre Mutter, Tessie Atkins, war Ende sechzig und nervös. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, als wäre ihr kalt.
»Was ist passiert, Ms Atkins?«, erkundigte sich Harry, nachdem wir uns gesetzt hatten.
Sie zupfte an ihrem Ärmel herum. »Ich habe eine Freundin im Krankenhaus besucht und bin auf dem Heimweg bei der Bank vorbeigefahren. Ich musste meine Rechnungen bezahlen. Um die Zeit war das vielleicht keine schlaue Idee …«
»Wie viel Uhr war es denn, Ma’am?«, fragte ich.
»Kurz vor Mitternacht. Recht spät, doch nebenan war so ein Schnellrestaurant. Deshalb fühlte ich mich sicherer. Ich fuhr vor und entdeckte am Rand des Geländes etwas Weißes. Zuerst hielt ich es für eine Katze oder irgendein anderes armes Tier, das von einem Auto überfahren worden ist. Doch dann merkte ich, dass es ein Geldbeutel war. Ich dachte, jemandem wäre zufällig die Börse herausgefallen. Ist mir auch mal mit meiner Brieftasche auf dem Parkplatz von Bruno’s passiert. Ein netter Samariter hat sie in den Laden gebracht. Ich dachte mir …«
»Sie erwidern diesen Gefallen«, vollendete Harry den Satz.
»Ich bin hinübergefahren und stieg aus, um sie aufzuheben. Und das Nächste, was ich mitkriege, ist, wie mir jemand eine Hand auf den Mund legt und mich wieder in den Wagen schiebt. Es war ein übelriechender Mann mit einem Wust von Haaren. Er stieg auf der Beifahrerseite ein, setzte sich auf den Boden und sagte, wenn ich nicht erwartungsgemäß performe, würde er die Waffe ziehen.«
»Erwartungsgemäß performen?«, wiederholte ich.
Sie nickte mit verschränkten Armen. Mit zittrigen Fingern umklammerte sie ihre Schultern. »Er zwang mich, sechshundert Dollar von meinem Bankkonto abzuheben und dreihundert mit meinen beiden Kreditkarten. Das ist mein Limit. Ich war viel zu aufgewühlt, um zu fahren. Er steuerte den Wagen zum Bienville Square und noch ein paar Blocks weiter nach Süden und sprang dann raus. Ich bin einfach nur sitzen geblieben und habe geweint, bis meine Hände nicht mehr so gezittert haben. Keine Ahnung, wie ich heimgekommen bin.«
»Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«
»Er hat meinen Führerschein genommen und gesagt, wenn ich die Polizei verständige, würde er bei mir zu Hause aufkreuzen.«
Als Ms Atkins den Blick abwandte, meldete sich ihre Tochter zu Wort.
»Ich bin heute Morgen bei meiner Mutter vorbeigefahren, um ein paar Sachen zum Nähen abzuholen. Als sie mir nicht in die Augen schauen konnte, wusste ich sofort, dass was nicht stimmt. Schließlich hat sie es mir erzählt.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile mit Ms Atkins, konzentrierten uns auf die wenigen Details, die sie trotz ihrer Angst registriert hatte. Sie willigte ein, ihr Fahrzeug von der Spurensicherung überprüfen zu lassen. Obwohl wir davon ausgingen, dass der Täter sie mit seinen Drohungen nur zum Schweigen bringen wollte, riefen wir den Leiter der Polizeidienststelle in ihrem Bezirk an und baten darum, dass seine Leute in den nächsten Tagen ein Auge auf Ms Atkins’ Haus warfen.
»Ein Köder«, meinte Harry, stellte seine Limodose auf die Motorhaube des Dienstwagens und lehnte sich an den Kotflügel. »Er hat die Geldbörse als Köder benutzt.«
»Das ist brillant«, fand ich. »Wer kann schon einem Geldbeutel widerstehen? Die Guten möchten helfen, die Bösen denken sofort an Bargeld und Kreditkarten.«
Wir parkten auf dem Damm, der den östlichen Teil der Mobile Bay mit der Stadt verband. In der Abenddämmerung glühte der Horizont vor dem indigoblauen Himmel in leuchtendem Orange. Im Osten funkelten gerade eben aufgegangene Sterne. In einiger Entfernung saßen drei ältere Männer auf Campingstühlen, fischten und griffen in regelmäßigen Abständen in die braunen Papiertüten, die neben ihnen standen.
»Er hat Ms Atkins zurück in den Wagen bugsiert und danach nicht mehr angerührt«, sagte ich. »Er hat ihr kein Haar gekrümmt.«
»Dafür hat er ihr aber mit dem Tod gedroht«, erinnerte Harry mich.
»Er hat behauptet, eine Waffe zu haben. Und zwei Stunden vorher hat er mir nichts, dir nichts eine Frau mit einem dreißig Zentimeter langen Messer abgeschlachtet. Warum hat er nicht gedroht, sie abzustechen und in dünne Scheibchen zu schneiden? Weshalb hat er ihr Auto nicht durchwühlt? Und was soll dieser Spruch mit ›erwartungsgemäß performen‹? Klingt schwer nach einem Scheiß-Aktienhändler.«
Harry schwenkte den Blick nach Süden und betrachtete den dunklen Horizont über der Mündung der Mobile Bay dreißig Meilen voraus.
»Die Nummer mit dem Geldbeutel hat er wahrscheinlich auch bei Taneesha probiert, aber sie hat wohl gehört, wie er angerannt kam. Bestimmt hat sie die Tür zugemacht und verriegelt. Vielleicht hat ihn das so auf die Palme gebracht.«
»Irgendetwas muss ihn ja sauer gemacht haben. Wie viele Stichwunden hatte Ms Franklin?«
»Über dreißig. Doch zuerst hat er ihr die Finger gebrochen. Ich kapier’ es einfach nicht. Warum bringt er eine Frau um und lässt drei Stunden später eine andere laufen?«
Ich zwang mich, im Geiste den Franklin-Tatort noch mal zu besuchen: Der Wookie bricht der jungen Frau die Finger. Ihre Schmerzen geben ihm einen Kick. Er dreht durch, sticht zu und hackt mit dem Messer auf sie ein. Dann wird er vom plötzlichen Eintreffen des Lasters unterbrochen, haut ab, rennt wie ein Wilder direkt auf die Scheinwerfer des Lasters zu, schert im letzten Moment aus und taucht in der Dunkelheit unter.
»Haben die Leute von der Spurensicherung Blut in Ms Atkins’ Wagen gefunden?«
»Kein Blut, keine Haare, nicht die geringste Spur«, antwortete Harry.
»Wenigstens haben wir das Messer.«
Harry trank die Dose leer, zerdrückte sie und spielte damit herum. »Ein Messer ohne Fingerabdrücke. Ein Irrer, der nirgendwo registriert ist.«
»Kriegt dieser Fall etwa langsam einen komischen Dreh, Bruder?«, fragte ich ihn.
»Langsam?«, entgegnete er.
Als ein Schiffshorn ertönte, drehten wir uns um und sahen zu, wie ein Frachter gemächlich aus der Mündung des Mobile River glitt. Die erleuchtete Schiffsbrücke befand sich auf dem Heck. Sonst brannte nur noch Licht am Bug. Zwischen diesen beiden Lichtpunkten lagen unsichtbar mehrere Meter Schiff. Eine Minute später schwappte das Kielwasser bei uns ans Ufer. Es hörte sich an wie Regen.
Lucas stand in der nach Pisse stinkenden Tankstellentoilette. Die Tür hatte er abgeschlossen. Seine mit Toilettenseife eingeschäumte Brust tupfte er mit rauen Papierhandtüchern ab. Wieder zählte er sein Geld, mehr als tausend Dollar in neuen sauberen Scheinen. Diese Summe war seine Saat, aus der im nächsten Schritt arbeitendes Kapital werden sollte. Um dieses Ziel schnell zu erreichen, musste er ein Produkt finden und absetzen, für das es große Nachfrage gab.
Das Produkt konnte er kriegen. Was er brauchte, war ein Vertrieb.
Lucas musterte das Gesicht im verschmierten Spiegel, das nur aus schwarzen Augen und einem runden, tief in einem Wust aus dunklen Haaren verborgenen Mund bestand. Unheimlich, sogar furchteinflößend, als wäre er gerade der Hölle entsprungen. Aber wie sollte er auch sonst aussehen?
Lucas schnitt ein finsteres Gesicht vor dem Spiegel, bleckte die Zähne wie ein tollwütiger Hund und knurrte. Dann betrachtete er sein Spiegelbild und schnappte zu.
»Was bedeutet diese Grimasse, Lucas?«
Plötzlich ertönte Dr. Rudolnicks Stimme in seinem Kopf.
»Sie zeigt, wie angepisst ich bin, Doktor.«
»Du liebe Zeit. Sie wirken so wütend, als wollten Sie jemanden umbringen, Lucas. Sind Sie wirklich so wütend?«
»Ich denke nicht, Doktor. Zumindest heute nicht.«
»Gut, Lucas. Dann wollen wir jetzt mit Atmung und Visualisierung arbeiten, ja?«
Lucas lachte, stopfte das Hemd in die Hose und öffnete die Toilettentür. In der Ferne waren Lichter von Bars und Clubs zu sehen. Abgehalfterte Schuppen für abgehalfterte Typen, also genau die Sorte von Leuten, die sich mit unkonventionellen Vertriebsnetzen auskennt. Insbesondere in der Automobilbranche.
Im Fenster der nächsten Bar, gerade mal dreißig Meter entfernt, blinkte das Wort LUCKY in grüner Neonschrift. Vielleicht war das ja ein gutes Omen.
Lucas fuhr sich noch einmal mit der Hand übers Haar und trat in die Nacht hinaus. In seinem Kopf spielte laute Musik. Mit den Fingern schnippte er den Takt zu ›Psychoticbumpschool‹, einem alten Funksong von Bootsy Collins. Und dann ging er zu Lucky’s hinüber.
»Lassen Sie mich ein paar Minuten mit Ms Franklin allein, Clair?«, fragte ich. »Bitte.«
Dr. Clair Peltier, Leiterin der Mobiler Abteilung des Forensischen Instituts von Alabama, starrte mich mit atemberaubend blauen Augen an. Zwischen uns lag der Leichnam von Taneesha Franklin zugedeckt auf einem Edelstahltisch. Ihr Gesicht war von den Schlägen, die man ihr verabreicht hatte, entstellt; ihre nackten Arme, die unter dem Laken hervorschauten, waren von scharf gezackten Stichwunden übersät. Ihr Kopf war zur Seite gefallen und der breite Schlitz unter ihrem Kinn wirkte wie ein aufgerissenes, hungriges Maul.
»Ryder …«
»Drei Minuten?«
Sie seufzte. »Ich gehe mal den Flur hinunter und hole mir einen Kaffee. Dauert etwa zwei Minuten.«
»Danke, Clair.«
Sie winkte nur ab und verließ den Raum. Der Saum ihres grünen OP-Kittels flatterte beim Gehen. Nicht vielen Frauen gelang es, in einem grünen Baumwollkittel gut auszusehen, doch Clair bekam das hin.
Möglicherweise war das eine Eigenart von mir, aber als Ermittler – oder vielleicht auch nur als menschliches Wesen – trachtete ich danach, ein paar Minuten mit dem oder der Verstorbenen zu verbringen, ehe der Leichnam mit einem Y-Schnitt geöffnet wurde und sich in etwas anderes verwandelte. Ich brauchte einen Moment allein mit meinem Auftraggeber, denn ich arbeitete weder für die Stadt noch für den naiven Glauben an Gerechtigkeit. In Wahrheit arbeitete ich für die Person, die durch die Hand eines Anderen zu früh und zu Unrecht ihr Leben verloren hatte. Manchmal stand ich neben den Guten und oft auch neben den Schlechten, doch die meisten Menschen gehörten – wie der Rest von uns – in die breite Grauzone zwischen diesen beiden Extremen: Füße in der Erde, Kopf hoch oben im Himmel und das Herz irgendwo dazwischen.
Nach allem, was Harry und ich in Erfahrung gebracht hatten, war Taneesha Franklins kurzes Leben von ehrenhaften Handlungen bestimmt gewesen. Sie hatte sich auf das Wichtige konzentriert und ihr Bedürfnis, anderen zu Diensten zu sein, ausgelebt. Erst vor kurzem hatte sie den Journalismus für sich entdeckt und gehofft, auf diese Weise die Welt zu verbessern.
Gut für dich, Teesh, dachte ich.
Clair kam durch die Tür. Wortlos näherte sie sich dem Leichnam, nahm ein Skalpell und machte sich an die Arbeit. Ich stand auf der anderen Seite des Tisches, sah manchmal hin und schloss gelegentlich die Augen.
Normalerweise wohnte ich den Obduktionen bei, während Harry mehr Zeit im Büro des Staatsanwaltes zubrachte. Wir machten oft Witze darüber, dass ich mich lieber mit toten Körpern als mit lebenden Anwälten abgab. Tatsächlich fühlte ich mich im Leichenschauhaus ganz wohl. Hier war es kühl und ruhig, hier hatte alles seine Ordnung.
»Wo hat man sie gefunden, Carson?«, fragte Clair, während sie die durchtrennte Kehle und die heraushängenden Muskelstränge betrachtete.
»In einem Industriegebiet bei den Docks. Zwischen Lagerhäusern und kleinen Fabriken.«
»Also keine Menschenmassen? Niemand, der in der Nähe rumhing?«
»Normalerweise stehen dort Huren, doch an jenem Abend hat der Regen sie von der Arbeit abgehalten. Wieso wollen Sie das wissen?«
»Ihre Stimmbänder sind verletzt. Schwer verletzt.«
»Ist das auf Strangulation zurückzuführen? Oder auf das Messer?«
Clair schürzte die rosafarbenen Lippen. »Wahrscheinlich rührt die Verletzung daher, dass sie geschrien hat. Und ich frage mich, warum keiner sie gehört hat.«
Die Obduktion dauerte gute zwei Stunden. Clair zog die Latexhandschuhe aus und warf sie in einen Spezialmülleimer neben dem Tisch. Als sie den Mundschutz abnahm, sah ich, dass ihr Lippenstift einen Abdruck auf dem Stoff hinterlassen hatte. Clair zog die Haube ab und schüttelte die hübschen kurzen Haare, die schwarz wie Anthrazit glänzten. Dann legte sie die Hände auf die Hüften und drückte den Rücken durch.
»Ich werde zu alt für diesen Job, Ryder.«
»Sie sind vierundvierzig. Und in besserer Verfassung als so manche, die zehn Jahre jünger sind.« »Versuchen Sie nicht, mir zu schmeicheln, Ryder«, ermahnte sie mich. »Es sei denn, es lässt sich nicht vermeiden.«
Außer Gott war ich vermutlich der Einzige, der Clair mit dem Vornamen anredete. Da ich nicht ahnte, wie viel Wert sie auf Förmlichkeiten legte, hatte ich sie bei unserer ersten Begegnung so genannt. Alle anderen, die bei diesem Treffen dabei waren, verzogen aus Furcht vor einer rüden Zurechtweisung schon das Gesicht, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund ließ sie mein Verhalten durchgehen und redete mich im Gegenzug ausschließlich mit meinem Nachnamen an.
Bei unserem ersten Zusammentreffen hatte ich Clair fünf Jahre älter als tatsächlich geschätzt, was ihrer ernsten Miene und einem Ehemann Mitte sechzig geschuldet war. Später begriff ich, dass ihr Gesichtsausdruck viel mit dem Gatten zu tun hatte, denn Clairs Züge wurden beträchtlich weicher, nachdem sie besagten Herrn in die Wüste geschickt hatte.
Vor zwei Jahren hatte die Ermittlung in einem Mordfall Clairs Privatleben schwer durcheinandergewirbelt. Die Ermittlungsergebnisse hatten innere Blessuren bei ihr hinterlassen, und ich war in jenem schicksalhaften Augenblick, wo sie dringend jemand zum Reden brauchte, zur Stelle gewesen. Wir standen in ihrem Garten unter einem von Rosen überwucherten Bogen, als Clair, weniger mir als sich selbst gegenüber, Details aus ihrer Vergangenheit preisgab und plötzlich begriff, welche Schatten längst vergangene Ereignisse auf ihr Leben warfen und was sie bedeuteten.
Ihre Enthüllungen waren bestürzend, und obwohl mich die mir übertragene Rolle nicht gerade begeisterte, hatte sie in mir den Auslöser für ihren Transformationsprozess gesehen.
»Wann kann ich mit dem Ergebnis der Voruntersuchung rechnen?«, fragte ich und nahm meine Jacke von der Wandgarderobe.
»Morgen früh. Aber nicht vor halb elf.«
Obwohl unsere Beziehung rein beruflich war, hatte es Augenblicke gegeben, wie jener in ihrem Garten, wo die Welt sich kurz änderte und wir für einen flüchtigen Moment in der Lage schienen, uns gegenseitig mit selten klarem Blick zu sehen. Ein Reinkarnationsanhänger hätte wahrscheinlich vermutet, wir wären uns in einem früheren Leben begegnet und hätten ein Band geknüpft, das weder Zeit noch Raum kappen konnte.
»Dann bin ich morgen um halb elf hier, Clair.«
Im Weggehen rief sie noch ein paar Worte über ihre Schulter.
»Wie wäre es, wenn Sie Harry schicken? Wäre doch lustig, mal jemanden mit Verstand zu treffen.«
Zu gewissen Zeiten jedoch schien das Band sehr dünn zu sein.
Gerade als ich in den Crown Victoria steigen wollte, klingelte mein Handy. Harry war dran. »Hembree will uns im Labor haben. Wie wäre es, wenn du kurz vorbeischaust und mich aufgabelst. Ich warte draußen.«
Eine Viertelstunde später stürmten wir in die Spurensicherung. Hembree lehnte an einem Labortisch vor seinem Büro. Der Mann war so dünn, dass der Laborkittel wie ein Zauberermantel in losen breiten Falten an ihm herunterhing.
»Schöne Augen haben Sie, Harry«, meinte er.
Harry zwinkerte. »Danke, Bree. Und Sie haben einen niedlichen Hintern. Wollen wir nach der Arbeit nicht irgendwo einen Drink nehmen?«
Hembree runzelte die Stirn. »Ich war gerade dabei, den Wasserstand auf der Bodenabdeckung zu messen. Ich habe das hiesige Büro des National Weather Service angerufen und mit dem leitenden Meteorologen gesprochen. Sie archivieren die Niederschlagswerte. Er hat sich die Aufzeichnungen von gestern Abend angeschaut und dabei Zeit, Ort und Gewitterzellenaktivität überprüft.«
»Mit welchem Ergebnis?«, erkundigte sich Harry.
»Die Gegend, in der das Fahrzeug des Opfers stand, hat insgesamt nur leichten Regen abgekriegt. Es fiel dort weniger Niederschlag als sonst wo in der Stadt, zumindest eine Stunde, bevor der Wagen entdeckt wurde. Ungefähr zweieinhalb Zentimeter, bis man ihn fand.«
»Und warum war dann so viel Wasser im Wagen, Bree? Das war fast schon ein See.«
»Vielleicht hatte die Ablaufrinne seitlich am Dach ein Leck. Das Wasser könnte sich da gesammelt haben und dann in den Wagen geleitet worden sein. Ich werde das überprüfen.«
»Hat sich sonst noch was ergeben?«
Hembree sagte: »Das Messer, das Shuttles auf der Straße aufgelesen hat? Wurde vor Jahren von der Braxton Knife Company in Denver hergestellt. Der Griff ist aus Knochen, die Klinge aus Karbonstahl, nicht rostfrei, von daher die Korrosion. Das ist ein verdammt schönes Messer.«
»Und wie steht es mit Fingerabdrücken? Gibt es da was Neues?«
»Habe einen Daumen-, einen Zeigefinger- und einen Mittelfingerabdruck und ein Stück von der Handfläche gefunden, die ich mit jeder verfügbaren Datenbank gecheckt habe. Nada. Nichts. Pustekuchen.«
»Haben Sie eigentlich auch eine Wookie-Datenbank?«, fragte Harry.
»Was?«
Wir winkten ab und gingen zur Tür hinaus.
Den restlichen Tag verbrachten Harry und ich damit, das Industriegebiet zu durchkämmen, wo Taneesha Franklin ums Leben gekommen war. Normalerweise war diese Gegend das Jagdrevier von Huren, doch aufgrund des Regens gingen sie immer noch nicht vor die Tür. Wir fragten alle Leute, derer wir habhaft werden konnten, nach dem bärtigen Langhaarigen. Den meisten Mädels, Typen und fragwürdigen Gestalten, die ihre Waren an den Straßenecken verkauften, hatte der Mord eine Heidenangst eingejagt. Sie gaben sich Mühe und wollten behilflich sein, aber als wir gegen sechs Uhr heimfuhren, hatten wir rein gar nichts in Erfahrung gebracht.
Ich wohnte dreißig Meilen weiter südlich, auf Dauphin Island. Das ist eine teure Gegend, doch nach dem Tod meiner Mutter hatte ich genug Geld geerbt, um mir sofort ein Haus kaufen zu können. Eigentlich war das mein zweites Heim auf der Insel, denn aus dem ersten hatte Hurrikan Katrina Brennholz gemacht. Seitdem beklage ich mich nicht mehr, wenn die Raten für das Rundum-Sorglos-Paket der Versicherung fällig werden.
Als ich in meine kurze Straße bog, sah ich einen silbernen Audi auf meiner Auffahrt stehen, dessen Stoßstange mit Aufklebern von Raubvögeln und wilden Tieren überzogen war. Danielle Danburys Wagen. Ich parkte unter dem Haus, stieg die Treppe hoch und trat ein.
»Ich gehe aufs Deck hinaus«, rief Dani. »Komm doch auch.« Die Terrassentür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss. Ich stand im Wohnzimmer und hörte nur das leise Summen der Klimaanlage. Für gewöhnlich empfing Dani mich an der Tür.
Was war los?
Ich entledigte mich meiner Krawatte und meiner Jacke und warf beide Kleidungsstücke über einen Stuhl. Das Schulterhalfter und die Waffe verschwanden im Nachttisch.
Ich hörte, wie die Terrassentür aufging. »Wo bleibst du, Carson?«
»Ich zieh mich noch schnell um.«
»Beeil dich, Pogobo.«
Pogobo und die Abkürzung Pogie kamen von Po-lice Go-lden Bo-y. Diesen Spitznamen hatte Dani sich für Harry und mich ausgedacht, nachdem der Bürgermeister uns zu Polizisten des Jahres ernannt hatte. Die meiste Zeit waren wir gewöhnliche Detectives, doch hin und wieder wurde aus uns das Psycho- und Soziopathologische Ermittlungsteam. PSET oder piss-it, wie alle es nannten, war vor ein paar Jahren als reiner Werbegag ins Leben gerufen worden, ohne jemals richtig aktiv zu werden. Doch irgendwie und irgendwann kam das PSET zum Einsatz, erzielte Ergebnisse und brachte uns die Ernennung zu Polizisten des Jahres. Wie sich herausstellte – und wie Harry prophezeit hatte –, war diese Ehrung einen feuchten Dreck wert.
Ich zog ein Paar abgeschnittene Hosen, ein T-Shirt und Laufschuhe an, die jeden Moment auseinanderzufallen drohten. An der Küchenspüle klatschte ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Dani lief neben dem Terrassentisch auf und ab. Auf der Tischplatte lag etwas unter einem Küchenhandtuch. Ich trocknete mein Gesicht mit dem Topflappen ab und ging nach draußen aufs Deck.
Der sich dem Ende zuneigende Tag war schön und frühlingshaft. Eine salzige, nach Seetang duftende Brise vom Strand verstärkte diesen Eindruck noch. Kreischende Möwen folgten einem Schwarm kleiner Fische in die sanften Wellen und tauchten unter. Mehrere Spaßboote und auch eine große weiße Yacht, die mir in letzter Zeit häufiger aufgefallen war, schipperten durch den Golf. Hoch oben am Himmel ging ein einmotoriges Flugzeug in Querlage. Von fern betrachtet wirkte es gerade mal so groß wie ein Drachen.
Dani stand in weißen Shorts und einem roten Trägertop neben dem Tisch mit dem Handtuch. Ihr aschblondes Haar reflektierte das Sonnenlicht und der strahlende Himmel färbte ihre grauen Augen blau. Ich warf einen Blick auf den Tisch und zog eine Augenbraue hoch.
»Ein Zauberkunststück? Willst du einen Hasen verschwinden lassen?«
Sie riss das Küchenhandtuch weg. Mitten auf dem Tisch stand eine Flasche teurer Champagner in einer Salatschüssel mit Eiswürfeln und daneben zwei Sektgläser, die ich für $ 1.49 pro Stück bei Big Lots erstanden hatte.
Als Dani die Flasche entkorkte, schoss der Schaum heraus. Sie schenkte ein und reichte mir ein Glas.
»Wir trinken auf meine Beförderung. Ich bin aufgestiegen von der Reporterin zur …«, sie prostete mir mit erhobenem Glas zu, »… vollwertigen Nachrichtenmoderatorin.«
Ich starrte sie an, als würde sie eine Fremdsprache sprechen. »Was?«
»Sie machen mich zur Nachrichtenmoderatorin, Carson. Ich fange noch diese Woche an.«
»Das kommt ja ziemlich überraschend.«
Ich registrierte die Andeutung eines Stirnrunzelns. »Eigentlich nicht. Ich habe es schon seit ein paar Wochen vermutet, die Zeichen gelesen. Die Fühler ausgestreckt.«
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Es ist Juni, Carson. Wann haben wir uns das letzte Mal ernsthaft unterhalten? Ende April?«
»Ich hatte zu tun.« Mir fiel auf, wie ich in die Defensive ging.
»Vor ein paar Wochen habe ich versucht, es dir zu erzählen. Aber einmal hast du mich mit einem ›Pst‹ zum Schweigen gebracht und etwas auf deinen Notizblock geschrieben. Und das andere Mal habe ich zu dir rübergesehen und du hast schon geschlafen.«
»Und warum hast du keinen dritten Versuch gestartet?«
Offenbar hatte sie meine Frage nicht gehört.
»Fürs Erste werde ich die anderen Moderatoren vertreten, wenn sie frei haben. Die Wochenenden übernehmen. Damit sich die Zuschauer an mich gewöhnen.«
»Sie sind doch schon an dich gewöhnt.«
»Die Leute kennen mich nur als die Frau, die das Mikro hält. Es ist wichtig, dass sie mich als nahbare Person kennenlernen. Als jemanden, mit dem sie Zeit verbringen möchten. Und dem sie ihr Vertrauen schenken. Es geht um die Beziehung zum Zuschauer, um etwas, das du jedem von ihnen gibst.«
Ihre Rede klang wie das Geschwafel, über das sie sich früher immer lustig gemacht hatte. Ich fragte mich, was ich verpasst und mit wem sie über Moderatoren-Zuschauer-Beziehungen und Nahbarkeit gesprochen hatte.
»Und worauf läuft das alles hinaus?«, fragte ich.
»Auf regelmäßige Arbeitszeiten, jedenfalls solange ich diesen Job mache.«
»Alles, was wir im Moment haben, sind die Wochenenden und manchmal sehen wir uns da auch nicht. Hast du gerade eben gesagt, dass du genau dann –«
»Nur am Anfang, während der Testphase. Bis ich mich eingewöhnt habe. Hinterher wird sich das ändern.«
»Wenn wir uns seltener sehen, ist das besser für uns?«
»Ich kann es nun mal nicht ändern, Carson. Das hier ist meine Chance, eine Spitzenposition zu ergattern. Und außerdem werde ich fast das Doppelte verdienen.« Sie wechselte das Thema. »Du hast dir doch schon einen Smoking für Samstagabend geliehen, oder?«
Ich klopfte mir an die Stirn. Channel 14 veranstaltete am Samstagabend seine jährliche Party, bei der es ziemlich förmlich zuging. Gut möglich, dass ich mir einbildete, nicht hingehen zu müssen, wenn ich keinen Smoking hatte. Vielleicht litt ich unter so etwas wie modischem Solipsismus.
»Besorg dir gleich morgen einen, Carson. Das ist die Party des Jahres. Alle großen Tiere von Clarity werden kommen. Ich muss Eindruck schinden und so auftreten, wie es einer Nachrichtenmoderatorin entspricht.«
Wir saßen auf dem Deck und ich hörte zu, wie Dani mir Dinge erzählte, die ich wahrscheinlich schon vor Wochen hätte erfahren sollen. Ihre berufliche Veränderung schien vernünftig und auf lange Sicht auch gut für uns zu sein: mehr Zeit füreinander und regelmäßige Arbeitszeiten. Doch im Hintergrund, hinter dem Rauschen der Wellen und dem ruhigen Blues, der aus den Terrassenlautsprechern drang, hörte ich eine leise, aber hartnäckige Dissonanz, als würden mein Kopf und mein Herz verschiedene Melodien spielen.
Am nächsten Morgen fuhr ich um acht vor dem Präsidium vor. Dort war es recht ruhig, ein paar Kollegen telefonierten und ermittelten. Die meisten Tische hinter den grauen Trennwänden waren leer. Pace Logan saß an seinem Schreibtisch und starrte Löcher in die Luft. Da ich Shuttles nirgendwo entdecken konnte, nahm ich an, dass er unterwegs war und etwas tat, wovon Logan keine Ahnung hatte – vielleicht ging er ja gerade der Arbeit eines Detective nach. Nachdem ich mir eine Tasse Kaffee eingeschenkt und einen Dollar für zwei mit Puderzucker überzogene Donuts in die Kasse geworfen hatte, steuerte ich auf das Ensemble aus drei Trennwänden und zwei Schreibtischen zu, das als Harrys und mein Büro fungierte.
Als ich in unser U trat, krabbelte Harry auf allen vieren herum und suchte irgendetwas unter seinem Schreibtisch.
»So ist’s recht. Kriech nur, du elender Wurm«, knurrte ich.
Er hob den Blick und verdrehte die Augen.
»Da fehlen ein paar Fotos in der Mordakte. Ich dachte, sie wären runtergefallen.«
In die Mordakte – ein Schnellhefter mit sämtlichen Ermittlungsberichten des Falls – kamen auch die Plastikhüllen mit Fotos vom Tatort und anderen wichtigen Bildern. Das Problem war nur, dass diese Hüllen alles andere als praktisch waren.
»Welche Fotos?«, fragte ich.
Harry stand auf, bürstete die Knie seiner limonengelben Hose ab und warf einen missmutigen Blick auf den Papierkorb neben dem Schreibtisch. Es wäre nicht das erste Mal, dass etwas hinunterfiel und von der Putzkolonne entsorgt wurde.
»Keine Ahnung. Ich habe die Archivnummern. Ich werde drüben anrufen und neue Abzüge bestellen.«
Ich musterte den Papierberg auf seinem Schreibtisch. Harry hatte Berichte und Informationen aus Taneesha Franklins Büro gesichtet und das potenziell nützliche Material in die Akte gelegt.