Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz - Christoph Heizler - E-Book

Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz E-Book

Christoph Heizler

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Beschreibung

Die Studie schließt eine Forschungslücke im Themenfeld monastischer Spiritualität. Erstmalig liegt eine Untersuchung vor, die sich umfangreich dem Beten im Leben und schriftlichen Werk der späteren Karmelitin Edith Stein widmet. Nach einer Sichtung der Konturen des Betens hinsichtlich der Gebetsorte, -zeiten, -formen und -anliegen, wie sie im Verlauf der Biographie Edith Steins zutage treten, werden prägende Einflüsse vorgestellt, die ihr Beten formgebend beeinflusst haben. Der zweite Teil der Studie lenkt den Blick auf zwei geistliche Texte der Autorin. Sowohl auf der Makroebene der Biographie als auch auf der Mikroebene der geistlichen Lyrik wird im Gang der Untersuchung eine Gestaltwerdung sichtbar, die als Ausdruck kirchlicher Existenz aufgewiesen und beschrieben werden kann.

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Christoph Heizler

Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie

53

Begründet von Gisbert Greshake,

Medard Kehl und Werner Löser

Herausgegeben von Eberhard Schockenhoff,

Jan-Heiner Tück und Klaus Vechtel

Christoph Heizler

Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

echter

Bibliografsche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografe; detaillierte bibliografsche Daten sind im Internet über ›http://dnb.d-nb.de‹ abrufbar.

© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Satz: Crossmediabureau – xmediabureau.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim – www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05378-9

978-3-429-05030-6 (PDF)

978-3-429-06440-2 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Studie ist eine geringfügig überarbeitete Fassung der im Sommersemester 2018 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Inauguraldissertation mit gleichlautendem Titel. Die Veröffentlichung der mit summa cum laude benoteten Studie gibt mir Gelegenheit vielen zu danken. Auf dem Weg der Ausarbeitung und Fertigstellung durfte ich oft wertschätzende Begleitung und hilfreiche Unterstützung erfahren. Dank gilt Prof. em. Dr. Peter Walter für die Begleitung beim Anfertigen der Studie und die Erstellung des Erstgutachtens. Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff danke ich für das Zweitgutachten. Bei beiden akademischen Lehrern der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau konnte ich Einblicke in Theologie erlangen, die sich der Tradition der Kirche und dem heutigen Menschen gleichermaßen verbunden weiß.

Dank gilt auch Freunden, die in interessierten Gesprächen und wohlwollendem Mittragen im Gebet das Promotionsvorhaben immer neu unterstützt haben. Dazu gehören Diakon Dr. Joachim Kittel, Diakon Michael Schlör, Pfarrer Tobias Merz und Pfarrer Martin Patz sowie viele, die zum erfolgreichen Gelingen in unterschiedlichsten Formen im Großen und im Kleinen beigetragen haben. Dr. Katharina Seifert, der Präsidentin der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland, gilt mein Dank für die Durchsicht des Manuskripts vor der Abgabe.

Den Herausgebern der Reihe „Studien zur systematischen und spirituellen Theologie“, Prof. Dr. Jan-Heiner Tück (Wien), Prof. Dr. Klaus Vechtel (Frankfurt St. Georgen) und Prof. Dr. Schockenhoff (Freiburg im Breisgau), danke ich für die Aufnahme in die wissenschaftliche Buchreihe des Würzburger Echter Verlags und für wertvolle Anregungen. Dem Lektor Heribert Handwerk und den Mitarbeitern des Verlags danke ich für die Begleitung bei der Veröffentlichung. Druckkostenzuschüsse der Edith Stein-Stiftung (Köln) und der Erzbischof Hermann Stiftung (Freiburg) haben die Veröffentlichung finanziell unterstützt.

Besonderer Dank gilt den Schwesterngemeinschaften im Karmel St. Therese in Kirchzarten bei Freiburg im Breisgau und im Karmel Himmelspforten in Würzburg. In beiden Konventen durfte ich nicht nur herzliche, wertschätzende Aufnahme und beständige Unterstützung im Gebet erfahren. Es hat mich auch immer neu beschenkt, dort den lebendigen Geist des Karmel erleben zu dürfen, von dem Edith Stein so tief berührt war. Dass ich auf verschiedenen Wegen nach Kirchzarten und Würzburg gelangen durfte, erkenne ich rückblickend als geistlichen Fingerzeig, der meiner Arbeit wichtige Impulse verliehen hat. Mit dem Wunsch, dass die vorliegende Studie im Orden einen Beitrag leistet, das reiche Erbe von Sr. Teresia Benedicta a Cruce weiter zu entdecken und fruchtbar werden zu lassen, sei diese Studie den genannten Schwesterngemeinschaften herzlich gewidmet.

Freiburg im Breisgau, am 14. Dezember 2018

Christoph Heizler

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Hinführung zum Thema

2 Aktueller Forschungsstand

2.1 Positionen zum Thema Gebet in der Systematischen Theologie

2.1.1 Der aktuelle Stand der Diskussion in geschichtlicher Verortung

2.1.2 Zugänge zum betenden Geschehen bei Bernhard Welte und Bernhard Casper

2.1.2.1 Das Gebet bei Bernhard Welte

2.1.2.2 Das Gebet bei Bernhard Casper

2.1.3 Ertrag und Bedeutung für die Fragestellung der Studie

2.2 Das Thema Gebet in der Edith Stein Forschung.

2.2.1 Forschungsbeiträge von Josephine Koeppel OCD, Joanne Mosley und Dianne Marie Traflet

2.2.2 Gründe für die geringe Anzahl an Forschungsbeiträgen

3 Handlungsleitendes Interesse, methodische Ausrichtung und geschichtliche Situierung der Untersuchung

3.1 Handlungsleitendes Interesse und methodische Ausrichtung der Studie

3.1.1 Methodische Abfolge der Untersuchung

3.1.2 Begründung für die Auswahl der Methodik

3.1.3 Nähe zu belegbaren Quellen statt hagiographischer Verzeichnung

3.2 Geschichtlicher Standort der Studie: Theologie nach Auschwitz

3.2.1 Theologische Deutungsversuche und Sprachzeugenschaft für die Opfer

3.2.2 Theologische Gebetshermeneutik bei Johann Baptist Metz

4 Begriffliche Klärungen

4.1 Zum Begriff Gebet

4.1.1 Grenzen einer Gebetsdefinition

4.1.2 Erste Annäherung: Unabschließbare Antwort auf eine innere Berührung

4.1.3 Zweite Annährung: Manifestationen im Sichtbaren

4.1.4 Dritte Annäherung: Verweischarakter der sichtbaren Seite als Spur

4.1.5 Statt einer Definition: Deskription eines Grundaktes menschlicher Freiheit

4.2 Zum Begriff Gestalt

4.2.1 Bedeutung und Funktion des Gestaltbegriffs bei Hans Urs von Balthasar

4.2.2 Eingestaltung in Jesus Christus und Teilhabe an seiner Sendung der Liebe

4.2.3 Einbezug in die exklusive Stellvertretung Jesu Christi

4.2.4 Sein als Liebe und Beten als Anerkenntnis göttlicher Liebe

4.2.5 Integration der Gestaltüberlegungen in eine Gebetstheologie nach Auschwitz

4.3 Zur Formulierung „Kirchliche Existenz“

4.3.1 Kirche als „Klangraum“ und Existenz als „Tonart“ des Gebets der Edith Stein

4.3.2 Die Begriffe Existenz und Existenzphilosophie.

5 Sichtung der Konturen des Gebets im Lebensvollzug der Edith Stein

5.1 Orte des Gebets

5.1.1 Nachweis von Gebetsorten

5.1.2 Äußerlich situierbarer und innerer Ort des Gebets

5.1.2.1 Der innere Ort des Betens in der Diktion der Karmelheiligen

5.1.2.2 Der innere Ort des Gebets bei Edith Stein

5.1.3 Orte in den Jahren bis zur Taufe in Bergzabern am 1. Januar 1922

5.1.3.1 Beten in der Familie in Breslau

5.1.3.2 Mit 15 Jahren eine betonte Abwendung vom Beten

5.1.3.3 Begegnungen mit dem Gebet bis zur ihrer Taufe

5.1.3.4 Taufe und erste heilige Kommunion in Bergzabern

5.1.4 Gebetsorte vor dem Eintritt in den Karmel

5.1.5 Gebetsorte im Karmel

5.1.6 Orte des Gebets außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft

5.2 Zeiten des Gebets

5.2.1 Gebetszeiten im Tages- und Jahresverlauf

5.2.2 Tägliche Gebetszeiten

5.2.3 Nächtliches Beten in der Kirche und in der Klosterzelle

5.2.4 Feier von hohen Festen und geprägten Zeiten im Kirchenjahr

5.2.5 Ausgedehnte Gebetszeiten: „Wesenlose Multiplikation“ religiöser Praxis?

5.2.6 Gebetszeiten als Karmelitin in Köln und Echt

5.3 Formen des Gebets

5.3.1 Mündliches Gebet der Kirche (Brevier und Grundgebete)

5.3.2 Schweigendes Gebet und Formen der Kontemplation

5.3.2.1 „Ruhen in Gott“ – eine unthematische Erfahrung des „Ruhegebets“ bei Teresa von Ávila?

5.3.2.2 Meditative Schriftbetrachtung mit Dialogaufnahme

5.3.2.3 Beten in Stille

5.3.3 Feier und Verehrung der Eucharistie

5.4 Themen und Anliegen des Gebets

5.4.1 Gebet als bräutliche Hingabe an das Gegenüber und seine Anliegen

5.4.2 Gottvertrauen als Thema des Betens und als Gebetswunsch für andere

5.4.3 Gebet als Anbetung, Lob und Dank

5.4.4 Das Bittgebet und Stellvertretung für andere

6 Aufweis sinndeutender Horizonte

6.1 Die Bedeutung der sinndeutenden Horizonte

6.2 Sinndeutende Horizonte

6.2.1 Betende Philosophin: Auf der Suche nach Wahrheit, Sinn und dem Wesen der menschlichen Person

6.2.1.1 Schulischer und akademischer Werdegang bis zur Promotion

6.2.1.2 Modifizierte Aufnahme der Phänomenologie Edmund Husserls

6.2.1.3 Einflüsse von Max Scheler und Adolf Reinach

6.2.1.4 „Meine Sehnsucht nach ahrheit war e n einziges Gebet“

6.2.1.5 Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins

6.2.1.6 Die menschliche Person als liebende ist Abbild der Dreifaltigkeit

6.2.2 Betende Jüdin: Als Tochter Israels mit Elia und Esther in der Tradition des auserwählten Volkes vor Gott stehen

6.2.2.1 Mit Elia, dem gottergebenen „Führer“ der Karmeliten vor Gott stehen

6.2.2.2 Mit Esther berufen, für ihr Volk einzutreten

6.2.2.2.1 Erste Begegnungen mit der biblischen Gestalt der Esther

6.2.2.2.2 Das Theaterstück „Nächtliche Zwiesprache“ aus dem Jahre 1938

6.2.2.2.3 Biographische Einordnung des Theaterstücks

6.2.3 Betende Frau: Das Urbild Mariens als Braut, jungfräuliche Mutter, Schwester und als Patronin der karmelitanischen Gemeinschaft

6.2.3.1 Frömmigkeitsgeschichtlicher Hintergrund: Marianisches Jahrhundert und Privilegienmariologie

6.2.3.2 Marienverehrung im Karmel: Maria als „Patrona“, „Mutter“, „Schwester“ und „Jungfrau“

6.2.3.3 Marienfrömmigkeit als Ausdruck von Christusfrömmigkeit

6.2.3.4 Akzente marianischer Frömmigkeit bei Edith Stein

6.2.3.4.1 Akzente und inhaltliche Grundzüge der Mariologie Edith Steins

6.2.3.4.2 Maria als „Mittlerin“ und „Miterlöserin“

6.2.3.4.2.1 Maria als Miterlöserin in der Heilsordnung als „neue Eva“ und durch Beteiligung am heiligen Messopfer

6.2.3.4.3 Zusammenfassung

6.2.4 Betende Karmelitin: Mit Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz eremitisch-kontemplativ leben und sich von Gott zur Liebe hin „umformen“ lassen

6.2.4.1 „Inneres Beten“ bei Teresa von Ávila als „Verweilen bei einem Freund“

6.2.4.2 „Gleichgestaltung aus Liebe“ auf dem Wege der „Dunklen Nacht“ der Sinne und des Geistes bei Johannes vom Kreuz

6.2.4.2.1 Biographische Gemeinsamkeiten zwischen Edith Stein und Johannes vom Kreuz

6.2.4.2.2 Affinität zur lyrischen Verschriftlichung der geistlichen Erfahrungen

6.2.5 Betendes Glied am Leib Christi: Einbezogen in die Hingabe Jesu Christi an den göttlichen Vater und dessen Verherrlichung

6.2.5.1 Das Gebet der Kirche als Ehre und Verherrlichung Gottes im fortlebenden Christus der Liturgie und Eucharistie

6.2.5.2 Die einsame Zwiesprache mit Gott als Gebet der Kirche – „lernen“ im eigenen Herzen wie der Hohepriester mit Gott zu sprechen

6.2.5.3 Inneres Leben und äußere Form und Tat – vom mystischen Strom der Kirche getragen sich dem Apostolat hingeben und Gott loben

6.2.5.4 Einordnung des Gedankengangs und Aufweis theologischer Einflüsse

6.2.5.4.1 Parallelen zur Theologie und Begrifflichkeit des Augustinus

6.2.5.4.2 Weitere Einflussgrößen auf den Beitrag „Das Gebet der Kirche“

6.2.5.4.3 Parallelen zur Theologie und Begrifflichkeit des Thomas von Aquin

6.2.6 Betend dem „liebevollen Einströmen Gottes“ entgegen sterben und sich der Nacht der Sinne, des Geistes und des Glaubens ausliefern

6.2.6.1 Negative und mystische Theologie des Dionysius Areopagita

6.2.6.1.1 Werkgeschichtliche Situierung der Studie

6.2.6.1.2 Grundzüge des Gedankengangs: Aufstieg zur mystischen Theologie

6.2.6.2 Nacht und Gottesvereinigung bei Johannes vom Kreuz

6.2.6.2.1 Zielgruppe und Anliegen der Studie

6.2.6.2.2 Grundzüge des Gedankengangs: Durch Kreuz und Nacht zur Vereinigung mit Gott gelangen

6.2.6.2.3 Kontrahierte Darstellung des Gedankengangs in Briefkorrespondenz

7 Theologische Auslegung der geistlichen Texte „Ostermorgen“ und „Braut des Heiligen Geistes“

7.1 Zugänge zu den geistlichen Texten Edith Steins

7.1.1 Literarische Stilmerkmale einer sprachgewandten Autorin und Übersetzerin

7.1.2 Die geistlichen Texte im Lebenskontext der Autorin

7.2 Methodische Ausrichtung bei der Auslegung geistlicher Texte

7.2.1 Grundsätze im Umgang mit lyrischen Texten

7.2.1.1 Analyse oder Interpretation des Textes?

7.2.1.2 Verwobenheit des Rezipienten in das Textgebilde

7.2.1.3 Mehrdeutigkeit lyrischer Texte und das Zusammenspiel von Erwartung und Überraschung

7.2.2 Methodische Anregungen für die Textbegegnung

7.2.2.1 Sprache aus dem Verweilen

7.2.2.2 Aufmerksamkeit für die zeitliche Struktur „verdichteter“ Sehnsucht

7.2.2.3 Offenheit für die innere Virulenz und Transitivität des Begegnenden

7.2.2.4 Achtsamkeit des Beschreibens

7.2.2.5 Theologische Sprache des Bezeugens

7.2.2.6 Vom Schweigen und vom wortlosen Geheimnis her sprechende Auslegung

7.3 Auslegung des Textes „Ostermorgen“

7.3.1 Biographisch-werkgeschichtliche Situierung

7.3.1.1 Wachsende Nähe Edith Steins zum monastischen Tagesablauf

7.3.1.2 Profunde Kenntnisse lateinischer Hymnik bei Edith Stein

7.3.2 Textgestalt

7.3.3 Sprachliche Merkmale

7.3.3.1 Kombination der sprachlichen Betrachtung mit den sechs methodischen Anregungen zur Auslegung geistlicher Texte

7.3.3.2 Die Primärebene des Textes: Ostervision des lyrischen Ichs

7.3.3.3 Sprachliche Merkmale und literarische Stilmittel

7.3.3.3.1 Zur literarischen Herkunft der im Text verwendeten Stilmittel

7.3.3.4 Sekundärebene des Textes: Eine sprachliche Anspielung auf eine geistlich verstandene Geburt in Aufnahme antiker Topoi des „Aphrodite/Venus“-Mythos?

7.3.3.4.1 Grenzen einer Herleitung des Sujets aus den Schriften des Johannes vom Kreuz

7.3.3.4.2 Sprachliche Nähe zur lyrischen Diktion im Gedicht „Geburt der Venus“ bei Rainer Maria Rilke?

7.3.3.4.3 Mögliche Motivaufnahmen aus Rilkes Gedicht „Geburt der Venus“?

7.3.3.4.4 Parallelen im Textkörper von „Ostermorgen“ und „Geburt der Venus“

7.3.4 Theologische Auslegung

7.3.4.1 Die Primärebene der Auferstehungsvision

7.3.4.2 Das lyrische Ich im Text „Ostermorgen“: Die Gottesmutter Maria als erste Auferstehungszeugin

7.3.4.3 Auferstehung Jesu Christi als lyrisches Sinnbild für die eigene Taufe der Autorin?

7.4 Auslegung des Textes „Braut des Heiligen Geistes“

7.4.1 Biographisch-werkgeschichtliche Situierung

7.4.2 Textgestalt

7.4.3 Sprachliche Merkmale

7.4.4 Theologische Auslegung

7.4.4.1 Auffällige direkte Anrede an den Heiligen Geist als Adressat des Gebets

7.4.4.2 Mariologische Prädikationen

7.4.4.3 Brautschaft mit dem Heiligen Geist als Vermittlung der Vermählung Mariens mit dem göttlichen Logos in Jesus Christus

7.4.4.4 „Braut des Heiligen Geistes“ – Eine Meditation über das Gebet?

8 Zusammenfassung und Ertrag der Studie

8.1 Integration der Erkenntnisse auf der Makro- und Mikroebene

8.1.1 Zusammenschau der Konturen und der sinndeutenden Horizonte

8.1.2 Zusammenschau der beiden geistlichen Texte

8.2 Eine kritische Würdigung der pneumatologisch akzentuierten Mariologie bei Edith Stein

8.2.1 Grundzüge der Verhältnisbestimmung von Kirche und Maria in der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“

8.2.2 Die Mariologie Edith Steins im Kontext mariologischer Aussagen der Kirchenkonstitution

8.2.3 Die Bedeutung der Mariologie Edith Steins für eine peumatologisch und personal sensibilisierte Ekklesiologie

8.2.4 Heutiges Beten und das Gebet Edith Steins

9 Quellen

10 Siglen

Siglen der Werke von Teresa von Jesus

Siglen der Werke von Johannes vom Kreuz

Siglen der Werke von Therese vom Kinde Jesu

11 Literaturverzeichnis

1 Hinführung zum Thema

Eine besondere Stille prägt den Konzertsaal, wenn eine Aufführung zu Ende geht. Es verklingen die letzten Töne, die Instrumente verstummen. Wenn auch die Konzertbesucher noch für einen Augenblick schweigen, um dieser Stille zu lauschen, dann ist die Aufführung noch nicht vorüber. Was sie in diesem Moment vernehmen, das ist nicht in Tönen zu beschreiben. Doch das Begegnende ist noch zutiefst Teil der Aufführung und des lebendigen Ganzen, das sich darin artikuliert. Schon im Durchgang durch alle Töne macht es sich vernehmbar, jedoch auf andere Weise als diese selbst. In den phonetischen Gestalten der einzelnen Töne klingt es stets mit. Jeder Ton spricht davon, doch keiner allein nur für sich. Auch alle Töne gleichzeitig zu hören, es könnte nicht offenbaren, was zwischen ihnen, aus ihnen, durch sie hindurch ans Ohr dringen will. Was aber ist es, das sich erst im Durchgang durch alle Töne und schließlich im Schweigen zu Gehör bringt?

Diese Frage mag ein Gespür dafür wecken, was sich im Beten der Edith Stein vernehmbar machte. 51 Jahre an Lebenszeit waren Edith Stein gewährt, in denen Beten in verschiedener Manifestation bei ihr lebendig wurde. Diese fünf Jahrzehnte werden begrenzt vom 12. Oktober 1891, dem Tag ihrer Geburt in Breslau, und dem 9. August 1942, ihrem mutmaßlichen Todestag in Auschwitz. Auf diesem Lebensweg hat Beten in vielfältiger Form „Klangfarbe“ und eigene Stimme angenommen. Zuerst waren es Worte anderer Menschen, die Edith Stein beten hörte. Jüdische, deutsche und lateinische Gebete der jüdischen und christlichen Glaubenstradition drangen an ihr Ohr, bis ihre eigene Stimme Beten als besonderes Geschehen der Sprache lebendig werden ließ. Dabei war es gleichermaßen der öffentliche Raum des Betens in Gemeinschaft wie derjenige des privaten Gebets, der ihr zum geistlichen Lebensraum wurde. Dass Worte bisweilen nicht imstande gewesen sein mögen, noch zu fassen oder zu tragen, wessen diese Frau aus Breslau inne war, das zeigt nicht allein das auffällig lange und häufige schweigende Gebet, das von Edith Stein berichtet wird. In ihrer privaten und beruflichen Korrespondenz, ihren Gebeten und geistlichen Texten sucht Erfahrung nach Ausdruck, die Worte nicht erschöpfend oder gar nicht mitteilen können. Die Leserin und der Leser1 erfahren von Dank, Freude, tiefem Glück, das jeden Ausdruck übersteigt. Zum Geheimnis der Eucharistie etwa schreibt Edith Stein: „Wie wunderbar sind Deiner Liebe Wunder, / Wir staunen nur und stammeln und verstummen, / weil Geist und Wort versagt.“2

Unsagbares, das Worte nicht fassen können, rührt leider nicht alleine auf diese Weise an Edith Stein. Ihr Tod in einer Gaskammer in Auschwitz ist im letzten Moment ein erzwungenes Verstummen. Es ist ein Schweigen, das sich ihr angesichts des abgründigen „Nichts“ der Vernichtung unausweichlich auferlegte. Edith Stein lässt jedoch ein aktives Übernehmen dieser Konfrontation erkennen. Ihr Tod ist in diesem Sinne ein passives und ein aktives Geschehen zugleich. Diese Doppelpoligkeit spiegelt sich in ihrem geistlichen Testament vom 9. Juni 1939, das sie im Karmel in Echt drei Jahre vor ihrem Tode verfasste. Sie schreibt am Freitag in der Fronleichnamsoktav jenen Jahres: „Schon jetzt nehme ich den Tod, den Gott mir zugedacht hat, in vollkommener Unterwerfung unter Seinen heiligsten Willen mit Freude entgegen.“3 Ist es von daher gesehen das Schweigen, das ihr betendes Leben nicht nur im biographischen Sinne verstanden am Ende unerbittlich beschließt, sondern das auch schon zuvor bei ihr der unüberbietbare aktive Ausdruck der Selbstzurücknahme aus der Berührung mit dem Endgültigen gewesen war?

In jedem Falle scheint es zu wenig tiefgehend, wollte man sagen, Edith Stein habe unter anderem, neben und zwischen manch anderem gesprochenem Wort „auch“ noch geschwiegen, wo ihr Beten zum Ausdruck ihres Lebens wurde. Vielmehr hat sie schweigend die Grenze der Sprache und darin zugleich deren ganze Positivität erlebt und einen geistlichen Umgang damit nach außen hin vernehmbar gemacht, dass gerade ihr betendes Schweigen und ihr schweigendes Beten zutiefst „beredt“ sind, und zwar auf eine Weise, die nur vom Geschehen des Gebets her begreifbar und beschreibbar ist. Das schweigende Gebet dieser Frau kann man am allerwenigsten „überhören“. Ohne diesen „Klang“ vernommen zu haben, bleibt das Gehör taub für die unvertauschbar eigene Stimme der betenden Edith Stein. Sich ohne Eile in die Steinsche Sprachgeste des Schweigens einzustimmen und einzufühlen ist daher der kürzeste und unmittelbarste Weg, der zu ihrem Beten hinführt.4

Vor dem Hintergrund des Gesagten wird das Beten Edith Steins allerdings nur dann in einem wissenschaftlichen Sinne beschreibbar, wenn eine bleibende und unhintergehbare Begrenzung beachtet wird. Diese ist im Geschehen des Gebets selbst grundgelegt und hat mit einer fundamentalen Entzogenheit zu tun. Unsere Autorin kommt selbst darauf zu sprechen: „Was auf dem Grund einer Seele vorgeht, das kann die irdische Sprache nicht schildern.“5 Mit diesen Worten zitiert Edith Stein ihre Mitschwester Maria von der Heiligsten Dreifaltigkeit (Marie Antoinette de Geuser), deren Schrift „Briefe in den Karmel“ sie rezensiert. Folgt man der Einschätzung, die im Zitat zum Ausdruck kommt, dann gilt auch für ein suchendes Hingehen zum Gebet bei Edith Stein: Weil das auf dem Grund der Seele Edith Steins Verborgene überhaupt nicht angemessen beschrieben werden kann, deswegen muss anderes und kann eben nur dieses gesichtet und untersucht werden. Welche Sprachgeste wäre diesem Vorhaben angemessen?

In der Rezension gibt Edith Stein Hinweise, in welcher Richtung Antworten zu finden sind. Unsere Autorin lässt im Umgang mit geistlicher Lyrik Haltungen der einfühlenden Annäherung erkennen, die entlang der Grenze des Unsagbaren entstehen. Aus dieser Fühlungnahme heraus findet Edith Stein dann eigene, auslegende Worte. Sie zitiert zunächst ihre Mitschwester: „Die ganze letzte Zeit hindurch bin ich bei dem Wort geblieben: Nostra conversatio in coelis est, … aber was es enthält, das ist unsagbar: Me decet silentium.“6 In der gleichen Rezension von 1934 greift Edith Stein schließlich zu einem musikalischen Vergleich für das, was mit der Seele ihrer Mitschwester geschieht: „Und ihre Seele ist wie ein Instrument, wie eine Harfe, die von unsichtbaren Händen unentwegt gespielt wird, so daß sie sich in Lob und Dank und Anbetung verströmt.“7 Die Seele des Lesers dieser Briefe nimmt, so Edith Stein weiter, „mit Ergriffenheit und sehr stiller Freude“ wahr, „daß sie ganz und gar in die Atmosphäre des Heiligen, des Geweihten hineingehoben wird, durch die Berührung mit der Gnadenfülle eines wahrhaft gottliebenden Menschen“.8 Was Edith Stein hier von ihrem Umgang mit den Briefen einer Karmelitin schreibt und wie sie sich bei der Lektüre unmittelbar vom Text anrühren lässt, wäre das nicht die ideale Form, sich auch der geistlichen Literatur Edith Steins anzunähern? Spricht etwas dagegen, sich bei der Lektüre ihrer Texte einfach in entsprechender Weise unmittelbar anrühren zu lassen vom Lob, vom tiefen Dank, von der Freude, die sie lyrisch artikuliert? Bei dieser unbefangenen Weise von Textrezeption wäre der staunend-einfühlende Umgang Edith Steins mit einem geistlichen Text das Modell für eine heutige Rezeption ihrer geistlichen Texte.

Dagegen kann sich Zurückhaltung zu Wort melden. Diese ist begründet in der heutigen, gegenüber derjenigen der Edith Stein wesentlich veränderten Situation. Der theologisch andere Ort, vom dem aus ein heutiger Blick auf das Werk unserer Autorin blickt, ist derjenige einer Theologie „nach Auschwitz“, wie auch immer man diesen Ort theologisch näher qualifizieren und von seiner Bedeutung her situieren will.9 Sind die Worte, so kann man sich nachdenklich fragen, die Edith Stein unbefangen wählt, um vom Loben, Danken, Anbeten zu sprechen, von „sehr stiller Freude“, nach 1945 überhaupt noch in der Form ungebrochen zu verwenden? Sind sie noch stimmig? Es kann der Gedanke aufkommen, dass eine solche Diktion angesichts des brutalen Todes dieser Frau – und mit ihr10 der ungezählten11 Menschen, die zum Teil als Kinder12 ihr Leben lassen mussten – ein Ausweichen vor dem Unfassbaren wäre. Man kann sich fragen: Übertönt nicht dieser grauenhafte13 Tod gleichsam mit einem überlauten schrillen Ton und Schrei alles, was bei Edith Stein in leisen Tönen anklingen möchte? Ist somit jene Harfe der menschlichen Seele, von der Edith Stein in obiger Rezension bildhaft spricht, nicht doch eine grundlegend andere geworden in Auschwitz? Das Gedichts „Ein Lied vom letzten Juden“ von Jizchak Katzenelson rückt jedenfalls eine Harfe in den Blick, die gänzlich anders gestimmt ist. Entstanden ist die Lyrik des weißrussischen Dichters und Dramatikers vom 3.–5. Dezember 1943 im KZ Vittel. Ein Jahr vor seinem Tod im KZ Auschwitz formuliert er: „Sing, Nimm / die hohle, ausgehöhlte Harfe. Qual / Durchpulst / die dünnen Saiten. Wirf die Finger, bang / Wie Herzen schwer, / auf sie. Dann: sing ein letztes Mal. / Sing. Sing / des letzten Juden letzten Grabgesang.“14 Eine heutige Rede vom Gebet der Edith Stein wird vor dem Hintergrund des Dargelegten dann in einem unvermeidlichen Sinne falsch und insgesamt abwegig, wenn sie obigen, von Leid geprägten, schrillen Ton ausblendet und von ihm absieht. Denn er mischt sich für jeden heutigen Interpreten unabweisbar in das, was bei Edith Stein in den geistlichen Texten Ausdruck sucht und vor ihrem Tod in Auschwitz zu Papier gebracht wurde. In jedem Fall scheint dem Verfasser der vorliegenden Studie unmöglich, dass ein interpretierendes Interesse auf die geistliche Lyrik der Karmelitin hinblickt, ohne stets den geschichtlichen Kontext zu beachten, in dessen Licht sie dem heutigem Auge „nach Auschwitz“ unumgänglich erscheinen und zu Gesicht kommen muss. Daher wird den Bedingungen einer Gebetstheologie nach Auschwitz im Verlauf der Studie Augenmerk geschenkt. Vorblickend kann für die Studie insgesamt festgehalten werden: Das Beten Edith Steins in Worten darzustellen und auszulegen, das wird wesentlich und zuinnerst zurückhaltend geschehen müssen, in einer Sprachgeste diskreten Interesses. Gerade darin jedoch kann die sprachliche Darstellung sich als geschichtlich situiert und sensibilisiert erweisen. Überschwängliches Pathos ist dieser Sprachgeste fremd. Ein sprachlicher Duktus, der den geschichtlichen Standort vergisst, wird unmöglich. Was Paul Celan für die lyrische Rede formuliert, das bleibt auch für die in dieser Studie gesuchte theologische Rede beachtenswert: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren; ja, trotz allem. Aber sie musste hindurch gehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Antwort für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ‚angereichert‘ von all dem.“15

Eine Gebetstheologie, die auf Edith Stein hinblickt, ist somit zu einer „verhaltenen“ Weise des Sprechens gerufen, die gerade darin geschichtlich „angereichert“ in Erscheinung tritt. In dieser Frage kann Bernhard Welte bezüglich der theologischen Diktion als Modell gelten. An seinem Werk fällt auf, dass in seiner philosophischtheologischen Rede das Moment der „Verhaltenheit“ das Arrangement seiner Worte und Gedanken wesentlich prägt. Dieses Moment scheint mir eine sprachliche Geste der Diskretion zu sein, die aus der Berührung mit der menschlichen Verfasstheit und deren Charakter eines Geheimnisses ebenso herrührt wie aus der Nähe zum Mehr- als-Menschlichen. Insofern ist es eine ursprünglich „fromme“, von Ehrfurcht orientierte Sprachform, die im Werk und Vortrag Bernhard Weltes erkennbar wird. Bernhard Casper bemerkt zu seinem Sprachstil: „Es ist sicher einer der wichtigsten Leistungen Bernhard Weltes, daß er einen neuen Stil des theologischen Denkens und Sprechens geschaffen hat. Wir können diesen Stil den Stil der Verhaltenheit nennen. Oder auch den Stil der Scheu. Sprechen geschieht hier so, daß es in dem, was es vorbringt, zugleich Zeugnis ablegt von dem Verhältnis des Sprechenden zu dem unendlichen und die Geschichte einfordernden Geheimnis, von dem der Sprechende zu sprechen hat.“16 Darin darf eine Entsprechung zu Edith Stein gesehen werden. In ihrem Kommentar zur geistlichen Lyrik ihres Ordensvaters Johannes vom Kreuz schreibt sie: „Die Seele ist der Nacht entronnen. Was nun in ihr vorgeht, das ist viel mächtiger, als alle Worte es sagen können.“17 Daraus ergibt sich für die Karmelitin: „So können auch wir nur mit heiliger Scheu diesen göttlichen Geheimnissen im Innersten einer Seele nahen.“18 Meine Studie versucht in allen Worten und Überlegungen dieser Scheu nicht im Wege zu stehen, sondern sie vielmehr zu artikulieren und einen Sinn für ihre wertfühlende Bedeutung und Angemessenheit zu wecken.

Dass eine noch näher zu qualifizierende Rede vom Gebet überhaupt möglich ist, und zwar auch eingedenk dessen, was in den Lagern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geschehen ist, das legitimiert vor allem unserer Autorin selbst. Sie selbst ist es, die noch in Gefangenschaft – täglich bedrängt von unsäglichem Leid bei sich und anderen – vom Gebet schreibt, und zwar ihrem eigenen. Hastig geschrieben sind entsprechende Sätze aus der Baracke 36 im Lager Westerbork das letzte schriftliche Zeugnis von ihr, das heute noch erhalten ist. Auf einem kleinen Zettel, flüchtig an die Priorin in Echt adressiert und erkennbar in Eile geschrieben, bittet sie am 6. August 1942, also drei Tage vor ihrem mutmaßlichen Tod in einer Gaskammer: „Ich hätte gern den nächsten Brevierband (konnte bisher herrlich beten)“.19

Das Adjektiv „herrlich“ liest man mit nachdenklicher Beachtung. Umso mehr, wenn man im Blick behält, dass die Ordensfrau zur Zeit der Abfassung dieser Zeilen ein tief trauernder Mensch war, dem die Aporie der Gefangenschaft hellsichtig einleuchtete. Einer Mitinhaftierten im Lager Amersfoort erscheint die Karmelitin in jenen Tagen gar wie eine „Pieta ohne Christus“. Johannes Hirschmann SJ, der Edith Stein im Karmel Echt in den Jahren vor ihrer Verhaftung wiederholt getroffen hatte, gibt diese Zeugenaussagen wieder: „Es gibt einige Berichte von letzten Begegnungen mit ihr im holländischen Konzentrationslager. Zwei Worte sind mir dabei vor allem unvergesslich geblieben. Das erste Wort von dem Eindruck, den sie im Lager machte: Viele der jüdischen Mütter, die mit ihr verhaftet worden waren, lebten ganz in der Not und Verzweiflung jener Tage – so sehr, daß sie fühllos wurden angesichts des Leids ihrer eigenen, mit ihnen im Lager gequälten Kinder. In dieser Situation, da übernahm diese beschauliche Schwester jene kleinen alltäglichen Dienste an Menschen in Not und Verzweiflung, die selbst in solchen Stunden das Zeichen und die Bewährung großer Liebe sind. Ein zweites Wort sagte eine Frau von dem Eindruck, den sie damals auf sie machte: Sie kam ihr vor wie die Pieta unter dem Kreuz, aber ohne den toten Sohn auf dem Schoß.“20

Beim Wort „Pieta“ schwenkt der Blick des posthumen Betrachters von ihrem Todesjahr 1942 etliche Jahre zurück und an einen anderen Ort. In den Jahren 1928 bis zum Eintritt in den Karmel betete die jungen Edith Stein wiederholt stundenlang vor einer Pieta, und zwar dem Gnadenbild in der Benediktinerabtei Beuron.21 Könnte es sein, dass etwas von diesem Beuroner Bildnis, von dieser Imago einer trauernden Mutter mit ihrem Kind im Schoß, im Leben der Edith Stein geistgewirkte Gestalt angenommen hatte? Dann träfe für diesen Menschen zu, was Heinrich Spaemann formuliert: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“22

Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, auf die betende Erscheinung der Edith Stein zu schauen. Sie ist geleitet vom Anliegen, die dabei erblickte Kontur im Lichte der sie auslegenden, sinndeutenden Horizonte zu verstehen, und von dort aus die Entfaltung ihrer Gebetsexistenz aufzuweisen. Im Zuge dieser Betrachtung mag sukzessive die geistliche Gestalt ihres betenden Menschseins zu Gesicht kommen. Wo das gelingt, geleitet die Lektüre dieser Untersuchung in innere Nähe zu den eingangs angeführten Konzertbesuchern. Analog zu diesen tritt im Durchgang durch die Sichtung wesentlicher Facetten ihres Betens etwas nahe, das nicht in den einzelnen Gebetsmomenten aufgeht, wenn es sich auch in allen je neu zu Wort meldet. Es begegnet schließlich noch im Verschwinden aller Artikulationen ihres Betens, das im Tode vollends geschieht, etwas, das in allen Einzelaspekten den Charakter einer bedeutungserfüllten Spur aufweist. In diese Spur zu geraten, das sei der Lektüre der nachfolgend versuchten Darstellung des Betens im Leben der Edith Stein gewünscht.

1 Im Folgenden wird aus Gründen der Leserfreundlichkeit nur noch die männliche Form verwendet.

2 Stein, E.: „Ich bleibe bei Euch …“, in: Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 19. Edith Stein. Geistliche Texte II. Bearbeitet von S. Binggeli, unter Mitwirkung von U. Dobhan und M. A. Neyer, Freiburg im Breisgau 2007, S. 179–182, hier S. 182. Die Formulierung „stammeln“ erinnert an den „Geistlichen Gesang“ des Johannes vom Kreuz. Er formuliert: „ein ‚ich-weiß-nicht-was‘, das sie ständig stammeln“ (CA 7). Johannes vom Kreuz. Der Geistliche Gesang (Cántico A).Vollständige Neuübertragung. Gesammelte Werk Bd. 3. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Barbara Henze, Elisabeth Peeters OCD, Freiburg 1997, S. 70. Das Wortspiel, in dem kunstvoll Stammeln und Sprechen verbunden werden, weckt im Spanischen Anklänge an Stottern. Edith Stein gelang eine meisterhafte Übersetzung, wie Ulrich Dobhan OCD hervorhebt: „Was Johannes vom Kreuz in seiner Muttersprache mit der Anhäufung des que erreicht, klingt in Edith Steins deutscher Übersetzung mit der Wiederholung des w und v an, was auch den Eindruck eines stammelnden und stotternden Redens hervorruft“. Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 18. Edith Stein. Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes vom Kreuz. Neu bearbeitet und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Freiburg 2003, Vorwort S. XXIX. Edith Stein übersetzt: „Ich weiß nicht was, wovon sie stammelnd sprechen.“ (ebd. S. 186).

3 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 1. Edith Stein. Aus dem Leben einer jüdischen Familie und andere biographische Beiträge. Neu bearbeitet und eingeleitet von M. A. Neyer, Fußnoten und Stammbaum unter Mitarbeit von H.-B. Gerl-Falkovitz, Freiburg im Breisgau 2002, S. 374–375, hier S. 375.

4 Sich immer neu nach der je individuellen „Tonlage“ und Gestimmtheit dessen zu fragen, was im Gebet nahe kommen will, das ist wie bei der Sichtung und Rezeption von Lyrik unverzichtbar, soll es zu einer echten Begegnung kommen.Vgl. dazu Sorge, B.: Lyrik interpretieren. Eine Einführung, Berlin 1999, S. 8–9.

5 Stein, E.: Rezension zu „Briefe in den Karmel“ von Marie Antoinette de Geuser, in: ESGA 19, S. 211–216, hier S. 214.

6 Ebd.

7 Ebd. Die Steinsche Wortwahl lässt erneut Anklänge an die Lyrik des Johannes vom Kreuz erkennen. Der Kirchenlehrer zitiert im „Geistlichen Gesang“ die Schriftstelle Offb 14, 2 und greift die dortige Rede von spielenden Harfen in zweifacher Hinsicht auf. Zum einen wird ihm das Harfenspiel zum Bild für die Lobgesänge der Seligen, die „der heilige Johannes in der Offenbarung im Geist gesehen hat, nämlich die Stimme vieler Harfenspieler, die auf ihren Harfen spielten (Offb 14,2).“ (CA 13–14, 26). Zum anderen veranschaulicht dieses Bild von Instrumentalmusik die Stimme Gottes: „diese selbe Stimme sei so zärtlich gewesen, daß sie war sicut citharoedorum citharizantium in citharis suis. Das heißt, sie war wie die von vielen Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielten.“ (CA 13–14,11). Johannes vom Kreuz, Der Geistliche Gesang, S. 117 und S. 105.

8 ESGA 19, S. 211.

9 Zu den verschiedenen Ortsbestimmungen einer Theologie nach Auschwitz im jüdischen und christlichen Kontext vgl. Tück, J.-H.: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg 2016 sowie Reck, N.: Festhalten an der Unströstlichkeit: Die Gottesfrage in der katholischen Theologie nach Auschwitz, in: StZ 121 (1996) S. 186–196.

10 „Im Holocaust kamen 30% der jüdischen Weltbevölkerung um, darunter 80% aller Rabbiner, Gelehrten und Tora-Schüler, die Mehrheit aller mitteleuropäischen jüdischen Gemeinden wurde für immer ausgelöscht“. Reck, Festhalten, S. 186.

11 „Nimmt man die Zahl der Toten von Auschwitz, die allein zwischen 3,5 und 4,5 Millionen zu liegen scheint, sowie anderer ähnlicher Lager zum Ausgangspunkt eines Berechnungsversuchs, so ist leicht zu sehen, dass es insgesamt mindestens 8–10 Millionen Menschen gewesen sein müssen.“ Kogon, E.: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 66.

12 Im Holocaust kamen schätzungsweise eine Million Kinder zu Tode. Vgl. Reck, Festhalten, S. 187.

13 „Nicht selten wurden Kleinkinder, wenn die Kammern vollgepfercht waren, noch durch die Fenster hineingeworfen. Je nachdem wie viel Gas vorhanden war, dauerte der Erstickungstod bis zu vier und fünf Minuten. Währenddessen hörte man von drinnen das entsetzliche Schreien der Kinder, Frauen und Männer, denen es langsam die Lungen zerriss.“ Kogon, Der SS-Staat, S. 186.

14 Lau, E./Pampuch, S. (Hg.): Draußen steht eine bange Nacht. Lieder und Gedichte aus deutschen Konzentrationslagern, Frankfurt 1994, S. 23.

15 Zitiert nach Lenzen, V.: Sprache und Schweigen nach Auschwitz. in: Lesch,W. (Hg.): Theologie und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Begegnung von Theologie und Kunst, Darmstadt 1994, S. 183–200, hier S. 196.

16 Casper, B.: Verhaltenheit – Zum Stil des Denkens Bernhard Weltes, in: Wenzler, L. (Hg.): Mut zum Denken, Mut zum Glauben. Bernhard Weltes Bedeutung für eine künftige Theologie, Freiburg im Breisgau 1994, S. 148–162, hier 162.

17 ESGA 18, S. 156.

18 Ebd. S. 157.

19 Edith Stein Gesamtausgabe Bd. 3. Edith Stein. Selbstbildnis in Briefen. Zweiter Teil: 1933–1942. Einleitung von H. B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen von M. A. Neyer, 2. Auflage durchgesehen und bearbeitet von H. B. Gerl-Falkovitz, Freiburg 2002, S. 575.

20 Hirschmann, J.: Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz, in: Herbstrith, W. (Hg.): Edith Stein. Ein Lebensbild in Zeugnissen und Selbstzeugnissen, Würzburg 2001, S. 131–136, hier S. 135–136.

21 Es handelt sich um eine oberschwäbische, um 1440 entstandene und aus Lindenholz geschnitzte Pieta. Siehe dazu Neyer/Müller, Edith Stein, S. 184.

22 Spaemann, H.: Orientierung am Kinde, Düsseldorf 1967, S. 29.

2 Aktueller Forschungsstand

2.1 Positionen zum Thema Gebet in der Systematischen Theologie

2.1.1 Der aktuelle Stand der Diskussion in geschichtlicher Verortung

In seiner Dissertation23 „Theologie des Gebetes – Forschungsbericht und systematisch-theologischer Ausblick“ stellte Ulrich Wüst-Lückel im Jahre 2007 fest, dass Monographien in systematisch-theologischer, problemgeschichtlicher oder religionsphilosophischer Perspektive zum Thema Gebet im Fachbereich der Systematischen Theologie „spärlich“ seien24. Dieses Defizit nimmt der Autor wahr im Vergleich mit den zahlreichen Büchern, die Gebetstexte, -anweisungen, -ermutigungen oder esoterische Literatur anbieten, die sich großer Nachfrage erfreuen.

Dieser Entwicklung gingen dem Autor zufolge Akzentverschiebungen in den vergangenen Jahrzehnten voraus. Nach einer in den sechziger Jahren des 20. Jhd. anhebenden grundlegenden Diskussion mit Fokus auf der Frage nach dem Sinn des Gebets insgesamt, habe in den Siebzigerjahren und der darauf folgenden Dekade das Thema Gebet in der Systematischen Theologie zwar zunehmend Erwähnung gefunden. Das lasse sich an der steigenden Anzahl von Veröffentlichungen, Aufsätzen und anderen Publikationsformen erkennen.25 Als Zusammenfassung hält er jedoch fest: „Es wurde deutlich, dass in der theologischen Diskussion des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts die Fragen nach dem Was und dem Warum des Gebets diejenigen nach dem Wie zu ergänzen begonnen haben. Es fand eine Akzentverschiebung statt, die die Bedeutung des Gebetes in der systematisch-theologischen Diskussion neu zu beurteilen begann. Ein Blick in die Dogmatiken und Handbücher der letzten Jahre zeigt jedoch, dass das Gebet im Bereich der Gesamtdarstellungen nach wie vor stiefmütterlich behandelt wird. Oftmals wird es, wenn es dennoch zur Sprache kommt, nicht als ein Kernthema eingebettet, sondern höchstens anhand einer Einzelfrage diskutiert.“26 Diesem Befund ist der Tendenz nach, allerdings abgeschwächt, auch weiterhin zuzustimmen, wenn auch in jüngerer Zeit wiederholt Monographien und Sammelbände zum Thema erschienen sind, die mehr als nur Einzelaspekte des betenden Geschehens ins Zentrum rücken. So legt Michael Schneider SJ eine theologische Begründung des christlichen Gebets vor, das nach dessen Spezifika fragt.27 Diese Spezifika werden vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Gebetskritik und der dogmatischen Perspektive der Teilhabe am Leben des dreifaltigen Gottes entfaltet. Michael Rosenberger erhellt aus moraltheologischer Perspektive das Gebet als Geschehen, bei dem der Mensch sich im Geheimnis geborgen erfährt.28 Der Linzer Moraltheologe sucht nach interreligiösen Perspektiven der Begründung und Vermittlung des Betens, die er mit frömmigkeitsgeschichtlichen und biblischen Zugängen zum Thema verbindet. Ein Sammelband von Ingolf U. Dalferth und Simon Peng-Keller sucht nach neuen Zugängen zu einer Hermeneutik des Gebets.29 In dieser Publikation finden die Dimensionen Sinnlichkeit, Leiblichkeit und das Spannungsfeld von persönlichem und gemeinschaftlichem Wesen des Gebets in religionsphilosophischer und dogmatischer Perspektive Beachtung. Akzentsetzungen aus reformierter und freikirchlicher Tradition werden ebenso aufgegriffen wie ostkirchliche Sichtweisen auf das Gebet. Ein Zitat von Viktor Frankel aufgreifend, erhellt der Sammelband der Trierer Autoren Johannes Brantl, Hans Georg Gradel, Mirijam Schaeidt und Werner Schüßler das Gebet als „die Intimität der Transzendenz“.30 Moraltheologische, exegetische, philosophische und spirituelle Zugänge finden darin Beachtung. Dem Thema Bittgebet wendet sich ein von Magnus Striet herausgegebener Sammelband zu und lässt darin kontroverse Positionen zu Wort kommen.31

Ebenfalls jüngeren Erscheinungsdatums ist der im Jahr 2016 von Matthias Arnold und Philipp Thull herausgegebene Sammelband „Theologie und Spiritualität des Betens: Handbuch Gebet“.32 Dort sind unter den Überschriften „Das Gebet in der Heiligen Schrift“, „Das Gebet in der Theologie“ sowie „Formen des Gebets“, „Das Gebet in der Praxis“, „Das Gebet in der christlichen Ökumene“ und „Multidimensionale Zugänge zum Gebet“ insgesamt 35 Beiträge namhafter Autoren aus der akademischen und monastischen Welt vertreten. Eine detailliertere Sichtung dieser Veröffentlichung kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Breite der wissenschaftlichen Zugänge zum Gebetsgeschehen insgesamt ein zunehmendes Interesse der akademischen Theologie und ihrer verschiedenen Disziplinen am Thema erkennen lässt.

Einen Literaturüberblick über einige jüngste Veröffentlichungen zum Thema Gebet aus dem Bereich der Systematischen Theologie oder zumindest mit betontem Einbezug dieser theologischen Disziplin findet sich Anfang 2017 in einem Beitrag von Hilda Steinhauer. Sie fragt „Was ist Beten?“33 und sichtet dazu neben den oben schon thematisierten Arbeiten von M. Scheider und J. Brantl die Veröffentlichungen von A. Hunziker und S. Keller34, H. Schalk35, M. Schlosser36 und T. Keller.37 Neben den genannten Beiträgen finden auch jene von M. Egli38 und W. Eisele39 Erwähnung. Steinhauer kommt – ähnlich wie bereits Wüst-Lückl eine Dekade zuvor – zu der Auffassung, dass „auf Seiten der wissenschaftlichen Theologie eine meist nur implizite Wahrnehmung des Gebets als eines zentralen und spezifischen Ortes der theologischen Erkenntnis“ zu verzeichnen sei.40 Steinhauer zufolge weisen die von ihr gesichteten Publikationen vier gemeinsame Merkmale auf: „Gemeinsame, explizit angesprochene oder implizit vorausgesetzte Kernpunkte sind die biblische Fundierung des Betens, die Orientierung am Beten Jesu, die trinitarische Verankerung und die Betonung der Geschenkhaftigkeit.“41 Steinhauer bemerkt, dass dem Bittgebet eher weniger Beachtung geschenkt werde.42 Ans Ende ihres Überblicks über die aktuelle Literatur zum Thema stellt die Autorin ein Desiderat: „Das Gebet als eine Dimension der gesamten Wirklichkeit auszufalten, wäre aus systematischer Perspektive eine lohnende Aufgabe.“43

Vor dem skizzierten Hintergrund der angeführten aktuellen Publikationen zum Gebet konzentriert sich meine Darstellung auf zwei für unsere Fragestellung besonders bedeutsame religionsphilosophische Positionen des 20. Jahrhunderts und deren Anliegen. Diese sind die Beiträge von Berhard Welte und Bernhard Casper. Nach Sichtung dieser Zugänge, die einer deskriptiven Entfaltung des betenden Ereignisses Raum geben, und dem Schweigen und dem Gebet der Stille in systematischer Perspektive Beachtung schenken, kann das eigene Interesse anschließend dargelegt und eigene methodische Schritte begründet werden. Es mag sich erweisen, dass die beiden Zugänge zum Gebet einen hermeneutischen und methodischen Horizont ausspannen, in dem das Beten der Edith Stein angemessen gesichtet und verstanden werden kann.

2.1.2 Zugänge zum betenden Geschehen bei Bernhard Welte und Bernhard Casper

Die systematisch-theologischen Zugänge zum Geschehen des Gebets bei Bernhard Welte und Bernhard Casper können die Frage nach dem Beten der Edith Stein wertvolle Hinweise liefern. Die Auswahl dieser beiden Theologen geschah mit Blick auf die inhaltliche und methodische Affinität zum Werk Edith Steins. In gleicher Weise entscheidend für die Auswahl waren bisherige Forschungen zur Religionsphilosophie Edith Steins und zur spirituellen (Gebets-)Theologie, die im Arbeitsbereich Christliche Religionsphilosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau von Bernhard Casper begleitet wurden.

Sowohl Bernhard Welte als auch Bernhard Casper stellen als ehemalige Inhaber des Freiburger Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie Vertreter einer Tradition theologischen Denkens dar, die sich vom phänomenologischen Weltzugang und von der phänomenologischen Haltung maßgeblich hat beeinflussen lassen. Bei ihrem Anliegen, den christlichen Glauben in die Gegenwart hinein zu begründen und zu vermitteln, lieferten phänomenologisch ausgerichtete Denkansätze wertvolle Anregungen und wichtige methodische Hilfen. Insofern gibt es bei Bernhard Welte und Bernhard Casper methodisch und inhaltlich eine deutliche Entsprechung zu Edith Stein, wo diese sich in durchgängig phänomenologischer Manier unter Einbezug von Erkenntnisquellen der christlichen Offenbarung theologischen Themen widmet.

Bernhard Casper hat des Weiteren eigens ein Promotionsvorhaben seines damaligen Schülers Andreas Uwe Müller zur Religionsphilosophie Edith Steins betreut. Darin wird Edith Steins Position betont vor dem Hintergrund der Husserlschen Philosophie konturiert und die innovativen Momente der Steinschen Auffassung in ihrer Aufnahme von Beiträgen Schelers, Reinachs und Heideggers detailliert dargestellt.44 Außerdem ist bei Bernhard Casper ein betontes Verständnis für die zeitliche Verfasstheit und Erstreckung des Gebetsgeschehens als Einbruch von Diachronie entfaltet, was eine Lesehilfe für die geistlichen Gebetstexte der Edith Stein darstellen kann.

Bernhard Welte wird von Klaus Hemmerle ausdrücklich mit Edith Stein in einer Fluchtlinie gesehen, was ihr zentrales Anliegen betrifft, in dem sie übereinkommen: „Es sei verwiesen auf die andere Vermählung zwischen Phänomenologie und Denken des Thomas, auf die andere Wahrung und Reflexion des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, auf die andere Weise der Nachbarschaft von phänomenologischer Ursprünglichkeit und interpretativem Mitgehen mit anderen Gedanken, die sich bei Bernhard Welte ausformulieren.“45 Insofern bietet es sich an, das Geschehen des Gebets bei Edith Stein unter Einbezug der gebetstheologischen Überlegungen Weltes zu sichten.

Was die beiden Freiburger Religionsphilosophen zur Theologie des Gebets erarbeitet haben, wird im Folgenden als Zugangsweise zum betenden Geschehen bei Edith Stein herangezogen. Den Ausgangspunkt dieser hermeneutischen Orientierung bildet die Theologie und geistliche Besinnung auf das Thema Gebet, wie sie bei Bernhard Welte begegnet.

2.1.2.1 Das Gebet bei Bernhard Welte

Bernhard Welte (1909–1983) war von 1958 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Das wissenschaftliche Interesse Weltes galt von seinen frühen Werken an den Fragen der Glaubensbegründung, die mit Blick auf die scholastische Tradition und existenzphilosophische Positionen unter Einbezug der Phänomenologie angegangen wurden. Schon seine Habilitationsschrift46 von 1946 fragte nach der Möglichkeit einer Deutung philosophischen Glaubens bei Karl Jaspers durch die thomistische Philosophie. Stephanie Dietrich formuliert als „Grundanliegen“ Weltes: „Auf dem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie, für Welte besonders der Philosophie Heideggers und Jaspers, sollten die traditionellen theologischen Quellen der Tradition neu beleuchtet und ohne jedes apologetische Interesse verständlich gemacht werden.“47 Bernhard Casper sieht in gleicher Weise in der Konvergenz von Thomasrezeption, Existenzphilosophie und Phänomenologie ein Grundanliegen Weltes: von Heideggers dessen „hermeneutische Phänomenologie“ und von Jaspers dessen „Existenzdenken […] aufnehmend, interpretiert W. die thoman. Zugänge zu der Frage nach Gott neu.“48 Dabei leite den Vorgänger Bernhard Caspers auf dem Freiburger Lehrstuhl für Christliche Religionsphilosophie das Anliegen, die „Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Glaubens an Offenbarung darzustellen.“49

Bernhard Welte formuliert seinen religionsphilosophischen Ansatz50 betont ausgehend vom Menschen.51 Dieser sucht im Widerfahrnis sowohl von schmerzlichen wie zum Staunen einladenden Lebenserfahrungen nach Möglichkeiten zu Glauben. In dieser Konfrontation ist er unausweichlich in die Dimensionen Zeit52, Geschichte53, Sprache54, Begegnung55 und Gemeinschaft56 gestellt, die jeweils auf einander verweisen. Die genannten Dimensionen des Existenzvollzugs finden Ausdruck in den Titeln der bedeutendsten Werke Bernhard Weltes.57 Vom Umfang her kleinere Publikationen – z. B. seine Predigten und geistlichen Schriften58 – illustrieren deutlich Weltes seelsorgliches Anliegen, das ihn durchgehend in seinem Denken prägt. Es fällt auf, dass es ihm dabei stets um „eine Verbindung von Religionsphilosophie und gelebtem Glauben, Theorie und Praxis, Leben und Lehre“59 ging.

Das für meine Studie bedeutsame Thema des Betens60 wird Welte als seelsorglich denkendem Philosophen daher sowohl im religionsphilosophischem Diskurs zum Thema,61 als auch in der Predigt und der geistlichen Besinnung. Der dabei betont vom Menschen und seinen Daseinserfahrungen ausgehende Zugang zum Thema Glaube und Gebet geschieht bei Welte unter Einbezug der Phänomenologie. Diese versteht er als das „Freilegen und Bergen des sich selbst Zeigenden“.62 Bei der Frage nach einer „Phänomenologie der Liebe“ formuliert Welte in ähnlicher Weise. Dort ergänzt er aber, dass das sich Zeigende schon im Verborgenen anwesend war, bevor der interessierte Blick des Menschen ihm begegnet: „Wir wollen durch die Bemühung des Denkens das zum offenen Sichselberzeigen bringen, was schon im Verborgenen gegenwärtig ist.“63

Die phänomenologische Methode verwendet Welte, um beschreibend die „anthropologischen Grundstrukturen aufzudecken, die dem Menschen einen Zugang zum Heiligen, zum Glauben ermöglichen.“64 Dabei legt Welte einen „Hauptakzent“ auf die „im Spielfeld von Endlichkeit und Unendlichkeit“65 erfahrene „Faktizität des Daseins und seiner Endlichkeit, der Erfahrung des Nichts, der Grenze, der Angst.“66 Angesichts der sich radikal zu Wort meldenden Frage nach dem „Sinn“67 seiner Existenz, besonders angesichts des unbedingten Nichts des Scheiterns und des Todes, der alle gleichermaßen angeht, rührt der Mensch an die Möglichkeit eines unbedingten Sinnes.

Der Mensch erfährt sich dabei auf zweierlei Weise mit der Frage nach dem Sinn konfrontiert. Zum einen stellt sich ihm diese in einer „tranzendierenden Seinsverwunderung“68 und in einem Staunen darüber, dass „überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts“. Zum anderen erfährt er sich in Tod und Schuld mit dem radikalen, unbedingten „Nichts“ konfrontiert, das ihm jedoch die Möglichkeit eines ebenso unbedingten Sinns ins Denken hebt und die Idee eines alles Sein bergenden Grundes. Die Alternative des „nichtenden Nichts“, das radikal alles verschlingt und Sein fundamental negiert, bleibt dabei unhintergehbar bestehen, so dass die Begegnung mit dem Nichts zweideutig bleibt. Die solcherart ambivalente Erfahrung des Nichts wird aber im menschlichen Postulat69 nach einem absoluten und den Menschen begründend-bewahrenden und tragenden Sinn transzendiert.

Der alles begründende Grund, auf den der Mensch sich in seinem Postulat nach Sinn hinwendet und transzendiert, erscheint als abgründiges „Geheimnis“. Das damit Gemeinte beschreibt Welte als „das verborgene Warum, die verschwiegene Herkunft, der unbedingte Grund.“70 Dieses Geheimnis ist unsagbar. Es übersteigt die sprachlichen Zugangsmöglichkeiten. Daher ist der Begegnung mit diesem Geheimnis das Schweigen angemessen, in dem der Mensch seine Grundanlage des Hörens aktualisiert und zugleich damit offen ist für das Gesamte des Seins. Schweigend geschieht dem Menschen so eine „Sammlung“71 seiner Zerstreuung in das Umgetriebensein von vielen Einzeldingen. Zugleich mit der Sammlung widerfährt ihm eine vertiefte Begegnung mit allem, was ist und darin mit dem, was alles „gewährt“ und alles dem Menschen „gönnt“.72 Das schweigende Beten ist Welte zufolge somit: „Nichts umzutreiben und von nichts umgetrieben werden. Nichts bereden und sich nicht mehr in die Bewegung des Redens treiben lassen. […] Schweigend wird der Mensch also alles ‚etwas‘, d. h. Dinge und alle Anliegen loslassen aus dem Begriff des Begreifens oder des Begreifenwollens. […] Dieses Schweigen […] ist wie reines Hören, das zwar kein ‚Etwas‘ hört, aber offen und bereit ist, alles zu hören. Oder es ist wie die reine Helle des Schauens, das zwar an keinem ‚Etwas‘ mehr hängt, aber Offenheit ist für alles.“73

Dabei wird dem Freiburger Priester das Gebet des Schweigens74 ausgehend von der Sammlung und der darin anhebenden Andacht zur grundlegenden Weise der Begegnung mit dem verborgenen Geheimnis im Raum der Sprache. „Sammlung“ ist für Welte Ausdruck einer Transzendenzbewegung über das Ganze des Seins hinaus, wie er im Beitrag „Zeit und Gebet“ ausführt: „Die Sammlung des Schweigens ist aber mehr als Sammlung bloß der inneren und äußeren Welt. Sie ist die reine Freiheit und Offenheit, die zwar alle Welt umfängt, aber zugleich und vor allem auch alle Welt übersteigt. Das, worin die Welt versammelt wird, ist größer als alle Welt. Es ist die abgründige Weite der Unendlichkeit des Geheimnisses, das alles trägt und alles gewährt und auf alles wartet.“75 Bei dieser Transzendenzbewegung bezeichnet „Andacht“76 die Richtung, in der sich der menschliche Grundimpuls entfaltet. Im selben Beitrag „Zeit und Gebet“ kennzeichnet Welte Andacht als Ausrichtung des menschlichen Denkens: „Andacht bezeichnet eine Richtung des Denkens. Die Silbe ‚an‘ gibt die Richtung an, die Silbe ‚dacht‘ das Denken. Denken darf aber in unserem Zusammenhang genommen werden für das ganze lebendige und nun ins Schweigen versammelte Dasein des Menschen. Das Wort Andacht soll also im Ganzen die Richtung oder Transitivität des ins Schweigen versammelten Daseins bezeichnen. […] In der Transitivität des lebendigen Weggehens von sich und des Übergehens zum Ewigen liegt für die Andacht das Ganze und das Höchste.“77Das in Worten artikulierte Gebet78 gründet in dieser schweigenden Begegnung und wächst aus ihr hervor.

Mit Blick auf die Zeiterfahrung des Menschen im Geschehen des Gebets erweist sich betendes Schweigen als Ort, wo der sonst häufig im Alltag bestimmende Grundzug des betriebsamen „Ausmessens“79 der Zeit unterbrochen wird. Statt der funktionalisierenden Vernutzung von Zeiteinheiten begegnet eine „ursprüngliche Zeit“. Sie zeigt sich von sich selbst her dem, der inne hält: „Wird es wohl gelingen, uns einmal aus dem Betrieb zu lösen, diesen hinter uns zu lassen und auch das Messen der Zeit mit der Uhr für eine Weile aufzugeben: um auf den stillen Gang der Zeit selber zu achten, der ursprünglichen Zeit sozusagen, wie sie sich anfänglich von sich selber her zeigt? […] In der Tat, sofern uns dieser Schritt zurück in die Ursprünge einigermaßen gelingt, dann können die Stunden sich verwandeln. Sie können die gewährte Weile werden, etwas Freies und Freigebendes, das sich uns öffnet und uns einen Raum des Atmens und des Lebens einräumt.“80 Unverzweckte Zeit erscheint in ursprünglicher Form als „gewährte Weile“. Dazu schreibt Welte: „Wir wollen diese Weise der Zeitlichkeit Weile nennen, weil sie nicht etwa ein bloßer geometrischer Punkt des Umschlags ist, sondern etwas Weilendes, ein freier Spielraum, sich darin umzusehen und handelnd sich darin zu bewegen. Und wir nennen diese Weile eine gewährte, weil sie sich von sich her öffnet, ohne daß wir sie selber machen könnten. Sie gewährt sie je und je aus ihrem eigenen Ursprung. Wer ist der Gewährende? Keines Menschen Hand kann es machen. Es bleibt Geheimnis. Das sich so Gewährende ist auch ein Gönnendes. Es ist etwas wie eine stille Einladung: Atme und lebe in mir! Und dann haben wir auf einmal Zeit. Nicht freilich durch unsere Kraft und unseren Willen, sondern weil sie sich selber uns gewährte aus ihrem eigenen, geheimnisvollen Ursprung“81 und durch ihre „Einmaligkeit und Vergänglichkeit“, in der zugleich ihre „gönnende Kostbarkeit“82 gegründet ist. Bernhard Welte charakterisiert diese verdichtete Erfahrung von Zeit: „Die gewährte Weile trägt das Zeichen der Einmaligkeit an sich und damit das der Vergänglichkeit. Beides gehört zusammen. Die Weile ist das Kostbare, weil sie einmal sich öffnet und schenkt und dann niemals wiederkehrt. Diese Vergänglichkeit, dieses Niemals-Wiederkehren ist gerade das Siegel ihrer gönnenden Kostbarkeit. […] Wer gönnt und gewährt sie? Wohin geht sie, in welches Niemals? Wer wüsste es zu sagen? Ihre Herkunft und ihr Hingang sind voller Geheimnis.“83 Die biographische Zeitspanne als Prozess ist dem Mensch von „Morgen der Geburt bis zum Abend des Sterbens“ geschenkt. Welte schreibt: „Die gewährte Weile eines Augenblicks gehört in die größere gewährte Weile unseres ganzen Lebens vom Morgen der Geburt bis zum Abend des Sterbens. […] Die gewährte Weile ist wirklich voll von Geheimnis, in ihrem gewährenden Sich-Öffnen, in ihrem verweilenden Verlauf, in ihrer gestimmten Gliederung, in ihrer einmaligen Kostbarkeit, in ihrem Weggang und Heimgang. Voll von einem Geheimnis, das uns herausfordert und einlädt, nicht nur es geschäftig zu vernutzen, was wir freilich bisweilen müssen, sondern mehr noch werden wir eingeladen, bisweilen des Geheimnisses selbst zu gedenken, ja ihm Antwort zu geben, dem Geheimnis, das sich uns öffnet in der Zeit als gewährten Weile.“84 Diesem Geheimnis und „Zuspruch“ antwortet der Mensch im Gebet der Sprache, wo er dazu gelangt, dem Geheimnis, das ihn anspricht, responsorisch zu entsprechen. Welte führt dazu aus: „Darum ist es der Sache angemessen, dem Gewährenden der gewährten Weile und dem Geheimnis, das in ihm spricht, Antwort zu geben: durch das Gebet. Das gewährende Geheimnis also zu nennen und anzurufen: Mein Herr und mein Gott!“.85

Das Gebet ist Welte zufolge daher begründet in einer spezifischen Zeiterfahrung, bei der das Geheimnis Gottes als gewährende Weile der Zeit und als personaler Zuspruch erfahren wird: „Das Gebet erwächst so aus der Erfahrung der Zeit als die lebendige Antwort des sterblichen Menschen auf das sich in der gewährten Weile neu eröffnende Geheimnis Gottes, und indem es auf den Rhythmus der sich gewährenden Zeit eingeht und aus ihm seine eigene Ordnung gewinnt, geht es ein auf die Weise des in der Zeit sich gewährenden Zuspruch Gottes.“86 Gebet und Zeiterfahrung sind somit bei Bernhard Welte zuinnerst verbunden. Ein Nexus, der auch bei Edith Stein begegnen wird, wo ihre geistlichen Texte in den Blick rücken.

2.1.2.2 Das Gebet bei Bernhard Casper

Der 1999 emeritierte Freiburger Professor für Christliche Religionsphilosophie legt in „Das Ereignis des Betens – Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens“87 eine Zusammenfassung seiner Überlegungen zum Gebet vor.88 Der Schüler und wissenschaftliche Assistent Bernhard Weltes (1956–1959) hat die Rezeption Husserls und Heideggers besonders in der französischen Religionsphilosophie untersucht89 und sich fortgesetzt um die Begegnung mit der jüdischen Religionsphilosophie Franz Rosenzweigs, Martin Bubers und Emmanuel Levinas verdient gemacht.90

Im Beten ist für Bernhard Casper „der Ernstfall dessen gegeben, worauf das mit Religion Gemeinte zurück geführt werden muß.“91 Die in seiner Monographie vorgetragenen Überlegungen suchen „das Geschehen des Gebetes als das zugänglich zu machen, worin sich das Verhältnis der Transzendenz ereignet“.92 Dazu analysiert und beschreibt er zunächst phänomenologisch das Geschehen der „Aufmerksamkeit“ in seiner zeitlichen Verfasstheit. Dabei ist bedeutsam, dass eine Bewegung des „Sich-selbst-überschreitens“ auf das ursprünglich andere meiner selbst geschieht, das mir als Neues, Wunderbares und Staunenswertes aufgeht. Dieses zeigt sich jedoch nur von sich selbst her und lässt sich nicht als von mir intentional herstellbares Geschehen bewerkstelligen: „Die Aktivität des Sichselbst-überschreitens findet sich also im ursprünglichen Geschehen der Aufmerksamkeit begründet von der Passivität des Angegangenwerdens vom dem, was von sich her ist. […] es geschieht als eine Leistung und Anstrengung von uns selbst, aber als eine negative Anstrengung“, insofern es nur im Modus des Wartens auf „das Andere als das Unverfügbare“ erlangt werden kann.93 Das „andere, worauf ich aufmerksam bin, ist als solches immer das Überraschende, das bislang Unerhörte, das in keiner Weise Vorwegzunehmende, und insofern die Gleichzeitigkeit meiner zunächst scheinbar grenzenlosen Welt Zerbrechende. […] Es bringt Zeit jenseits der mir zunächst möglichen Zeit mit sich: diachron.“94 Durch diesen Einbruch von Diachronie als der Begegnung von zwei Zeitabläufen eröffnen sich dem betenden Menschen neue Lebensräume: „Ich gerate in eine von mir zuvor nicht vermochte Zukunft, die sich mir schenkt: Möglichkeit jenseits meiner Möglichkeiten“.95 Aufmerksamkeit führt so zur Erkenntnis der Wirklichkeit als Gabe, die sich mir unvordenklich schenkt. Die Frage kommt auf: „Was oder wer gibt, daß es die Gabe gibt, und daß es mich gibt, dem sich die Gabe gibt?“. Mit Bezug auf Emmanuel Levinas wird das Gebet von Casper im Zuge dieser Überlegungen als reine Aufmerksamkeit verstanden. Gebet ist ihm daher Ausrichtung auf die geschenkhafte Dimension von begegnender Wirklichkeit: „Denn es zeigt sich als der reine Akt der Aufmerksamkeit auf das, was sich nur geben kann.“96

In den „Grund- und Grenzsituationen“97 des menschlichen Daseins, in denen die eigene Endlichkeit und die Sorge besonders um den geliebten anderen Menschen virulent werden, vertieft sich diese Aufmerksamkeit. Zugleich damit rückt die Prekarität der menschlichen Verfasstheit als „Versuchtsein und Verfallenheit“98 in den Blick. Es kommen Tendenzen zur „Flucht“99 auf als Ausweichmanöver vor der Frage nach der eigenen Identität und des in eine schon vorfindliche Geschichte gestellte „etwas-mit-sich-anfangen-müssens“. Zu Letzterem schreibt Casper: „Indem ich nun aber auf das Wunder meines eigenen Daseins aufmerksam werde und zugleich auf meine Sterblichkeit, werde ich auch darauf aufmerksam, daß ich mit mir selbst in meiner endlichen Zeit, in der ich da bin, etwas anfangen muss. […] Ich bin mir aufgegeben. Und niemand kann mich mir abnehmen. In diese Not finde ich mich. Es ist dies die Not des sterblichen Sichzeitigen-müssens selbst. Und wenn es eine Grund-Not gibt, die beten lehrt, dann ist es diese. […] Diese Grund- und Grenzeinsicht, daß ich als Sterblicher mir selbst aufgeben bin und mich hier niemand vertreten kann.“100

Der andere Mensch, der in der sozialen Begegnung unweigerlich nahe kommt, wird dem Subjekt in seiner Situation, etwas mit sich anfangen zu müssen, zum Ort, an dem ein unbedingter Anspruch begegnet. Beten heißt, dieses Anspruchs eingedenk und inne zu sein: „Unser Aufmerksamsein, das ein Zeit-haben inmitten unseres Unszeitigens bedeutet, hat nun aber eine merkwürdige Gestalt. Es findet sich herausgefordert durch den Anspruch, der unvordenklich und unausdenklich ist. Beten bedeutet so, Zeithaben für das, was in keine Zeit eintritt und doch all unser Zeithaben richtet. Beten bedeutet Zeithaben für jenen unvordenklichen Anspruch, der mich im Daß der Dinge und mehr noch im Dasein des anderen Menschen angeht oder vielmehr mich immer schon anging. Beten bedeutet, dieses Anspruchs eingedenk zu sein, der mich in jeder mitmenschlichen Begegnung und in jeder Verwunderung über das Daß der Dinge schon getroffen hat.“101 Dieser fundamentale Anspruch weist nochmals über den je anderen Mitmenschen unendlich und unabschließbar hinaus, was diesen aber gerade nicht relativiert, sondern einsetzt in eine besondere Bedeutung. Der Mitmensch der sozialen Begegnung wird zum Erfahrungsort und zur Stelle, in der das Berührt- und Betroffenwerden von Tranzendenz geschichtlich einmalig und je neu geschieht. Der betende Mensch gerät nach Casper, wo er dieser Bedeutung ansichtig wird, in Aufnahme der Diktion von Emmanuel Levinas in die „Spur der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ “. Es ist eine Spur, die je neu anlockt, dabei aber immer uneinholbar voraus bleibt: „Was dieses Sprechen von der ‚Herrlichkeit des Unendlichen‘ anzeigt, wird zugänglich allerdings nur, wenn wir uns von einem gegenständlich vorstellenden Denken lösen und ganz aus dem Geschehen der Zeitigung des Daseins selbst heraus denken. In dieser Zeitigung, in der ich mir ständig vorweg bin, bezeugt sich der unvordenkliche und unausdenkliche kategorische Anspruch als der, der mein Mich-zeitigen richtend in Gang hält. Und Richten geschieht hier aber zugleich als ein Orientieren und Aufrichten. Der Anspruch erweist sich derart als Ermöglichung des Gehens meines Weges, insofern dieser ein sterblicher menschlicher Weg ist. Im Gehen des Weges selbst bezeugt sich der unendliche Anspruch als solcher, der in dem Augenblick, in welchem wir ihn zu fassen suchen, sich uns schon entzogen hat. Aber er hat in seinem für uns unfaßbaren Vorübergang seine Spuren in uns hinterlassen. Deren Wirkmächtigkeit erweist sich darin, daß wir auf unserem Weg des nach Menschlichkeit suchenden Etwas-mit-uns-selbst-beginnens weitergelockt werden; und darin, daß zugleich richtendes Licht auf unser Uns-gezeigtigt-habenfällt. Derart finden wir in unserem Uns-zeitigen selbst die Spuren der Herrlichkeit des Unendlichen.“102

Im Rahmen dieses Verständnisses sucht Bernhard Casper zunächst danach, das betende Geschehen hinsichtlich seiner Sprache103 zu erhellen. Er weist in diesem Zusammenhang auf die Begründung der gesamten Sprache im Gebetsgeschehen hin. Dazu führt er aus, dass sich „die Sprache selbst in ihrer Wurzel als Beten erwies. Insofern die Sprache ursprünglich nämlich zwischen dem Anderen und mir geschieht und wir uns derart hoffend zeitigen, geschieht sie ursprünglich als vertrauend-bittendes Sichselbstüberschreiten meiner selbst.“104. Sprache des Gebets ist für Bernhard Casper je persönliche, individuelle Sprache und Ausdruck der Transzendenzfähigkeit des Menschen: „Man darf sagen, daß Menschen nirgendwo so als sie selbst sprechen wie dort, wo sie beten. […] Dieses Selbst-sprechen geschieht […] als ein Sich-zur-Sprache-bringen jener Zeitigungssituation selbst […].“105 Das Verstummen als gefülltes Schweigen ist für Casper die Weise, dem unergründlichen Grund zu entsprechen: „Da unsere Sprachhandlungen, in denen wir uns etwas zu verstehen geben, zunächst aber immer welteinräumende, benennende Sprachhandlungen sind, kann das Sprechen, welches hier ent-spricht, zunächst nur in einem Verstummen bestehen, in einem beredten Schweigen. Wozu ich hier in das Verhältnis gerate, das entzieht sich jeder repräsentierenden Vergegenwärtigung. Es sprengt jede transzendentale Apperzeption.“106 Casper weist auf die Grenze hin, an die die Sprache des Gebets unweigerlich stößt: „In der Sprachhandlung des Betens gebe ich mich selbst frei an den unvordenklichen und deshalb auch von keiner Sprache einzuholenden Abgrund, für den alle Sprache nur eine Metapher sein kann, – den Abgrund, der sich […] in allem von der Sprache Bedeuteten ebenso meldet wie in dem Anspruch der Leibbürgschaft für den anderen.“107.

Nach der Sichtung der sprachlichen Merkmale, die das Beten erkennen lässt, wendet sich Casper der zeitlichen Ereignisstruktur dieses Geschehens zu.108 Schon mit Blick auf den einzelnen zeigt sich das betende Geschehen als besondere, aus dem Strom der verstreichenden Zeit (Chronos) ausgegrenzte Zeit: „Beten beginnt damit und wurzelt darin, daß wir inmitten unseres Uns-zeitigens uns den Freiraum eines eigenen Zeithabens-für nehmen, – und sei dies nur der Freiraum eines Augenblicks.“109 Im sozialen Kontext entspricht dem das Fest. „Derart erweisen sich die Festtage als die Tage des von dem unendlichen Sinn, der alle Geschichte in Atem hält, geschenkten Miteinanderzeithabens. Die Festtage erweisen sich als ‚Tage des Eingedenkens‘, die ‚nicht im Verband der übrigen‘ Tage stehen, sondern ‚sich vielmehr aus der Zeit‘ herausheben. Sie erweisen sich als ‚Ausnahmetage‘: als in Verleiblichung des Miteinander gelebte Steigerung jenes geschenkten Sich-überschreitens, das für den einzelnen in jedem Beten geschieht.“110 Im Anschluss werden vom Freiburger Religionsphilosophen Überlegungen zur Gemeinschaftlichkeit111, zum festlichen Charakter des Gebets112 und zu Verfallsformen des religiösen Geschehens113 formuliert.

In seiner phänomenologischen Deskription versteht Berhard Casper das Geschehen des Gebets als „Gelassenheit“114 in einer „nichtintentionalen Intentionalität“115. Casper versteht das Ereignis des Gebets insgesamt als die verdankte, aus dem Alltäglichen und dem undifferenzierten Fluss der Zeit ausgesonderte ‚Ausnahmezeit‘, die eine neue, nur zu erwartende Zukunft berührt. Mit Blick auf die alltagsprägende Kraft der Gebetszeit hält er fest: „Das ernsthaft vollzogene Beten […] gibt sich in die Ausnahmezeit des Eingedenkens hinein ausdrücklich frei. Dadurch wird das grenzenlose ‚wie gehabt‘ des Alltäglichen als die hoffnungs- weil zukunftslose Zeit aufgebrochen. Es fällt in die Zukunft ein als eine andere Zukunft.“116