Bettyville - George Hodgman - E-Book

Bettyville E-Book

George Hodgman

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Beschreibung

Eine Liebeserklärung eines Sohnes an seine Mutter: eine starke, mutige und verrückte Frau Georges Mutter Betty ist wunderbar: stur, stolz und wild – und zunehmend dement. Früher ist sie mit ihm auf dem Beifahrersitz durch die Prärie gerast, heute tappt sie in dicken weißen Socken etwas verloren durch ihr Haus. Doch auch mit 91 Jahren hält Betty das Zepter fest in der Hand. Und eins ist sicher: Sie wird es ganz bestimmt nicht an ihren Sohn abgeben, der nach Missouri zurückgekehrt ist, um für sie da zu sein. Oder will George sie etwa ins Altenheim stecken? Beide fühlen sich ein wenig hilflos und versuchen, ihren Weg gemeinsam zu gehen. Dabei stoßen sie auf schöne Erinnerungen, stolpern aber auch über alte Konflikte.

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Das Buch

Die schönste Frau im Dorf Paris in Missouri ist 91 Jahre alt und heißt Betty. Sie hat pechschwarzes, lockiges Haar und trägt jeden Tag das Gleiche: ihre Lieblingsjeans, ihre Lieblingsbluse und ihre Lieblingssandalen. Ihr Sohn George ist extra aus Manhattan nach Missouri zurückgekehrt, um sie zu pflegen. Aber Betty wird nicht zulassen, dass jetzt alles aus dem Ruder läuft, nur weil ihr Sohn sich um alles kümmert. Deshalb kocht sie nachts um 2 Uhr Kaffee, deshalb überprüft sie nachts um 3 Uhr, ob George wieder in seinen Sachen vom Vortag schläft. Sie wird nicht plötzlich weich werden, nur weil sie älter ist. Sie wird sich nicht vorschreiben lassen, welche Kleidung sie trägt oder in welchem Pflegeheim sie sterben wird. Und weil Betty ihre Welt regiert, befiehlt sie ihrem Sohn zu bleiben und weicht nicht mehr von seiner Seite. Der hat derweil andere Pläne …

Der Autor

GEORGE HODGMAN ist Lektor und Redakteur und hat unter anderem für Simon & Schuster, Vanity Fair und Talk Magazine gearbeitet. Er lebt abwechselnd in New York und seinem kleinen Heimatort Paris in Missouri.

George Hodgman

Bettyville

Roman

Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch

List

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Bettyville bei Viking Books, New York.

Das Zitat stammt aus: Schlaflose Nächte, Elizabeth Hardwick, aus dem Amerikanischen von Regine Laudann, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1988, S. 7.

Das Zitat im Kapitel 8 stammt aus: Meine geheime Autobiographie, Mark Twain, aus dem Amerikanischen von Christian Oeser, hrsg. von Rolf Vollmann, Aufbau Verlag, Berlin 2012, Seite 14.

Das Zitat im Kapitel 13 stammt aus: Amerikanische Dichtung.Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Eva Hesse und Heinz Ickstadt, aus dem Amerikanischen von Conny Lösch, Verlag C. H. Beck, München 2000, S. 158 ff.

ISBN 978-3-8437-1726-7

© 2015 by George Hodgman© der deutschsprachigen Ausgabe2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagabbildungen: © S/W Foto: GP Library Limited / Alamy Stock Photo, Brille: Jane Wilson/Millennium Images, Hintergrundmotiv: parisian/shutterstock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vor allen anderen widme ich dieses Buch meinen besten Freunden, meinen Eltern: George A. und Betty Baker Hodgman. Jedes Wort wurde mit Liebe geschrieben.

Außerdem meinen Großmüttern Margaret Callison Baker und Virginia Rachel Hodgman, meiner Großtante Bess Baker, meiner Tante June Baker sowie Alice Mahew, immer loyal, stets großzügig. Schließlich auch Madison und Paris, wo so viele meiner Lieben lebten. Ich werde euch nie ­vergessen, ihr guten Menschen.

Wenn man nur wüßte, woran man sich erinnert oder zu erinnern vorgibt! Triff eine Entscheidung, und was du von den verlorenen Dingen haben willst, wird sich einstellen. Man kann sie herausnehmen wie Dosen aus einem Regal.

Elizabeth Hardwick, Schlaflose Nächte

1

Missouri ist ein Staat der gestohlenen Namen – sie sollen die Welt ein bisschen näher heranrücken: Versailles, Rome, Cairo, New London, Athens, Carthage, Alexandria, Lebanon, Cuba, Japan, Santa Fe, Cleveland, Canton, California, Caledonia, New Caledonia, Mexico, Louisiana. Und Paris, wo wir zu Hause sind.

Außerdem gibt es die lustigen Namen. Licking gehört zu meinen Favoriten, ebenso wie Fair Play, Strain, Elmo, Peculiar, Shook, Lone Jack, Butts, Lupus, Moody, Clover, Polo, Shake Rag und schließlich die Städte mit T – Turtle, Tightwad, Tulip und Tea.

Wenn ich nicht schlafen kann, versuche ich mich an möglichst viele davon zu erinnern – ein altes Spiel, das ich als Kind mit meinen Eltern spielte, wenn ich aus dem Autofenster auf die wogenden braunen Fluten des Mississippi schaute.

Irgendetwas hat mich geweckt, obwohl man hier eigentlich nur die Klimaanlage hört und es draußen noch ebenso stockdunkel wie totenstill ist, sieht man einmal von den Zügen ab. Die Uhr zeigt ungefähr halb drei. Ich werde nicht wieder einschlafen. Wo bin ich? Nicht in meiner Wohnung; keine Sirenen, kein Autohupen, durch die Jalousien scheint keine Neonreklame. Das ist nicht Manhattan, nicht Chelsea, nicht die West Twenty-­Third Street. Ich bin zu Hause in Paris, Missouri, Einwohnerzahl 1246 mit sinkender Tendenz. Nur noch ein paar Tage oder Wochen werde ich hierbleiben, rede ich mir ein, länger nicht. Vorübergehend. Bis Carol sich von ihrer Schulteroperation erholt hat, das ist die gutherzige Farmersfrau, die mir hilft, Betty zu versorgen. Oder bis meine Mutter in eine Einrichtung für betreutes Wohnen aufgenommen werden kann. Bis es regnet. Oder bis Bettys Verstand wiederhergestellt ist oder ich eine neue Festanstellung finde. Bis sich hier in der Sherwood Road etwas ändert, meine Mutter stirbt und ich den Haushalt auflösen muss.

Bettys Stimme im Flur: »Wer hat die Klimaanlage so hochgedreht? Soll ich erfrieren?«

Und da ist sie. Mit schief und krumm auf dem neunzigjäh­rigen Kopf sitzenden Lockenwicklern linst sie in unser Gästezimmer, wo ich meine Nächte größtenteils schlaflos verbringe, und kichert aus keinem ersichtlichen Grund in sich hinein. Im selben Raum mit mir liegt auch der letzte Flokati Amerikas. Ich habe einen vermutlich noch aus meiner Highschool-Zeit stammenden Zehennagel darin entdeckt.

Auf dem Gästebett liegt eine Decke mit Sternen und Halbmonden, an den Rändern halten sich Jungen und Mädchen an den Händen, und es sind die Initialen längst verstorbener Farmersfrauen eingestickt, darunter auch die meiner Großtante Mabel. Hier bin ich untergebracht, ebenso wie das Weihnachtsgeschenkpapier, der Schreibtisch von Bettys Onkel Oscar und das Bett, in dem ich als kleiner Junge neben meiner schlafenden Großmutter lag, ihrem Schnarchen und dem rauschenden Heizkessel lauschte. Das Haus meiner Großmutter Mammy in Madison, in dem meine Mutter aufwuchs, circa zehn Meilen westlich von uns, nannten wir das Haus der vielen Schornsteine. Im Garten dahinter wuchsen rosa Rosen, die meiner halbblinden und alten Großmutter ein ständiges Ärgernis waren, unentwegt stach sie sich an deren Dornen.

Im Flur brennt Licht. Betty war in der Küche, hat sich was zu essen geholt, wie so oft mitten in der Nacht, wenn sie aufwacht, weil sie mal muss oder aus einem Traum hochschreckt. Irgendetwas – ihre Träume, ihre Gedanken, ihre Erinnerungen – lässt meiner Mutter nachts keine Ruhe. Sie hat einen leichten Schlaf, tappt in ihren dicken weißen Socken umher, räuspert sich laut, läuft Schlangenlinien, setzt Kaffee auf, der am Morgen längst wieder kalt sein wird, und vergewissert sich, dass alles ihrer ­eigenartigen Vorstellung von Ordnung entspricht. Wenn sie ins Bett gegangen ist, versuche ich, ihr den Weg, den sie im Dunkeln in die Küche nimmt, ein wenig zu beleuchten, lasse die Lampe im Arbeitszimmer meines Vaters brennen, ebenso wie die in dem kleinen Flur.

»Bist du wach?«, fragt meine Mutter.

»Jetzt schon«, sage ich.

Betty, die ich neulich dabei erwischte, wie sie den Inhalt meines Koffers durchwühlte, schaltet das Licht in meinem Zimmer an und runzelt die Stirn wie ein Betreuer im Zeltlager bei seiner nächtlichen Kontrollrunde. Anscheinend hegt sie den Verdacht, ich könnte heimlich jemanden versteckt haben, der über den See gepaddelt kam. Einen wie mich muss man im Auge behalten. Ich führe etwas im Schilde. Sie fürchtet, hinter ihrem Rücken könnte etwas vor sich gehen, könnten Pläne geschmiedet werden, und sie hat nicht die Absicht zu kooperieren. Wenn das Telefon klingelt, lauscht sie auf jedes Wort, ist unsicher, ob sie mir ihre Unabhängigkeit anvertrauen kann. Verdenken kann ich es ihr nicht. Ich bin kein sehr überzeugender Altenpfleger. Ich dränge ihr meine Fürsorge auf.

Es ist nicht leicht, sie einzusperren. Ihr Wille ist stark und ungebrochen. »Auch wenn’s heiß ist, ich geh trotzdem zu der Auktion«, nuschelte sie vergangene Woche im Schlaf, während die Temperaturen draußen auf fast vierzig Grad stiegen. Schlafend hob sie einen Finger, um mitzubieten. Auf mich reagiert sie heftiger als auf alle anderen, manchmal scheucht sie mich unwirsch davon, wenn ich ihr zu nahe komme. Es gibt Tage, an denen ich es ihr nicht recht machen kann. Carol, die in Pflege­heimen gearbeitet hat, behauptet, alte Menschen, die nicht mehr alleine zurechtkommen, sind häufig auf diejenigen am wütendsten, die ihnen am nächsten stehen. Und die ihnen bewusst machen, dass sie nicht mehr sie selbst sind. Aber ich halte Bettys Verschrobenheit für aufgesetzt, sie überspielt damit, wie peinlich es ihr ist, andere um etwas zu bitten. Wenn ich etwas für sie tue, schaut sie weg. Sie ist es gewohnt, alleine zurechtzukommen, und hasst das alles.

»Hab mir Sorgen gemacht«, sagt Betty. »Du hast doch erzählt, dass du gestern Nacht nicht schlafen konntest. Hab mir Sorgen gemacht, dass du heute auch nicht schläfst.« Sie starrt mich an.

»Nein, ich schlafe. Tief und fest. Jetzt in diesem Moment rede ich im Schlaf mit dir.«

»Du liegst schon wieder angezogen im Bett.«

»Bin beim Lesen eingenickt.«

(Tatsächlich lege ich mich angezogen ins Bett, weil ich damit rechne, gebraucht zu werden, wenn sie fällt, einen Schlaganfall erleidet oder nach mir ruft. Wenn ich sie ins Bett bringe, kommt sie mir sehr zerbrechlich vor. Auf meinem Nachttisch liegen die Nummern für den Krankenwagen und die Notaufnahme.)

»Ist nicht gut, angezogen ins Bett zu gehen … Der Appeal ist heute nicht gekommen«, beschwert sie sich.

Die Zeitung unserer kleinen Stadt, die über alle Ereignisse berichtet, von Sammelaktionen für wohltätige Zwecke bis zu Nachrichten der Kirche – unter anderem auch vom »Movement of the Spirit« in der Full Gospel Church –, kam in letzter Zeit eher unregelmäßig, möglicherweise wegen des zunehmenden Personalmangels bei der Post. Ausfälle dieser Art können meine Mutter in eine Krise stürzen. Sie will, was sie will, und zwar sofort.

»Hat heute jemand angerufen? Von der Kirche? Ich kann meinen anderen Schuh nicht finden, zum Kuckuck!«

Ich sage, wir suchen ihn am Morgen, und meine Mutter lächelt beinahe zufrieden. Eine Sekunde lang blitzt die alte Betty auf, meine Freundin, die sich inzwischen nur noch selten zeigt.

Wenn wir in St. Louis von der Skinker in die Delmar ab­biegen, unweit der University City, zeigt mir Betty immer die Stelle, wo sie als junge Frau und Sekretärin bei Union Electric auf die Straßenbahn gewartet hatte. Von der Vergangenheit spricht sie selten, kehrt aber sehr gerne zu der alten Straßenbahnhaltestelle zurück. Nach dem Krieg, in den vierziger Jahren, war sie ein hübsches Mädchen mit lockigem hellbraunem Haar, das gerade an der Universität zur Wahl der »Miss Legs« angetreten war. Wenn ich mir ihre Geschichten anhöre, sehe ich sie in einem alten Mantel, kurz nach Kriegsende, wie sie die Bahnstrecke entlang Richtung Webster Groves schaut, wo sie bei ihrer Tante Nona wohnte. Freudig erregt steht sie mit unschuldigem Gesichtsausdruck neben den anderen Frauen in ihren teuren Kleidern, die Mammy ihr niemals zu kaufen erlauben würde. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht am liebsten in die Straßenbahn gestiegen und in ein anderes Leben gefahren wäre.

Bis meine Mutter begriff, dass sie klug war und dass ihr Äußeres ihr Türen öffnen konnte, hatte sie bereits zu viele zugeschlagen, um noch zurückzukönnen. »Ich wollte nur ein Haus mit ein paar schönen Sachen darin«, hatte sie mir einmal gesagt. »Das war mein kleiner Traum.«

Betty – oder besser Elizabeth, oder wie auf ihrem besten Briefpapier: Elizabeth Baker Hodgman – sieht nicht gut. Bestimmte Bereiche bleiben verschwommen. Manchmal lässt auch ihr Gehör sie im Stich. Häufig lässt sich nur schwer sagen, ob sie ­etwas nicht verstanden hat oder es schlicht vorzieht, nicht zu reagieren. Außerdem leidet sie an Demenz oder vielleicht auch etwas Schlimmerem.

An manchen Tagen ist sie fast wie gesund, kommandiert unsere Putzfrau Earleen herum, schnauzt sie an und ist so gut beisammen, dass sie mit ihren langjährigen Bridgepartnerinnen spielen kann. Manchmal aber ist sie ein verlorenes Mädchen mit traurigen Augen. Ich habe Angst, sie kaputtzumachen. Für mich ist das alles neu.

Wir suchen Augentropfen, Schecks, Hörgeräte oder die Bluse, die Earleen für den Kirchenbesuch hatte bügeln sollen. Meine Mutter konnte sich schon immer schlecht auf Nebensächliches konzentrieren. Innerlich war sie immer mit irgendetwas beschäftigt, ein bisschen entrückt.

Jetzt ist sie häufiger denn je mal da und mal nicht, driftet immer wieder für ein oder zwei Minuten in ihre eigene Welt ab. Oder sitzt lange da und starrt ausdruckslos vor sich hin. Oder vergisst den Namen einer Person, die sie früher kannte, bevor sie sich Sorgen darüber machen musste, dass sie Namen vergisst. Nachmittags ist es still im Haus, ich höre nichts außer ihrem leisen Wimmern und ihrem Stöhnen, ihren Selbstgesprächen. Abends, besonders kurz vor dem Zubettgehen, ist es am schlimmsten. Sie weiß, dass etwas mit ihr geschieht, würde es aber nie zugeben. Gemeinsam umkreisen wir ihre Traurigkeit, aber wirklich daran teilhaben lässt sie mich nicht. Jedes Eingeständnis würde ihren Zustand real machen. Diese Tage, fürchte ich, sind die letzten, die ihr als ihr selbst geblieben sind.

Meine Mutter ist immer schnell gefahren, nie zu Hause geblieben. Früher rasten wir in unserem blauen Impala kreuz und quer durch die Prärie, im Radio lief laut DJ Johnny Rabbitts ­typisch amerikanische Stimme auf KXOK St. Louis. Sie hat mich zu der Haltestelle gebracht, wo der Bus hielt, mit dem ich zur Vorschule fuhr. Meine Mutter – »immer überspannt«, wie mein Vater meinte – blieb bis zur letzten Minute im Badezimmer, rauchte Kent-Zigaretten und machte sich an ihren Haaren zu schaffen. »Ich seh aus, als hätte mich die Katze angeschleppt«, sagte sie zu sich selbst und blickte stirnrunzelnd in den Spiegel.

Als sie endlich herauskam, saß ich auf der Motorhaube und hatte meine Batman-Lunchbox bereits leer gefuttert, nur Alufolie und ein paar hastig geschabte Möhren lagen noch drin.

»Ich bin ein nervöses Wrack«, schrie ich. Als Einzelkind wuchs ich hauptsächlich unter Erwachsenen auf und wiederholte, was ich hörte, verstand aber meist nur die Hälfte von dem, was ich sagte.

»Wieso sitzt du da rum?«, schrie sie zurück, als hätte ich getrödelt und nicht sie.

An diesen Vormittagen auf dem Weg zur Schule lernte ich Popmusik lieben, was mein Leben lang so bleiben sollte. Meine Mutter und ich sangen mit bei »This Diamond Ring« von Gary Lewis and the Playboys, »You’ve Lost that Lovin’ Feeling« von den Righteous Brothers und »Downtown« von Petula Clark. Betty zog ihren Schuh aus und stieg mit nacktem Fuß aufs Gaspedal, trat es praktisch bis zum Anschlag durch.

Ich mag Tempo und werde meine Mutter immer vor mir sehen, wie sie mit mir auf der Schnellstraße zwischen Madison und Moberly, mit Lockenwicklern unter dem Kopftuch und Sonnenbrille auf der Nase, in die große weite Welt hinausfuhr.

»Was guckst du so, du kleiner Teufel?«, fragte sie.

»Ärger mich nicht«, sagte ich. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«

»Du bist meine Angelegenheit.«

»Betty«, sagte mein Vater häufig, »man merkt sofort, dass er dein Kind ist.«

Ich war Bettys Junge.

Dieses Jahr musste Betty ihren Führerschein abgeben, weil sie in einen Graben gefahren war. Sie muss zu Hause sitzen und warten, dass sie eingeladen wird. »Die lassen mich nicht mal mehr in den Supermarkt fahren«, sagt sie. Ihr Blick ist schwermütig, denn es juckt sie in den Fingern mit den rosa lackierten Nägeln, endlich wieder einen Autoschlüssel ins Zündschloss zu stecken.

Plötzlich schreit Betty auf. Oh Gott, denke ich, als ich zu ihr renne, über einen Lockenwickler stolpere und gerade noch vermeiden kann, mir den Knöchel zu verstauchen. »Was ist?«, frage ich. »Was ist los?«

»Sag mal«, setzt sie an, »du hast gar kein Klopapier geholt.«

Wir haben so viel Klopapier, dass es für eine ganze Armee reichen würde. Ich glaube, sie nimmt an einer Art Kunstprojekt teil. Ähnlich wie die Sachen, die Christo macht.

»Morgen kauf ich welches«, sage ich.

»Ist mir recht«, erwidert sie und macht eine Pause, bevor sie fragt: »Hast du einen Termin beim Friseur für mich gemacht?«

»Hab ich. Hab gesagt, es ist ein Notfall.«

Es ist drei Uhr morgens. Ich klaue mir eine Zigarette aus dem geheimen Vorratslager meiner Mutter und setze mich im Dunkeln auf die Stufen vor dem Haus. Der Briefkasten, den mein Vater gebaut hat, fällt jetzt auseinander. Ich würde ihn ja reparieren, aber ich bin nicht sehr geschickt. Sachen zusammenbauen kann ich genauso wenig. Ein Besuch bei IKEA genügt, um mich aus der Bahn zu werfen. Lieber unterziehe ich mich einer Lumbalpunktion, als dass ich einen Couchtisch zusammenbaue.

Mir gehen die Gerichte aus, die ich zuzubereiten in der Lage bin. Heute Abend habe ich in einem Anfall von Nostalgie mit Campbell’s Champignonsuppe und zerstoßenen Kartoffelchips einen Thunfischauflauf gezaubert.

»Wusste gar nicht, dass das überhaupt noch jemand kocht«, sagte sie.

»Keine Mutter ist perfekt«, hat Betty immer behauptet. Für mich war sie es. Besonders dann, wenn sie glaubte, es nicht zu sein. In der Grundschule brachten die Mütter zu Feiertagen immer kleine Leckereien mit. Am liebsten mochte ich Popcorn Balls – knusprige weiße Kugeln, Sorghum war der Kitt, der die geplatzten Maiskörner zusammenhielt. Als sie mit den Süßigkeiten an der Reihe war, fragte Betty mich, was ich haben wollte, worauf ich antwortete: »Popcorn Balls.« Sie meinte: »Junge, Junge.« Und zündete sich eine Zigarette an.

Die Küche war nicht ihr natürlicher Lebensraum. Ihre An­gewohnheit, Geräte niemals auszuschalten, hatte explodierende Kaffeekannen und qualmende Toaster zur Folge. Wenige Tage nachdem ich mir Popcorn Balls gewünscht hatte, fand ich Betty wie üblich mit Lockenwicklern auf dem Kopf – sie waren mit rosa Nadeln festgesteckt, die überall im Haus herumlagen – vor dem Ofen. In unserer Küche, die niemals einer Abbildung aus der Zeitschrift Good Housekeeping ähnelte, stapelten sich Schüsseln und Backbleche. Überall klebte Popcorn, und mittendrin lagen abgefallene Lockenwickler. Auf einem Backblech fand sich ein seltsamer Klumpen aus deformierten Popcorn Balls.

Als ich sagte, eigentlich sollten alle gleich groß sein, wirkte Betty verärgert, erschöpft, verzweifelt und enttäuscht. Sie hatte versagt. Nichts war richtig. Dabei wollte sie eine vorbildliche Mutter sein.

Ich nahm eine der Kugeln und biss hinein. »Ich glaube, das sind die besten, die ich je gegessen habe«, sagte ich und steckte Lockenwicklernadeln in einige der anderen Klumpen, um sie optisch ein bisschen aufzupeppen.

»Was machst du da?«, fragte sie. »Geh raus, spielen.«

Meine Mutter kann nicht mehr alleine leben, lehnt aber alle herkömmlichen Alternativen vehement ab. Ich versuche so zu tun, als hätte ich das Sagen. Jetzt bin ich an der Reihe, den Erwachsenen zu mimen, dabei will ich die Rolle gar nicht haben. »Steck mich bloß nicht in ein Heim mit lauter alten Leuten«, sagt sie.

»Na schön«, erwidere ich. »Dann komme ich eben vorbei.«

In meiner New Yorker Wohnung stapeln sich Bücher, im Kühlschrank vergammelt Essen in Take-away-Verpackungen, das ich vergessen habe zu entsorgen. Inzwischen müssen schon neue Lebensformen dort entstanden sein. Ich stelle mir Hausbesetzer mit schmierig-schleimigen Gesichtern vor, die in einer großen rostigen Tonne Feuer gemacht haben und sich nun die Hände daran wärmen. Durch die Wohnung laufen gackernde Hühner, flattern wild herum. Wahrscheinlich muss ich für immer hier in Missouri bleiben und Pferdeflüsterer ­werden.

Ich habe drei Hosen dabei und ungefähr fünf Sommerhemden, nach meinen kulinarischen Bemühungen sind alle hoffnungslos bekleckert. Für den Besuch bei meiner Mutter an­lässlich ihres Geburtstags hatte ich ursprünglich zwei Wochen eingeplant. Bald bin ich seit zwei Monaten hier. Meinen Job habe ich verloren; ich habe Zeit. Ich bin kein Märtyrer. Ich stehe einfach zur Verfügung, bin arbeitsloser Lektor und auf freiberufliche Tätigkeiten angewiesen.

Ich trage mich mit dem Gedanken abzureisen, aber irgendwie schaff ich’s nicht zum Flughafen. Meine Finger wollen die Nummer von American Airlines einfach nicht wählen, und mir wird bewusst, dass mir meine Wohnung in New York bei meiner Rückkehr sehr leer vorkommen würde. Meine ehemaligen Kollegen fehlen mir. Und auch Betty würde ich vermissen. Anscheinend bin ich einer, der andere Menschen braucht. Eine Vorstellung, die mir überhaupt nicht gefällt.

»Lass mich nicht allein«, sagt Betty, wenn ich ins Bett will, bevor sie bereit ist, schlafen zu gehen. »Wirst du mich alleine lassen?« Wenn ich mich mit meiner Arbeit an den Schreibtisch meines Vaters hinten im Haus verziehen und den Kartentisch am Sofa verlassen möchte, der ihre Kommandozentrale darstellt, fleht sie mich an zu bleiben. Den ganzen Tag sitzt sie neben mir, will mich immer bei sich haben, eine Wende um hundertachtzig Grad im Vergleich zu der Frau, die mich ständig verscheucht hat, ins Ferienlager oder ans College schickte, ständig in die nächste Phase oder die Unabhängigkeit drängte. Wenn ich einer anderen Person gestatte, sie zum Arzt zu bringen – zum Beispiel wegen ihres Fußes, keineswegs wegen eines Notfalls –, ist sie ein bis zwei Tage lang sauer. So ist das jetzt.

Meine Mutter hat Angst. Ich kann es kaum glauben, aber sie will nicht über ihre Ängste sprechen. Sie ist völlig verschlossen, behält ihre Geheimnisse für sich. Und ich meine für mich. So machen wir das. Offene Worte sind uns immer schon schwergefallen.

Wenn ich aufwache, weiß ich nie genau, was mich erwartet. Neulich als sie sich für unseren täglichen Spaziergang bereit machte, sah ich, dass sie sich ihre Socke über den Schuh ziehen wollte. Dieses Intermezzo, das weiß ich, kann nicht von Dauer sein. Mein Leben befindet sich derzeit in der Warteschleife. Mich beunruhigt, wie wir jetzt leben, ich habe Angst, abzudriften, selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren. Schon bald wird sie mehr brauchen, als ich ihr geben kann, aber sie ist nicht bereit nachzugeben. Trotz ihrer schwindenden Sehkraft, ihres nachlassenden Gehörs, ihrer Magenprobleme und ­allem anderen, versucht sie an diesem Haus festzuhalten, das ihr so vertraut ist. Es ist ihr Zuhause.

Die kleinen Dinge beunruhigen meine Mutter am meisten – ein zerbrochenes Glas, ein misslungener Braten, ein widerspenstiger Dosenöffner, die Fernbedienung für den Fernseher, die sie nicht bedienen kann. Würde ich ihr sagen, das Haus stünde in Flammen, würde sie weiter Zeitung lesen. Müsste ich ihr aber erklären, dass ich ihr Adressbuch nicht finde, würde sie die Nerven verlieren. Dennoch war sie immer eine entschlossene Frau, eine Naturgewalt. Sie war mein Fels, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie vor allem deshalb so lange überlebt hat, um mir – einem schwulen Mann, dessen Leben sie nie verstanden hat – einen Platz zu geben, den ich mein Zuhause nennen kann.

Jetzt zieht sie eine Spur aus geöffneten Schranktüren, schmutzigen Papiertaschentüchern, Krümeln, Melonenkernen, unbezahlten Rechnungen und Essensresten hinter sich her. Ich poliere das Silber, bereite Mahlzeiten zu, kaufe ihr neue Armbänder, lege ihr Pfefferminzbonbons unters Kopf­kissen und fahre mit ihr zu Heerscharen von Ärzten. Ich kaufe bergeweise frisches Obst ein, das – ebenso wie Eiscreme – für eine Frau, die in der Zeit der Weltwirtschaftskrise aufwuchs, immer noch ein großer Luxus ist. Selbst nach Jahrzehnten des relativen Wohlstands ist eine Schale mit frischen Erdbeeren für meine Mutter immer noch etwas Wunderbares, eine herrliche Überraschung. Mit der Freude eines aufgeregten kleinen Mädchens macht sie sich darüber her.

Ich versuche mir alles Mögliche auszudenken, um sie ein bisschen fröhlicher zu stimmen. Wenn sie nur ab und zu mal ein bisschen glücklicher aussehen würde. Ihre Tage in diesem Haus, das mein Vater gebaut hat, sind gezählt, das weiß ich. Durch den Garten hinten springen Rehe, und Sara Dawson weiter unten an der Straße schaut morgens, ob bei Betty Licht in der Küche brennt, in deren Fenster ich, wenn ich in die Einfahrt einbog, so oft das Gesicht meiner wartenden Mutter gesehen habe. Für uns beide sind es, das weiß ich, unsere letzten Tage zu Hause. Ich bin zwar ein Einzelgänger, aber ich hasse es, Menschen zu verlieren. Wie viel Angst es einem machen muss, zu wissen, dass man sich selbst verliert, vermag ich mir kaum vorzustellen.

2

Im Frühjahr steigen in Missouri die Flüsse, und irgendwann werden die hügeligen, unzählige Hektar weiten Felder grün. Die Farmer plagen sich mit dem feuchten Boden und über­legen, wann er trocken genug sein wird, um geeggt zu werden. Morgens wandern die alten Frauen durchs feuchte Gras, bücken sich nach Osterglocken oder Pfingstrosen, die sie mit schmutzigen Händen pflücken, und richten sich wieder auf, um Kinder auf dem Schulweg zu beobachten oder Sommerkleidung zum Lüften in den Wind zu hängen.

Im April und Mai kommen Regenschauer, Blitze verkohlen Baumstämme, und Äste krachen im Gewitter zu Boden. Bäche und Flüsse treten über die Ufer und überfluten die Straßen. Betty trat immer aufs Gas und fuhr durchs Wasser, ohne sich überhaupt anmerken zu lassen, dass etwas ungewöhnlich war.

Heute gibt es hier mehr Wirbelstürme als früher. Vor einigen Jahren wurde das ein paar hundert Meilen entfernte Joplin von einem Tornado, der auf seinem Weg über die Steppe noch an Fahrt gewann, fast vollständig zerstört. Viele Menschen starben. Weltweit wurde darüber berichtet.

Betty hatte nicht viel dazu zu sagen. So was kommt vor. So ist das Leben. Einmal wurde ein Farmer in der Nähe von Paris von einem Windstoß durch die Luft geschleudert. Betty nahm das Ereignis gar nicht zur Kenntnis, sie machte einfach weiter wie immer. Sie lässt sich nicht beirren.

Wie bei uns in der Familie erzählt wird, ging die Großmutter meiner Mutter, Anna Callison, im Alter von fünfundachtzig Jahren eines Morgens im Frühjahr auf Reisen. Von der Union Station in St. Louis fuhr sie alleine mit dem Zug quer durchs halbe Land bis nach Virginia, wo sie während des Bürgerkriegs als junges Mädchen Traveller, dem Pferd von General Robert E. Lee, einmal Wasser hatte holen dürfen. Sie wollte sich die kürzlich ausgegrabenen Knochen von Traveller ansehen, um sich an den Vormittag zu erinnern, an dem sie dem General begegnet war, der im Krieg gekämpft hatte – damals, als sie noch ein Mädchen war. Niemand konnte sie davon abhalten. Weder Mammy noch Nona oder Onkel Oscar.

»Die war verrückt«, sagt Betty.

Der Frühling ist längst vorbei; es ist August, und die Hitze bricht alle Rekorde. Seit Juni hat es nicht mehr geregnet. Selbst das Flussbett sieht aus wie eine Wüste, und auf den Feldern verdorrt der Mais.

Aus den Fernsehnachrichten um 18 Uhr erfahre ich, dass Abgeordnete aus Missouri, von denen einige bewaffnet zu den Parlamentssitzungen erscheinen, einen Gesetzesentwurf prüfen, der die Vollstreckung der Scharia verbietet. Kontrovers diskutiert wird außerdem ein Beschluss, der Teenagern ohne elterliche Erlaubnis den Zutritt zu Sonnenstudios untersagt. Betty fragt nach, was sie da im Fernsehen sieht.

»Demnächst wollen sie Teenager verhaften, weil die sich unerlaubt sonnen«, sage ich.

»Das ist nicht so witzig, wie du glaubst«, erwidert sie. Aufgrund meines Scherzes guckt sie ähnlich gequält wie früher auf Partys, wenn mein Vater, ein selten verlegener Tenor, Trinklieder schmetterte, während die anderen Ehemänner kaum ein Wort herausbrachten. Ich bin ironisch. Sie ist sachlich. Wir leben auf unterschiedlichen Ebenen.

Gerne bleibe ich eine ganze Nacht lang wach, um mich über ein Manuskript zu beugen und mit Wörtern und Sätzen zu spielen. Genauso gerne mache ich mich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg, wenn sich außer mir noch niemand rührt. Schaue ich auf mein Leben, kann ich keine besondere Struktur darin erkennen. Zu Hause in New York höre ich Musik, lese Bücher, fische alte Fotos aus fremden Mülltonnen. Ich mag das Unkonventionelle, die Stadt und ihre Geschichten, Außenseiter und Gestalten von zweifelhaftem Ruf. Meine Mutter hat ihr Leben teilweise für die Nachbarn gelebt. Mir fällt es schwer, mich an deren Namen zu erinnern.

»Wer ist das?«, will Betty wissen, als wir am frühen Abend rückwärts aus der Auffahrt setzen und ein Junge in seinem Pick-up vorbeirast. »Wo fährt der denn hin?« An der Ecke ist eine Baustelle mit einem Loch und einem Haufen Sand, und sie fragt: »Was machen die da? Sieht aus, als hätten sie ein Riesenloch gegraben. Pass bloß auf.«

Sie trägt ihre Jeans, die sie niemals ausziehen will, und eine Bluse mit Knitterfalten, die sie nicht sieht. Seit vielen Tagen ist dies die Kombination ihrer Wahl. Ich habe es aufgegeben, mich in ihre modischen Entscheidungen einzumischen. Möge Gott mir Gleichmut schenken, um die Kleidung zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann.

Wir sind eine halbe Stunde zu spät dran für eine Einladung zum Essen, also trete ich aufs Gas, und wenig später befinden wir uns auf dem Weg raus aus der Stadt. Vor einer etwas heruntergekommenen Kirche sehe ich ein Schild, auf dem nicht wie sonst üblich Bibelverse angeschlagen sind, sondern die Auf­forderung: Betet für Regen. Gebetet wird hier viel, besonders in diesem Sommer. Man hofft auf Engel. Eine Frau, die auf der Interstate 70 um ein Haar bei einem Autounfall gestorben wäre, behauptet, gesehen zu haben, wie ein Engel die Straße überquerte, kurz bevor sie die Kontrolle über ihren Wagen ­verlor.

Wir kommen an der Stelle vorbei, wo einst das Major’s Drive-­­in Theater stand. Es wurde in einem schlimmen Frühjahrssturm vor ein paar Jahren zerstört. Wir fahren vorbei an glänzend schwarzen Kühen. Mammy sprach immer davon, wie hübsch sie schwarze Kühe auf grünem Gras fand. Nur ist das Gras in diesem Sommer nicht grün, und Mammy lebt schon lange nicht mehr.

Betty seufzt beim Blick über die Felder. »Gut, dass wir den Farmern kein Holz mehr verkaufen müssen«, sagt sie. »Ein großes Glück ist das.« Fest umklammert sie die Handtasche aus geblümtem Stoff, die ich ihr zum Geburtstag gekauft habe und die sie eigentlich zu jugendlich findet. »Ich dachte, die Tasche gefällt dir nicht«, bemerke ich. »Ist aber gekauft und bezahlt«, erwidert sie. »Da will ich nicht die Nase rümpfen.«

Wir befinden uns auf dem Land, richtig auf dem Land. Nicht dort, wo reiche Leute übers Wochenende hinfahren. Traktoren tuckern an den Schnellstraßen entlang, auf denen der Teer schmilzt. Auf unserem Weg liegt eines der Holzlager, das früher im Besitz unserer Familie war und inzwischen schon seit Jahrzehnten geschlossen ist. In einem der Außengebäude wurde irgendwann ein Meth-Labor entdeckt. Betty schaut lieber weg, als wir vorbeifahren. Auf dem Gelände hält heute jemand eine Sammlung von Boa Constrictors. Kürzlich erst ist eine entwischt, die Rock Road entlang zum Haus meiner früheren Schreibmaschinenlehrerin an der Highschool geschlittert, einer äußerst reizbaren Frau, die auf die Begegnung mit einer Schlange nicht vorbereitet war. Meiner Ansicht nach sind Boas bei der Verleihung der Golden Globes um Chers Hals hängend am besten aufgehoben.

Das Essen findet bei meiner alten Freundin Jane Blades zu Hause statt. Wir kommen zu spät, weil Betty auf ihrem Gin ­Tonic bestand, ihr tägliches Fünfuhrritual. Als sie mich fragt, mit wem Jane verheiratet ist, erwidere ich: »Den kennst du nicht.« Sie sagt, sie hoffe, dass Jane ihren Mann nicht finanziell aushalten muss. »Wer auch immer es sein mag.« Betty geht nie davon aus, dass jemand den oder die Richtige geheiratet haben könnte. Manche Menschen sprechen von Liebe und Romantik. Meine Mutter gehört nicht dazu. Ihrer Meinung nach ist ein Ring am Finger keine Fahrkarte ins Glück, aber meistens will sie trotzdem wissen, was der Stein gekostet hat.

»Ich sollte gar nicht mitkommen«, sagt Betty. »Ich bin eine hässliche alte Frau, eine alte Streitaxt.«

»Was glaubst du, wie’s mir geht?«, frage ich. »Ich hab nicht mal eine anständige Hose, die noch zugeht.«

»Du könntest ein paar Pfund abnehmen.«

»Hast du dir die Haare absichtlich so gemacht?«

»Sei still, kein Wort mehr.«

»Wahrscheinlich muss ich mir einen Magenbypass legen ­lassen.«

»Hör auf«, schnauzt sie mich an. »Sag nichts mehr … Al Roker hat’s gemacht.«

»Was?«

»Aus der Today Show. Hat sich einen legen lassen.«

»Während er den Wetterbericht verlesen hat?«

»Jeder hat’s gesehen. Hab gedacht, Earleen hört gar nicht mehr auf, davon zu erzählen.«

Betty betrachtet den riesigen Grill auf Janes Terrasse. »Was ist das denn?«, fragt sie. »Keine Ahnung«, sage ich. »Vielleicht ein Schulbus?«

Als Jane herauskommt, umarmen wir uns, aber Betty entzieht sich ihr. Die Bakers umarmen ihre Freunde nicht, sie ist keine Frau, die viel davon hält. Auch ist sie selten sentimental. In einem silbernen Medaillon, das sie seit Jahren trägt – ein Geschenk meines Vaters –, befinden sich noch die Stockfotografien von Fremden, die beim Kauf schon drin waren. Wenn sie vom Sterben spricht, sage ich, wie traurig ich nach ihrem Tod sein werde. Sie tut meine Worte ab und sagt: »Das Leben geht weiter.«

Janes Haus ist schön, aber ein bisschen karg im Vergleich zu unserem, das vollgestopft ist mit Antiquitäten, Hutnadeln, Konfektschälchen, Karaffen, Aschenbechern und kleinen Porzellanfiguren. Vieles davon ist verstaubt, aber Betty sieht nicht mehr gut genug, um es zu merken. Vielleicht kann man sagen, dass sie einen Mangel an Nippes für ein soziales Problem hält, ungefähr vergleichbar mit Unterernährung.

Mein Vater, der inoffizielle Architekt des Holzlagers, das einst der Familie meiner Mutter gehörte, überwachte vor Jahrzehnten auch den Umbau von Janes Haus. Er sprach meiner Freundin das größte aller Komplimente aus. Sie mache nicht wegen jeder Kleinigkeit Geschiss, behauptete er. Als ich dies erwähne, sagt Jane, mein Dad habe sie zum Lachen gebracht. Betty sagt nichts. Sie erwähnt meinen Vater nie, er ist seit 1997 tot. Über Verluste schweigt sie.

»Oh Gott, was für ein Typ«, sagt Jane über Big George.

Meine Mutter starrt mich an.

Drinnen ist Evie Cullers, eine buntschillernde Persönlichkeit, deren hellblaues Sweatshirt für einen Radiosender wirbt: COUNTRYKWWR, MISSOURI’S SUPERSTATION. Es scheint makellos sauber. Evie, eine ehemalige Floristin, ist inzwischen Mitte sechzig und beklagt bisweilen die schlechte Qualität heutiger Beerdigungen. Sie warnt vor den Tücken der Einäscherung. »Die verbrennen alle auf derselben Trage, und da besteht die Gefahr, dass sich die Asche einer Person mit der einer an­deren mischt. Wenn ich schon in einer Urne leben soll«, verkündet sie, »will ich nicht auch noch Mitbewohner haben.«

Ich liebe Evie, weil sie ein richtiges Original ist; Betty fühlt mit ihr mit, da beide schlecht sehen. »Ich war drüben im Wal-Mart«, erzählt mir Evie. »Hab was in der Drogerieabteilung gesucht und einen jungen Mann gebeten, mir behilflich zu sein, weil meine Sehkraft eingeschränkt ist. Er meinte, er holt jemanden. Fünf Minuten später wird über Lautsprecher durchgesagt: ›Blinde braucht Hilfe bei den Medikamenten.‹ Ich meine, was wollen die denn noch durchgeben? ›Schlampe in der Spielzeugabteilung?‹«

Bettys Augenprobleme sind dank unzähliger Ärzte und Behandlungsmethoden nicht mehr so schwerwiegend wie die von Evie. Sie begannen, als ich auf der Grundschule war und sich aufgrund einer Augenoperation ihre Netzhaut ablöste. Seitdem musste sie acht oder zehn Operationen über sich ergehen lassen, die mit einer Hornhauttransplantation endeten. Schon seit Jahrzehnten sieht sie nicht mehr scharf, hat sich aber nie darüber beschwert. Sie hat das ihr zugedachte Schicksal angenommen und sich nachts oder an bedeckten Tagen einfach durchgemogelt. Genau wie Evie.

Wir stehen um die Kochinsel in der Küche herum. Betty nimmt ein Glas Wein, aber ich lehne ab, weil es nicht anders geht. Ich bin nervös, darf nichts trinken; ich darf nichts zu mir nehmen, was mir nicht vom Arzt verschrieben wurde. Ich habe eine Vorgeschichte. Vor zwanzig Jahren fing es damit an, dass ich vor der Arbeit Speed geschnieft habe. Irgendwann erlitt ich einen Zusammenbruch, habe Betty aber nie erzählt, was eigentlich los war. Sie hätte versucht, mir zu helfen, das wusste ich, aber ich wusste auch, was sie von mir halten würde.

Ich höre zu, während die anderen über ihre Kinder sprechen. Betty, die nie Aufhebens um kleine Kinder macht und anwesende Babys auch nie halten möchte, schenkt den herumgereichten Bildern kaum Beachtung. Sie ist still, wie heutzutage meist, wenn sie sich unter Leuten befindet. Als hätte sie das Gefühl, über Anteilnahme längst hinweg zu sein. Manchmal scheint auch einfach ihre Kraft zu schwinden. Je näher ihre Schlafenszeit rückt, desto schlimmer wird es, desto weniger Teile sind noch intakt.

Camilla, Janes Schwester, die auf Baustellen auf der ganzen Welt gearbeitet hat, unter anderem auch im Irak, erzählt von Bagdad. Der Stadt, die heutzutage kaum noch existiert.

»Genau wie hier«, meint Evie. »Stoutsville ist einfach weg. Wir hatten Banken, Geschäfte, ein Restaurant, sogar ein Kino. Und die Eisenbahn. Jedes Mal wenn ich das Pfeifen gehört habe, bin ich runter zu den Gleisen gerannt und hab gewinkt. Im Sommer sind die Zigeuner gekommen und haben geklaut, bunt angezogen waren die und haben alte Autos gefahren. Mama hat gesagt, wir sollen uns unter dem Bett verstecken, wenn sie kamen. Es hieß, sie würden gerne Kinder verschleppen.«

»Jetzt gibt’s hier gar keine Kinder mehr, die irgendwer mitnehmen könnte.«

»In zehn Jahren«, sagt Camilla, »sitzen wir vielleicht hier am Tisch, und Paris gibt’s nicht mehr.«

Ortschaften wie Paris verschwinden. Die Schaufenster der Geschäfte in den Hauptstraßen der Städte ringsum sind alle vernagelt. Verschwunden sind Lillibelles Bekleidungsgeschäft, Mrs Baileys Kaufhaus, Nevins Blumenladen, der Herrenfriseur, wo alte Farmer nach einem Haarschnitt und einer Partie Karten aus der Tür traten und Kautabak aus den Taschen ihrer Arbeitshose kramten. Seit der letzten Kinovorführung sind Jahrzehnte vergangen. Wal-Mart hat seinen Tribut gefordert. Dafür gibt es neuerdings eine Kautionsagentur, und im Fernsehen läuft ständig Werbung für einen Pfandleiher.

»Ich hab noch nie was zum Pfandleiher getragen«, erklärt Betty mir. »Du?«

Ich lese Geschichtsbücher über den Ort, aus dem ich stamme – über die Bürgerkriegsschlachten, über bekannte Persönlichkeiten und die umherziehenden Chautauquas, eine ­Bewegung der Erwachsenenbildung, ich lese über die von alten Häusern gesäumten schattigen Straßen, als Paris noch das Herz von »Little Dixie« war, einer Bastion der Herzlichkeit. Vor langer Zeit gab es hier einmal ein Opernhaus; ferner ein Grandhotel, eine Wollmühle, in der Garne, Flanellstoffe und Decken hergestellt wurden, eine Töpferwerkstadt, eine Getreidemühle, Pflüge, Güterwagen und eine Schuhfabrik, einen ­Ta­bak­laden, ein Futtermittelgeschäft, einen Pferdeverleih und eine Zigarrenfabrik (»Queen of Paris«), vor der ein Holzindianer stand. Im Modegeschäft Murphy and Bodine’s stand ein riesiger ausgestopfter Bär im Fenster, der Herrenmäntel und Hüte präsentierte.

Jetzt ist das anders. In einem Buch las ich, drei Dinge hätten das ländliche Amerika verändert: das Aussterben der landwirtschaftlichen Familienbetriebe, Wal-Mart und Crystal Meth.

Nach dem Essen trifft Jamie Callis ein, die ein Jahr vor mir ihren Schulabschluss gemacht hatte. Sofort steht sie im Mittelpunkt, ist sehr viel derber, als ich sie in Erinnerung hatte, und ich reagiere verschnupft; ich will im Rampenlicht stehen. In der Küche flüstert Jane mir zu, dass Jamie heute zum ersten Mal seit dem Selbstmord ihres Ehemanns, eines Veteranen, wieder ausgegangen sei. Vor wenigen Tagen, als Earleen Betty davon erzählte, fiel ihr meine Mutter ins Wort: »Hör auf, hör auf, ich kann mir das nicht anhören. Ich kann’s nicht hören.«

Schüchtern schiebt Betty Jamie eine Hand entgegen; sie will ihr etwas geben, kommt aber nicht unauffällig an sie heran. Als sie merkt, dass ich sie sehe, zieht sie die Hand schnell wieder zurück.

Auf der Heimfahrt kommen wir an Jamies großem altem Haus vorbei, das ihren Eltern gehörte, und Betty betrachtet ein Blumenbeet neben der Einfahrt. »Ich hoffe, ihre Blumen über­leben«, sagt sie. »Ihre mehr als die aller anderen. Schau dir die Frau an. Viele würden einfach aufgeben. Aber sie macht weiter. Ich mag sie.«

Später sehen Betty und ich Nachrichten. Sie blickt unglücklich auf. »Ich bin so unwissend, oder?«, fragt sie. »Janes Schwester war schon überall. Ich nirgendwo. Bin nie weit gereist.«

Meine Mutter hatte immer schon große Angst vor Unwissenheit – meiner und ihrer eigenen. Als ich noch klein war, legte sie großen Wert darauf zu betonen, dass ich später einmal das College besuchen würde. Eigentlich hatte sie für mich eine Karriere als Anwalt vorgesehen, wie der Vater meines Vaters in St. Louis einer war. Vorstellen konnte ich mir das nie.

Als Kind hatte ich keine Ahnung, was aus mir werden würde. Irgendwie wusste ich, dass ich nicht ganz dazugehörte; trotzdem war hier mein Zuhause. Ich liebe mein Zuhause.

Das Geräusch der im Trockner herumwirbelnden Kleidung auf der anderen Seite meiner Zimmerwand in unserem alten Haus höre ich immer noch. In heißen Nächten lag ich verkehrt herum mit dem Kopf am Fußende meines Bettes, um den leichten Luftzug des brummenden Ventilators zu spüren. Vor meinem Fenster lag das Feld mit den Sojabohnen. Den ganzen Sommer über rannten Bobby Buck und ich nachmittags zwischen den Bohnenreihen entlang; oft auch abends nach dem Essen und auch noch nach Einbruch der Dunkelheit, wenn es eigentlich zu gefährlich war, barfuß zu laufen. Eine zusammengerollte Schlange hätte uns auflauern können. Solche Tiere konnten plötzlich hochschnellen. Ich schloss die Augen und rannte los.

Auf der anderen Straßenseite wohnten die Masons – J. C., Maggie und ihre Kinder Kevin und Missy. J. C., der einen großen Kieslaster fuhr, oder Maggie in ihrem meeresgrünen Chrysler, dessen Aschenbecher stets überquoll, brachten uns immer in die Schule. »Your love«, dudelte es aus dem Radio, »is like an itchin’ in my heart.« Oder auch: »Come on, come on boy, see about me.« Frühmorgens in Missouri: Nebel waberte um die Getreideheber, die Straßen waren eisglatt, die Fenster dunkel und blau, dicke Frauen in Schürzen standen hinter den Tresen der Imbissstuben und verquirlten mit aller Kraft Eier.

»Erzähl mir einen Witz«, rief Missy, Spuren ihres Frühstücks waren in ihrem Gesicht zu sehen, es schwamm unter der Kapuze ihres Parkas, wurde von schmutzigen Plüschfransen umrahmt. »Erzähl einen Witz, einen Witz.« Ich wollte immer witzig sein. Ich erinnere mich an Missy, wie sie ungefähr vierjährig im Winter mit dürren Knien in zerrissenen Shorts und den ausgetretenen High Heels ihrer Mutter über die Straße lief, die Haare voller Schneeflocken.

Die meisten Kinder lebten auf Farmen. Einige hatten jeden Tag dasselbe Essen in der Lunchbox: ein Stück Fleischwurst mit einer zusammengeklappten Scheibe Brot, in deren Mitte sich ein Klecks Senf befand. Ein Mädchen hatte furchtbar trockene Haut, weil sie beim Füttern der Tiere immer durch die Kälte musste, beim Spielen fassten wir sie nie an.

Ich las viel und machte mir Sorgen. Manchmal wenn Besuch kam, versteckte ich mich im Schrank zwischen den Mänteln, die nach chemischer Reinigung und blauen Plastiküberzügen rochen. Im Sommer blieb ich im Haus, goss Dr. Pepper in die vornehmen Karaffen meiner Eltern und trank aus ihren Weingläsern. Dabei sah ich fern, hauptsächlich Seifenopern: As the World Turns, Love is a Many Splendored Thing und The Edge of Night. Wenn sich dort etwas Besonderes ereignete, rief ich meine Tante June an, per Ferngespräch, und besprach mit ihr das Geschehene. June – eine ehemalige Kosmetikerin, die mit dem jüngeren Bruder meiner Mutter verheiratet war und ihr Haus mit den Möbeln aus dem Bestattungsinstitut ihrer Eltern in Kansas eingerichtet hatte – glaubte immer zu wissen, wer der Mörder war. »Ich spüre das«, sagte sie, als wäre sie mit besonderer Einsicht ins Mordgeschäft begabt, was daher rührte, wie sie mir stillschweigend zu verstehen gab, dass sie in einem Bestattungsinstitut aufgewachsen war.

Nachmittags spähte ich in die Kneipe, um zu sehen, wer betrunken war, oder ich fuhr mit dem Fahrrad zu Mammy, wo eine Handvoll alter Damen – Winnie Baker, Bettys Tante, ferner ihre Schwester Maude Eubank, Ruth Holder und Bess Swartz – Canasta spielten. Mammy notierte die Punkte mit einem Bleistift, den sie mit einem Küchenmesser spitzte und in ihren hochgesteckten Zöpfen versteckte. Wenn sich eine entschuldigte, um zur Toilette zu gehen, erinnerte sie diejenige daran, kein Papier ins Klo zu werfen, da dies seine Tücken habe. Ich saß vorne auf der Veranda, lauschte und las das Ladies’ Home Journal, vertiefte mich in die monatlich erscheinende Kolumne »Ist diese Ehe noch zu retten?«, obwohl ich irgendwie bereits wusste, dass ich niemals eine Braut küssen würde.

Manchmal ging ich mit Mammy in Mildreds Schönheits­salon, wo ich Photoplay und Modern Screen las, während blau­haarige Damen in Umhängen und mit Lockenwicklern auf die Trockenhauben warteten. Ihre neuen Haarfarben liefen ihnen in dünnen Rinnsalen die Schläfen herab. Mammy ging nicht oft zu Mildred. Wenn möglich, wusch sie sich die Haare mit Regenwasser, das sie in einer Blechschüssel oben auf dem Brunnen sammelte, inmitten der rosa Rosen, in deren Beete sie Kaffeesatz und Eierschalen mischte und deren Zweige sie mit alten Nylonstrümpfen zusammenband.

Bevor ich ins Bett gehe, sehe ich auf Facebook eine Nachricht von Jamie Callis: »Wieso können wir die Zeit nicht zurückdrehen? Eine glückliche Familie und Liebe.« Ich höre meine Mutter mit sich selbst sprechen, wie sie das häufig tut, wenn es spät wird, aber heute wirkt sie besonders ängstlich und verwirrt. »Was ist bloß los mit dir?«, fragt sie sich immer wieder. »Was ist los mit dir?« Kurz denke ich, dass sie mit mir spricht. Aber so böse wird sie nur auf sich selbst.

»Alles in Ordnung, Betty?«, frage ich. »Geht’s dir gut?« Ich stehe im Eingang zu ihrem Zimmer, sie droht jemandem, der nicht da ist, mit dem Zeigefinger. »Mir geht’s gut«, sagt sie. Plötzlich schreit sie mich an. »Mir geht’s gut!«

Sie ist enttäuscht von sich selbst, schämt sich. Ich will zu ihr gehen und sie umarmen, aber sie würde mir ausweichen.

»Bist doch mein Kumpel«, sage ich zu ihr.

»Bin ich das?«, fragt sie. »Du weißt doch, dass ich mit lieben alten Damen nichts anfangen kann«, behaupte ich.

Als ich später noch einmal hineinschaue, döst sie, hat die Decke von sich gestrampelt und die Handtasche neben sich im Bett. Sie macht die seltsamen, putzigen Geräusche, die alte Menschen im Schlaf machen. Als sie die Augen aufschlägt, stopfe ich ein altes weiches Handtuch in den Trockner, damit es warm wird und ich es ihr später auf die Füße legen kann, an denen sie, wie sie sagt, nachts oft friert.

3

Nach dem nächtlichen Alarm finde ich hier in Paris keine Ruhe mehr und stehe auf, um zu arbeiten. Neben Betty sind meine größte Sorgen als freiberuflicher Lektor Texte mit zu vielen Schachtelsätzen und mein Kontostand. Gestern Abend habe ich bis spät mit einem meiner Auftraggeber telefoniert, einem Irren aus Los Angeles, der glaubt, einen unentdeckt in Deutschland lebenden Altnazi gefunden zu haben. Statt auf meine Änderungsvorschläge zu reagieren, mailte er mir Hunderte von Dokumenten mit der Anweisung, sie zusammenzufassen und in den Text einfließen zu lassen. Ich hatte sehr wenig Schlaf.

Wenn ich in New York die halbe Nacht lektoriert hatte, ging ich morgens früh immer in den Malibu Diner auf der West Twenty-Third Street. Ich trank meinen Kaffee, beobachtete die Menschen auf der Straße, die Polizisten, die sich mit den alten Damen vom Typ ehemaliges Revuemädchen unterhielten. Sie trugen Tropfenohrringe und knallroten Lippenstift, ihre Gesichter waren rot gefleckt, das viel zu häufig gefärbte Haar hing ihnen in trockenen Korkenzieherlöckchen von den Köpfen. Die Ladys gingen früh aus dem Haus, bestellten sich Roggentoast mit weichgekochten Eiern.

Ich habe immer alleine gelebt. Als Verlagslektor und Zeitschriftenredakteur habe ich mein Leben in den Leerräumen zwischen den Zeilen verbracht, immer versucht, den Text zu perfektionieren. Ich wurde dazu erzogen, alles richtig zu machen. Ich wurde dazu erzogen zu arbeiten. Beides hat mich meine Mutter gelehrt, indem sie mit eigenem Beispiel voranging.

Schon als kleines Mädchen fing Betty mit dem Klavierspielen an. Sie hat eine Begabung für dieses Instrument, aber den Leuten ist immer nur die Stimme meines Vaters aufgefallen. Big George war bekannt für seinen Gesang, der Zelebranten er­beben ließ und selbst jene zu rühren vermochte, die nur beiläufig trauerten. Meist trat er bei Hochzeiten und anderen beson­deren Anlässen in Madison und Paris auf. Betty begleitete ihn. Eines Abends übte sie »The Lord’s Prayer«, so oft, dass ich Kopfschmerzen davon bekam.

»Hör auf!«, schrie ich aus meinem Zimmer.

»Stör mich nicht!«, schrie Betty zurück. »Ich bin gerade in Stimmung.«

Als mein Vater nach Hause kam, später als sonst, warf ich ihm meine Arme um den Hals, und meine Mutter fragte ihn, wo er gewesen sei. Sie erklärte, sie müssten noch für eine Beerdigung am folgenden Tag üben. Wir hatten nicht viel zu Abend gegessen. Betty aß eigentlich sowieso nie richtig, schob immer nur ihr Essen auf dem Teller herum. Sie wollte dünn bleiben.

»Thy kingdom come«, sang mein Vater, »thy will be done.« Seine Stimme hallte durchs Haus. Immer wieder gingen sie das Lied durch, während ich auf dem Sofa einschlief. Die warme Hand meines Vaters auf meinem Rücken weckte mich. Als ich aufstand, schob er sich vor mich, legte mir die Hände auf die Schultern und ließ mich meine Füße auf seine Arbeitsstiefel stellen. Dann liefen wir gemeinsam so in mein Zimmer, während Betty weiterspielte.

Betty übte nur, um sicher zu sein, dass sie es richtig hin­bekam, perfekt. Ich hörte meine Mutter an so vielen Abenden immer wieder dieselben Kirchenlieder üben. Meist konnte ich dabei schlafen. Mein Vater aber, ein leicht aufbrausender Mann, nicht. Big George stand wütend auf.

»Verdammt noch mal, Betty. Verdammt«, sagte er, seine Stimme war jetzt laut und wütend, »lass das und komm ins Bett. Ich bin hundemüde.«

»Niemand«, schrie mein Mutter zurück, »will schiefe Töne hören, wenn er in die Grube fährt.«

Während meiner gesamten Schulzeit strengte ich mich an und lernte fleißig, um Anerkennung zu verdienen. Von allen. Ich gierte danach. Mein Streben nach Perfektion hat eigentlich nie nachgelassen. Bei der Arbeit, bei jedem Projekt und allen Aufträgen, die ich je angenommen habe, war dies mein Ziel. Lange hatte ich einen Job nach dem nächsten, wurde stets gelobt und befördert, immer wieder. Wirklich richtig hab ich’s aber nie hinbekommen.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter glaubt, dass sie je etwas richtig hinbekommen hat. Vermutlich denkt sie, weder sie noch ich haben je ins Schwarze getroffen. Ich habe mit meinen Stimmungen zu kämpfen. Sie kommen in großen Wellen über mich, sind unberechenbar und intensiv, auch wenn ich sie verberge. Manchmal fällt es mir schwer, einfach nur aufrecht zu stehen. Meine Mutter bringt mich dazu weiterzumachen. Ich richte mich auf. Schlage Eier in eine Schüssel, fische kleine Stückchen Schale heraus und schnicke sie mit der Fingerspitze durch den Raum.

Heute Morgen war wie immer der Kaffee schon fertig und wartete. Jede Nacht wechselt Betty den Filter und füllt Wasser ein, wobei sie einiges davon verschüttet, so dass es in unsere alte, ächzende Maschine läuft. Während ihrer nächtlichen Ausflüge schaltet sie sie ein, für später, wenn ich aufstehe. Da ist sie sehr gewissenhaft; es ist praktisch die letzte Aufgabe, abgesehen von der Wäsche, die sie erfolgreich allein bewältigt. Obwohl sie manchmal noch Klavier in der Kirche spielt, kann sie nicht mehr kochen, saubermachen oder irgendwelche anderen Arbeiten erledigen, die organisatorische Fähigkeiten oder vorausschauendes Denken erfordern. Ihr Kaffee ist zu dünn, aber wenn ich mich einmischen will, wirkt sie verletzt. Es ist ihre Aufgabe.

Und sie findet, ich verwende zu viel Pulver. »Kaffee ist teuer«, sagt sie, »sehr teuer.«

Ich drücke mich vor der Arbeit, vor dem jüngsten Entwurf des irren Nazijägers, und hole mir dieses und jenes aus der Küche. Ein Tag, der mit vier Bechern Kaffee, zwei Zimtschnecken und mehreren Kühlschrankgängen auf der Suche nach Ka­ramelleiscreme beginnt, führt einen schnell auf emotional ­riskantes Gelände. Sollte es an der Tür klingeln, wär’s besser, wenn kein Zeuge Jehovas davorsteht.

»Was trinkt man noch mal an Weihnachten?«, fragt Betty, als sie aufsteht. »Wie heißt das Zeug, das man Weihnachten immer trinkt? Ich hab die halbe Nacht wach gelegen, weil’s mir nicht mehr eingefallen ist.«

»Eierflip«, sage ich.

Später wollen wir nach Columbia zum Friseur. Wenn wir nicht spätestens um zwölf aufbrechen, kommen wir zu spät, und Bliss, Bettys Friseurin bei Waikiki Coiffures, bekommt einen Anfall, oder schlimmer, lässt den Termin meiner Mutter einfach platzen. Das hat sie schon angedroht. Ich hasse Bliss. An schlechten Tagen, wenn wir’s mal wieder nicht richtig hinbekommen haben, starrt sie meiner Mutter auf die Klamotten. Betty tut, als würde sie’s nicht merken, aber ich sehe, dass es sie in ihren Gefühlen verletzt. Inzwischen ist es eine ganze Menge, was sie vorgibt, nicht mitzubekommen. Nicht einmal das Wetter.

Seit drei Monaten herrscht absolute Dürre. Für die Bohnen mag es noch Hoffnung geben, nicht aber für den Mais. Die Farmer haben ihn zur Silage geerntet. So richtig war mir nie klar, was Silage eigentlich ist, ich frage mich aber, ob man einen grünen Salat damit aufpeppen könnte.

Unsere Blumen haben wundersamerweise größtenteils überlebt. Ich gebe mein Bestes, sie zu retten. Morgens steht meine Mutter am Fenster des Esszimmers, wo das inzwischen angelaufene Silber liegt, sie steht vor einem Korbgestell, in das sie früher Geranien gesetzt hatte, und schaut hinaus auf die Rosen. Solange ihre Beine mitmachen. Ihr Gesicht spiegelt sich in der Scheibe, verschwommen wie in einem Aquarell. Obwohl sie alt ist, finde ich sie schöner denn je, weicher. Bevor sie den Mund aufmacht und spricht, könnte man ihr wahres Alter niemals erraten. Ich strenge mich an, damit sie beim Blick in den Spiegel eine bekannte Person entdeckt, auch wenn sie manchmal nichts und niemanden erkennt. Im Umgang mit ­älteren Frauen bringen ein Friseurtermin und zwei Bloody Marys oft mehr als verschreibungspflichtige Medikamente.

Die rosa Rosensträucher stammen aus dem Garten meiner Großmutter in Madison. Mein Onkel Bill, versiert auf den unterschiedlichsten Gebieten, brachte sie hierher, als meine Großmutter ihr Haus räumte. »Dafür bin ich Bill dankbar«, sagt sie, als spräche sonst nichts für ihn. »Das war schwer. Er hat viel Arbeit damit gehabt. Sehr viel Arbeit.«

Wenn ich wach liege und mir Sorgen mache, wie es weitergehen soll, frage ich mich, ob meine Mutter, wenn sie am Fenster steht, darüber nachdenkt, was aus den Rosen ihrer Mutter wird – umgesetzt von den rauen alten Händen ihres Bruders, von meinem Vater gestutzt, über Jahrzehnte in langen heißen Sommern von der ganzen Familie gehegt und gepflegt –, wenn sie nicht mehr ist. Die Sorge um andere – ob Pflanzen oder Menschen – hat nie zu meinen Stärken gezählt. Ich frage mich, ob ich das Richtige für meine Mutter tue. Eigentlich hätte sie jemanden verdient, der ihr besser helfen kann, der weiß, wie man einen Reifen wechselt oder einen Truthahn stopft. Mein Leben ist unkonventionell gewesen. Ich war auf den Straßen von New York City unterwegs, habe in Einzimmerwohnungen gelebt und tonnenweise Imbissessen verzehrt. Ich habe meine eigenen persönlichen Angelegenheiten bestenfalls halbherzig geregelt. Eigentlich habe ich sie überhaupt nicht geregelt.

Vielleicht ist es unmöglich, nach Hause zu kommen und sich keine Gedanken darüber zu machen, wieso alles so gekommen ist, warum ich hier bin, wie es kam, dass ich die richtige Überschrift für meinen »Lebensstil« nicht finden kann, warum meine Mutter einfach nur den Kopf schüttelt, wenn ich ihr von mir erzähle, warum sie es nicht über sich bringt, mit mir darüber zu sprechen.

Meine Mutter hat nie versucht, jemand anders als sie selbst zu sein. »Wenigstens halte ich mit nichts hinter dem Berg«, sagt sie. »Ich bin nicht hinterhältig. Ich hasse hinterhältige Menschen.«

Während meiner Kindheit und Jugend haben wir uns häufig gekabbelt, aber eigentlich nie richtig gestritten. Betty konnte in die Luft gehen, sie hatte schlechte Tage, kleine Wutausbrüche, aber auch etwas Schelmisches, wenn ich während einer ihrer Bridgepartien nach Hause kam und sie mir zuzwinkerte; oder wenn sie beim Anblick von Mrs Corn in der Kirche die Augen verdrehte, so dass nur ich es sehen konnte. Ich war ihr Komplize, sie brachte mich zum Lachen. Manchmal wollte ich sie auch beschützen, den Teil von ihr, der sich nur selten zeigte, ihre verborgene empfindliche Seite. Im Country Club, wo sie einen harmlosen Golfnachmittag in einen Katastrophenfilm verwandeln konnte, hatte sie Wehmut im Blick, wenn ihr Ball wieder meterweit vom Ziel entfernt aufkam. Am Ladies’ Day nahm ihr Doris Rixsey einmal den Schläger aus der Hand und sagte: »Honey, lass uns lieber auf einen Drink gehen.«

Wenn Betty gegen jemanden was hatte, nahm sie’s mit ihm auf, doch wenn sie jemanden liebte, durfte er ihrer Unterstützung sicher sein. Sie hatte Energie, eine Kraft, die sie in ihren sanften Momenten ganz besonders zärtlich machte. Während meines ersten Schuljahrs starb die Mutter meines Freundes Alan Million bei der Geburt eines weiteren Babys. Ich war damals zu Hause und tat, als wäre ich krank. Als mir Betty die Nachricht überbrachte, zog sie mich auf ihren Schoß. Ich war Einzelkind; wenn Eltern starben, jagte mir das eine Riesenangst ein. Ich fürchtete, auch meine Eltern könnten mir genommen werden. Betty wusste, wie sehr mich das alles mitnahm.

Als ich in dieser Nacht im Dunkeln aufstand, um zu meinem Vater ins Bett zu kriechen, war Betty nicht da. Ich bekam einen Schrecken, aber dann fand ich sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, und als sie mich sah, streckte sie die Arme aus. »Wer kümmert sich jetzt um Alan?«, fragte ich. »Sein Vater«, sagte sie, »und die ganze Stadt wird ein Auge auf ihn haben. Die Leute werden ihm helfen. Er wird nicht allein sein.«

Die restliche Nacht über lag ich auf dem Sofa, den Kopf in ihrem Schoß; sie schickte mich nicht weg. Als mein Vater aufstand, machte Betty Zimtschnecken. Wenn sie sie aus der Packung nahm, schaffte sie es immer irgendwie, sie auseinanderzureißen, die mit dem Zuckerguss, der sie immer spitze Schreie ausstoßen ließ, wenn er plötzlich aus der Tube spritzte.

Zum Mittagessen gibt es heute Muschelsuppe aus der Dose. Betty steckt den schmutzigen Löffel in die Tasche ihres Morgenmantels. Ganz offensichtlich ist meine Mutter beunruhigt, also bin ich es auch. Im Lauf der Zeit gleichen sich unsere Stimmungen immer mehr einander an. »Wie heißt das Zeug, das man an Weihnachten trinkt?«, fragt sie noch einmal. »Wie heißt das?«

»Eierflip«, sage ich. »Eierflip.«

Es wird zur fixen Idee.

Betty ist sauer, kommt nicht vom Sofa weg. Sie sorgt sich, will aber nicht aufstehen oder sich für den Friseurbesuch fertigmachen. Sie tastet sich zum Kühlschrank, weigert sich, sich anzuziehen, und bleibt in Nachthemd und Morgenmantel. »Gleich zieh ich mich an«, verspricht sie wie üblich. »Gleich.«

Ich bitte sie noch einmal: »Geh und zieh dich an, bitte, bitte, bitte.« Sie wendet den Blick ab, reagiert nicht, verändert ihre Position auf eine Weise, die Unverrückbarkeit signalisieren soll. Als ich duschen gehe, nimmt sie ihr Buch, ungeachtet meiner Bitten und äußerer Verpflichtungen. Etwas in ihr hat all das einfach aufgegeben.

Als ich etwa elf war, wollten meine Eltern ausgehen, und meinem Vater zuliebe, der wie immer bereits im Wagen wartete, versuchte ich, meine Mutter anzutreiben. Betty stand vor dem Spiegel im Badezimmer, kämpfte mit Make-up aus Tuben und Tiegeln, war nervös, launisch, gereizt. Ihre Hände zitterten, als sie mühsam Wimperntusche auftrug, keine Aufgabe, die sie gut beherrschte. Die anderen Mütter waren stets neidisch auf Bettys Erscheinungsbild. Aber meine Mutter war innerlich unsicher, konnte nicht glauben, was die anderen sahen.

»Mach schon!«, wollte ich schreien. »Beeil dich.« Ich wusste, wie es war, wenn man warten gelassen wird. Auch ich musste ständig auf Betty warten. In der Schule, überall, unser Chevy bog immer als Letzter um die Kurve.

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