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BLEIB BEI MIR, SHAYLA von COLTER, CARA "Bitte bring Nicky zu Turner McLeod!" Wie könnte Shayla ihrer Nachbarin diesen Wunsch abschlagen? Also macht sie sich mit dem Dreijährigen auf den Weg nach Montana - zu dessen Vater, wie Shayla annimmt. Doch bei Turner angekommen, erlebt sie eine süße Überraschung. NOCH EINE CHANCE FÜR DIE LIEBE von WILSON, MARY ANNE Kann so viel Zärtlichkeit ein Irrtum sein? In der Nacht nach dem Unterzeichnen der Scheidungspapiere kommen Samantha Zweifel, ob ihre Blitzehe mit Nicholas wirklich ein Fehler war: Noch einmal begegnen sie sich voller Leidenschaft - und das hat ungeahnte Folgen … WOCHENENDE DER LIEBE von RIVERS, NIKKI Wer ist nur dieser charmante Fremde, dem es so galant gelingt, Charlottes Schüchternheit zu umgehen? Sie weiß selbst nicht recht, wie ihr geschieht - vor allem nicht, als sie bei einem unerwarteten Wiedersehen erkennen muss, wem sie da in die Arme gesunken ist …
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Seitenzahl: 604
Nikki Rivers, Cara Colter, Mary Anne Wilson
Liebe auf den 2. Blick, Band 178
IMPRESSUM
BIANCA EXKLUSIV erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
© by Sharon Edwin Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Deutsche Erstausgabe 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
© by Cara Colter Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Deutsche Erstausgabe 1999 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
© by Mary Anne Wilson Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Deutsche Erstausgabe 2001 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Fotos: RJB Photo Library
© by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg, in der Reihe BIANCA EXKLUSIV, Band 178 - 2008
Veröffentlicht im ePub Format im 04/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86349-552-7
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Charlotte ist bei Männern sehr zurückhaltend – eigentlich! Doch bei einer Dienstreise nach San Francisco kommt es diesmal ganz anders. Noch ehe sie ihren offiziellen Termin mit dem neuen Programmdirektor ihres Radiosenders wahrnehmen kann, begegnet sie einem Mann, dessen Charme sie gleich erliegt. Und sie erkennt zu spät, wer der Fremde wirklich ist …
Eigentlich sollte Shayla den dreijährigen Nicky nur bei seinem vermeintlichen Vater Turner MacLeod absetzen. Doch als sie dem attraktiven Pferdetrainer in die stahlblauen Augen blickt, wünscht sie sich, er würde sie bitten, für immer zu bleiben. Da er das aber nicht tut, beschließt Shayla, selber aktiv zu werden.
Nicholas traut seinen Augen nicht: Die Scheidung zwischen Samantha und ihm ist gerade erst vollzogen, da wird sie schwanger. Wer ist ist nur dieser neue Mann an ihrer Seite? Nicholas rast vor Eiversucht – und erkennt in seiner Wut gar nicht, wer der Vater des Kindes ist. Wohl aber merkt er, wie viel Liebe er noch immer für seine Exfrau empfindet …
„Entschuldigung.“ Charlotte Riesling versuchte, den Pagen einzuholen. „Das ist nicht das richtige Hotel, glaube ich.“
Der junge Mann drehte sich um und schob den Gepäckwagen rückwärts gehend weiter. „Wie bitte?“
Der Teppich unter Charlottes Füßen war zwar weich und sicher teuer, aber … nun, sie hatte ein pastellfarbenes Blumenmuster erwartet und keine neonfarbenen, geometrischen Formen auf schwarzem Untergrund. Ihr Großvater hatte betont, dies wäre eines der altehrwürdigsten Hotels von San Francisco. Bisher hatte sie allerdings nichts gesehen, was altehrwürdig gewirkt hätte.
„Das hier ist doch das Cameron House, oder nicht?“, fragte sie.
„Ja, eigentlich schon, Ma’am.“
„Eigentlich schon?“, wiederholte Charlotte.
„Der alte Chef starb, und sein Sohn hat das Haus geerbt. Er ließ es renovieren.“
„Aha“, bemerkte sie trocken.
„Ja, und jetzt wird es bloß noch Cameron’s genannt.“
Der Page blieb vor Zimmer 1822 stehen und schloss auf. Passend, diese Namensänderung, dachte Charlotte. Der Erbe hatte es offenbar mit den Veränderungen sehr eilig gehabt. Veränderungen! Charlotte liebte das Althergebrachte und mochte keine Überraschungen. Und nun wohnte sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt in einem solchen Hotel.
Sie folgte dem Pagen ins Zimmer, hörte kaum zu, als er die Klimaanlage erklärte, gab ihm ein Trinkgeld und schloss hinter ihm die Tür.
Auch das Zimmer war in grellen Farben gestrichen. Das Bett war extrem niedrig, die Möbel modern. Charlotte zog altmodische Polstermöbel vor, aber da sie nur bis zum kommenden Montag hier wohnte, würde sie es schon aushalten.
Trotzdem war es ein schlechter Witz. Sie war in dieses alte Hotel gekommen, um WEND, die Rundfunkstation ihres Großvaters in Madison im Bundesstaat Wisconsin, vor einer Erneuerung, wie sie hier im Hotel stattgefunden hatte, zu bewahren.
Das heißt, dafür war es leider schon zu spät. Großvater Barnabas hatte bereits entschieden, bei WEND von klassischer Musik und intelligenten Gesprächen zu klassischem Rock und fröhlicher Moderation überzuwechseln.
Charlotte fand das schrecklich. Sie war praktisch mit WEND aufgewachsen. Zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen gehörten die Besuche bei Großvater Barnabas. Sie hatte in seinem weichen Ledersessel hinter dem Schreibtisch gesessen, und klassische Musik hatte die Sorgen ihres jungen Lebens vertrieben.
Der Page hatte ihren Koffer auf einen verchromten Ständer gestellt. Charlotte holte den winzigen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete die Schlösser. Die Konfrontation mit J. J. Tanner, dem Mann, der ihr Leben verändern sollte, ließ sich nicht länger aufschieben. Erst einmal aber wollte sie duschen und leichtere Sachen anziehen, bevor sie ohne Vorwarnung über den Feind hereinbrach.
„Was soll das denn?“, stieß sie verblüfft aus. Vielleicht war sie ja doch nicht im richtigen Hotel. Jedenfalls waren das ganz sicher nicht ihre langen, fließenden Röcke in gedeckten Farben, auch nicht die weiten Pullover und übergroßen T-Shirts. Sogar ihr Pyjama aus Baumwolle fehlte. „Verrückt!“, murmelte sie und starrte auf Seide und Satin.
Wahrscheinlich hatte sie am Flughafen den falschen Koffer erwischt. Aber wieso passte dann der Schlüssel? Der Kofferanhänger stimmte auch.
„Das ist mein Koffer, aber das sind nicht meine Sachen!“
Wer sollte ihren alten Jeansrock sowie den verwaschenen Pyjama stehlen und durch äußerst modische Garderobe ersetzen? Das konnte sie doch den Leuten von der Fluggesellschaft niemals erklären.
Eine halbe Stunde später betrachtete Charlotte sich im Spiegel. „Du lieber Himmel, das geht doch nicht“, sagte sie leise zu sich selbst.
Ein Paar Jeans und ein schwarzer Body waren das Dezenteste im Koffer gewesen, doch vor dem Spiegel stellte sie fest, dass die Jeans sich eng um Hüften und Po schmiegten. Und der Body betonte auch noch die Brüste, die ihrer Meinung nach ohnehin viel zu üppig waren. So konnte sie dem Feind nicht gegenübertreten.
„Da muss doch noch etwas sein …“
Erneut durchwühlte sie den Koffer, aber alles war zu kurz, zu tief ausgeschnitten, zu auffällig und zu wenig ihr Stil. Die Reisekleidung – langer brauner Rock, weiter Pullover und braune Wanderschuhe – war viel zu warm für San Francisco im Oktober. Schwitzend konnte sie J. J. Tanner auch nicht gegenübertreten.
In ihren Augen war der Mann ein echter Mistkerl. Bloß weil sie einmal die Beherrschung verloren hatte, weigerte er sich, mit ihr zu telefonieren. Er hatte nur mit Barnabas gesprochen. Wie albern! Charlotte sollte schließlich seine Chefin werden. Barnabas hatte mitgemacht, weil J. J. Tanner als Programmdirektor sagenhaft sein sollte. Angeblich konnte er jedem Rundfunksender neues Leben einhauchen. Na schön, Barnabas war der Eigentümer von WEND, aber Charlotte war die Managerin und leitete den Sender. Und kein Angestellter durfte sie dermaßen schneiden.
„Was heißt, er ist weg?“
Die junge Frau am Empfang ließ den Kaugummi platzen, ehe sie antwortete. „J. J. arbeitet nicht mehr hier.“
„Ich weiß, dass er hier aufhört“, erklärte Charlotte, „aber erst nächste Woche.“
„Falsch. J. J. ist schon am Montag verschwunden.“
„Sind Sie sicher?“
Die junge Frau sah Charlotte ungläubig an. „Hören Sie, wäre J. J. noch hier, wüsste ich das. So einen Mann übersieht man nicht. Er ist toll, und glauben Sie mir, hätte ich die Gelegenheit gehabt, dann hätte ich ihn …“
Charlotte wollte keine Einzelheiten hören. „Können Sie mir wenigstens seine private Telefonnummer geben?“
„Hat er nicht.“
„Er hat kein Telefon?“
„Nein, ich meine, er hat keine Wohnung. Jedenfalls nicht mehr in San Francisco. Er ist fort, das habe ich doch gesagt. Er ist in den Mittleren Westen gezogen, in irgend so ein Kaff, in dem er nichts mit seinen Nächten anfangen kann. Wenn Sie mich fragen, ist ein Mann wie er viel zu schade für diese Landeier, die …“
„Aber ich frage Sie nicht“, unterbrach Charlotte ihr Gegenüber gereizt.
Die junge Frau musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. „Sind Sie vielleicht eine von seinen Freundinnen?“
„Natürlich nicht“, erwiderte Charlotte verlegen.
„Na klar“, meinte die junge Frau. „Ich habe zu tun, in Ordnung?“ Sie schnalzte wieder mit dem Kaugummi und vertiefte sich in ein Magazin.
Vielleicht waren alle Mitarbeiter von WEXL so unhöflich. Bei dem kurzen Telefongespräch hatte J. J. Tanner sich jedenfalls nicht groß anders verhalten als die Empfangsdame. Doch so leicht gab Charlotte nicht auf. „Ich möchte mit dem Manager sprechen.“
Hinter dem Magazin erklang ein tiefer Seufzer. Ein Finger mit einem grellrot lackierten Nagel drückte einen Knopf am Telefon.
„Da will jemand zu Ihnen, Heather“, sagte die Empfangsdame hinter ihrem Magazin. „Ich glaube, es ist eine von J. J.s Süßen.“
Zehn Minuten später stand Charlotte wieder auf der Straße und hatte noch immer keine Ahnung, wie sie J. J. Tanner finden konnte. Zwar konnte sie Heather davon überzeugen, dass sie keine Freundin von J. J. war, aber erfahren hatte sie trotzdem nichts. Was machte dieser Mann mit Frauen, dass sie ihn dermaßen eifersüchtig gegen andere abschirmten?
Nun, Charlotte konnte es sich vorstellen. Und es ärgerte sie, dass Heather und die Empfangsdame dachten, er hätte genau das auch mit ihr gemacht. Wenn sie sich ärgerte, bekam sie Hunger auf Schokolade oder Pasta. Prompt knurrte ihr Magen.
Also, zurück ins Hotel, Essen im Restaurant und dann ein Anruf bei der Fluggesellschaft, damit sie mit der nächsten Maschine zurückfliegen konnte. Wenn J. J. Tanner nicht mehr in San Francisco war, hatte er sich bestimmt schon auf den Weg nach Madison gemacht.
So oder so – Charlotte war fest entschlossen, ihn zur Rede zu stellen, bevor er am Montag in einer Woche zur Arbeit erschien.
„Die Fische auf dem Teller sind doch schon tot und stören sich nicht daran, ob ich Jackett und Krawatte trage“, sagte ein Mann.
Charlotte konnte ihn nicht deutlich sehen, weil der Oberkellner ihn am Eintreten hinderte.
„Aber wir stören uns daran, Sir, und unsere Gäste. Würden sSie keine Jeans tragen …“
Charlotte blickte auf ihre eigenen Jeans hinunter und dann wieder zu dem Mann, der am Oberkellner vorbei direkt zu ihr herübersah.
„Das ist offenbar ein Fall sexueller Diskriminierung.“
„Wie bitte?“
„Die Dame mit der Krabbe auf der Gabel …“
Charlotte starrte auf die Gabel, die sie soeben zum Mund führte. Eine von Olivenöl glänzende Krabbe steckte daran. Der Mann meinte eindeutig sie.
„Sie trägt auch Jeans, wenn ich mich nicht irre.“
Andere Gäste drehten sich zu Charlotte um.
„Stimmt, Sir, aber diese Dame ist Gast in unserem Hotel. In einem solchen Fall machen wir schon mal eine Ausnahme“, erklärte der Oberkellner, wenn auch in einem so herablassenden Ton, dass es Charlotte gar nicht gefiel, zu diesen Ausnahmen zu gehören.
„Wenn ich mir also an der Rezeption ein Zimmer nehme, bekomme ich dann einen Platz im Restaurant?“
„Nun, Sir, so würde ich es zwar nicht ausdrücken …“
„Und wie ist das mit Gästen von Gästen?“
„Wie bitte?“
„Falls mich ein Gast Ihres Hauses zum Mittagessen eingeladen hätte, könnte ich dann Hummer essen, obwohl ich Jeans trage?“
„Nun ja, ich nehme an …“
Bevor der Oberkellner den Satz beenden konnte, ging der Mann an ihm vorbei und kam direkt auf Charlotte zu.
„Tut mir leid, Liebste, dass ich mich verspätet habe, aber Sie kennen ja diese Cable Cars.“
Der Oberkellner eilte hinter ihm her. „Sir, ich bitte Sie …“
Der Fremde seufzte ziemlich genervt. „Was ist denn jetzt schon wieder?“
„Ich bin sicher, dass die Dame nicht gestört werden möchte.“
„Stimmt das?“ Der Fremde richtete die dunklen Augen mit einem so mutwilligen Blick auf Charlotte, dass sie sich nicht abwenden konnte.
„Also … nun ja …“, stammelte sie.
„Madam, soll ich den Sicherheitsdienst rufen?“
Tiefe Stille senkte sich über das Restaurant. Charlotte stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. „Natürlich nicht“, erklärte sie dem Oberkellner gelassen und schlug ausnahmsweise jenen arroganten Ton an, den ihr Vater so gut beherrschte. „Bringen Sie bitte meinem Gast eine Speisekarte.“
Der Oberkellner lenkte ein und gab einem Kellner ein Zeichen.
J. J. betrachtete die Lippen der sichtlich verwirrten Frau. Neben ihm räusperte sich der Kellner diskret. „Wünscht der Gentleman zu bestellen?“
Im Moment wünschte der Gentleman nichts weiter, als Charlottes energisch geschnittenes Gesicht zu betrachten, auf dem jede Spur von Make-up fehlte. „Der Gentleman wünscht eine ganze Menge“, erklärte er und unterdrückte ein Lächeln, als die Fremde ihn gereizt ansah. „Aber er begnügt sich vorerst gern mit dem Essen.“
„Selbstverständlich, Sir“, versicherte der Kellner.
„Meinen Sie, dass ich die Krabben mag?“, fragte er die Fremde.
Sie zögerte nur kurz. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie mögen.“
Sie schlug einen so hochnäsigen Ton an, dass er sie unbedingt noch mehr reizen musste. „Ach, ich denke schon, dass Sie das recht gut wissen.“ Er hielt ihre Hand fest, spießte mit ihrer Gabel eine Krabbe auf und biss davon ab. „Aber ich fange mit den Krabben an.“
„Sir?“, fragte der Kellner verwirrt.
Die Frau zog die Hand ruckartig zurück und ließ die Gabel auf den Teller fallen. „Bringen Sie meinem … Gast die Fettuccine und mir die Rechnung.“
„Ja, Ma’am“, erwiderte der Kellner und eilte davon.
Jacob lachte leise. „Der Ton wirkt gut.“
„Wie bitte?“
„Miss Nob Hill.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“ Charlotte griff nach der Handtasche. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen …“
Er hielt ihre Hand fest. „Das tue ich nicht.“
Betroffen sah sie ihn an. „Was?“
„Ich entschuldige Sie nicht. Bleiben Sie und essen Sie mit mir.“
Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu. „Das ist doch wohl ein Scherz!“
„Nein.“ Jacob merkte erstaunt, dass er schon lange nichts mehr so ernst gemeint hatte.
Er hatte einen anstrengenden Vormittag hinter sich und war an Orten gewesen, die er mit seiner Frau besucht hatte. Michelles Tod vor fünf Jahren hatte eine tiefe Leere in ihm hinterlassen. Doch fünf Jahre Trauer reichten, und darum hatte er sich in einem Hotel eingemietet, das sie sich damals auf der Hochzeitsreise nach San Francisco nie hätten leisten können. Die kommenden fünf Tage wollte er zum Abschiednehmen nutzen.
Doch das kostete emotionale Kraft. Er brauchte eine Erholungspause und fand dafür das Restaurant eines Luxushotels am Union Square geeignet. Wegen der schäbigen Jeans und des ältesten T-Shirts hatte er Ärger vorhergesehen und auch prompt bekommen. Allerdings hatte er nicht vorhergesehen, dass er eine Frau finden würde, die ihn völlig fesselte.
„Bleiben Sie“, wiederholte er eine Spur sanfter.
„Nein, ich kann nicht“, erklärte sie, nun nicht mehr arrogant, sondern eher bedauernd. „Ich muss gehen“, fügte sie hinzu und entfernte sich so hastig, als fürchtete sie, er könnte ihr folgen.
Es dauerte eine Weile, bis Jacob sich fragte, warum er ihr denn nicht folgte. Als er jedoch die Halle erreichte, war sie nicht mehr zu sehen.
Zehn Minuten später versuchte er noch immer, den Angestellten an der Rezeption zu überreden, ihm den Namen der Fremden zu nennen.
„Sir, Sie müssen doch verstehen …“
„Nein, Sie müssen verstehen. Das war die einzige Frau, die … die …“
„Die was, Sir?“, fragte der Angestellte reserviert.
„Also, die …“ Was sollte er denn sagen? Das war die einzige Frau, die ihn seit dem Tod seiner Frau interessiert hatte.
„Die was, Sir?“, wiederholte der Angestellte.
„Warum bleibst du denn nicht einige Tage da, Charlotte, und gönnst dir einen richtigen Urlaub?“
„Barnabas.“ Charlotte drückte den Hörer fester ans Ohr. „Du weißt, dass es nicht geht. Es gibt so viel zu tun.“
„Erst, wenn Tanner hier ist. Dann kannst du dir in den nächsten Monaten keinen Urlaub mehr leisten, meine Liebe.“
Wahrscheinlich hatte ihr Großvater recht, aber gerade wegen Tanner glaubte sie, sich noch einmal bestätigen zu müssen. Sie musste einfach da sein, falls … falls … Ja, falls was passierte?
Sie hatte keine Ahnung, aber ein Mann, der ihr Leben verändern würde, war unterwegs zum Sender. Sie musste dort sein, um ihre Position zu stärken. Oder nicht?
„Na schön“, meinte sie seufzend. „Ich bekäme sowieso erst heute Abend um elf einen Flug. Dann kann ich auch hier übernachten und morgen Früh fliegen.“
„Charlotte!“ Ihr Großvater schlug den gleichen Ton an wie früher, wenn er darauf bestand, dass sie noch ein Musikinstrument erlernte, anstatt mit Gleichaltrigen ins Kino oder zum Tanz zu gehen. „Das meinte ich nicht.“
„Ich weiß, Barnabas“, erwiderte sie. „Aber ich muss einfach anwesend sein. Wir sehen uns morgen, wenn …“
„Charlotte“, unterbrach er sie. „Es hat keinen Sinn, wenn du deine Reise abkürzt. Morgen ist Samstag. Nach dem Samstag kommt der Sonntag. An diesen Tagen hast du ohnehin frei.“
„Du weißt, dass ich mir kein freies Wochenende mehr gegönnt habe, seit das alles begonnen hat.“
„Genau das meine ich doch, Charlotte! Ich erwarte dich am Montag. Dann bleibt dir immer noch eine Woche Zeit, bis die Umstellung abgeschlossen ist.“
Barnabas schlug zwar den gleichen Ton wie vor fünfundzwanzig Jahren an, doch Charlotte war nicht mehr elf. „Hör zu, Barnabas, ich …“
„Charlotte“, unterbrach er sie. „Tu mir bitte den Gefallen. Zwinge mich nicht, meine Stellung hervorzukehren.“
Sie musste lächeln. „Zwinge mich nicht, meine Stellung hervorzukehren.“ Genau das sagte er jedes Mal, bevor er es dann doch tat. Aber warum regte sie sich eigentlich auf? Drei Tage in San Francisco konnte man kaum als Strafe betrachten. „Gut, Barnabas, ich tue dir den Gefallen.“
Sekundenlang herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. „Charlotte, bist du das wirklich?“
„Du hast gewonnen, Barnabas“, bemerkte sie amüsiert. „Dieses eine Mal.“ Sie hörte noch sein Lachen, während sie auflegte.
So war Barnabas. Was für sie ein großes Problem darstellte, betrachtete er ganz nüchtern. Dagegen konnten ihn Kleinigkeiten zutiefst berühren, zum Beispiel die Taschentücher mit dem eingestickten Wort „Großvater“, die sie als Kind von ihrem Taschengeld gekauft hatte. Oder der Weihnachtsschmuck, den sie für ihn mit fünf Jahren gebastelt hatte und jedes Jahr an den Baum hängte.
Seinen geliebten Rundfunksender dagegen veränderte er so gelassen, als würde sein Leben bloß einen neuen Weg einschlagen. Dann wurde eben in Zukunft Musik für Leute gespielt, die im Stau standen, und nicht mehr für Menschen, die ihr Leben mit klassischen Klängen bereichern wollten.
Kein Wunder, dass ihr Großvater nie begriffen hatte, dass sie Beständigkeit brauchte. Er ging seinen Weg wie immer, die Meinung anderer Leute war ihm egal. Daher verstand er auch nicht, wie sehr sie sich danach sehnte, von ihren Eltern anerkannt zu werden.
Ihr Vater war ein brillanter Konzertpianist. Ihre Mutter eine großartige Geschäftsfrau mit dem richtigen Gespür für Talent, die als Managerin ihres Vaters gearbeitet hatte. In früher Kindheit war Charlotte mit den beiden gereist und hatte die stürmische Beziehung ihrer Eltern erlebt.
Sie besaß weder die Schönheit noch den Verstand ihrer Mutter, und ihr fehlte das Talent ihres Vaters. Schon als Kind hatte sie gewusst, dass sie ihre Eltern enttäuschte und nur mitgenommen wurde, damit sich die Familie komplett der Presse präsentieren konnte.
Nach ihrem fünften Lebensjahr blieb Charlotte immer öfter bei Barnabas. Die Scheidung der Eltern war für sie geradezu eine Erleichterung. Ihr Vater nahm sich einen neuen Manager, ihre Mutter kümmerte sich um andere Klienten, und Charlotte blieb ganz bei ihrem Großvater. Abgesehen von ein oder zwei äußerst schwierigen Wochenenden im Jahr, die sie mit Vater und Mutter in New York verbrachte, vergaßen ihre Eltern, dass es sie überhaupt gab.
Sie gehörte ganz zu Barnabas und liebte seine Rundfunkstation fast so sehr wie ihn. Und jetzt wollte ihr ein Kerl von der Westküste den Sender wegnehmen.
Nun, es konnte ohnehin nicht mehr schlimmer werden. Also konnte sie auch ein Wochenende in San Francisco verbringen. Sie griff nach der Bürste, zog die Nadeln aus dem Haar und beobachtete während des Bürstens, wie ihre Brüste sich unter dem Body bewegten.
Sie musste unbedingt etwas unternehmen, einen Blazer und vielleicht auch einen langen Rock kaufen. Der Vorfall beim Mittagessen hatte sicher etwas mit ihrer Kleidung zu tun gehabt. Dieser Mann mit dem kurz geschnittenen dunklen Haar und dem mutwilligen Ausdruck in den dunklen Augen hätte sich nie zu ihr gesetzt und mit ihr geflirtet, hätte sie ihre eigenen Sachen getragen.
So etwas passierte Charlotte Riesling einfach nie.
„Ich trage diese Farbe nie“, erwiderte die Fremde, ohne stehen zu bleiben.
„Sollten Sie aber.“ Jacob bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. „Sie betont Ihre Augen.“
Bei seinen Worten stolperte sie, ging danach aber umso schneller weiter. Der Abstand zwischen ihnen wuchs, aber er ließ sich nicht abhängen. Stattdessen betrachtete er sie genauer, und was er sah, gefiel ihm so gut, dass er sie vorerst gar nicht einholen wollte.
Das schnelle Gehen wirkte sich sehr hübsch auf ihre Kehrseite aus. Das braune Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden. Wie es wohl aussah, wenn es offen im Wind flatterte? Mit ihrer hochgewachsenen Gestalt und den weiblichen Formen konnte er sie sich gut in einem Minirock und einem T-Shirt vorstellen.
Er lief ein Stück und kam an ihre Seite.
„The Haight ist am besten, wenn Sie etwas zum Anziehen kaufen wollen.“
Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu, aber er merkte, dass er ihr Interesse geweckt hatte.
„Ja, da gibt es wirklich die tollsten Sachen. Secondhand-Läden, die von alten Hippies geführt werden. Jede Menge Atmosphäre und alte Klamotten.“
„Alte Klamotten?“, fragte sie und blieb so unerwartet stehen, dass er einige Schritte weiterging, ehe er sich umdrehte. „Wie komme ich dorthin?“
„Das könnte ein Problem sein“, erwiderte er und bemühte sich, nicht zu lächeln.
„Wieso?“
„Es ist kompliziert.“ Nur zum Schein sah er auf die Uhr. „Was soll’s, ich habe im Moment nichts vor. Ich bringe Sie hin.“
„Sind Sie verrückt?“, fragte sie.
Die Frage hörte er nicht zum ersten Mal in seinem Leben. „Aber sicher“, behauptete er und grinste möglichst irre.
Sie schüttelte den Kopf, doch er merkte, dass es ihr schwerfiel, ernst zu bleiben. „Es tut mir leid“, meinte sie endlich. „Ich kenne Sie nicht und …“
„Das lässt sich leicht beheben. Wenn wir an der Kreuzung Haight und Ashbury angelangt sind, werden wir schon alte Freunde sein.“
„Nicht nötig. Ich finde selbst hin, wenn Sie mir den Weg beschreiben.“
„Ausgeschlossen“, wehrte er ab. „Nur wir Verrückten kennen das Geheimnis.“ Er klopfte sich an die Brust. „Sie brauchen einen von uns, um dorthin zu gelangen.“
Sie sah ihn reichlich verwirrt an.
„Sie könnten es schlimmer treffen“, behauptete er. „Ich gehöre noch zu denen, die am wenigsten verrückt sind.“
Beinahe hätte sie gelächelt, doch sie hielt sich zurück. „Kaum zu glauben.“
„Es stimmt aber. Ich gehöre zur untersten Kategorie der Verrückten. Es reicht gerade aus, um Sie nach The Haight zu bringen.“
„Leider bin ich nicht verrückt genug, um auf der Straße einen Fremden aufzugabeln und mich von ihm zum Einkaufen begleiten zu lassen“, erwiderte sie und ging weiter.
Jacob eilte ihr nach. „Aber Sie gabeln mich doch gar nicht auf. Ich habe Sie aufgegabelt. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“
„Wirklich?“, fragte sie trocken.
„Aber sicher! Dadurch trifft Sie keine Schuld, was auch passiert. Sobald Sie sich mir überlassen, verlieren Sie völlig die Kontrolle.“
Sie warf ihm von der Seite her einen Blick zu. „Genau das befürchte ich.“
„Ach, kommen Sie“, meinte er lachend. „Ich bin ein perfekter Gentleman.“
„Wirklich?“, fragte sie und blieb wieder stehen.
Jacob strich sein verknittertes T-Shirt glatt. „Sehe ich denn nicht wie einer aus?“
„Nein“, erwiderte sie direkt. „Und Sie benehmen sich auch nicht wie einer“, fügte sie hinzu und ging weiter.
Er lief ihr nach. „Allmählich machen Sie mich ganz schön müde.“
„Das hoffe ich.“
„Dafür gibt es aber bessere Methoden“, bemerkte er mit einem vieldeutigen Unterton.
„Ganz sicher. Warum gehen Sie nicht weg und wenden diese Methoden an?“
„Warum kommen Sie nicht mit mir?“
Charlotte blieb stehen und sah ihn sich genauer an. Er hatte ein kräftiges Kinn, dichte Brauen und lebhafte, dunkle Augen. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie, aber sehr gut gebaut und tief gebräunt. Und er bat sie, mit ihm zu kommen und ihn müde zu machen. Bei seinem Lächeln gab es gar keinen Zweifel, woran er dachte.
Nur einen Moment lang stellte sie sich vor, wie es wäre, in diesen dunklen Augen Leidenschaft zu finden, wie sich diese Lippen wohl anfühlten, wie sie durch das dunkle Haar strich und …
Wie kam sie bloß darauf? Dabei hielt sie sich doch stets an die Regeln. An roten Ampeln blieb sie stehen. Bücher aus der Bibliothek gab sie stets einen Tag vor dem Ablaufdatum zurück. Eine Frau sollte nicht mit Fremden reden, und darum redete sie nicht mit Fremden.
Doch nun stand sie hier und redete nicht nur mit einem Fremden, sondern stellte sich auch vor, wie es wäre, mit ihm zu … wie es wäre, mit ihm zu …
Rasch ging sie weiter und wünschte sich inständig, er würde ihr nicht folgen, aber so viel Glück hatte sie nicht.
„Kommen Sie“, forderte er sie auf und hüpfte neben ihr her wie ein lästiger Jugendlicher. „Sie wollen es doch.“
Am liebsten hätte sie über seine Frechheit laut gelacht, es gelang ihr jedoch nicht. Er hatte nämlich recht. Sie wollte es tatsächlich.
„Ich kenne hier in der Nähe einen Pub, in dem Sie ein Bier trinken, Dart spielen und einen sagenhaften Shepherd’s Pie kosten können.“
„Ich wollte doch einkaufen.“
„Hinterher. Ich helfe Ihnen, eine duftige weiße Bluse und ein T-Shirt zu finden. Und danach …“
Charlotte wollte nicht wissen, was ihm noch vorschwebte. Ohne zu überlegen, drückte sie die nächstbeste Eingangstür auf und trat ein.
Drinnen war es still und kühl. Zu den beruhigenden Klängen eines Brahms-Konzerts gingen schwarz gekleidete Gestalten hin und her. War sie in ein Bestattungsinstitut geraten?
„Hat Madam einen Termin?“
„Wie? Was?“ War es jetzt typisch für Kalifornien, dass man schon vor dem Tod einen Termin im Bestattungsinstitut machte?
„Einen Termin?“, wiederholte der Mann. „Sollte Madam nämlich nur zufällig hier sein, haben Sie Glück. Eine unserer Kundinnen hat soeben abgesagt und …“
„Abgesagt? Kann man das denn machen?“ Charlotte stellte sich eine Dame aus Nob Hill vor, die dem Tod erklärte: „Heute passt es nicht. Die Dienerschaft hat Ausgang. Kommen Sie ein anderes Mal.“
„Nun, es wird natürlich nicht gern gesehen“, erwiderte der Mann, „aber bei einer guten alten Kundin macht man schon einmal eine Ausnahme.“
Bei seinem forschenden Blick fragte sich Charlotte, ob sie vielleicht so aussah, als würde sie gleich sterben.
„Vermutlich wollen Sie nicht färben lassen, wie diese Kundin vereinbart hatte. Aber Ihr Haar verlangt nach einer vollständigen Behandlung.“
„Mein Haar?“
„Ja, eine tiefenwirksame Behandlung und einen neuen Schnitt. Schick, aber mühelos zu pflegen.“
„Mühelos?“
„Ja. Ich bin sicher, Madam hat ein ausgefülltes Leben.“
Das Wort „Leben“ gefiel Charlotte sehr, aber passte es in ein Bestattungsinstitut? Sie sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass die schwarze Kleidung Arbeitskittel waren. Auf den Marmortischen lagen angesehene und teure Magazine. In der Glasvitrine standen Haarpflegeprodukte mit luxuriösen Namen.
Sie war nicht in ein Bestattungsinstitut, sondern einen Friseursalon geraten, allerdings einen hocheleganten.
„Nun, ich wollte eigentlich nicht die volle Behandlung, sondern nur …“
Sie deutete zur Tür und konnte es nicht fassen. Er war noch immer da und lehnte an einem Laternenmast. Er sah verboten attraktiv aus, lächelte und winkte ihr zu, machte jedoch keine Anstalten hereinzukommen. Offenbar störte es ihn nicht, in Restaurants für Wirbel zu sorgen. Schönheitssalons schien er hingegen nicht zu betreten.
„Wie lange würde alles dauern?“, fragte sie, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen.
„Nun, schätzungsweise zwei Stunden … mindestens.“
Zwei Stunden. Nicht einmal ein Verrückter würde zwei Stunden auf der Straße warten.
Jacob sah auf die Uhr. Seit einer halben Stunde lehnte er jetzt schon an dem Lichtmast, während diese Frau in Antonio’s Parlor war. Länger konnte er nicht warten. Womöglich ließ sie ihn sonst noch verhaften.
„Was für eine Welt“, murmelte er. Ein Mann konnte nicht einmal mehr einer schönen Frau so lange folgen, bis sie sich mit ihm verabredete. Nun hatte er das allerdings auch noch nie gemacht, und diese Frau war auch keine Schönheit. Nein, sie war nicht besonders schön, und doch fand er sie hinreißend mit ihrer zarten Haut, den ungeschminkten Lippen und dem Körper eines Hollywood-Starlets aus den fünfziger Jahren.
Der Sonnenuntergang am Vorabend war enttäuschend gewesen. Der jetzige Vormittag in The Haight verlief schon besser. Vielleicht lag es daran, dass Michelle The Haight nicht gemocht hatte. Sie hatte der Flower-Power-Bewegung nichts abgewinnen können und hatte sich auch nicht wie Jacob gewünscht, im „Sommer der Liebe“ jung gewesen zu sein. Sie hatte den Anblick der Golden Gate Bridge bevorzugt oder sich den Sonnenuntergang vom Ocean Park aus angesehen.
Seit Jahren war Jacob nicht mehr im Park gewesen. Am Abend zuvor hatte er am Meer gestanden, das Farbenspiel am Himmel und im Wasser betrachtet und auf die gleichen Gefühle wie am Abend nach ihrer Hochzeit gewartet.
Sie hatten sich jedoch nicht eingestellt. Stattdessen hatte er erkannt, dass er endlich Abschied nehmen durfte. Und als die Sonne im Meer versank, wusste er, dass er mit seinem Leben weitermachen konnte.
Später dann im Bett hatte er an die Frau aus dem Restaurant gedacht. Und am Morgen hatte er beschlossen, sich einen Vormittag in The Haight zu gönnen. Er war in der richtigen Stimmung, um die Haight Street bis zum Golden Gate Park und wieder zurück zu gehen.
Als er die Cole Street erreichte, pfiff er vor sich hin und genoss die Mischung aus exzentrischen Typen, Touristen und Yuppies.
Zuerst glaubte er an eine Halluzination, aber da stand doch tatsächlich diese attraktive Fremde vor einem Laden und blickte ins Schaufenster. Dann drehte sie sich um, und es war, als würde die Sonne aufgehen.
Das Haar fiel glatt und schimmernd wie Seide bis auf Kinnlänge. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert. Sie – es gab dafür keine andere Bezeichnung – strahlte von innen heraus.
„Sie müssen verrückt sein.“
Charlotte wirbelte herum und ließ beinahe das Kleid fallen, das sie in den Händen hielt. Sie bekam Herzklopfen, als sie den Sprecher betrachtete. Er lehnte an einem Pfeiler. Dieselben alten Jeans wie am Vortag schmiegten sich um Hüften und Schenkel. Die Ärmel des schwarzen T-Shirts hatte er hochgerollt.
„Verrückt?“, wiederholte sie. „Sie meinen vermutlich sich selbst. Ich verfolge nämlich niemanden durch San Francisco.“
Er lächelte, und sie kam sich plötzlich albern vor. Warum sollte dieser Mann ihr folgen? Er konnte garantiert jede Menge junger Frauen für sich interessieren, und mit sechsunddreißig kam sie sich nicht mehr sonderlich jung vor.
„Sie sind jedenfalls verrückt genug, dass Sie allein den Weg nach The Haight gefunden haben.“
„Ach ja, das Viertel, das man nur findet, wenn man verrückt ist. Richtig, ich habe es gefunden.“ Charlotte suchte das Preisschild des schwarzen Kleides in ihrer Hand.
„Dass Sie dieses Ding da kaufen wollen, ist ein weiterer Beweis für Irrsinn.“
Sie betrachtete das Kleid. „Was ist damit?“
„Erstens ist es schwarz.“
„Wie Ihr T-Shirt. Sie können also kaum etwas gegen die Farbe haben.“
„Nein, Schwarz ist eine schöne Farbe, aber nichts für Sie.“
„Nein?“, fragte sie trocken.
„Sicher nicht“, beteuerte er lächelnd. Bevor sie ihn daran hindern konnte, nahm er ihr das Kleid aus der Hand, hängte es wieder auf die Stange und sah die anderen Kleider durch. „Es liegt aber nicht nur an der Farbe.“
„Nein?“
„Nein. Es ist auch zu lang.“
„Zu lang?“
„Richtig. Sie brauchen etwas, das Ihre Beine betont.“
„Einen Moment mal! Sie kennen meine Beine gar nicht, und dabei will ich es auch belassen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Aber ich habe etwas dagegen, und ich kenne Ihre Beine gut genug, um zu wissen, dass Sie nur enge Jeans oder kurze Röcke tragen sollten.“
Charlotte bekam den Mund nicht mehr zu. „Das ist doch …“, setzte sie an.
„Hier.“ Er nahm ein Kleid von der Stange. „Das ist genau richtig für Sie.“
Das Kleid war aus dunkelrotem Samt mit einem tiefen Ausschnitt und weiten langen Ärmeln. Es war sagenhaft, aber nichts für sie. Erstens war es kaum länger als die Ärmel, und zweitens hätte der tiefe Ausschnitt viel zu viel von den Brüsten gezeigt, die sie stets kaschierte. Charlotte hatte sie mit zwölf praktisch über Nacht bekommen. Während die anderen Mädchen hübsche BHs trugen, hatte ihre Mutter ihr etwas gekauft, das wie ein Pferdegeschirr aussah und sich auch so anfühlte.
„Du musst sie unterdrücken, Schatz“, hatte ihre Mutter gewarnt. „Du willst doch nicht billig wirken, oder?“ Ihre Mutter wäre mit diesem Kleid niemals einverstanden gewesen.
„Diese Farbe trage ich auf keinen Fall“, erklärte Charlotte und ging zur Tür.
„Sollten Sie aber“, erwiderte er und folgte ihr. „Das würde den Rotstich in ihrem Haar hervorheben.“
„Ich habe keinen Rotstich im Haar“, erklärte sie energisch und trat auf die Straße hinaus.
„Doch, und durch die Behandlung bei Antonio ist er noch stärker zum Vorschein gekommen. Im Sonnenschein steht Ihr Haar in Flammen.“
Charlotte blieb stehen und drehte sich um. „Wirklich?“, fragte sie ungläubig.
„Wirklich“, bestätigte er leise und betrachtete sie mit einem Blick, dem sie kaum widerstehen konnte.
Was war denn nur mit ihr los? Charlotte schüttelte den Kopf und ging rasch weiter. Sie war doch nicht die Hauptperson in einem kitschigen Liebesfilm!
Prompt folgte er ihr. „Sie waren schon vorher hübsch, aber jetzt haut es einen um.“
Beinahe wäre sie gestolpert. Sie? Sie haute einen Mann um? „Also, bitte“, sagte sie abwehrend.
„Sie brauchen nicht zu bitten, meine Liebe. Sie können alles haben, was Sie nur wollen.“
Und nun stolperte sie wirklich. Träumte sie, oder folgte ihr tatsächlich ein sagenhaft aussehender Mann durch San Francisco und machte ihr derartige Komplimente? Natürlich fiel sie nicht darauf herein. Sie war schließlich nicht von gestern.
„Ich kann alles haben? Sehr gut. Dann möchte ich The Haight weiter erforschen – und zwar allein.“
„Wie Sie wollen“, antwortete er, ohne auch nur zu versuchen, sich dagegen zu wehren.
Verblüfft drehte sie sich um, aber er ging schon auf die andere Straßenseite.
Jacob hatte fast schon den Golden Gate Park erreicht, als er spontan in eine Seitenstraße bog und durch eine Gegend wanderte, die er nicht kannte. Er genoss den Sonnenschein, die Freiheit und die Ziellosigkeit, mit der er die Stadt durchstreifte.
Natürlich dachte er dabei immer wieder an die Fremde, bis er merkte, dass er schon den Buena Vista Park erreicht hatte. Indem er die Buena Vista Avenue verließ und den Parkweg betrat, begann er, die Stadt hinter sich zu lassen. Pinien, Redwood-Bäume und Zypressen bildeten über seinem Kopf ein natürliches Dach, während er bergan stieg. Einige Leute mit Hunden kamen ihm entgegen, aber ansonsten war der Park menschenleer. Vögel sangen, der Wind raschelte in den Zweigen, und die Geräusche der Großstadt waren plötzlich weit entfernt.
Diese absolute Einsamkeit gefiel Jacob, bis er eine Lichtung erreichte und die Fremde wieder vor sich sah. Eigentlich war er gar nicht überrascht, dass diese Frau, die immer wieder seinen Weg kreuzte, zur gleichen Zeit wie er diese Gegend erforschte.
Er hätte sie gern eine Weile beobachtet, doch vermutlich hätte sie Angst bekommen, wenn sie ihn dann entdeckte. Also ging er langsam auf sie zu und wartete, dass sie ihn bemerkte.
Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als sie sich umdrehte und ihn sah. Der Wind blies das Haar in ihr Gesicht. Sie strich es zurück, und bevor sie die Sonnenbrille aufsetzte, fing Jacob einen seltsamen Blick auf.
„Ich hätte es wissen müssen“, stellte sie fest.
„Was hätten Sie wissen müssen?“, fragte er behutsam.
„Dass Sie sich nicht wie ein normaler Tourist verhalten würden.“
„Sie meinen, dass ich mir nicht die Golden Gate Bridge ansehe?“
„Ja, oder Fisherman’s Wharf.“
„Ich habe den Ausblick von hier oben schon immer geliebt.“
„Sie waren schon früher hier?“
Er nickte und blickte über die Dächer von Ashbury Heights zur Golden Gate hinüber, deren Pfeiler sich gegen den blauen Himmel über der Bucht abhoben. Dies hier war einer der wenigen Orte in San Francisco, die keine Verbindung zu seiner Vergangenheit hatten. Hier war er stets allein gewesen und hatte keine Erinnerungen an einen nahestehenden Menschen gesammelt. Von jetzt an würde er allerdings stets an diese Fremde denken.
Er wandte sich ihr wieder zu. Sie genoss den Ausblick. Der sinnliche Mund stellte einen starken Gegensatz zur energischen Kinnpartie dar. Beim Anblick ihrer Lippen stellte er sich einen von Kerzen erleuchteten Raum, zerwühlte Laken und zärtliche Berührungen vor. Beim Anblick der Kinnpartie sah er allerdings eine Frau vor sich, die jeder Versuchung widerstehen konnte.
Sie wandte sich ihm so schnell zu, dass die Sonnenbrille ein Stück verrutschte und er wieder ihre Augen sah. Dunkel, verwirrt, unschuldig. Diese Frau musste er verführen, um sie zu bekommen. Und dass er sie begehrte, stand schon längst fest.
„Kaum zu glauben, dass wir mitten in der Stadt sind“, bemerkte sie leise und schob die Sonnenbrille wieder hoch. „Hier ist alles so wild und unberührt.“
„Wild und unberührt“, wiederholte Jacob. „Sehr verführerisch.“
Als sie rot wurde, wusste er, dass sie genau verstanden hatte, was er meinte. Er konnte nicht anders und ging noch einen Schritt weiter.
„Und einsam. An einem solchen Ort will niemand allein sein.“
„Wie?“, fragte sie verwirrt.
„Haben Sie jemals im Wald geliebt? Auf einem Bett aus Blättern unter einem Baldachin aus Zweigen? Der Wind streicht einem über die Haut, auf die einzelne Sonnenstrahlen fallen.“ Behutsam zog er die Sonnenbrille tiefer, damit er ihre dunklen Augen sehen konnte. „Liebe ist etwas Natürliches. Man sollte sie in freier Natur genießen.“
Charlotte biss sich auf die Unterlippe. Sie glaubte, den Wind auf der Haut zu fühlen. Einen Moment lang wünschte sie sich, was er beschrieben hatte … mit ihm.
Sex mit einem Fremden?
Nein, das kam für sie nicht in Frage.
Wirklich nicht?
Sie blickte ihm in die dunklen Augen. Nein, absolut nicht! Und doch sehnte sie sich danach.
Blätter raschelten, als der Fremde auf sie zutrat und ihr die Sonnenbrille abnahm. Sie betrachtete seinen Mund und wollte wissen, wie diese Lippen sich anfühlten. Sie betrachtete sein Haar und wollte wissen, wie es war, wenn sie sanft hindurchstrich. Sie betrachtete seine Augen und wollte wissen, wie er sie ansah, wenn er …
Er beugte sich zu ihr, und sie konnte den Blick nicht mehr von seinen Lippen abwenden. Dieser Mann küsste bestimmt nicht sanft, sondern forderte und eroberte.
Und Charlotte wollte plötzlich erobert werden.
Im nächsten Moment zerbrachen Zweige, trockene Blätter flogen durch die Luft, und ein tiefes Knurren war zu vernehmen, das absolut nichts mit einem leidenschaftlichen Stöhnen zu tun hatte.
Ein riesiger Hund sprang Charlotte von hinten so heftig an, dass sie zu Boden ging.
Ein junges Mädchen tauchte zwischen den Büschen auf. „Ach, du lieber Himmel! Entschuldigen Sie bitte! Ist Ihnen etwas passiert?“
Charlotte holte tief Atem. „Nein, alles in Ordnung.“
„Ich helfe Ihnen und …“ Im Wald erklang vielstimmiges Bellen, und das Mädchen sprang auf und lief weg. „Tut mir leid!“
Der Fremde kauerte sich neben sie und strich das Haar aus ihrem Gesicht. Eigentlich hätte die unsanfte Landung auf der Erde ausreichen müssen, um alle lustvollen Gedanken zu vertreiben, aber die Berührung löste erneut Sehnsucht in ihr aus. Hastig rutschte sie von ihm weg und raffte sich auf.
„Ist wirklich nichts passiert?“, fragte er und streckte die Hand nach ihr aus.
„Gar nichts“, antwortete sie, wich ihm aus und trat den Rückweg an.
„Wohin gehen Sie?“, rief er ihr nach.
„Ich möchte noch viel sehen!“, rief sie zurück.
„Ich begleite Sie“, bot er an und folgte ihr.
„Kommt nicht in Frage.“
„Vier Augen sehen mehr als zwei. Außerdem kenne ich mich in der Stadt aus. Ich erkläre mich hiermit zu Ihrem offiziellen Fremdenführer.“
Wenn überhaupt, dann war er ihr offizieller Verführer. „Ich habe einen Führer gekauft“, wehrte sie ab und zeigte ihm das Buch.
„Ich bin viel besser“, behauptete er. „Ich kann Ihnen Dinge zeigen, die im Michelin nicht vorkommen.“
Tief in ihr erwachte ein Verlangen, als sie sich vorstellte, was er ihr alles zeigen konnte. Doch das ließ sie unter keinen Umständen zu.
„Vermutlich bin ich viel konventioneller, als Sie denken. Jetzt will ich zum Golden Gate Park, und der ist für einen Nonkonformisten wie Sie sicher zu normal.“
„Ach, ich kann mich überall über Konventionen hinwegsetzen.“
„Daran zweifle ich nicht. Lassen Sie sich also von mir nicht aufhalten.“
Sein verführerisches Lachen wurde leiser, als sie sich der Straße näherte. Und sobald sie den Park verließ, war sie wieder allein.
Charlotte war von Shakespeare’s Garden entzückt. Langsam ging sie herum, betrachtete die Pflanzen und las die Zitate auf den einzelnen Schildern. Allerdings musste sie blinzeln. Wo war denn ihre Sonnenbrille?
Als sie sich gegen eine Mauer lehnte und in ihrer Schultertasche danach suchte, hörte sie hinter sich eine Stimme, bei deren Klang sie erstarrte.
„Keine noch so gerötete Nase leuchtet so rot wie Ihr Haar im Sonnenschein.“
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