Bibel lesen - Andreas Leinhäupl - E-Book

Bibel lesen E-Book

Andreas Leinhäupl

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Beschreibung

Die Bibel erzählt Geschichten, die das Leben schreibt. Die Texte aus dem Alten und Neuen Testament sind manchmal sehr zugänglich und verständlich, manchmal sperrig oder schwer verdaulich. Biblische Geschichten wollen gelesen, verstanden und ausgelegt werden. Das kann auf vielfältige Weise geschehen. Dieses Buch bietet eine Hilfestellung beim Lesen und Verstehen der Bibel. Auf der Grundlage bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse stellt es einen methodischen Baukasten vor, der zur selbständigen Erschließung der Texte führt. So entsteht ein Leitfaden für die Bibellektüre, der auch für Bibel-Einsteiger gut verständlich ist.

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ANDREAS LEINHÄUPL

BIBELLESEN

EIN WERKZEUGKASTENFÜR EINSTEIGER

Unter Mitarbeit vonMichael Feuersenger

Inhalt

Ein Wort vorweg

1Eine Einladung

Die Bibel einfach lesen

2Eine theoretische Vergewisserung

Wie Lesen und Verstehen funktionieren

3Ein Überblick über den Baukasten

Biblische Texte mit Methode lesen

4Die Spontananalyse

Begegnung auf den ersten Blick

5Die Sach- und Situationsanalyse

Hintergrundinformationen sammeln

6Die vorbereitenden Schritte der Analyse

Sich den Text zurechtlegen

Vergleich verschiedener Übersetzungen

Kontextabgrenzung und -einordnung

Sich ein Bild vom Text machen: Die Segmentierung

7Die sprachlich-strukturelle Analyse

Wörter, Sätze, Textbausteine

8Die semantische Analyse

Motive, Bilder, Bedeutungslinien

Handlungsstrukturen und Erzählfiguren: Die narrative Analyse

Analyse der Sinnlinien: Die Textsemantik

Die Bedeutung einzelner Begriffe: Die Wortsemantik

9Die pragmatische Analyse

Text als Element der Verständigung verstehen

10Die abschließende Interpretation

Ende gut, alles gut?

11Die Bücherkiste

Weiterführende Literatur zum Alten und Neuen Testament

12Anhang

Segmentierte Textfassungen

Ein Wort vorweg

Liebe Leserinnen und Leser,

die Bibel erzählt Geschichten, die das Leben schreibt. Die Texte aus dem Alten und Neuen Testament sind dabei für uns Heutige manchmal ganz einfach zugänglich und verständlich, manchmal aber auch sperrig und schwer verdaulich. In jedem Fall wollen die Texte aus der Bibel gelesen, verstanden und ausgelegt zu werden. Das vorliegende Buch möchte Sie zu einem intensiven Dialog mit der Bibel einladen. Es möchte Anregungen und Hilfestellungen zum selbstständigen Lesen und Erschließen anbieten und Sie ermutigen, das Buch der Bücher einfach in die Hand zu nehmen und auf diese Weise ihre eigene Beziehung zu ihm zu entwickeln.

Genau wie die Bibel selbst ist der hier vorgestellte Methodenwerkzeugkasten nicht einfach vom Himmel gefallen. Vielmehr handelt es sich um Anregungen zum Lesen und Verstehen biblischer Texte, die schon seit vielen Jahren in Seminaren, Bildungsveranstaltungen und Publikationen zum Einsatz kommen und die im Laufe der Zeit im Dunstkreis des ehemaligen Münsteraner Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments immer wieder weiterentwickelt wurden. Die Arbeitsschritte sind sehr stark von der Methodenlehre Wilhelm Eggers inspiriert. Wenn ich nun diesen Prozess im hier vorliegenden Buch zusammenfließen lasse und mit Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – teile, möchte ich allen danken, die über die Jahre hinweg gemeinsam am Produktionsprozess und an der Verfeinerung der Methoden beteiligt waren, die in ihren jeweiligen Arbeitszusammenhängen immer wieder mit dem über die Grenzen Münsters hinaus bekannt gewordenen „Münsteraner Methoden-Reader“ gearbeitet haben – und mit denen ich die Leidenschaft für die Texte aus dem Alten und Neuen Testament teile: Dr. Daniel Alberto Ayuch, Dr. Jutta Bickmann, Dr. Martin Faßnacht, Dr. Sylvia Hagene, Dr. Heiner Ganser-Kerperin, Thomas Hoffmeister-Höfener, Dr. Stefan Lücking, Iris M. Blecker, Jesja M. Wiegard und nicht zuletzt unserem gemeinsamen Lehrer Prof. em. Dr. Karl Löning.

Ein besonderer Dank gilt meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Michael Feuersenger, der an einigen Teiltexten mitgearbeitet und die Entstehung des Buches durch vielfältige Diskussionen sowie tatkräftige Unterstützung bei der Literaturbeschaffung begleitet hat. Dem Verlag Katholisches Bibelwerk danke ich für die Möglichkeit, ein solches Methodenbuch zu publizieren, sowie für die angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Und nun wünsche ich Ihnen eine anregende Lektüre des Methodenwerkzeugkastens und hoffe, dass er sein eigentliches Ziel erreicht und Sie beim Lesen der Bibel in vielerlei Hinsicht anregen und unterstützen kann.

Ahlen, im März 2019

Andreas Leinhäupl

1

Eine Einladung

Die Bibel einfach lesen

„Aller Anfang ist schwer!“ So heißt es ja bekanntlich. Das könnte auch für das Lesen der Bibel gelten, muss es aber nicht: Schlagen Sie das Buch doch einfach auf und beginnen Sie zu lesen, entweder ganz am Anfang oder mittendrin. Vielleicht haben Sie ein bestimmtes Anliegen, haben in irgendeinem Zusammenhang eine biblische Geschichte gehört, die sie noch einmal im Detail nachlesen wollen, sind irgendwo im Alltag auf ein biblisches Motiv oder Stichwort gestoßen. Lassen Sie sich nicht abschrecken von dem „dicken“ Buch, sondern beginnen Sie einfach zu lesen.

Wo und wann mit dem Lesen anfangen?

Natürlich kann man die Bibel ganz von Beginn lesen und sich vornehmen, das Buch bis zum Ende durchzulesen – ein sehr ehrgeiziges Projekt, das sehr viel Motivation benötigt, aber im wahrsten Sinne des Wortes natürlich auch den umfänglichsten Eindruck von der vielstimmigen Botschaft, den widerstreitenden Meinungen und den sehr unterschiedlichen theologischen Sichtweisen des biblischen Kanons gibt.

Stichwort Lectio divina

Die Bibel kann auf unterschiedliche Weise gelesen werden. Hinter dem Begriff Lectio divina verbirgt sich eine stark betrachtende Leseform. Sie ist in vier Stufen aufgebaut und umfasst Lesung und Meditation sowie Gebet und Vertiefung. Die Lectio divina versucht, Zugänge zum Wort Gottes zu finden. Dadurch stärkt sie den Glauben und die Beziehung zu Gott und ermöglicht neue Sichtweisen auf das eigene Leben. Ein Mönch hat sie im Mittelalter als „Leiter zu Gott“ bezeichnet. Literatur und praktische Anregungen finden Sie auf den Seiten des Katholischen Bibelwerks.

Es bietet sich aber auch an, einzelne zusammenhängende Teile der Bibel zu lesen, etwa die Urgeschichte in der Genesis (Gen 1–11) und die Erzelternerzählungen (Gen 12–50, darin unter anderem die Josefsgeschichte Gen 37–50) oder aber einzelne Bücher aus dem Alten und Neuen Testament vorzunehmen (Rut, Judit, Ijob, Jona, Markusevangelium, Apostelgeschichte etc.).

Für die Lektüre der Bibel gibt es viele verschiedene Möglichkeiten: Sie können zu jeder Tages- und Nachtzeit die Bibel aufschlagen und darin stöbern. Sie können sich Zeiten oder Zeiträume vornehmen, in denen Sie Texte aus der Bibel lesen. Vielleicht bietet sich ein Urlaub oder eine Dienstreise dazu an. Wenn Sie nicht alleine lesen wollen, gibt es Menschen in Ihrer Umgebung, mit denen Sie biblische Geschichten lesen und diskutieren können. Wie auch immer: Lesen Sie die Bibel, wie es für Sie gerade passt, sporadisch oder regelmäßig, alleine oder in der Gruppe. Sie werden merken: Das Lesen der Bibel lenkt ab, unterbricht den Alltag und hat gleichzeitig Elementares und viel Lebensnahes im Angebot. Versuchen Sie es!

In welcher Bibelausgabe lesen?

Wenn Sie eine Bibel besitzen, benutzen Sie diese für den Einstieg. Vielleicht finden Sie in Ihrem Bücherregal ein Exemplar, das Sie schon länger begleitet, das Sie schon seit Ihrer Schulzeit besitzen. Vielleicht gibt es aber auch eine Bibel aus dem Familienschatz, ein Exemplar, das schon Ihre Eltern oder Großeltern gelesen oder zumindest besessen haben und mit dem Sie möglicherweise bestimmte Erinnerungen verbinden. Lesen Sie darin! Aber Achtung: Es könnte sein, dass die (alte) Sprache Sie abschreckt, dass die Geschichten Ihnen auf den ersten Blick unverständlich sind, dass die Texte einfach viel zu klein gedruckt sind, dass Sie möglicherweise auch negative Erinnerungen an eine der zuvor genannten Exemplare haben. Es gibt viele verschiedene Formen der Bibelübersetzung, aus denen Sie das richtige Exemplar für sich heraussuchen und finden können: Bibeln, die sehr eng an den Originalsprachen des Alten und Neuen Testaments übersetzen; Bibeln, die eine sehr junge und einladende Sprache verwenden; Bibeln, die vom Sprachduktus eher spirituell ausgerichtet sind; aber auch Bibeln, die spezielle Altersgruppen ansprechen sollen. Auf den Seiten des Katholischen Bibelwerkes (www.bibelwerk.de) finden Sie eine riesige Auswahl mit entsprechenden Hintergrundinformationen. Für unsere gemeinsame Methodenschule scheint mir das im Folgenden kurz vorgestellte Exemplar besonders geeignet zu sein, weil es eben auch für den liturgischen Gebrauch sowie für die Bibelarbeit in den unterschiedlichsten Gruppenzusammensetzungen geeignet ist.

Lesetipp: „Übersetzen – üb’ Ersetzen!“, Bibel und Kirche 69 (2014).

Die Neue Einheitsübersetzung – Ein Angebot

Zwei Begriffe mögen an der Überschrift dieses Abschnitts vielleicht überraschen: weniger der Begriff „Übersetzung“ als dessen Kennzeichnung „neu“. Wie kann es sein, dass ein Buch, das über 2000 Jahre alt ist und die wahren Geschichten sowie die geschichtlichen Wahrheiten von Gott und den Menschen verkündet, offensichtlich nicht nur vielfach übersetzt, sondern die Übersetzungen auch redaktionell bearbeitet worden sind?

Stichwort Kanon

Der Begriff Kanon bezeichnet die in der Bibel versammelten Schriften. Seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. liegt der Kanon in der uns bekannten Form vor. Erst im Jahre 1546 fand auf dem Konzil von Trient die Dogmatisierung des Kanons statt. Er umfasst alle Bücher des Alten und Neuen Testaments, die den frühen Christen wichtig gewesen sind. Welche Bücher aufgenommen und wie sie angeordnet worden sind, ist das Ergebnis eines langen Aushandlungsprozesses. Der Kanon ist insofern auch ein wichtiges Glaubenszeugnis. Er ist verbindlich und bewahrt den Glauben der Kirche.

Im Umgang mit dieser spontanen Irritation ist es hilfreich, sich die verschiedenen Funktionen einer Übersetzung klar zu machen. Das ist zum einen die wortgetreue Wiedergabe in einer bestimmten Sprache und überrascht weniger, denn das Wort Gottes soll in allen Sprachen verkündet werden. „Übersetzen“ kann jedoch auch „umwandeln“ oder „übertragen“ heißen. Dann geht es darum, einen literarischen Text so zu übersetzen, dass er auch in der Übersetzung eine gültige sprachliche Gestalt behält. Auf die Bibel bezogen bedeutet das, dass der Kanon, also die Anordnung der einzelnen Bücher, sowie deren Inhalte unverändert bleiben, während sich der sprachliche Ausdruck wandeln kann. Diese Dynamik verbürgt eine wichtige Voraussetzung für hermeneutische Aneignung. Damit ist gemeint, dass die biblischen Texte verständlich bleiben müssen. Sie bedürfen einer Einordnung in Verstehens-, Sinn- und Deutungshorizonte einer jeweiligen Zeit. Und das gelingt bei Texten am zuverlässigsten über die Sprache.

35Am Tag darauf stand Johannes wieder dort und zwei seiner Jünger standen bei ihm. 36Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! 37Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus. 38Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, sagte er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wohnst du? 39Er sagte zu ihnen: Kommt und seht! Da kamen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde (Joh 1,35–39).

Im deutschsprachigen Raum markiert die Neue Einheitsübersetzung (im Folgenden „neue EÜ“) den jüngsten Meilenstein dieser Entwicklung. Im Frühherbst 2016 wurde sie vorläufig fertiggestellt; während der Entstehung des vorliegenden Methodenbuchs, im Advent 2018, wurde sie liturgisch verbindlich.

Allen vorgenommenen Revisionen ist gemeinsam, dass sie eine hohe Sensibilität für geltende Dispositive aufweisen. Anders ausgedrückt, bewegen sie sich auf der Sichtachse der Gegenwart und ringen darum, den aktuellen kulturellen Horizont unserer Sprachgemeinschaft in eine vitale Beziehung zu den biblischen Urtexten, ihren Entwicklungen und den darin offenbarten und gläubig bezeugten Wahrheiten zu setzen – ein heikles Projekt. Dieses Ringen bewegt sich permanent zwischen Wort und Botschaft, Text und Sinn. Prominente Beispiele sind etwa eine angemessene Übersetzung des biblischen Gottesnamens, des Motivs der Jungfräulichkeit Mariens oder des Dienst- und Ämterverständnisses der Kirche; die textlich legitimierte Auslotung jüdisch-christlicher und ökumenischer Brückenschläge genauso wie die geschlechtergerechten Formulierungen. Hier flackern bereits zwei Merkmale auf, die für die neue EÜ signifikant sind: zum einen eine gründliche Vergewisserung über die textlichen Ursprünge und darüber hinaus die Wiederentdeckung der Sprache als Medium theologischer Auseinandersetzung.

Ein näherer Blick richtet sich an dieser Stelle beispielhaft auf die Perikope Joh 1,35–39, genauer gesagt auf einen Schlüsselsatz (Joh 1,38). Diese Auswahl liegt nahe, da das Johannesevangelium auch im Fortgang dieses Buches immer wieder eine zentrale Rolle spielen wird. Vorrangig ist jedoch, dass Joh 1,38 ein wesentliches Anliegen der neuen EÜ erhellt, das schon im Zusammenhang mit der Skizzierung der großen Leitlinien der Überarbeitung angeklungen ist. In dieser Szene trifft Jesus auf Johannes und zwei seiner Jünger; als er bemerkt, dass die drei ihm folgen, wendet er sich ihnen zu und fragt sie etwas. Die Übersetzung der Frage, die Jesus stellt, ist in der Einheitsübersetzung von 1980 und in der neuen EÜ unterschiedlich – und darin schlummert ein bemerkenswertes Detail. Die Version von 1980 gibt die Frage Jesu mit „Was wollt ihr?“ wieder, die neue EÜ hingegen gebraucht an derselben Stelle ein: „Was sucht ihr?“ Hier kommt zur Darstellung, was als etwas wie das theologische Programm gelten kann, das sich die neue EÜ gegeben hat. Dieses Programm verschreibt sich bewusst sehr stark einer Spiegelung der Theologien der einzelnen biblischen Schriften. Im Zusammenhang mit Joh 1,38 wird das deutlich, wenn man weiß, dass das Verb „suchen“ noch öfter im Johannesevangelium vorkommt und die Einsatzfunktion dabei sogar vom anfänglichen Was-Suchen zum Wen-Suchen wechselt.

Die neue EÜ steht nicht im Verdacht, leichtfertig irgendeinem Zeitgeist das Wort zu reden. Was sie jedoch sein möchte, ist zeitgemäß. Damit ist der Anspruch verbunden, die Höhe des Wissens über die biblischen Texte und ihre Sinnebenen sprachlich zu aktualisieren und zum Ausdruck zu bringen. Ihr tatsächlicher Reichtum ist schließlich ihre deutlich spürbare theologische Durchdringung. Sie schenkt die unveränderliche göttliche Offenbarung weiter. Hier entsteht eine theologisch-exegetische Doppelperspektive, die durchaus von missionarischem Geist erfüllt ist. Denn jede Bibelübersetzung dient der Verkündigung der „Heilsmysterien und betrifft die Gläubigen unserer Zeit und deren Leben. Wenn ein Wort oder ein Ausdruck die Wahl zwischen mehreren Übersetzungsmöglichkeiten bietet, soll man sich unter steter Wahrung der Treue gegenüber dem Originaltext darum bemühen, dass die gewählte Variante den Zuhörer befähigt, sich selbst und Züge seines Lebens möglichst lebendig in den Personen und Ereignissen des Textes wiederzuerkennen“ (Liturgiam authenticam 42). Diesem Auftrag des Zweiten Vatikanischen Konzils ist die neue EÜ wieder nähergekommen, darin besteht ihr wesentlicher Verdienst.

Lesetipp: Söding, Thomas: Die Bibel für alle. Kurze Einführung in die neue Einheitsübersetzung, Freiburg 2017 und „Die neue Einheitsübersetzung“, Bibel und Kirche 72 (2017).

Das Johannesevangelium als Kopiervorlage und das Buch Jona als Testfeld

Um Ihnen im Folgenden den hier ausgewählten Methodenbaukasten an Beispielen zu erläutern, habe ich mich entschieden, mit Ihnen das Johannesevangelium (Joh) zu lesen. Dieses Buch fasziniert mich seit vielen Jahren aufgrund seiner ganz eigenen sprachlichen und theologischen Dichte und Prägnanz. Es ist für mich so etwas wie ein Begleiter geworden, der mir persönlich immer wieder guttut und mit dem ich in unzähligen Seminaren, Fortbildungsveranstaltungen und Bibelgruppen viele existenzielle Erfahrungen machen durfte und immer wieder eindrucksvolle Diskussionen zu einzelnen Geschichten erlebt habe. Ich möchte das Johannesevangelium als Kopiervorlage nutzen: Die einzelnen Methodenschritte werde ich durchgehend am Beispiel der Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen (Joh 9) illustrieren. Auf diese Weise entsteht ein kontinuierlicher Eindruck, welchen Fortschritt die Beschäftigung mit den einzelnen Methoden aus dem Baukasten haben kann.

„Zweifelsohne gehört das Johannesevangelium zu den höchsten literarischen und theologischen Leistungen der neutestamentlichen Literatur. Die Tiefe, der Scharfsinn und die Neuheit des theologischen Denkens, das dieses Werk kennzeichnet, die Schönheit und das erstaunliche Sinnpotenzial seiner Sprache, die oft übersehene Feinheit und Stringenz der entfalteten Argumentation faszinieren den Leser stets von Neuem“ (Jean Zumstein).

Mein Vorschlag zu Beginn: Lesen Sie das Johannesevangelium! Der emeritierte Mainzer Neutestamentler und ausgewiesene Johannes-Spezialist Ludger Schenke hat einmal mit Schauspielern des Mainzer Staatstheaters das Johannesevangelium als Lesedrama auf die Bühne gebracht. Die gesamte (Vor)Lesezeit hat ungefähr 150 Minuten gedauert. Die Lektüre des Evangeliums müsste also in ein paar Etappen gut zu schaffen sein! Gehen Sie ganz unvoreingenommen an das Buch heran, lassen Sie sich auf die wunderbare Sprachwelt des Evangeliums ein und freuen Sie sich auf besondere Figuren und deren Begegnungen mit Jesus von Nazaret, die es so in den anderen drei Evangelien nicht gibt.

Lesetipp: Schenke, Ludger: Das Johannesevangelium. Vom Wohnen Gottes unter uns, Freiburg 2018.

Damit Sie auch ein Buch aus dem Alten Testament in die Hand nehmen und sehen, dass die vorgestellten Lektüre- und Analyseverfahren für beide Teile der Bibel gleichermaßen anwendbar sind, habe ich zusätzlich das kleine Büchlein Jona ausgewählt. Für die Lektüre dieser alttestamentlichen Schrift erhalten Sie am Ende jedes Arbeitsschrittes eine kleine Aufgabe sowie einige Leseanregungen, sodass Sie sich selbstständig mit diesem Buch auf den Weg machen können.

2

Eine theoretische Vergewisserung

Wie Lesen und Verstehen funktionieren

Texte! Immer wieder Texte!

Fragmente der biblischen Texte schwirren durch die Köpfe fast aller Menschen, die irgendwann irgendwie in Kontakt mit der christlichen Tradition gekommen sind. Als Kind hörte man die biblischen Geschichten in der Kita oder im Sonntagsgottesdienst, in der Schule wurden Bilder gemalt und Spiele gespielt, gegen Ende der Schulzeit aus manchen Texten Argumente geformt, manche Texte blieben als Lieder oder Filmszenen in Erinnerung. Manchmal bleiben diese Textfragmente unverbunden nebeneinander stehen, manchmal vermischen sie sich bis zur Unkenntlichkeit. In der Regel aber scheint es so, dass sich die Lektüre der Bibel eigentlich nicht mehr lohnt, weil eigentlich alles Wesentliche gelesen und verstanden ist.

Eigentlich … Denn bei dem Wagnis einer erneuten Lektüre stellt sich dann manchmal Überraschung ein. Einer der bekanntesten Texte im Johannesevangelium ist die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11). Und der eine oder die andere wird sich an die Begegnung mit diesem Text in Schulstunden, Gruppenstunden oder Hochzeitsgottesdiensten erinnern. Der Text ist in der Einheitsübersetzung überschrieben mit „Das erste Zeichen Jesu in Kana in Galiläa“, und wenn wir ihn erzählen müssten, würden wir sehr komprimiert sagen: Da hat Jesus bei einer Hochzeit Wasser in Wein verwandelt. Und in der Tat stehen Wasser und Wein im Mittelpunkt der Geschichte. Aber mehr noch: Es geht um verschiedene Zugänge zur Person Jesu, um einen Dissens zwischen Mutter und Sohn, um eine Mutter, die ohne jeden Zweifel zu ihrem Sohn steht, um einen Speisemeister, der über die plötzliche Weinflut verwundert ist und mit einer unkorrekten antiken Weinregel versucht, das Geschehene zu erklären. Am Ende stellen wir möglicherweise fest, dass gar nicht das sogenannte Weinwunder die zentrale Aussage dieser Geschichte markiert, sondern dass es vielmehr um zwei gegensätzliche Zugänge zur Lebenswirklichkeit und zum alternativen Ansatz der Jesusbewegung geht.

„Ein guter Text ist ein Gespräch und löst Gespräche aus“ (Dieter Bauer).

Der gleiche Text? Ja. Die gleiche Lektüre? Nein. Das Wagnis einer erneuten Lektüre scheint sich also zu lohnen – denn sie verändert mehr als nur das Wissen des Lesers. Die erneute Lektüre verändert sie selbst. Die erneute Lektüre fordert dazu heraus, zu diesem Text neu Stellung zu beziehen, gewohnte Sichtweisen zu verändern, Wirklichkeit anders wahrzunehmen, vielleicht sogar das eigene Verhalten in der Alltagswelt zu verändern.

Was ist ein Text und was heißt es, einen Text zu lesen?

Wenn Menschen Texte produzieren, dann schaffen sie damit Werkzeuge, um ihre Lebenswirklichkeit zu gestalten. In einer konkreten Situation formuliert ein Autor mit einer Auswahl aus den Möglichkeiten, die ihm die Sprache zur Verfügung stellt, einen Text auf einen Adressatenkreis hin, der diese Situation mit ihm teilt. Schriftliche Texte bezeugen so menschliche Handlungen und können Bestandteile menschlicher Handlungen sein. Jeder Text ist in gewisser Weise zeitlos, weil er zwei unterschiedlichen Situationen angehört: zum einen der Situation des Autors, zum anderen der Situation des Lesers. Dies gilt schon, wenn auch kaum wahrnehmbar, in der Situation einer direkten Kommunikation von Angesicht zu Angesicht – die Lebenswelten der Beteiligten sind ja nicht identisch, sondern individuell. Wenn die Lebenswelten zeitlich und räumlich voneinander getrennt werden, bleibt nur die Gegenwart des Textes: In beiden Situationen ist der Text stets gegenwärtig, sodass er als Text der Zeit enthoben ist. Für unsere Zwecke kann eine formale Definition des Textes lauten: Ein Text ist die linear strukturierte Abfolge von Wörtern und Sätzen, die aufeinander bezogen sind. Der Text ist als Element einer Handlung in einer bestimmten historischen Situation entstanden und wird in einer davon räumlich und zeitlich getrennten Situation neu gelesen und wieder in ein Handlungselement umgewandelt.

In einer konkreten Lesesituation kann der Text so auch in einer doppelten Weise gelesen werden: Einmal in einer „naiven“ Weise, die den Text Wort für Wort liest und versteht. Zum anderen in einer kritischen Weise, die versucht, bei der Lektüre die Spuren der Situation des Text-Entstehens im Text zu entdecken.