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»Glauben Sie an die Bibel oder an den Urknall?« Christen können ein Lied von solchen oder ähnlichen Fragen singen. Seit Galileo Galilei und besonders seit Charles Darwins Evolutionstheorie scheint es für viele nur entweder Naturwissenschaft oder Schöpfungsglauben zu geben. Zudem arbeitet ein immer aggressiver auftretender missionarischer Atheismus unermüdlich daran, die Schöpfungsgeschichte als Mythos und die Christen als unverbesserliche und wissenschaftsfeindliche Naivlinge darzustellen. Zu zeigen, wie inspirierend biblische Texte für Menschen des 21. Jahrhunderts sein können, die ihr naturwissenschaftliches Denken mit einer religiösen Perspektive verbinden wollen, wie sie auch für den heutigen Dialog zwischen Naturwissenschaften und Religion fruchtbar gemacht werden können, ist Ziel dieses Buches.
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Seitenzahl: 262
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Matthias Huber
Matthias Huber
Naturwissenschaft, Religion und die größten Rätsel unserer Welt
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © agsandrew / GettyImages
E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe
ISBN Print 978-3-451-39009-8
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82873-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82881-2
1. Wider die kognitive Eintönigkeit
2. Ijobs Krokodil und Schrödingers Katze: Was Bibellektüre mit Quantenphysik gemeinsam hat
3. Endlich unendlich: Menschliche Erkenntnis und göttliche Weisheit
4. Gottes Spielregeln und Spielwürfel: Gesetze und Freiheiten
5. Stehende Uhren und Zeitmaschinen: Ewigkeit, Zeit und Heilsgeschichte
6. Vom Möglichen zum Faktischen: Versklavte Atome und gebrochene Spiegel
7. Dem Chaos abgetrotzt: Ordnung und Leben
8. Von der Raumzeit-Strukturierung zum ersten Wochenende: Der Schöpfungsbericht der Genesis
9. Beziehungsweise … Schöpfung durch Vereinigung
10. Zwischen den Zeilen gelesen: Gottes Spur in der Natur
11. Prima fürs Klima: Bibel und Ökologie
12. Wer früher stirbt, lebt länger ewig? Warum mit dem Tod nicht alles aus ist
13. Bibel und Big Bang: Die Heilige Schrift in der Selbstreflexion
14. Epilog: Gottlob glücklich!
Danksagung
Zum Autor
„Glauben Sie nun an die Bibel oder an den Urknall?“ Wer von seinem Umfeld als gläubig und (trotzdem) vernünftig wahrgenommen wird, wer sowohl Theologie als auch Naturwissenschaften zu seinen Interessengebieten zählt, kann von solchen Fragen ein Lied singen. Wie soll es gehen, so wird man gefragt, unter der Woche Informatiker, Ingenieur oder Physikerin und sonntags Christ zu sein, mit all den biblischen Geschichten über die Schöpfung, die man doch als Christ zu glauben hat?
Mich persönlich begleiteten diese oder ähnliche Fragen, seitdem ich mich als Diplomphysiker auf den Weg gemacht habe, katholischer Priester zu werden. Davon, dass beide Bereiche, Naturwissenschaften und der christliche Glaube, sich auf reale Wirklichkeit(en) beziehen, bin ich zutiefst überzeugt. Zu der sich daraus ergebenden Frage, wie Naturwissenschaft und Religion – und zwar eine biblisch begründete – widerspruchsfrei zueinander stehen sollen, gibt es bereits Berge von Literatur. Das vorliegende Buch gibt wieder, wie ich persönlich diese Frage beantworte. Zugegeben, meine Antwort fällt etwas ausführlicher aus, als man es bei einer so einfachen Frage „Glauben Sie an die Bibel oder an den Urknall?“ spontan erwarten würde. Mich hat die Frage im Theologiestudium dazu angeregt, mich mit biblischen Schöpfungstexten auseinanderzusetzen. Daraus ist eine noch ausführlichere Antwort als die nun vorliegende entstanden, nämlich eine Dissertationsschrift mit dem Titel „Seh’ ich den Himmel, das Werk deiner Finger. Biblische Schöpfungstexte als Modelle zur Verhältnisbestimmung zwischen Naturwissenschaften und Theologie“. Auf diese Arbeit seien Hebräisch-Fans, Fußnoten-Freundinnen und Hobby-Plagiatsjäger verwiesen. Im vorliegenden Buch versuche ich, die Antwort etwas zu vereinfachen und zu verkürzen. Sie lautet so:
Die Bibel ist kein Naturkundelehrbuch. Dass dem so ist, war bereits in der Antike bekannt. So hielt es etwa Augustinus gar für Zeitverschwendung, danach zu fragen, über welche Form und Gestalt des Himmels die Heilige Schrift Auskunft gebe – ob etwa der Himmel die Erde wie eine Kugel umschließe oder sie von oben wie eine Scheibe bedecke. Solche Fragen, so Augustinus, lenken die Aufmerksamkeit von den wichtigen Dingen ab, nämlich von der Frage, wie nach der Schrift das Heil erlangt werden kann. Dass die Welt außerdem nicht im wörtlichen Sinn in sechs Tagen erschaffen worden sein kann, bemerkte schon der Theologe Origenes (185–253/54), da die Sonne laut Schöpfungstext erst am vierten Tag geschaffen wurde: „Welcher vernünftige Mensch wird annehmen, der erste, zweite und dritte Tag sowie Abend und Morgen seien ohne Sonne, Mond und Sterne geworden und der gleichsam erste sogar ohne Himmel?“
Dass es in der Neuzeit immer wieder Rückfälle hinter diese Einsichten aus der Antike gab, kann aus heutiger Sicht nur bedauert werden. In jüngerer Zeit nannte daher Papst Johannes Paul II. die Verurteilung Galileo Galileis (auch wenn sich der Streit mit den Kirchenoberen kaum auf die Frage beschränken lässt, ob die Sonne um die Erde kreist oder umgekehrt) ein „tragisches gegenseitiges Unverständnis“ und bezeichnete es als einen Irrtum der Theologen, wenn sie angenommen hätten, „unsere Kenntnis der Strukturen der physischen Welt wäre irgendwie vom Wortsinn der Heiligen Schrift gefordert“. Vielmehr wolle der Heilige Geist mit der Schrift zeigen, wie man in den Himmel kommt, nicht, wie der Himmel im Einzelnen aussieht. Das Christentum tut daher gut daran, die Grenzen von Glaubensaussagen anzuerkennen und die Kosmologie den Naturwissenschaften zu überlassen.
Biblische Texte sind keine naturwissenschaftlichen Texte, da es zur Entstehungszeit der biblischen Texte noch keine Naturwissenschaft in unserem Sinne gab. Ein wesentlicher Unterschied: Moderner Wissenschaft liegt immer ein methodischer Atheismus zugrunde. Gott als Erklärung für einen Vorgang in der Natur einbauen zu wollen, würde naturwissenschaftliches Denken ad absurdum führen. Für biblische Verfasser hingegen ist die Welt des Sichtbaren kein geschlossenes System, sondern sie ist immer offen auf das Transzendente, die sichtbare Welt Übersteigende hin. Eine Kosmologie der Bibel ist damit zugleich immer Kosmo-theologie.
Biblische Texte und ihre kosmo-theologischen Aussagen jedoch als „alternative Fakten“ zu naturwissenschaftlich-kosmologischen Erkenntnissen zu verstehen, geht komplett an den Texten vorbei. Man würde verkennen, dass sie zwar von Gott inspiriert, aber doch von Menschen verfasst sind und dass diese Menschen keine allwissenden Superhirne waren, die moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorhersehen konnten. Man verkennt damit die Eigenschaften biblischer Texte als „Gottes Wort in Menschenwort“. Erwartet man von ihnen dagegen Auskunft und übernatürliches Wissen etwa über das Alter der Welt, tut sich der gefährliche Graben des Kreationismus auf. Dieser behauptet, mit wortwörtlicher Auslegung der kosmologischen Aussagen der Bibel zu wissen, was sie „wirklich“ sagen will, nach dem Motto: „Und die Bibel hat doch recht!“ Damit liefert man für Atheisten wie Richard Dawkins genügend Material für ein Pappfigurenchristentum, das genüsslich als völlig weltfremd und wissenschaftsresistent mit Spott beschossen und der Absurdität überführt werden kann. Merke also: Die Bibel ist kein Naturkundebuch! „Auch dann nicht, wenn man die sechs Schöpfungstage als erdgeschichtliche Epochen …?“ – Nein, auch dann nicht! Und Finger weg von Versuchen, anhand der Bibel das Alter der Menschheit zu bestimmen! Wem dies als Antwort auf obige Frage ausreicht, kann dieses Buch nun aus der Hand legen. Alle anderen lesen bitte weiter.
So weit, so gut. Das Problem ist nur: Wie gehen wir denn nun mit dem „Kosmo-Teil“ in der Kosmo-theologie um, und wie begründet man ihre vermeintliche Unabhängigkeit von „echter“ Kosmologie? Hätten die biblischen Autoren, um Missverständnisse zu vermeiden, auf solche Experimente nicht besser verzichten und den Kosmo-Teil aus ihren Aussagen streichen sollen?
Wenn dies die biblischen Verfasser wohl aus Nachlässigkeit oder Unvorsichtigkeit versäumt haben sollten, so versuchen heutzutage viele Theologinnen und Religionslehrer, dieses Versäumnis mit ihren Erklärungsversuchen auszubügeln. So haben sich im Religionsunterricht Standardsätze verbreitet, die der Bibel den Bezug zu realer Kosmologie von vornherein absprechen, zum Beispiel, indem sie zwischen Naturwissenschaften und Bibel quasi eine arbeitsteilige Zuweisung von Zuständigkeiten vornehmen. Diese lautet etwa so: Die Naturwissenschaften machen Aussagen über das Wie der Entstehung der Welt, die Bibel hingegen erklärt, warum Gott die Welt geschaffen hat.
Diese Schwerpunktsetzung ist in gemäßigter Form sicher nicht falsch. Die Schwierigkeit dabei ist nur: Wenn die biblischen Texte fein säuberlich von den Naturwissenschaften abgeschirmt werden sollen, dann fehlt ihnen auch der Bezug zur Welt, wie wir sie heute kennen. In dieser Welt bestimmen Naturwissenschaft und Technik unser Leben und prägen unser Weltbild. Und so bleibt dem persönlichen, von der Bibel geprägten Gottesglauben nur, sich auf eine von der sichtbaren, naturwissenschaftlichen Welt losgelöste Ebene zurückzuziehen. Mit Aussagen über das Warum und über den Sinn der Welt hat der Schöpfungsglaube zwar nicht wenig zu sagen. Wenn allerdings der Schöpfungsglaube radikal von der sichtbaren Welt der Naturwissenschaften getrennt zu sein hat, ist das Gespräch mit interessiert und kritisch Fragenden, die in einer naturwissenschaftlich geprägten Welt leben, auch schnell beendet. Glaube und Naturwissenschaften leben dann friedlich nebeneinander, ohne einander viel zu sagen zu haben; man grüßt sich freundlich, wenn man einander begegnet – mehr aber auch nicht. Dieses Manko wird auch dann nicht behoben, wenn bei solchen Abspaltungsversuchen manchmal der Unterton mitklingt, die Bibel schwebe als Sammlung von poetischen Werken ohnehin in anderen Sphären und habe es gar nicht nötig, sich auf die schnöde Naturwissenschaftsebene herabzulassen. Wenn aber etwa Eduard Mörike den Frühling sein blaues Band durch die Lüfte flattern lässt, hat auch dies gewisse Wiedererkennungsmerkmale und Bezüge zur sinnlich wahrnehmbaren Natur, wie sie sich zeigt.
Den biblischen Texten würde mit einer scharfen Trennung zwischen Empirie und Glaube eine Denkweise aufgezwungen, die der antiken Welt noch viel fremder war. Nirgends ist den biblischen Texten selbst zu entnehmen, dass sie sich für die Beantwortung von Warum-Fragen zuständig erklären und die Leserinnen und Leser mit einschlägigen Literaturangaben dazu auffordern, für eventuelle Wie-Fragen naturwissenschaftliches Begleitmaterial zur Hand zu nehmen. Vielmehr entstammt diese Art der Zerteilung der Wirklichkeit unserem modernen Denken. Wir sind es gewohnt, in abgesteckten Wissenschaftsbereichen jeweils eine unterschiedliche Methodik des Untersuchens und Erklärens anzuwenden. Doch auch von modernen Christinnen und Christen ist es kaum zu verlangen, dass sie sich in naturwissenschaftliche „Wie-Wesen“ für den Alltag und religiöse „Warum-Wesen“ für den Sonntagsgottesdienst aufspalten lassen. In den meisten Kirchen jedenfalls gelten dieselben Naturgesetze drinnen wie draußen, was uns vielleicht noch verborgen bleibt, wenn im Gottesdienst bei der Predigt das Mikrofon des Pfarrers nicht funktioniert, aber spätestens dann allen schmerzhaft bewusst wird, wenn im Winter die computergesteuerte Heizung ausgefallen ist. Auch das sonstige Alltagsleben bietet genügend Gegenbeispiele, die zeigen, dass sich das „Wie“ vom „Warum“ zumeist kaum trennen lässt: Wenn beispielsweise ein junger Charmeur seiner Angebeteten Blumen schenkt, weil er sie liebt, wäre dies kaum mit einer Art und Weise der Übergabe vereinbar, die darin bestünde, dass sich die Glückliche ihre Blumen aus den Gartenabfällen in der braunen Tonne selber zusammensuchen darf.
Doch nicht nur eine Trennung von Fragestellungen, die doch eigentlich einander berühren und durchdringen, scheint problematisch. Darüber hinaus haftet der grundsätzlichen Zuweisung einer eingegrenzten Fachzuständigkeit an die Bibel, die zudem über die ganze Unterschiedlichkeit der Gattungen der in ihr enthaltenen Literatur hinweggeht, etwas Entmündigendes an. Bei dem Begriff „Entmündigung“ mag man an besorgte Helikoptereltern denken, die am besten zu wissen meinen, was für ihren Nachwuchs gut ist, dem sie alle Sätze am liebsten selbst in den Mund legen. Mit der Deutungshoheit über den Willen der Kinder wird diesen die Leine angelegt. Oder denken Sie an Hundebesitzer, die zu wissen meinen, dass ihr Bullterrier „doch nur spielen“ will, während dieser sich gerade kläffend und zähnefletschend über Ihr Hosenbein hermacht. Ähnlich verhält es sich bei der naheliegenden Versuchung, die Heilige Schrift zur Harmonisierung mit den Vernunftvorgaben unserer Epoche in eine Art „Fachbereichsquarantäne“ zu stecken: Sie konzentriere sich am liebsten auf ein- und abgrenzbare Fragen der Metaphysik – mit ihren kosmologischen Weltbildern sei sie daher quasi zu ihrem eigenen Besten herauszuhalten aus Fragen der Naturwissenschaften wie der Kosmologie. Mit dieser Bevormundung der Heiligen Schrift wird ihr letztlich ihre eigene Mündigkeit und ihre Bedeutung als normative Instanz für den Glauben an Gott und Gottes Beziehung zur Welt abgesprochen.
Von dieser Helikopterelternrolle zu unterscheiden ist die Rolle der glaubenden Gemeinschaft, die in einer lebendigen Beziehung mit der Schrift steht und diese in ihrer Zeit immer neu deutet. Diese Gemeinschaft hat die Schrift über Jahrhunderte hinweg überliefert und immer mehr erschlossen, sie muss sich aber stets dem Anspruch stellen, sich von ihr herausfordern zu lassen und ihre Glaubenspraxis immer neu auf die in der Bibel überlieferten Ursprünge hin zu beziehen. Sollen biblische Texte jedoch einer solchen Rolle als Korrektiv gerecht werden, müssen sie sich von vornherein jedem Versuch der Zähmung entziehen und gegen Vereinnahmungen für die eigenen Lieblingsideen sperren. Denn biblische Texte sind oft sperrig, herausfordernd, manchmal provokativ und verstörend. Als Texte über Gott, die für Christen vom Geist Gottes inspiriert sind, erinnern sie uns daran, dass Gott immer größer ist als die Schubladen und Korsette unseres Plausibilitätsdenkens, in die wir ihn am liebsten hineinzwängen möchten.
Ein solcher Schritt, der Bibel ihren eigenen Willen zu lassen, bedeutet – sofern die Bibel Maßstab für den eigenen Glauben sein soll – Kontrolle über einen Teil des eigenen Lebens aus der Hand zu geben. Wobei der Verlust von Kontrolle meistens Ängste hervorruft. Eine solche Angst könnte mit Blick auf Schöpfungstexte der Bibel darin bestehen, dass letztlich nur die Möglichkeit bleibt, seine Persönlichkeit dann eben doch hoffnungslos in verschiedene Fragmente aufspalten zu müssen: in das rationale Ich, das selbstverständlich Smartphones und Tablets benutzt, und das glaubende Ich, das sich Sonntag für Sonntag Geschichten von sprechenden Schlangen im Paradies, von Mauern-zu-Fall-bringender Blasmusik und von Propheten in Fischbäuchen anhört. Ein solches Doppelleben scheint vielen nur mit der Diagnose „kognitive Dissonanz“ erklärbar zu sein. Kognitive Dissonanz bedeutet – in einer Facette –, trotz besseren Wissens etwas zu tun, was selbst der eigenen Vernunfterkenntnis zuwiderläuft.
Mir persönlich wurde einmal vom atheistischen Bestsellerautor Philipp Möller kognitive Dissonanz bescheinigt. Die humanistische Giordano-Bruno-Hochschulgruppe in Konstanz hatte mich zu einem von ihm gehaltenen Vortrag über sein Buch Gottlos glücklich eingeladen – worauf im vorliegenden Buch das letzte Kapitel kurz antwortet. Abgesehen von einer zugegebenermaßen teils recht unterhaltsamen Darstellung mancher Eigenheiten der katholischen Kirche wartete der Vortrag mit ziemlich abenteuerlichen Thesen auf: Christen begründen ihren Glauben, so referierte Möller, nur damit, dass die Existenz Gottes zwar nicht beweisbar, aber ja auch nicht widerlegbar sei. Was bekanntermaßen auch für die Existenz der Zahnfee oder des Spaghetti-Monsters gelte. Glaube sei nicht Wissen, glaubte Möller zu wissen, und daher auch aus dem Schulunterricht zu verbannen. Katholische und evangelische Christen nämlich beteten Sonntag für Sonntag wider alle Vernunft: „Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“ Und dies bedeute, so Möllers damaliger Informationsstand, die Welt sei nach christlicher Auffassung in sechs Tagen entstanden. Die Bibel sei als überholtes Geschwätz von Nomaden und Schafhirten daher endlich aus dem Verkehr zu ziehen.
In der anschließenden Fragerunde kam es auch zu einer Diskussion über das konfliktträchtige Verhältnis von Religion und Naturwissenschaft. Nur drei Prozent der Naturwissenschaftler seien laut Umfragen gläubig; und dabei handele es sich vor allem um diejenigen, die weniger reflektiert seien, behauptete Möller. Ich meldete mich zu Wort und wies darauf hin, dass in diesem Fall zu den weniger reflektierten Naturwissenschaftlern auch Isaac Newton, Albert Einstein, Max Planck, Niels Bohr, Werner Heisenberg und Georges Lemaître, der „Entdecker“ des Urknalls, gehörten. Indem mich Herr Möller nach einem kurzen Wortgefecht aufgrund meines dann aufgeflogenen Doppellebens als Physiker und Priester kurzerhand mit der Diagnose „kognitive Dissonanz“ versah, fand die Zwischendiskussion zur Vereinbarkeit von Glaube und Naturwissenschaften jedoch einen jähen Abbruch.
Im Nachhinein bin ich Herrn Möller allerdings dankbar für seine schonungslose Offenheit, denn ich lernte mit der Zeit, mit dem Befund „kognitive Dissonanz“ zu leben; ja sogar mich mehr und mehr mit ihm anzufreunden. Bedeutet das Gegenteil nämlich eine „kognitive Eintönigkeit“, dann bin ich gerne kognitiv dissonant. Musikalisch gesehen, so könnte man einwenden, könnte die korrekte und gesündere Alternative zur kognitiven Dissonanz auch eine kognitive Konsonanz sein: ein Zusammenklang statt eines Missklangs. Wer musiziert, weiß jedoch, dass eine Konsonanz ein Zusammenführen von Verschiedenem, oft auch von zunächst Dissonantem ist. Keine interessante Komposition kommt ohne Dissonanzen aus, die auf verschiedenem Wege zur Auflösung geführt werden, manchmal auch wie eine unbeantwortete Frage im Raum stehen bleiben. Ob ein Intervall als Konsonanz oder Dissonanz erscheint, hängt teils vom eigenen Empfinden, teils vom musikalischen Kontext ab. Eine große Septime, wenn Sie also beispielsweise auf dem Klavier ein C und das nächsthöhere H gleichzeitig spielen, klingt für sich erst einmal schräg; zusammen mit einem E und einem G klingt die Kombination dagegen richtig groovig, und im Jazz sind gerade solche Akkorde das Salz in der Suppe. Auch in der älteren Musik, etwa in Fugen von Johann Sebastian Bach, bilden verschiedene Stimmen als Dux („Anführer“) und Comes („Begleiter“), die sich gegenseitig ein Motiv in immer neuen Variationen wie einen Spielball hin- und herwerfen, ein spannungsvolles Beziehungsgefüge.
Im Blick auf das Zusammenspiel von Naturwissenschaften und Glaube könnte eine vermeintlich reine, dissonanzfreie kognitive Konsonanz nur darin bestehen, jede Vielfalt, Verschiedenheit bis hin zur Gegensätzlichkeit der Perspektiven zu unterbinden und sich allein auf eine Eintönigkeit und Eindimensionalität bzw. eine vermeintliche „Paralleltonalität“ der Wirklichkeit zurückzuziehen. Mich würde ein solches Weltbild jedoch nicht befriedigen. Nur widerwillig wollte ich darauf verzichten, dass sich die Welt je nach den Voraussetzungen der Betrachterinnen und Betrachter aus naturwissenschaftlicher, theologischer, künstlerischer, poetischer, musikalischer Perspektive und daher in einer teils sehr spannungsvollen Vielfalt sehen lässt. Die Zusammenführung der Perspektiven erfordert die Bereitschaft zu äußerem und innerem Dialog, zur Verschmelzung von verschiedenen Horizonten. Deren Ergebnis kann nicht mehr jene Eintönigkeit sein, die zwar spannungsfrei ist, jedoch unterschiedliche Perspektiven und Klänge voneinander isoliert. Sie ist auch kein immer gleichbleibender Parallelklang. Vielmehr ist sie ein durch ein Auf und Ab gegangenes, ein vielleicht phasenweise entzweites, jedoch versöhntes, geläutertes und damit bereicherndes Miteinander.
Das Interessante bei der Bibel ist: Sie ist gerade nicht die eine dissonante Stimme, die sich angeblich nicht in ein konsonantes, will heißen naturwissenschaftlich plausibles Weltbild einfügen lässt. Sondern sie bringt uns bereits in sich eine solche geläuterte, spannungsvolle und zugleich ausgesöhnte Mehrstimmigkeit zu Gehör. Sie ist in sich schon mehrstimmig wie eine Symphonie, da sie eine Sammlung von Literatur mit unterschiedlichsten Gattungen, mit teils lobpreisendem, teils faktisch wiedergebendem, teils fiktional erzählendem Charakter ist, mit unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Perspektiven. Gemeinsam ist allen Texten, dass sie Erfahrungen der Menschen mit ihrem Gott wiedergeben. Die Wiedergabe dieser Erfahrungen in einem Zeitraum von ca. eintausend Jahren sprengt jede Art von Normen, mit der sie menschliches Plausibilitätsdenken bändigen will. Oder musikalisch gesprochen: jeden Versuch, sie in die kognitive Einstimmigkeit zu verbannen oder ihr wie einem Sänger das Mikrofon abzudrehen, falls mir ihre Stimme kakophon vorkommt und nicht in meine Welt passen will.
Am Ende des langen Prozesses von Überlieferungen, Verschriftlichung und Ergänzungen, den die Heilige Schrift durchlaufen hat, kann nur eine Zusammenschau von unterschiedlichsten Perspektiven stehen, eine Symphonie von Klängen, die sich teils dissonant, teils konsonant zusammenfügen. Genau hierzu brauchen wir das „Kosmo“ in der Kosmo-theologie der Bibel. Insbesondere kosmo-theologische biblische Schöpfungstexte wirken jedem Versuch einer Aufspaltung der Wirklichkeit in parallele Eintönigkeiten entgegen. Sie wirken verbindend und integrierend, beziehen in den Glauben an Gott auch das Wissen um die Welt ein. Und auch wenn gilt, dass die Bibel kein naturwissenschaftliches Lehrbuch ist: Die biblischen Schöpfungstexte sind zu vielseitig, zu perspektivenreich, zu sehr empfänglich für das Wissen ihrer Zeit, als dass man von ihnen behaupten könnte, dass sie sich nicht für zeitgemäßes Naturwissen interessieren würden. Würden die biblischen Verfasser heute leben und Schöpfungstexte schreiben, würden sie dies sicher nicht ohne ein fundamentales Interesse dafür tun, was die Naturwissenschaften zur Entstehung des Kosmos, der Erde und des Lebens zu sagen haben. Sie sind damit für den heutigen Bibelleser alles andere als die Problemstimmen, die man aus dem Chor der inneren Stimmen der Vernunft aussondern muss. Vielmehr sind sie selbst Beispiele einer gelungenen Synthese von damaligem Naturwissen und Gottesglauben und regen dazu an, eine ähnliche Synthese des Gottesglaubens mit heutigem naturwissenschaftlichem Wissen zu vollziehen. Damit entsprechen sie einem Grundbedürfnis des Menschen, zersplitterte Bereiche seiner Existenz zusammenzuführen und so auch seine naturwissenschaftliche und seine religiöse Seite zu einem Ganzen zu verbinden. Die in vielen Sprachen bezeugte Verwandtschaft von „heil“ und „ganz“ drückt aus, dass die Suche nach dem Ganzen in der menschlichen Natur begründet zu sein scheint: So geht etwa im Englischen das Wort „health“ auf „hale“ zurück, welches wiederum mit dem Wort „whole“ verwandt ist. Biblische Schöpfungstexte halten damit das Verlangen nach einem unverkürzten Menschsein wach, das nach einer Verbindung seiner physischen und geistigen Dimension, von empirischem Wissen und dessen spiritueller Deutung verlangt.
Die Bibel selbst würde eine solche Grundhaltung, die unterschiedlichen Perspektiven Raum gibt und sie zu einem Ganzen integriert, als Weisheit (chokmah) bezeichnen. Weisheit ist in der Bibel nicht nur ein Begriff, sondern bezeichnet eine ganze Tradition, zu der Bücher wie das Buch der Weisheit, das Buch der Sprichwörter, Kohelet oder Ijob gehören. Charakteristisch für diese Tradition ist die Verbindung von Weltwissen – darunter auch Wissen über die Natur – mit einer lebenspraktischen Kompetenz. Weisheit ist nach der Bibel im umfassenden Sinn Welterkenntnis, die auf das Verstehen von Natur und Welt, aber auch der Ordnungen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens ausgerichtet ist. Prototypisch wird in der Bibel die Figur des Weisen anhand der Gestalt des Königs Salomo vor Augen geführt. Seine Geschichte ist bekannt: Gott erscheint Salomo nachts im Traum und gewährt ihm eine Bitte. Und dieser wünscht sich, was er als junger und unerfahrener Thronfolger am meisten benötigt: Statt eines langen Lebens oder eines Siegs über seine Feinde bittet er um ein hörendes Herz, um sein Volk zu regieren und Gut und Böse zu unterscheiden. Gott ist angetan von dieser Bitte und schlägt sie ihm nicht aus. Als Träger dieser Weisheit wird Salomo eine Kenntnis sämtlicher Tier- und Pflanzenarten nachgesagt. Die Kenntnis der Natur ist bei einem weisen Menschen auch immer verbunden mit einer hohen lebenspraktischen Kompetenz, wie sie Salomo an seinem salomonischen Urteil unter Beweis gestellt hat. Salomos weltbekannte Weisheit wird im ersten Buch der Könige so beschrieben:
Gott gab Salomo Weisheit und Einsicht in hohem Maß und Weite des Herzens – wie Sand am Strand des Meeres. Die Weisheit Salomos war größer als die Weisheit aller Söhne des Ostens und alle Weisheit Ägyptens. Er war weiser als alle Menschen, weiser als Etan, der Esrachiter, als Heman, Kalkol und Darda, die Söhne Mahols. Sein Name war bekannt bei allen Völkern ringsum. Er verfasste dreitausend Sprichwörter und die Zahl seiner Lieder betrug tausendundfünf. Er redete über die Bäume, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der an der Mauer wächst. Er redete über das Vieh, die Vögel, das Gewürm und die Fische. Von allen Völkern kamen Leute, um die Weisheit Salomos zu hören, Abgesandte von allen Königen der Erde, die von seiner Weisheit vernommen hatten. (1 Kön 5,9–14, EÜ1)
Nein, die Bibel ist kein Naturkundelehrbuch. Dennoch gibt sie gerade mit ihren Bezügen zur Natur, insbesondere in der Weisheitsliteratur, eine Richtung vor, die für die heutige Gesellschaft vor dem Hintergrund der aktuellen Krisen unumgänglich scheint: den Sprung von einer Wissens- und Informationsgesellschaft hin zu einer „Weisheitsgesellschaft“ zu vollziehen. Diese müsste sich – nach salomonischem Vorbild – durch eine Balance zwischen Vernunft und Herz, zwischen naturwissenschaftlicher und technischer Kompetenz einerseits und durch eine große Liebe für die Umwelt und die Mitgeschöpfe andererseits auszeichnen. Atheistische Zeitgenossen mögen einen solchen gesamtgesellschaftlichen Anspruch eines religiösen, ja kirchlich überlieferten Buchs empört zurückweisen. Jedoch hat sich kaum ein anderes Buch wie die Bibel in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt. Gerade in seiner Verbindung von Glaube und Welt trägt es der Tatsache Rechnung, dass die großen Fragen des Menschen nach gelingendem und erfülltem Leben, nach seiner Hoffnung, seinem Woher und Wohin nur schwer auf rein säkularem Boden abzuhandeln sind. Ohne eine Offenheit ins Transzendente, über die sichtbare Welt Hinausweisende, beinhalten Sinnangebote nur den Wert, den ihnen ein mehr oder weniger breiter gesellschaftlicher Konsens zubilligen kann. Die Würde des Menschen, seiner Mitlebewesen und seiner Umwelt ist nur dann absolut unverfügbar, wenn sie mehr ist als menschengemachter Konsens. Die Bibel war mit ihrer Rede vom Menschen als Bild Gottes jahrhundertelang Grundlage für einen Wert und eine Würde, die jedem menschlichen und gesellschaftlichen Konsens vorgelagert ist. Über Jahrhunderte bildete die Bibel in dieser Suchbewegung nach Sinn und Hoffnung eine gemeinsame Basis für Kunst und Kultur. Auch wenn sie heute nicht mehr dieselbe breite gesellschaftliche Akzeptanz besitzt, wäre es vor dem Hintergrund aktueller Krisen fatal, einen jahrtausendealten kulturellen Schatz und eine zumindest potenzielle Erkenntnisquelle einfach in der Versenkung verschwinden zu lassen, die große Teile der Menschheit verbindet und weit über den jüdisch-christlichen Kontext hinaus Anerkennung und Wertschätzung genießt. Damit soll nicht die Berechtigung alternativer säkularer Sinnangebote ausgeschlossen werden. Nur sollten diese ihre Überzeugungskraft aus sich selbst heraus generieren und nicht allein dadurch, dass sie meinen, mit der Bibel eine Tradition abkanzeln zu müssen, die vielen Menschen Halt und Zuversicht gibt und ihnen Maßstab ist für ein gutes und gelingendes Leben. Vernünftigerweise sollte es gesamtgesellschaftlich keine Sorge um ein Zuviel an solchen Quellen geben, eher um ein Zuwenig.
Hieran ändert auch der häufig vorgebrachte Einwand nichts, die Bibel sei an vielen Stellen gewaltverherrlichend. Hierzu ein paar Worte: Es stimmt zwar, an manchen Stellen wird beschrieben, dass das Gottesvolk mit seinen Gegnern nicht gerade zimperlich umgegangen ist. Bei der Eroberung Jerichos durch Israel sind Männer und Frauen, Kinder und Greise dem Schwert zum Opfer gefallen (Jos 6,21). Doch wenn man diese Szenen schon unbedingt – oft mit leicht durchschaubarem Interesse – als Aufforderung zur Nachahmung in der eigenen Nachbarschaft missverstehen will, dann sollte man sich vor Augen halten: Die Texte bewegen sich – abgesehen von der bestreitbaren Historizität der „Landnahme Israels“ – im Kontext des Alten Orients, in dem es mitunter weit gewalttätiger zuging, als uns heute lieb ist, und man sich über weite Zeitphasen hinweg in einer Welt von Stammeskriegen außerhalb des Schutzes der eigenen Sippe seines Lebens niemals so sicher sein konnte. In diesem Kontext bot die jüdische Religion einen enormen Fortschritt. Mit dem Talionsgesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ führte sie nicht wie oft angenommen eine Legitimation, sondern eine Begrenzung der Gewalt ein und schob ihrer Eskalation einen Riegel vor. Dass dem Gottesvolk im Bundesschluss zudem das Gebot – wörtlich übersetzt – „Du wirst nicht töten“ mit auf den Weg gegeben wurde, ist bekannt. Davon abgesehen: Die christliche Deutung der Bibel als Maßstab für christliches Ethos setzt bei den Worten Jesu im Neuen Testament an, insbesondere bei der Bergpredigt, die mit den Worten „Ich aber sage euch“ so manche schwierige Überlieferung korrigiert und in ein neues Licht stellt. Zu diesen für christliches Ethos maßgeblichen Worten Jesu gehört der Satz: „Selig die Sanftmütigen [frühere EÜ: die keine Gewalt anwenden], denn sie werden das Land erben.“ (Mt 5,5 EÜ) Oder an anderer Stelle seine Antwort auf die Verurteilung einer Ehebrecherin: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.“ (Joh 8,7 EÜ) Bei unzähligen Menschen wirkte die Heilige Schrift unter dieser Prämisse bewusstseinsbildend und prägend für einen Umgang mit ihren Mitmenschen, der von Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Nachsicht und Vergebung gekennzeichnet ist. Wer wie Philipp Möller den Abschied von der Bibel als überkommenem Schafhirtengeschwätz einfordert, der bleibt der Menschheit eine gleichwertige Alternative schuldig – ein Sinnangebot von dem Format „Gottlos glücklich“ vermag diesen Anspruch kaum ernsthaft zu erfüllen.
Um die verborgenen Schätze der Bibel, in unserem Fall der Schöpfungstexte, zu bergen und ihre Bedeutung für unser heutiges Weltbild herauszustellen, kann an die Stelle einer von außen auferlegten „Fachbereichsquarantäne“ nur der aufrichtige Versuch treten, mit den Texten in einen Dialog zu treten und sie auf ihre eigene, möglichst unverfälschte Aussageabsicht zu befragen. Biblische Texte wollen so verstanden werden, wie sie sich selbst verstehen. Dieser sogenannte Fundamentalsatz der Exegese klingt zunächst selbstverständlich, ist aber auch mit Blick auf Fehldeutungen, die etwa die Texte der Verherrlichung von Gewalt bezichtigen, kaum hoch genug anzusetzen. Der aus den Texten selbst ableitbaren Aussageabsicht auf die Spur zu kommen, mit anderen Worten: herauszufinden, wie die biblischen Texte sich selbst verstehen, macht sich die wissenschaftliche Exegese zur Aufgabe. Diese untersucht die Texte der Bibel in ihrer originalen Sprache und in ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext. Dabei bezieht man auch die damals gängigen Vorstellungen, Weltbilder, Bräuche und Traditionen ein, indem man etwa nach Ähnlichkeiten in anderen schriftlichen Zeugnissen des Alten Orients Ausschau hält. In den Schöpfungstexten beispielsweise haben sowohl damals geläufige Mythen und Sagen als auch Naturwissen und frühe Formen von Astronomie ihren Niederschlag gefunden. Und wie bereits in der Zeit Jesu um die richtige Deutung der Überlieferung gerungen wurde, so steht jede Epoche vor der Aufgabe, die Bibel aus dem eigenen Lebenskontext heraus zu deuten und neu auf ihre Lebenswelt anzuwenden.
Eine solche Herangehensweise an die Bibel als Dialogpartnerin, die verstanden werden will, wie sie sich selbst versteht, unterscheidet sich fundamental von einer Zuweisung eines Zuständigkeitsbereichs an die Bibel, in dem sie letztlich „doch recht haben“ darf. Nach einem solchen Verständnis würde die Bibel instruieren und belehren, vergleichbar der Bedienungsanleitung eines Küchengeräts. Leserinnen und Leser sind Empfänger; in dieser Rolle nehmen sie das Gesagte auf. In der Theologie spricht man in diesem Zusammenhang von einem sogenannten instruktionstheoretischen Modell von Offenbarung. Wenn aber Offenbarung so verstanden wird, dass eine Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen stattfindet, dann tritt die Frage, wer recht oder unrecht hat, in den Hintergrund. Vielmehr geht es um ein aufrechtes Bemühen darum, Gottes Wort als ein persönliches Wort an mich zu verstehen, als ein lebendiges Beziehungsangebot. Dieses Verständnis bezeichnet die Theologie als kommunikationstheoretisches Offenbarungsmodell.
Bei einem Paradigmenwechsel vom instruktionstheoretischen zum kommunikationstheoretischen Offenbarungsmodell kommt die Theologie nicht umhin, sich mit der Frage zu beschäftigen: Was geht eigentlich vor sich, wenn wir meinen, jemanden oder etwas verstanden zu haben? Mit dem Vorgang des Verstehens beschäftigt sich in der Philosophie die Disziplin der Hermeneutik. Sie ist benannt nach Hermes – in der Zeit des boomenden Online-Handels muss dazugesagt werden: dem Götterboten, der die Botschaften des Zeus überbringt. Die Hermeneutik beschreibt die Voraussetzungen dafür, dass der Sinngehalt aus der Welt des Textes wie von einem solchen Boten in die Welt der Leserinnen und Leser übertragen werden kann. Sie versucht damit auch bei biblischen Texten, den Graben von über zweitausend Jahren zu überwinden. Der Philosoph, der als ein Begründer der philosophischen Hermeneutik gilt, ist Wilhelm Dilthey. Für ihn ist Verstehen das „Wiederfinden des Ich im Du“. Anders gesagt: Es ist ein inneres Nachempfinden und Nacherleben eines Werks. Erlebnisse, Gefühle, Stimmungen, die in einem Text wie in einem Gedicht festgehalten sind, werden in reales Leben zurückverwandelt. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat für das Verstehen den Begriff der Horizontverschmelzung geprägt. Wenn ein Gegenüber, ob es eine Person oder ein Text ist, verstanden wird, dann verbinden sich zwei Horizonte, zwei Gesichtskreise, innerhalb derer das Auge bislang nur eine begrenzte Reichweite hatte. Die Horizontverschmelzung ermöglicht es, über den bisherigen Horizont hinauszusehen und den Gesichtskreis des Gegenübers in den eigenen einzuverleiben und so den Horizont Schritt für Schritt zu vergrößern. Auch in dieser Hinsicht ist die Bibel wiederum Vorbild für gelungenes Verstehen. Sie ist selbst das Ergebnis ständiger Horizontverschmelzungen und -erweiterungen.
In den Horizont eines anderen Menschen einzutauchen und sich diesen anzueignen, nachzuerleben und nachzuvollziehen können, was eine andere Person bewegt, was sie erlebt, denkt und fühlt, ist eine bereichernde Erfahrung. Menschen, die diese Gabe besitzen, bei einer Begegnung sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen, hinterlassen Eindruck; sie wirken anziehend und faszinierend, wir erkennen in ihnen eine innere Größe und Weite. Solche Menschen haben einen weiten Horizont, weil sie in jeder noch so von Gegensätzlichkeit geprägten Begegnung ihren eigenen Horizont zu vergrößern wissen. Von ihnen fühlt man sich unweigerlich gut verstanden.
Eigentlich müsste jedem an solchen möglichst horizonterweiternden Begegnungen, ob mit Menschen oder Texten, gelegen sein. Doch wie schwer das fällt, wissen wir aus eigener Erfahrung. Wir sind eher auf Bestätigung für unsere Denkweisen aus als auf Horizonterweiterung, denn Letztere ist unbequem, sie fordert heraus, den eigenen Standpunkt zu verlassen und neue Perspektiven einzunehmen. Das Internet und soziale Medien bestärken in uns diese Tendenz – sie wirken als Echokammer der eigenen Meinungen und Vorlieben und wirken schon deshalb nicht als Korrektive, weil sie bestrebt sind, Trends zu verstärken und diese mit zielgenauer Werbung zu bedienen. Im realen Leben erlebe ich Gespräche mit Menschen konträrer Auffassungen, etwa Religions- und Kirchenkritikern, als sehr horizonterweiternd – solange es eine gemeinsame Basis des Verstehenwollens gibt. Ist diese nicht mehr vorhanden, tritt an die Stelle der Diskussion oft nur noch die Polemik. Auch in der Kirche ist der Trend zu beobachten, dass einem Gegenüber mit anderer Meinung mitunter die Vernunft abgesprochen oder seine Position als unerträglich oder anstößig gebrandmarkt wird.
In seiner Theorie der sogenannten Gewaltfreien Kommunikation entlarvt Marshall B. Rosenberg ein solches Vorgehen als Form von kommunikativer Gewalt. Wer sein Gegenüber, ob Texte oder Personen, wertend beurteilt, verlässt die Rolle des Kommunikationspartners. Statt auf Augenhöhe mit dem Gegenüber zu bleiben, setzt er sich auf den Richterstuhl und führt damit ein Machtgefälle ein. Beziehungs- und verständnisfördernd ist es dagegen, auf Beurteilungen und Wertungen zu verzichten. Rosenberg empfiehlt, bei Beobachtungen, Äußerungen von Gefühlen, von Wünschen und Bedürfnissen bzw. Bitten zu bleiben.