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Wann, wie und warum kam die Bioethik nach Deutschland? Wie konnte sie sich in der Turbulenzzone zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit so erfolgreich etablieren? In Biegsame Expertise schreibt Petra Gehring die spannende Geschichte einer Diskursformation, die binnen weniger Jahrzehnte in einer hochpolitischen Arena entstand. Denn Parlamente, Massenmedien und Protestbewegungen spielten hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie Medizin und Recht, Theologie und Philosophie sowie das Zauberwort »interdisziplinär«.
Auf Basis zahlreicher Zeitzeugengespräche und umfangreicher Hintergrundrecherchen schildert Gehring die Debatten etwa um Organtransplantation und Hirntoddefinition, um »Retortenbabys« und Präimplantationsdiagnostik, aber auch die Kämpfe darum, was überhaupt als ethische Expertise gelten soll. Sie zeichnet nach, wie sich die Vorstellung einer instrumentell »anzuwendenden« Ethik zu einem wirkmächtigen Leitbild verfestigt hat. Und sie reflektiert kritisch die Rolle einer Ethik, die zugleich Wissenschaft, Auftrittsformat und mächtige Einflussgröße ist. Biegsame Expertise bietet somit auch eine Theorie der Macht der angewandten Ethik, ist aber vor allem ein fesselndes Stück Zeitgeschichte öffentlicher Moralität.
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Seitenzahl: 2179
3Petra Gehring
Biegsame Expertise
Geschichte der Bioethik in Deutschland
Suhrkamp
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Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Nick Teplov
eISBN 978-3-518-78055-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
1. Zur Einleitung
Wie kam es zu diesem Buch?
Drei Gründe für das Interesse am Thema
Was ist an angewandter Ethik umstritten?
Zum Aufbau des Buches
Methodisches
Vorbemerkung zum Wortgebrauch
Dank
2. Themen, Probleme, Debatten
Diskussionsstoffe: abstrakt und konkret zugleich
Findet Ethik »ethische« Probleme einfach nur vor?
Medizinforschung und
NS
-Medizin: das erste Thema?
»
NS
« als Hintergrund
Öffentlichkeitswirksame Ereignisse (nicht nur) der Bonner und Berliner Republik
Ein Wimmelbild
Internationale und nationale Bühne, wiederkehrende und einmalige Themen
Die »Debatte« als deutsches Phänomen
3. Zum Beginn von Bioethik in der Anglosphäre und zur Frage des Anfangs für Deutschland
Narrative zur »Geburt«
Ein Begriff mit ökologischer Botschaft?
Die Institute
Biomedical Ethics
und das »Georgetown Mantra« als Exportprodukt und Weltbestseller
Beauchamp/Childress in der deutschen Rezeption
Zwischen Forschungskodex und Ethikinitiative: Der
Belmont Report
»Anfang« der Bioethik in Deutschland? Die untaugliche Geburtsmetapher
Verästelte Genese: Ein neuer Typ von Normativität im Gefüge der Disziplinen
4. Rechtswissenschaft
Ein Fach, auf dessen Gebiet Bioethik sich ausbreitet?
Nah am Nicht-allein-Recht: Die Benda-Kommission
Strafrechtler als Ethiker
Die Patientenverfügung
Der Alternativentwurf für ein Sterbehilfegesetz von 1986
Eine Welzel-Schule
Juristen und Ethikkommissionen
Der § 218 und der Embryonenschutz nach 1989
Divergente Fachzeitschriften
Debattieren nach Singer
Rechtspolitik der Transplantation
Europäische Bioethikkonvention,
ZEKO
und Nationaler Ethikrat: Recht im Nichtrecht?
Biopatente
Recht schaut auf Ethik
Verflechtungen
5. Die Kirchen und ihre Theologien
Wo man so etwas wie »Ethik« längst schon praktiziert
Gott ist ein Freund des Lebens
Ein sehr früher Anfang: Papst Pius
XII
. und das
coma depassé
Die Enzyklika
Humanae Vitae
Ein noch früherer Anfang: Thielicke
Umwelt- bzw. ökologische Ethik: Eine evangelische Domäne?
Das Problem der Gentechnologie
Katholische Arztethik im unklaren Raum: das »Erlanger Baby«
Mitwirkung in Kommissionen: Kirchenvertreter oder Theologen?
Ethikpolitische Thinktanks: Die päpstlichen Akademien und
Arzt und Christ
vs.
FEST
, Loccum und
TTN
Die europäische Bioethikkonvention, Singer und der Eisinger Fall
Wie forschungsfreundlich ist die
EKD
?
Die »christliche« Patientenverfügung
Andere Weltreligionen
Säkular argumentiert, kaum Unterschiede in der Sache?
Verflechtungen
6. Medizin
Weit jenseits von Hippokrates: ein hochkomplexes Gesundheitssystem
Ethik »in der« Medizin vs. medizinische Ethik
Arztethik, was war das?
Zur Transformation von
Arzt und Christ
Die wilden Jahre der Medizinkritik: Hackethal als
Dr. Death
Ärzteschaft gegen
DGHS
Die Geburt medizinischer Ethikkommissionen aus dem Geist der Arzneimittelprüfung
Der Gesundheitstag 1980 und die »Berliner Rebellen«
IVF
als Sache medizinischer Ethikkommissionen
Ist Medizingeschichte Ethik? Fächerkonkurrenzen rund um die
Biomedical Ethics
Hirntod aus Bayern, Transplantationsmedizin aus Niedersachsen
Ambivalenzen der humangenetischen Beratung
Die
ZEKO
Richtlinien zur Sterbebegleitung: die »Änderung des Behandlungszieles«
Die Ärzte und die Europäische Bioethikkonvention
Der Fall Eisingen als letzte Station der Auseinandersetzung um psychiatrische Anstalten
Rote Linien in der Fortpflanzungsmedizin: Embryonennutzung, Gen- und Keimbahntherapie, Klonierung
Nochmals Hirntod und Organtransfer: Die Studien von Shewmon
Das
TPG
und seine Skandale
Ethikausbildung im Zeitalter von »
GTE
«
Kosten und Priorisierung: ein kaum ethikfähiges Thema?
Verflechtungen
7. Gentechnologie
Innovation ohne Ethik
Chancen und Risiken der Gentechnologie
Mythos Asilomar
Das
BMFT
fördert: Genzentren in Heidelberg, Köln, München und Berlin
Lex Hoechst: vom Humaninsulin zum Gentechnikgesetz
Brandanschläge, Laborbrände
Kampf um Petunien: Gentechnik »rot«, »weiß« und »grün«
Winnacker und
TTN
Was besagt die Entschlüsselung des Genoms?
Verflechtungen
8. Philosophie
Ethik auf der langen epistemischen Linie
Aufruf zur Verantwortung: Hans Jonas (1979)
Ethik ohne Metaphysik
(Patzig) und die Rehabilitierung der praktischen Philosophie
»Konkrete Probleme der Gegenwart« (Höffe) sowie
Ethik der Wissenschaften
Ökologie als praktische Naturphilosophie: auch ein Weg zur Bioethik?
Ethiken des Lebens zwischen Schweitzer und Haeckel
Sonderfall Sass
Extended
und
Advanced Courses
in Washington: transatlantischer Ethiktransfer
Katholische Philosophen
Philosophie in der
AEM
?
Lieber Grundlagenforschung als Anwendung:
DFG
-Forschungsverbünde
Liberales zur Fortpflanzungsmedizin wie auch zur Sterbehilfe
Die Singerdebatte
Jonas kommentiert Singer und schreibt Wuermeling
Singer wird Schulstoff
Honnefelders Bioethikkonvention
Regeln für den Menschenpark?
Habermas zur »Gattungsethik«
Was tun Philosophen in Kommissionen, Räten, Ämtern? Und ist Bioethik eine philosophische Disziplin?
Sass entdeckt Jahr
Antworten auf Shewmons Hirntodkritik
Enhancement
und Todesabschaffung: Typische Philosophiethemen?
Verflechtungen
9. Sozialwissenschaft
Empirie trifft »weiche« Normativität
Ethikkommissionen im Fokus
Medizinsoziologie
Die Transformation der Technikfolgenforschung
Soziologische Forschungen zum Wandel des Todes
Ethik und Biopolitik: Gegenstände von Gesellschaftskritik
Angewandte Ethik als weitgehend soziologiefreie Zone
10. Fächerübergreifende Zentren
Ethik als Sache herausgehobener Einrichtungen mit interdisziplinärem Programm
Das Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik (
ZME
)
Erst Akademie, dann Sammlungsbewegung: die
AEM
Mission Interdisziplinarität: das
IZEW
Vom
NRW
-Netzwerk zum
IWE
Kirchenfinanzierte Einrichtungen:
TTN
und fiph
Das
DRZE
kommt nach Bonn
Weitere Institutsgründungen
Gescheiterte Zentren
Zur Bedeutung der Institute und Zentren für die Stabilisierung der Bioethik als Form
11. Bioethik als interdisziplinäre Disziplin?
»Interdisziplinär« als selbstgewähltes Attribut
Ein (doch auch) umstrittener Begriff
Nirgendwo von null angefangen: Wem gehört das Interdisziplinäre?
Interdisziplinarität als subjektives Bekenntnis
Interdisziplinarität als Wunsch der Politik
Skepsis, auch angesichts interdisziplinärer Realitäten
Selbstreflexion als Anwendung von Ethik auf sich selbst: »Selbstaufklärung« der Disziplin, »Ethikfolgenethik« und »Ethik der Ethik«
Fixieren oder bewegen? Ethik in Gesellschaft und Politik
12. Politikerpolitik
Politisches System, Politikfelder, Ethikpolitik
Der Wille zum Gremium 1984 gleich zweifach: Benda-Kommission und Gentechnik-Enquete
Ethik in den Parteien
Vorteil für »Grün«?
Wer warum Kommissionen installiert: Ethik aus Bundesländern
Internationale Vorbilder für ambitionierte Parteipolitiker
Gab es Ethikbedarf in der
DDR
?
Parteiübergreifende Arbeitsgruppen, unorthodoxe Allianzen für das Leben: Embryonenschutz versus »Tötung«, Selektion oder biotechnischer Zugriff?
Dauerdebatten, Lockerungsübungen, sich anpassende Regulierungen: Nachteil für »Grün«
Ethik selbst wird zum Politikum: Protest gegen die Bioethikkonvention des Europarates und eine
UNESCO
-Deklaration
Normalisierung der Organspende und Transplantationsgesetz
Die kurze Ära Andrea Fischer
Enquete »Recht und Ethik«, gefolgt von »Ethik und Recht«
Schröder als Ethikpolitiker: Stammzellforschung und Nationaler Ethikrat
Kaum Bioethik bei der
FDP
und bei
PDS
/Die Linke
Warnen vor dem Rubikon
Das falsche Symbol? Keine Berufung ans Bundesverfassungsgericht für Dreier
Wer sagt, wer in welches Gremium kommt
Bürgerdialoge, Partizipationsexperimente: Kommunikation oder Politik?
Leopoldina: Ethik im Überfluss
Politik will Ethik
13. Bioethikkritik
Ethik
als
Ethik kritisieren
Gegen »Ethikmonopole«: Die erste Ausgabe des
gen-ethischen Informationsdienstes (
GID
)
Frühe Dissidenten: Erwin Chargaff, Jacques Testart
Linksökologische Vorbehalte
Illich und die Medizin
Kritische Kirchenbasis
Die Singerdebatte als Brennglas
Bündnisse gegen die Bioethikkonvention
Von links gegen die liberale Sterbehilfe? Und gegen die Organindustrie?
Gen-Food und Biopatente: Rechtsmittel statt Ethikkritik
Wissenschaftler gegen »Antibioethik«
Kritikerinnen und Kritiker gehen in Ethikgremien
14. Feministische Argumente
Biopolitik und Geschlechterkampf
Der Kongress »Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik« 1985
Frauenstimmen in der Kirche
Rote Zora und der zweite Kongress
Akademische Wahrnehmungsbarrieren
Abtreibung auf dem Land: Memmingen
Die Sterbende von Erlangen
Der § 218 als gesamtdeutsches Recht
Wie feministisch kann Embryonenschutz sein? Und wo stehen die Grünen?
Spaltungsthemen Pränataldiagnostik,
PID
& Co.: Eugenik vs. reproduktive Freiheit
»
Care
-Ethik« als feministischer Ansatz?
Leihmutterschaft
15. Medienöffentlichkeit
Die große Frage nach »den« Medien
Bioethik klassisch publizieren: Fachzeitschriften?
»Ethische Fragen« als öffentlicher Belang
Fluch und Segen aus einer Hand: Berichterstattung als Regie
Sterbehilfe geht immer: Hackethal, Spittler, Minelli, de Ridder
Vom Fachblatt ins Feuilleton
Ethicotainment
Das besondere Interview
Dominieren »Kirchenpositionen«?
Brüstle ohne und mit Patent
Das Klonen, der klonierte Mensch und die Raëlianer
Vordenker, etwa Habermas
Schirrmachers entziffertes Genom
Finetti interviewt Winnacker
Was lehrt der Fall Dreier?
Gefragt werden, Botschaften senden, Ko-Produktion von Relevanz
16. Benennungen
Zurück zum Anfang: das Definitionsproblem
Zuviel einer Begriffsgeschichte, die letztlich gar keine ist
Pseudo-Etymologien
Einprägsamkeit
Das Wort in kritischer Absicht vermeiden
Späte Attraktivität des »Importbegriffs«
Was nicht (mehr) als Bioethik gilt
Jenseits der Anwendungsmetapher: Ethik zwischen Diskurs und Technologie
17. Keine schlichte Geschichte
Vermutetes und Bestätigtes
Anfänge in Deutschland: nicht nur verzweigt, sondern in den Orientierungen different und widerstreitend
Einige Thesen: Zum Gewicht des Rechts, wie viel Medizin, wie viel »Bio«? Macht der Kirchen, Philosophie im Zwiespalt, Rolle der Politik
Vorbild
USA
?
Als wie wissenschaftlich die Bioethik einzuschätzen ist
Virulenz des
NS
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Über die Rolle der Politik
18. Zur Bioethik als Form und zur Macht dieser Form
Was »ist« angewandte Ethik?
Motive hinter Mythen
Nachdenken über die Funktion(en), die Bioethik erfüllt
Reaktion auf Technik
Postkonventionelle Moral?
Prozeduralisierung
Verwissenschaftlichung politischer Prozesse?
Bloße Problemlösung,
Social Engineering
, alles ist politisch
Schaffung künftiger Produktwelten
Zivilreligion?
Was Ethiker an Bioethik fasziniert
Ethik definiert Nichtethik
Ethik als gouvernementale Erfindung und bestimmungsoffenes Experimentierfeld
Opium oder Tummelplatz?
19. Epilog
Bildnachweise
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Begriffs- und Sachregister
Namenregister
Fußnoten
Informationen zum Buch
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Wie kam es zu diesem Buch? – Drei Gründe für das Interesse am Thema – Was ist an angewandter Ethik umstritten? – Zum Aufbau des Buches – Methodisches – Vorbemerkung zum Wortgebrauch – Dank
Ethik – das klingt nach etwas Gutem und Wichtigem wie auch nach Stoff für die akademische Philosophie. Niemanden wird es also überraschen, dass eine Philosophin sich mit der Entstehung und Etablierung von Bioethik in Deutschland befasst. Allerdings ist dies hier kein selbst »ethisches«, sondern ein beobachtendes Buch. Ich sehe es als ein Stück Bioethik-Forschung, also nicht bioethische Forschung, sondern eine Forschung über Bioethik. Wann und wie – so soll gefragt werden – kam die Bioethik, die in den USA entstanden ist, nach Deutschland? Auf welchen Wegen und mit welchen Themen hat sie sich hier etabliert? Welche Konfliktgeschichten bilden sich in ihr ab? Und was ist Bioethik überhaupt, was leistet Bioethik-Expertise, wofür wird sie gebraucht?
Nach einigen Aufsätzen zum Thema wollte ich dieser Problemstellung schon lange einmal wirklich gründlich und materialnah nachgehen. Im Jahr 2012 traf ich dann auf den Soziologen Günter Feuerstein; es stellte sich heraus, dass er einem ähnlichen Gedanken nachhing, und wir taten uns mit dem Ziel zusammen, Zeitzeuginnen und -zeugen nach der Entstehungsphase der deutschsprachigen Bioethik zu befragen, Personen also, die aktiv beteiligt waren. Zwar lassen sich bioethische Positionen nachlesen. Aber wir wollten verstehen, wie Bioethik »verfertigt« wird, was neben ihrem wissenschaftlichen Profil ihre auch durchaus handfesten informellen Rollen sind: für die Gremienarbeit, für die Politik, für die Presse und in der Bildung. So haben Feuerstein und ich sowie zuletzt auch statt seiner der Soziologe Ludger Fittkau im Lauf von zehn Jahren fast neunzig Gesprä8che mit Bioethik-Beteiligten geführt, als Vorbereitung für ein Buchprojekt, dessen Realisierung sie dann aber mir überlassen haben. Das recherchierte Zeitfenster – nämlich 1970-2010 – bildete dabei das hauptsächliche Suchfeld für mögliche Entstehungsprozesse, an denen uns gerade auch ihre Diversität interessiert hat. Entsprechend gingen die Gespräche sowohl über Fachwissenschaftliches hinaus als auch immer einmal weiter zurück. Auf dieser Grundlage konnte ein Buch entstehen, das einerseits angetrieben ist durch eine abstrakte Leitfrage, die über eine bloße Entstehungsgeschichte weit hinausgeht: Was ist Bioethik eigentlich? Was macht sie aus, was macht sie attraktiv, was gibt ihr – als »angewandte Ethik«, die sie sein will – Erfolg und Macht? Andererseits will das Buch aber auch ganz konkret bleiben. Insofern beruht es auf sehr viel Lektüre, den schon erwähnten Gesprächen und auch eigenen Erfahrungen. Jede und jeder von uns hat zu Themen der Bioethik Bezüge, sie sind heute Teil unseres Alltags – was nicht immer in diesem Maße so war. In einige bioethisch genannte Kontroversen habe ich mich früher auch selbst eingemischt, zumeist mit Skepsis gegenüber typisch bioethischen Argumentationsweisen. Für die Zwecke dieses Buches habe ich diese Skepsis in einen Abstand zu übersetzen versucht, der die Freiheit bietet, kritisch zu sein, zugleich aber dem Gegenstand gegenüber fair bleiben will.
Während ich das Buch schrieb, wurde ich oft gefragt und habe immer wieder versucht zu erklären, wie ich das denn methodisch machen will. Ethikgeschichte – was wäre das überhaupt? Denn ich arbeite zwar zur Entstehung der Bioethik in Deutschland, bin jedoch keine Historikerin, und ich wähle auch weder eine genuin soziologische noch eine politikwissenschaftliche Perspektive. Die Antwort lautet: Der Gegenstand, den die Worte »Ethik« oder auch »ethisch« meinen – Ethik-Diskurse, Ethik-Expertise und auch Ethik-Präsenz in der Politik –, sprengt ohnehin den Rahmen der genannten Fächer. Zwar lassen sich ereignis- oder personengeschichtlich wie auch wissenschafts-, gremien-, professions- oder mediensoziologisch wie auch mit Blick auf politische Argumente und Aushandlungsprozesse Mosaiksteine größerer Muster zusammentragen. Es werden aber ebenso klassische Texthermeneutik, Diskursanalyse, Begriffsgeschichte ge9braucht, und einiges an kanonischen philosophischen Stoffen gehört unmittelbar zum Gegenstandsbereich. Auch die rhetorische Seite, die Kraft der bioethischen Hinsichten auf Biotechnologien, Biomedizin und »Leben«, ist für das Phänomen zentral. Für eine umfassendere Sicht auf Bioethik als Form von Ethik bedarf es daher eines maßgeschneiderten wie zugleich gemischten Zugangs. Einen solchen wähle ich – einräumend, dass die gewählte Darstellung eine experimentelle ist. Sie löst das Phänomen in den ersten beiden Teilen dieses Buches in eine Art Facettenblick auf.
Bioethik ist in alltagsprägender Weise politisch. Das ist ein erster Grund dafür, sie als Gegenstand interessant zu finden und auch zu fragen, seit wann und warum es sie gibt. Wir bewerten Forschung danach, ob sie ethisch verantwortet werden kann, am Krankenbett werden ethische Entscheidungen getroffen, Krankenkassen mahnen uns, an Screenings teilzunehmen und Vorsorgevollmachten auszufüllen, Ethikdebatten füllen Feuilletons und das Internet, ja sogar in TV-Talkshows sind ethische Dilemmata Stoff für Pro-und-Kontra-Diskussionen. Aber auch privat verwenden wir manchmal Fachbegriffe wie »informierte Zustimmung«, »Reproduktionsmedizin«, »lebenswert« oder »selbstbestimmtes Sterben«. Auf diese Weise ist Bioethik in unserem Denken und in unserer Sprache präsent. Und dies beginnt früh. Wie biotechnische Dienstleistungen sind auch bioethische Argumentationsweisen Teil unserer Kultur. Ganz selbstverständlich lernen Kinder heute neben Mathematik und Deutsch auch bioethische Fallbeispiele in der Schule, denn Organtransplantation, Sterbehilfe und mehr gehören in Deutschland zum Unterrichtsstoff. Bioethik entfaltet Gestaltungsmacht dabei nicht nur in Form charakteristischer Inhalte, sondern auch als ein Mechanismus, der die Themen transportiert, auf eine Art von Entscheidungs- und Problemlösungsbedarf zuschneidet und dann auch zur Entscheidung bringt.
Bioethisches Reden und bioethische Regeln formen dabei Biome10dizin und Biotechniken ganz wesentlich mit, während diese unsere Welt immer weiter durchdringen. Vom Embryonenschutz bis zum assistierten Suizid, von der Organspende bis zur Stammzellforschung, zur Klonierung und zur Keimbahntherapie liegt Bioethik auch der Gesetzgebung zugrunde. Das war nicht immer so. Der weitreichende Erfolg der Bioethics, mit eindrucksvollen Institutionalisierungen und Professionalisierungsprozessen – Beratungs-Institute, Berufsbilder, neue Forschungszweige, parlamentarische Anhörungen – hat einen renommierten US-amerikanischen Theologen von einer »amerikanischen Wachstumsindustrie« sprechen lassen (Gustafson 1990: 126; Gustafson 1998). Auch für Deutschland ist immer wieder von einem »Ethik-Boom« oder »Bioethik-Boom« die Rede.[1] Hier stelle ich die Frage: Wie kam es zu diesem Boom und wie wird die Bioethik als Art, über Moral nachzudenken und Moralisches gesellschaftlich zu verhandeln, wirksam? Was macht sie als uns allen inzwischen selbstverständlicher Weg zu expertensprachlich aufbereiteten »Lösungen« attraktiv? Etwas anders gewendet: Was charakterisiert bioethische Expertise und worin liegen die Gründe ihrer Wirkmacht?
Zweitens ist Bioethik eine Neuerung, und das Neue an ihr besser zu verstehen, ist ebenfalls interessant. Man kann sagen: Mit der Bioethik als »angewandter« Ethik wurde ein neues, öffentlich wirksames Austauschformat geschaffen. Diese neuartige Ethik will konkret sein und sucht auch mit Laien und Betroffenen den Austausch über wertbehaftete Problemstellungen. Sie hält sich zugute, »nach unmittelbarer praktischer Relevanz« (Bayertz 1999: 87) zu streben. Als meinungsbildendes Sprachspiel schreibt angewandte Ethik dabei ihrerseits Meinungen nicht vor. Sie entfaltet aber deutlich gezielter Wirkung und wirbt mehr für das Entscheiden, als die klassische, akademische 11Ethik dies tut – auch mit Blick aufs politisch (oder im Alltag) Machbare. Dies tut sie, indem sie gewissermaßen als Brille funktioniert, die auf mögliche Meinungen eingestellt ist – und darauf, wie man mit möglichen Wertungen nah an Beispielsfällen möglichst produktiv umgeht. Mittels des Ordnens und Bewertens von Möglichkeiten, dazu mit einem flexiblen, zumeist fallorientierten und insgesamt wenig theoretischen Profil, machte Bioethik auch nicht etwa unter dem Dach eines bestimmten Universitätsfachs Karriere. Sie versteht sich vielmehr als auf neuartige Weise »interdisziplinär«. Erfolgreich bezieht sie außerdem Akteure jenseits der Wissenschaft mit ein. So haben Medienleute, Politiker, Firmen, PR-Agenturen, Kirchen sowie »Betroffene«, etwa Patientengruppen und auch Bürgerbewegungen, aktiv an der Ausgestaltung des bioethischen Feldes mitgewirkt. Soll man von einer wissenschaftsübergreifenden Sogwirkung, einem »hybriden« Diskurs oder von einer Entgrenzung der Wissenschaft sprechen, die weit in die Gesellschaft hineinreicht? Jedenfalls lohnt es sich, diese wissensgeschichtliche, wissenssoziologische und normenpolitische Neuerung zu studieren, beginnend mit der Frage, wann und wie sie sich für Deutschland herausformt. Zu klären ist zuallererst, was sich wie eigentlich zutrug, als sich Ethikthemen formten, um dabei dann aber auch – disziplinenscharf – nach Akteuren, Foren, Begriffen, Mechanismen und spezifischen Leistungen dieser Neuerung zu fragen. Bioethik wird, mit anderen Worten, zu einer Art »Fall« für die Zeitgeschichte, für die Wissenschafts-, Medizin- und Technikforschung, aber auch für eine Soziologie und eine Philosophie, die sich auf die Spur spezifischer normativer Ansprüche setzen, die Bioethik als »angewandte« Ethik stellt. Zentrale Probleme lauten: Welche Fächer waren eigentlich beteiligt? Woher kam und worauf richtete sich der Ethikbedarf? Welche Themenkonjunkturen gab es? Welche Verfahrensweisen wurden im Zeichen von Bioethik wann und wie geschaffen, wie kam es zu deren öffentlicher wie auch institutioneller Akzeptanz? Und wie steht es um Begriffe und Argumentationsformen? Was zeichnet bioethische Redeweisen aus? Wie beziehen sie kanonische Texte mit ein? Folgen bioethische Debatten einer Ratio, einem Denkstil? Schließlich: Lässt sich an den Institutionalisierungsformen von Bioethik auch ablesen, welche gesellschafts- oder machtpolitischen 12Rollen die angewandte Ethik übernimmt und also welche Funktionen sie hat?[2]
In Diskursen über ethisches Entscheiden werden Ängste und Erwartungen produziert und verarbeitet, Selbstverhältnisse und Nahbeziehungen gestaltet, Körpernormalitäten definiert sowie Zukünfte entworfen, auf die wir uns im Medium von Lebensstilen einlassen – mehr oder weniger willig. Der übergreifende Erfolg der Bioethik, die Tatsache, dass Ethik offenkundig gebraucht wird, Erwartungen befriedigt und auf den verschiedensten Foren für etwas gut ist, wirft folglich erneut auf Machtverhältnisse ein Licht. Ich denke, dass Bioethik so rasch derart mächtig wurde, hat mit ihrer auf neuartige Weise indirekten Form zu tun, die Verhältnisse zu regulieren: Macht wird hier nicht ausgeübt, indem man auf gegebene Realitäten steuernd einwirkt, sondern indem man deren Wirklichkeitswerte verändert, das Maß also abschwächt, in dem man sie überhaupt für Realitäten hält.
Ein dritter Grund für die nachfolgenden Untersuchungen ist, dass man über die Entstehung und die Spezifika der deutschsprachigen Bioethik-Entwicklungen (Gehring 2012a) erst sehr wenig weiß. Übergreifende Studien zum Thema sind selten – auch wohl, weil der schwer fassbare Gegenstand, wie oben beschrieben, schlecht in die Raster disziplinärer Methoden passt. Vielleicht lässt sich die Forschungslücke zudem dadurch erklären, dass der Gegenstand irgendwie selbstverständlich wirkt, leicht diffus und vielleicht auch harmlos. »Harte« Wissenschaft ist Ethik – Bioethik – jedenfalls nicht, weswegen beispielsweise die Wissenschaftsforschung an ihr vorbeischaut. Auch eine Soziologie der Ethik (die es anderswo gibt) hat im deutsch13sprachigen Raum lange auf sich warten lassen. Pilothafte Arbeiten einer »Soziologie bioethischer Expertise« (Bogner 2011: 9) haben erst wenige weitere Forschungen nach sich gezogen. Auch die Medizingeschichte scheint sich dem Thema zwar zu nähern, setzt den Fokus aber auf die Medizin.
Vergleichsweise mehr rückblickendes Wissen existiert für die USA und Großbritannien, wo Bioethics oder Biomedical Ethics früher entstanden sind als das, was in Deutschland »Bioethik« genannt wird (auf Unterschiede nicht nur des Namens wird einzugehen sein). In den 1990er Jahren setzten in den USA erste zeitgeschichtliche Rückfragen ein, auch in Form von Berichten Beteiligter (Jonsen 1998; Jonsen 1999; Walter/Klein 2003; Callahan 2012).[3] Dabei wurden die Applied Ethics als auch institutionelle, nämlich an eigens dafür gegründeten akademischen Instituten initiierte Neuerungen in den Blick genommen, und neuere, teils auch empirische Forschungen (Callahan/Champbell 1990; Rothman 1991; DeVries/Subedi 1998; Stevens 2000; Little 2002; Evans 2012) einschließlich einer Debatte über »Mythen« rund um die Entstehung der US-amerikanischen Bioethics[4] können sich daran reiben. Für die USA ist die Formierungsphase von Bioethics bisher sicher nicht erschöpfend beschrieben (von den Effekten, die sie anderswo gezeitigt hat, ganz zu schweigen). Ziel des vorliegenden Buches ist es jedoch nicht, die Geschichte dieser in den USA entstandenen Bioethics um eine Art »deutsches Kapitel« zu ergänzen. Für die Bioethik in Deutschland hat die US-Entwicklung lediglich den Stellenwert einer wichtigen Rahmenbedingung unter vielen.
Die Entstehungsphase der Bioethik in Deutschland beginnt, schon das ist wichtig, deutlich später als in den USA. Ebenso sind das Recht, das Wissenschafts-, Bildungs- und Medizinsystem sowie die Konfi14guration der Massenmedien in den USA und Deutschland sehr verschieden, und auch angesichts anderer Empfindungslagen in Öffentlichkeit und Alltagsmoral werden selbst globale Ereignisse, welche die Ethik bewegen, unterschiedlich diskutiert. Viele der in Deutschland heftig und folgenreich diskutierten Fallgeschichten sind zudem lediglich »hier« passiert und also »deutsche« Geschichten mit ihrer ganz eigenen Plausibilität und Konsequenz. Von der (bekannteren) US-amerikanischen Entwicklung oder auch der britischen (Wilson 2014) auszugehen und für Deutschland eine »Ähnlichkeit« der Dinge zu unterstellen, wäre damit falsch, die Annahme einer Parallelität der Entwicklungen ein methodischer Fehler. Es stimmt nicht, dass sich in der deutschen Bioethik die Muster einer anderswo, zwei Jahrzehnte früher und unter anderen Bedingungen begonnenen Ethikentwicklung einfach wiederholen. Ethikgeschichte ist Kulturgeschichte und damit eine Geschichte tiefsitzender Unterschiede, würde ich sogar sagen. Gleichwohl informiert das Kapitel 3 [Beginn] über die Frühphase der angelsächsischen Bioethics, denn natürlich ist es interessant, wo von Seiten der deutschen bzw. deutschsprachigen Bioethik hierauf Bezug genommen wird, wie man die schon existierenden Paradigmen zitiert und wie Reaktionsmuster aussehen. Die Frage lautet also nicht, wie sich das Vorbild der Bioethics hierzulande ausprägt, sondern, inwiefern es das tut. An was hat man sich in Sachen »Bioethik« hierzulande (und hat man sich überhaupt international) orientiert? Ahmt man nach oder grenzt man sich ab? Und handelt es sich hier wie dort, wenn man »Ethik« sagt, überhaupt um das gleiche Gebilde, diskursiv, praktisch und sozial?
Bioethik durchzieht unseren Alltag, aber sie ist erst wenige Jahrzehnte alt, also etwas Neues, und über ihre Entstehung wissen wir wenig. Einleitend will ich ganz kurz skizzieren, was Bioethik so besonders macht – als Ethik, also jenseits ihrer Themen. Warum streitet man nicht nur über diese oder jene bioethische These, sondern über Bioethik als Gesamtphänomen? Einen Anhaltspunkt bietet die Selbst15bezeichnung als angewandte Ethik, wobei auch von »Bereichsethik« die Rede ist. In »Bereichen«, gern mit Bindestrich verbunden, würde man demgemäß die entsprechende Ethik ausüben oder ausführen.
Die Bioethik, heißt es in einem bilanzierenden Aufsatz eines Philosophen, sei »die institutionell avancierteste Subdisziplin der angewandten Ethik« (Bayertz 1999: 76), und er erläutert:
Im Verlauf einer bemerkenswert kurzen Zeit hat sich angewandte Ethik als Sub-Disziplin der Moralphilosophie in der akademischen Lehre und Forschung etabliert; die Zahl und die Vielfalt der einschlägigen Publikationen expandiert ebenso rasch wie die der Zeitschriften und Kongresse. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß die angewandte Ethik (a) immer stärker in die Ausbildungsgänge verschiedener Professionen integriert und (b) auf verschiedenen Ebenen praktischer Entscheidungsfindung – sei es in Ethikkommissionen oder in der Politikberatung – zunehmend in Anspruch genommen wird. Damit ist sie über die Grenzen der akademischen Moralphilosophie hinaus und in eine öffentliche Rolle hineingewachsen. Angewandte Ethik hat Folgen nicht mehr nur in Gestalt von Büchern und Aufsätzen, sondern auch von praktischen Entscheidungen und damit von Handlungen […]. (Bayertz 1999: 73)
Éthos und ethikè sind freilich altgriechische Wörter. Zu Recht denkt man, wo man sie liest, an das Fach Philosophie. Hier meint »Ethik« tatsächlich zunächst die Lehre von der persönlichen Haltung: eine Anleitung zur Tugend, durch die man sich von den anderen abhebt und mittels derer man sich um sein eigenes Lebensglück zu kümmern lernt. Später verwandelt sich Ethik dann mehrfach. Im katholisch-christlichen Kontext wandert sie unter den Schirm der Moraltheologie, in der evangelischen Theologie spielt sie eher eine randständige Rolle. Konfessionell dreht sich Ethik um Sündenvermeidung wie überhaupt um Verbote sowie ein moralisch »gutes«, glaubensbasiertes Verhalten im Alltag. Säkulare Ethiken gehen seit der Neuzeit auf Abstand zu allem bevormundenden Ratgebertum und zum Vorschriftenmachen. Sie setzen auf wissenschaftliche Analysen und denken über Moralbegründungen, über schlüssige Handlungsmaximen und die logischen Besonderheiten von Sollenssätzen nach. Spätestens seit Kant ist Ethik so gerade nicht selbst moralisch, sondern versteht sich als distanziertes Nachdenken über Moral. Ein solche ist nicht völlig 16neutral – was wäre schon völlig neutral? –, aber gibt nicht selbst von wissenschaftlicher Warte aus moralischen Rat.
Diese abstufende Sichtweise, der zufolge Ethik über Moral nachdenkt, aber selbst keine moralischen Sollvorschriften postuliert sowie nicht direkt, sondern allenfalls in gebrochener Form (etwa als politisch generalisierende »Kritik«) selbst wertet, schlägt sich auch im modernen sozialwissenschaftlichen Denken nieder. Und selbst »kritische« Wissenschaft, etwa Demokratietheorien, die engagiert zu politischen Verhältnissen Stellung nehmen, unterscheiden moralische »Werte« und überhaupt normative Wertungen von derjenigen Forschung, die primär beschreibend auf die Herkunft, die behauptete »Natur« von Werten oder auch auf eine angeblich zwingende Normenbegründung schaut. Letztere hält sich mit Wertungen, schon weil sie als Wissenschaft auftritt, zurück.
Ethik als praktizierbare oder eben »angewandte« Ethik, als Applied Ethics, anzulegen, sorgt demgegenüber für einen zügigen Rückweg aus der Wissenschaft heraus und hin zur Moral. Angewandte Ethik schafft Maßstäbe. Sie löst moralisch schwierige Einzelfälle – oder will diese jedenfalls lösen. »Praxisrelevanz« jeglicher Forschung: dies ist eine pragmatistische Maxime,[5] aber auch aus dem Ingenieursbereich ist uns das vertraut. Ähnlich hätte nun die Reflexion auf Moral praxisrelevant zu sein (eine Erwartung, die in marxistisch motivierten Reformdiskursen, denen zufolge aus Theorie Praxis werden muss, gewisse Parallelen findet). »Anwendung« kann so Weltnähe meinen, Brauchbarkeit, fallnahe Hilfe und konkreten Effekt.
Will (und soll) Ethik dies leisten, verliert sie freilich die methodisch gesicherte Distanz. Sie mutiert selbst zur Wertung, zur Handlungsnorm oder nimmt moralische »Standpunkte« ein. Vorsichtiger ausgedrückt: Ethik und Moral gleiten nun in einer Weise ineinander, die man eher aus dem Feld zum Beispiel religiöser oder auch alltäglicher Weltanschauungen kennt. Beispielsweise greift man auf die Idee des Common Sense oder überhaupt auf »Überzeugungen« (beliefs) als 17Moralgrund zurück oder man »evaluiert« mögliche Moralen mit dem Ziel, verbindliche (Handlungs-)Empfehlungen daraus abzuleiten. Auch die Tradition berufsmoralischer Selbstverpflichtungen kommt einem solchen – nicht mehr philosophisch-reflexiven, sondern schlicht an praktischen »Leitplanken« interessierten – Ethikverständnis entgegen. Man denke an den hippokratischen Eid der Ärzte, der zwar Ethik symbolisiert, aber eben, wie man weiß, neben dem Patientenschutz auch dem Schutz des Berufsstandes dient (Wiesing 2012: 38ff.). Oder man denke an die Ethik-Kodizes, welche große Ingenieursverbände bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt haben: Hier geht es um Haftungsausschluss, es handelt sich um berufspraktische Dokumente.
Ich halte einleitend also fest: Ethik ist nicht gleich Ethik, Ethik ist auch nicht gleich Philosophie – und mit der Forderung nach Anwendung von Ethik entsteht möglicherweise ein hölzernes Eisen. Wobei dann der Gedanke für Streit sorgt, anstelle eines nur theoretischen Geschäfts ergreife die Ethik nun Partei in der Anwendung, trete womöglich selbst »moralisch« auf und setze – als Wissenschaft bloß getarnte – im Grunde in politische Debatten hineingehörende Wertmaßstäbe unter dem Titelwort »Ethik« durch. Experten für angewandte Ethik übten in dieser anwendungskritischen Sichtweise eine ganz besondere Art von Macht aus: irgendwie wissenschaftlich, irgendwie aus der Expertenwarte heraus, irgendwie aber auch nicht.
Lehrbücher angewandter Ethik betonen allerdings, dass Bioethik »die ethischen Probleme in Zusammenhang mit der Anwendung biologischen Wissens auf menschliche Angelegenheiten« beträfe (Pellegrino 1988: 2), dass sie keine »Sonderethik« sei, »mit eigenen Regeln oder Prinzipien, sondern der Versuch, generelle moralische Prinzipien in einem besonderen Bereich anzuwenden und zur Geltung zu bringen. Ihr Thema ist die begründete Stellungnahme zu und moralische Bewertung von Eingriffen aller Art in menschliches, tierisches wie pflanzliches Leben.« (Ach/Gaidt 1993: 11)[6] Einschlägige Defini18tionen halten auch fest, das Wort »Bioethik« bezeichne »die Reflexion über moralische Probleme und die Suche nach begründeten Urteilen und Handlungsrichtlinien in der Biomedizin und der Biotechnologie« (Schramme 2002: 8). Wendungen wie »zur Geltung bringen« oder »Suche […] nach […] Handlungsrichtlinien« (ebd.) geben dem Postulat von Anwendbarkeit also den freundlichen Anstrich, dass man hier letztlich für uns alle denkt.
Umstritten ist dieser technokratische, vermeintlich lockere Lösungscharakter des bloßen »Anwendens« einerseits dort, wo man darauf beharrt: Angewandte Ethik ist eigentlich nicht »Ethik«, sondern in näher zu klärender Weise normativ sowie bei Bedarf auch normsetzend, denn sie arbeitet nicht zuletzt dem Richterrecht und der Gesetzgebung zu. Andererseits sorgt angewandte Ethik in konkreten Konfliktfeldern für Streit, denn dort stellt man ihre Legitimität in Frage: Angewandte Ethiken als verkappte Moralen zu kritisieren ist die Stoßrichtung ethikkritischer Literatur aus Domänen, in denen die Ethik auftritt, etwa derjenigen der Sozialen Arbeit (vgl. Großmaß/Anhorn 2013). Ethik-Expertise »anwenden« zu wollen, erhält in den Praxisfeldern, auf die sie sich richtet, einen instrumentellen Sinn. Sie soll – wenn auch auf milde oder zumindest milde wirkende Weise – normengeleitet steuern.
Um was für einen Typ von Normativität handelt es sich nun? Diese Frage ist eine ethiktheoretisch abstrakte Variante der oben schon gestellten Leitfragen. Sie zu beantworten, führt mitten hinein ins Buch. Für den Moment belasse ich es bei dem Hinweis, dass die Bioethik – dass angewandte Ethik überhaupt – Trennlinien unterminiert, an die wir in vielen Fachtraditionen und auch in Politik und Öffentlichkeit eigentlich einmal gewöhnt gewesen sind. Wobei wir eben auch das inzwischen kennen: Als Vertreterinnen und Vertreter einer bestimmten Expertise dürfen und wollen »Ethiker« Lösungen für Probleme vorschlagen. Es gibt Inhaber einschlägiger Universitätsprofessuren, auf »ethische« Politikberatung wollen Politiker nicht verzichten, und auch die Zusammenarbeit mit öffentlichen Medien und Bildungseinrichtungen aller Art, die Popularisierung auch und vor allem von Formen des Argumentierens, gehört zum Profil »ethischer« Expertise hinzu.
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Grundfragen, welche diese Untersuchung motivieren, sind damit umrissen. Wie sich »Bioethik« als Diskurs und als gesellschaftliche Größe herausformt, wie sie sich als eigenständige Expertise, als Feld oder auch Fach etabliert hat – und was sie gar unentbehrlich hat werden lassen: auf dem Weg zu Antworten darauf nimmt das Buch mehrere Anläufe. Die zwei Einstiegskapitel (zu »Themen« und »Beginn«) umreißen den Gegenstand und grenzen ihn ein. Die acht Kapitel des ersten Teils (»Verästelte Genese«) zeichnen jeweils – in sich chronologisch – die Etablierung der Bioethik in durch eine bestimmte wissenschaftliche Expertise geprägten Feldern nach: Bei »Recht«, »Kirchen/Theologien«, »Medizin«, »Gentechnologie«, »Philosophie« und »Sozialwissenschaft« handelt es sich im weitesten Sinne um Disziplinen; daran anschließend geht es um für die Bioethik wichtige multidisziplinäre »Zentren« sowie um »Interdisziplinarität«.
In seinem zweiten Teil (»Fixieren oder bewegen?«) behandelt das Buch – auch wieder jeweils chronologisch – wichtige Entstehungs- und Spielorte der Bioethik außerhalb der Wissenschaft. Dies sind die »Politik« im engen Wortsinn eines Tuns von Politikern und politischen Administrationen, das Feld außerparlamentarischer und autonomer »Bioethikkritik«, die hierzu sicher auch zählenden, aber separat behandelten »Feministischen Argumente« sowie die öffentlichen »Medien«. Im Zuge der bis in die Gesetzgebung hineinreichenden Kontroversen kommt den Medien für die Ausgestaltung der »Bioethik« eine Schlüsselstellung zu. Ein diskursanalytisches Kapitel zu »Benennungen« bildet den Übergang zum dritten, bilanzierenden Teil des Buches (»Jenseits der Anwendungsmetapher«). Ein Kapitel resümiert hier Zeitgeschichtliches, bevor es dann abschließend und auch theoretisch grundsätzlicher – anhand des deutschen Beispiels – um die Frage nach der »Form« namens Bioethik geht. Mit einem Epilog zum heutigen, normalwissenschaftlichen Zustand und zur Zukunft der Bio- und angewandten Ethik schließt das Buch. Neben dem Literaturverzeichnis finden sich im Apparat Anhänge und Register.
Profitiert hat die Darstellung der Besonderheiten der Bioethik als 20Form von viel Literatur, darunter Anregungen, die Bioethiker aus der Beteiligtenperspektive heraus formuliert haben, um dennoch eine Außensicht auf ethisches Arbeiten zu gewinnen (vgl. Mieth 1997; Martinsen 1997; Birnbacher 1999; Ach/Runtenberg 2002; Schlaudraff 2006; Siep 2013; Martinsen 2016). Besonders wichtig sind Arbeiten von Bogner, Düwell/Neumann, Nassehi, Saake und Wehling gewesen (auf welche die nachfolgenden Kapitel vielfach rekurrieren), dazu der von Gerd Roellecke initiierte Diskussionsband zu »öffentlicher Moral« (Roellecke 1991) und der 2000 von Matthias Kettner herausgegebene Sammelband Angewandte Ethik als Politikum (Kettner 2000a). Aus dem Spektrum international vergleichender Perspektiven sind insbesondere die Thesen von Sheila Jasanoff hilfreich gewesen (Jasanoff 2005), wobei ich bezüglich der Besonderheiten deutscher Ethik die Dinge deutlich anders sehe als sie. Unverzichtbar in Sachen feministische Perspektiven sind Myra Marx Ferrees vergleichende Studien, die auch die DDR umfassen (Marx Ferree 2012). Nicht vergessen seien schließlich die grimmigen Dikta von Erwin Chargaff, Ethik sei eine von der Macht heuchlerisch genutzte »Mode«, ein »Morast« sowie ein bloß »angebliche[r] Zweig« der Ethik klassischen Typs (vgl. Chargaff 1998: 105). Interesse an Ethik und Ethikskepsis schließen einander nicht aus.
Mein Vorgehen passt sich dem mehrdimensionalen Charakter des Gegenstandes an. Unschwer wird man neben einer – naturgemäß nicht auf Vollständigkeit angelegten und auch hinsichtlich ihrer Selektivität experimentierenden – zeithistorischen Recherche die klassisch hermeneutische Text- bzw. Begriffsarbeit der Philosophie sowie die nicht ganz so klassischen Werkzeuge der Foucault'schen Diskursanalyse erkennen. Dass sich Bioethik bis zu einem gewissen Grad als »Diskurs« analysieren lässt, gehört zu meinen Ausgangsannahmen, auch wenn man Foucaults Diskursbegriff dabei strapazieren muss, denn eine epistemische Redeordnung mit klaren Konturen ist die Bioethik nicht (Gehring 2006: 128-153). Eher handelt es sich um einen 21permanent improvisierenden Diskurs inmitten anderer Diskurse, um eine Art Zwischending – nicht nur, aber auch eine Art patchwork, etwas Heterogenes und Zusammengestückeltes also.
Zudem bestehen Ethik-Diskurse nicht nur aus kühlen Konzepten, sondern vielfach aus solchen Quellen, die – indem sie sachbezogene Aussagen treffen – auch problemnahe Wünsche, den Willen zu warnen oder Betroffenheit für sich in Anspruch nehmen. Zur Bioethik zählen also auf unterschiedliche Weise engagierte Quellensorten mit hinzu, Texte, die werben, agitieren, ihrerseits Sorgen intensivieren (oder lindern) wollen sowie überhaupt mit rhetorischen Mitteln arbeiten und wertend Fakten schaffen.[7] Ethik besteht überdies keineswegs nur aus Texten oder audiovisuellen Dokumenten, die empfehlungsartige Aussagen treffen. Wir haben es vielmehr mit handfester Entscheidungsfindung zu tun, mit Handeln also – informeller wie auch institutioneller Art. Die institutionelle Seite lässt sich teilweise abbilden: Neue Gremien erblicken das Licht der Welt, Professuren und Studiengänge werden geschaffen, Forschungsinstitute etablieren sich, reizbare Öffentlichkeiten und politische Plattformen entstehen. Schwieriger ist es, in das informelle Zusammenwirken Einblick zu erhalten, welches gerade zur Entstehungsgeschichte wie auch zur Konfliktgeschichte der Bioethik beigetragen hat. In der Vorbereitung dieses Buches wurden daher zur Erweiterung der Lektüren und Archivstudien die eingangs genannten knapp neunzig Zeitzeugengespräche sowie noch sehr, sehr viele weitere Gespräche geführt.
Der Gegenstand dieses Buches ist in hohem Maße verbunden mit den Bezeichnungen, die für ihn verwendet werden. Tatsächlich steht der Name »Bioethik« weder einfach für eine Spielart von Ethik im tradi22tionellen akademischen oder auch professionsbezogenen Sinn noch ist die Bereichsbezeichnung »Bioethik« von Feldern wie »Medizinische« Ethik oder »Medizinethik«, »Umweltethik« und weiteren Bindestrich-Ethiken klar abgegrenzt. Manche sehen Bioethik hierfür als einen Dachbegriff an, manche nicht.
Von daher kann man die Herausbildung des bioethischen Diskurses nicht einfach am Wortvorkommen ablesen. Das Wort wird höchst unterschiedlich verstanden, teils wird es taktisch genutzt oder auch vermieden. Dann macht man (angewandte) Bioethik, sagt aber nur »ethisch«, denn wie die nachfolgenden Kapitel zeigen, ist der Ausdruck Bioethik aus verschiedenen Gründen nicht sehr beliebt. Überhaupt schreiben Akteure vielfach aus Gründen der Kürze nur »Ethik« oder halten an Traditionstiteln wie »medizinische« oder »Medizinethik« fest und bezeichnen Bioethik dann beispielsweise als Modernisierung oder Modeströmung im älteren, vertrauten Feld. Im zweiten Teil dieses Buches wird sich ein Kapitel (wie oben angedeutet) mit solchen begriffs- und titelstrategischen Manövern befassen.[8]
Die nachfolgende Entstehungsgeschichte des Phänomens Bioethik hat freilich – darstellungstechnisch – ein Problem. Weder lässt sich allein am Wortgebrauch der Quellen festmachen, ab wann genau Bioethik sich herausformt, noch definiert sie selbst von Anfang an und unter einem einzigen Namen, was sie »ist«. Auch ich kann der Geschichte der entstehenden Bioethik schlecht eine Definition des Wortes vorausschicken, will ich doch selbst erst herausfinden, was der Name (in der Sache) alles meint – und dies einschließlich schwankender Selbstbeschreibungen durch die Beteiligten. Ich kann auch Unschärfen nicht immer auflösen, wo die Protagonisten dessen, wovon die Rede ist, Bioethik-Definitionen anbieten. Denn erstens sind diese Definitionen tatsächlich nicht identisch, und zweitens sind sie oft von schwacher Art, etwa, wenn gesagt wird, Bioethik bewerte lebenswissenschaftliche oder biotechnische Gegenstände, »Leben« sei ihr Gegenstand, sie reagiere auf neue technische Möglichkeiten und dergleichen mehr. Gemessen an wissenschaftlichen Definitionen, so hat ein auf angewandte Ethik spezialisierter Soziologe vorgeschlagen, 23»müsste man Ethik […] durchwegs in Anführungszeichen setzen, um die Distanz zur gleichnamigen Fachdisziplin zu versinnbildlichen« (Bogner 2011: 28f.).
»Manche Autoren sehen die Bio-Wissenschaften als so wichtig an, daß sie statt von Medizinischer Ethik von Bio-Ethik sprechen«, heißt es in einem Lexikonartikel von 1989. Diese frühe Definition ist ein schönes Beispiel für einerseits das registrierte Neuauftauchen (sowie eine bestimmte Deutung: die neue Bezeichnung taufe nämlich die Medizinische Ethik quasi um). Andererseits drückt der Artikel sogleich Skepsis gegenüber dem neuen Ausdruck aus, denn der (nicht ausgewiesene) Autor fährt fort:
Gegen eine Verwendung des Begriffs spricht die Tatsache, daß die Vorsilbe »bio« heutzutage in vielen Zusammensetzungen gebraucht wird und deshalb Mißverständnisse hervorrufen könnte (man denke an: Bio-Industrie, Bio-Ernährung, Bio-Waschmittel, Bio-Gemüse). (Eser/von Lutterotti/Sporken 1989: 713)
»Bioethik« und »bioethisch« wären demnach der Alltagssprache zu nah. Ich denke, der Ausdruck »Bioethik« gleicht aber eben nicht nur aus Verwechslungsgründen, sondern auch als ein in den Wissenschaften diffus populäres sowie mit politischen Erwartungen aufgeladenes Etikett eher einem Begriff mit unscharfen Rändern als einem definierbaren Bereich. Unter Darstellungsgesichtspunkten ist das misslich: Bioethik ist selbst ja eben nichts Gegenständliches, auf das man zeigen könnte, sie besteht zu einem guten Teil ihrerseits wiederum nur aus Sprache.
Wie nachfolgend also insbesondere über die Anfänge der Bioethik sprechen? Name und Sache tauchen nicht immer gleichzeitig auf. Ich habe versucht, mir vorzustellen, bei geringer Sichtweite gelte es, in einem riesigen Raum voller Aussagen mit einem Scheinwerfer nach den Konturen jener Wortwolke erst zu suchen, durch die sich auch im Lauf der Zeit das Gebiet allmählich formt, das man in der Rückschau dann mit einigermaßen sicherem Verständnis »Bioethik« nennen wird. Frühe Wortverwendungen oder sogar Definitionen sind Indizien, aber keine Belege. Nur, was sich unter dem vollen Gewicht eines allmählich entstehenden, lehrbuchfähigen Mainstreams zu ei24nem stabilen Wortgestein verdichtet, ist das, was am Ende für die Gesamteinschätzung zählt.
Immerhin lassen sich aber einige Merkmale angeben, die für das, worum sich dieses Buch drehen soll – und was ich also Bioethik nenne –, typisch sind. Eine solche Ethik
ist angewandte Ethik, hält sich also Anwendung bzw. Anwendbarkeit, Praxisnähe und Lösungsorientierung zugute – und sieht dies auch als Unterschied zu bisherigen (klassisch genannten) Ethiken, etwa aus der Philosophie,
beansprucht, nicht aus einem Fach zu kommen (oder in einem diskutiert zu werden), sondern wesentlich »interdisziplinär« beschaffen zu sein; ein Dialog der Disziplinen gehörte somit zur Bioethik hinzu,
bringt einen wissenschaftlichen Anspruch mit »Gesellschaft« zusammen, nämlich mit den »Werten« eines (zu diesem Zweck gegebenenfalls durch Ethikangebote eigens »aufgeklärten«) Verstandes von Laien; in welchem Maße eine Ethik, die sich der Gesellschaft derart nähert, ihrerseits wissenschaftlich bleibt, wird in der Bioethik kontrovers diskutiert,
beansprucht eine hohe Relevanz, da sie auf reale Probleme antwortet, zur Lösung dieser Probleme gebraucht wird und Dringliches artikuliert,
reklamiert eine politische Bedeutung und beansprucht sowohl die Kompetenz, Politiker zu beraten als auch das Recht, sich – jenseits fachwissenschaftlicher Foren – in massenmediale Debatten einzubringen, die sich um Politik, etwa Gesetzgebungsvorhaben drehen,
besitzt einen eigenen Kanon, also eigene moderne Klassiker – etwa die sogenannte Prinzipienethik von Tom L. Beauchamp und James F. Childress oder Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas –, und sie nutzt auch einen eigenen, biomedizinisch, biotechnisch und entscheidungstheoretisch angereicherten Jargon,
arbeitet, wiewohl geisteswissenschaftlicher Herkunft, schon früh projekt- und drittmittelgetrieben sowie nach dem Vorbild der bio- und umweltwissenschaftlichen oder gentechnischen Forschung in Forschungsverbünden sowie interdisziplinären Zentren,25
lässt nicht allein wissenschaftliche, sondern auch andere Expertisen zu: auch Politiker oder Sachbuchautoren oder sogenannte Betroffene, die in einem Ethikrat sitzen, können Bioethiker sein,
neutralisiert mitgebrachte Weltanschauungen, schließt aber eine Pluralität von Wertsystemen und Religionen ausdrücklich in sich ein – und fordert in diesem Sinne, dass sich »alle« beteiligen (und Vetopositionen räumen),
begründet ihre eigene Existenz damit, Antwort unter anderem auf die »moderne Technik« oder »neue technische Möglichkeiten« zu sein,
nutzt »Leben« (nicht aber Vernunft, Gesundheit oder Gerechtigkeit) als ubiquitäres Wertwort und als Ankerbegriff des Argumentierens.
Diese Liste von Merkmalen ergibt keine Definition, aber immerhin ein Suchbild. Und es existiert ein veritabler Diskurs, für den alle diese Merkmale greifen, denn als Eigenname (vgl. Kap. 16 [Benennungen]) funktioniert der Obertitel Bioethik, das zeigen die Quellen, gut. Das damit umrissene Phänomen ist freilich komplex. Es reicht – obwohl es um Expertise geht, Wissenschaft spielt immer irgendwie mit – über eine in der Wissenschaft vorfindliche Angelegenheit hinaus. Umgekehrt ist Bioethik auch mehr als bloß eine Sache von Top-Down-Governance, also ein Regierungsmechanismus. Vielmehr entfaltet sie sich in öffentlichen Medien, im Bildungsbereich und in wichtigen Alltagssituationen.
Insofern fasse ich Bioethik zwar als einen Gegenstand, aber eben doch als einen verzweigten, der in diesem Sinne »groß« ist. Was seine Bezeichnung angeht, werde ich zuweilen »Bioethik« sagen, wo auf der Quellenebene nur »Ethik« gesagt wird – und ebenso umgekehrt, wie die Welt da draußen es auch tut, zuweilen lediglich »Ethik« (oder »angewandte Ethik«) sagen, wo aber im Diskurs selbst streng genommen das Wort »Bioethik« schon eingeführt ist.
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Diese Einleitung endet mit Dank. Günter Feuerstein und Ludger Fittkau sowie die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben einen elementaren Anteil an der Entstehung dieses Buches. Naturgemäß ist es uns nicht gelungen, sämtliche Akteure der Anfangsphase der deutschen Bioethik zu befragen. Teils kamen Krankheit und Tod unserer Anfrage zuvor, teils haben wir uns auf ausgewählte Personen beschränken müssen. Auch wollten sich einige Akteure mit dem Thema explizit nicht mehr befassen und haben das Gespräch abgelehnt. Nachdrücklich sei allen gedankt, die sich auf einen Austausch eingelassen haben. Aufgrund der großzügigen Offenheit unserer Gesprächspartner haben wir viel Hintergrundwissen erhalten, dürfen den Leserinnen und Lesern aber auch – natürlich anonymisierte – Eindrücke und Einschätzungen aus der Nahperspektive übermitteln.
Ein besonderer Dank gebührt denjenigen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Fachleuten, die an den insgesamt drei Workshops teilgenommen haben, die an der TU Darmstadt 2015 zu Zwischenergebnissen zum Thema Geschichte der Bioethik 1970-2010 sowie 2022/23 mit Feedback zum Abschluss der Manuskriptarbeiten stattgefunden haben.
Danken möchte ich des Weiteren den zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützern, ohne die ich sicherlich beim Hantieren der Materialmengen und in der Manuskriptarbeit untergegangen wäre. Ihre Kommentare nach kritischer Durchsicht haben im Text viel bewirkt. In alphabetischer Reihenfolge nenne ich Marcus Düwell, Laura Grosser, Jörn Laakmann, Teresa Löwe, Benjamin Müller – sowie erneut Günter Feuerstein und Ludger Fittkau. Vielfachen Dank schulde ich auch Marcus Müller, der das digitale Interviewkorpus in eine Form gebracht hat, die der linguistischen Auswertung zuträglich ist. Sebastian Jaschke, der Archivmaterial durchsah und inventarisierte, bin ich ebenfalls dankbar.
Schließlich danke ich dem Suhrkamp Verlag – allen voran Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser – für die sorgfältige Arbeit sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für Unterstützung. Der Lö27wenanteil der Arbeiten an diesem Buch wurde ohne Drittmittelfinanzierung geleistet. Die zeitraubende Schreibarbeit jedoch, die Tagungen und die Archivierung der Interviews wie auch weiterer Materialien wären ohne eine durch die DFG finanzierte Freistellung und zusätzliche Sachmittel nicht möglich gewesen.
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Diskussionsstoffe: abstrakt und konkret zugleich – Findet Ethik »ethische« Probleme einfach nur vor? – Medizinforschung und NS-Medizin: das erste Thema? – »NS«