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Biologie und Fortpflanzungsmedizin sind zum Politikfeld geworden.Wir beginnen uns an das Wort »Biopolitik « zu gewöhnen. Der lebendige Körper, der biologische Stoff, aus dem die Menschen sind, ist Gegenstand einer politischen Ökonomie neuen Typs. Stammzellen, Samen und andere Bestandteile des Körpers werden zur Ware. Eine Umwertung der Werte findet statt: Wenn wir vorherbestimmen können, ob unsere Kinder blaue oder braune Augen haben, wenn Wohlhabenden lebensverlängernde genetische Eingriffe angeboten werden, verändert dies sowohl unseren Alltag als auch unsere ethischen Einstellungen. Petra Gehring behandelt Themen wie Gewebe- und Organverpflanzung, reproduktionsmedizinische Angebote, Hirnforschung und Sterbehilfe. Dabei geht es ihr nicht um die Ausarbeitung einer Bioethik, sondern um philosophischpolitische Beschreibungen der Auswirkungen der neuen »Biomacht«. Kritisch nimmt sie die Biomedizin unter die Lupe und zeigt: Die menschliche Existenz verändert sich – ob zum Positiven oder Negativen, ist noch nicht entschieden.
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Seitenzahl: 388
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LESEPROBE
Gehring, Petra
Was ist Biomacht?
Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens
LESEPROBE
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E-Book ISBN: 978-3-593-40447-9
Die Probleme, um die es in diesem Buch geht, müssen nicht erst ins Licht gerückt werden. Unter Stichworten wie »Biotechnologie« oder »Bioethik« oder auch »Biopolitik« füllen sie Diskussionsveranstaltungen, TV-Magazine und Feuilletons. Gentechnische Verfahren in der Krankenbehandlung, sozialpolitische Verwendung biomedizinischer Daten, Fabrikation von Fortpflanzungssubstanzen im Labor: Solche Themen entzünden medienwirksame Debatten über Möglichkeiten und Grenzen der Techniken, über Risiken, über Verantwortung, über Zukunftsmärkte und über die Freiheit der Forschung.
Zugleich kennt man die Neuerungen, um die es geht, keineswegs nur aus den Medien. Biotechnologien sind längst im Alltag angekommen. Und sie werfen dort Fragen auf. Soll ich gentechnisch hergestellte Medikamente nutzen oder nicht? Wo genau beginnt bei vorgeburtlichen Qualitätstests während der Schwangerschaft die Zone bedenklicher Auswahlentscheidungen? Welcher Versichertengruppe werde ich aufgrund meiner biomedizinischen Daten zugeordnet werden? Vielleicht einer »Risikogruppe«? Oder einer besonders gesunden Gruppe, der dann Privilegien zustehen? Nehmen wir an, letzteres sei der Fall: Nutze ich diese Privilegien dann?
Biotechniken und Biomedizin provozieren moralische Ambivalenzen. Sie sorgen für »Dilemmata«, würde es in der halb-philosophischen Sprache der Bioethik heißen, die sich um solche Fragestellungen kümmert. Die Bioethik ist eine in den 1970er Jahren neu entstandene Mischdisziplin, in der öffentlich tätige Experten versuchen, moralische Schwierigkeiten im Feld der Anwendung von Biotechnologien zu präzisieren und nach Möglichkeit aufzulösen. Bioethik wird von Wissenschaftlern betrieben, aber sie arbeitet öffentlich – und in der Nähe der Politik.
Diejenige Politik, die bioethische Dilemmata entscheidet, heißt in den USA Biopolitics. Im deutschen Sprachgebrauch wird das Wort Biopolitik ebenfalls verwendet, es hat aber einen kritischen Beiklang. »Biopolitik« |8|meint hierzulande nicht einfach ein Politikfeld unter anderen, sondern eine fatale, sich »des Lebens« der Menschen bemächtigende Politik. So oder so: Durch den Hinweis auf eine gesonderte Politiksorte namens Biopolitik ist über die politische Dimension der biotechnischen und biomedizinischen Errungenschaften noch nicht viel gesagt. Ob man Biopolitik schlicht für die Konsequenz des Vorhandenseins von Biowissenschaften, Biotechniken und Bioethik hält oder aber sie kennzeichnen will als eine ungute Art von Politik: Dem Zusammenspiel von moralischer Ambivalenz und politischer Entscheidung wird eine unbestimmte Art von Notwendigkeit zugestanden. In der Tat, wer wollte es bestreiten? Alles, was Biotechniken möglich machen sollen –, vom genveränderten Medikament bis zum erbgutverbesserten Embryo – ist eng verflochten mit der Gesundheits- und Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaates. Die neuen Möglichkeiten korrespondieren mit dem Innovationsbedarf von Wissenschaft und Wirtschaft wie auch mit Konsuminteressen der Individuen. Ist Biopolitik also unvermeidlich – einfach weil sie mit einer kompakten wissenschaftlich-technischen Entwicklung korrespondiert?
Betrachtet man die öffentliche Debatte aus Abstand, so fällt zweierlei auf. Erstens eine Monopolstellung der Ethik. Wenn über Biotechniken wie auch über Biopolitik nachgedacht wird, so geschieht dies im Zeichen der Ethik oder auch der Werte. Biodebatten, auch biokritische Debatten, sind Ethikdebatten. Besorgt fragt man lediglich nach dem richtigen, also nach dem »ethisch« vertretbaren Umgang mit einer biotechnologischen Neuerung. Innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft verengt dies den Blick. Wer sich auf Ethik fixiert, namentlich auf die so genannte angewandte Ethik, die in der Politikberatung und in Ethikkommissionen Entscheidungshilfen gibt, beantwortet gleichsam nur noch eine gegebene Problemstellung. Was wegfällt, sind Fragen, die Distanz suchen. Reflektierende Fragen. Und vor allem: Vorüberlegungen zum Problem selbst. Gefragt wird nicht mehr beispielsweise: »Was geschieht hier?«, »Wissen wir bereits, wo genau das Problem liegt?« oder gar: »Woher kommt das Problem?«. Ethik leistet keine analytische Beschreibungsarbeit. Sie überspringt wichtige Vorfragen. Sie reduziert Probleme der Beschaffenheit und der Macht des Gegebenen auf die Frage: »Was sollen wir tun?«
Die zweite Beobachtung betrifft die Positionierung der Argumente in der öffentlichen Diskussion. Das Muster der Auseinandersetzung gehorcht dem Schema der Kontroverse. Aussagen zu Biotechnologie und Biomedizin gruppieren sich ›pro‹ oder ›kontra‹. Ist dies nicht von selbst der Fall, dann |9|werden sie so gruppiert – durch die Filter der Medien und der Zitatwahl. Es ist, als werde nur wahrgenommen, was der einfachen Polarisierung dient: Das Für und Wider. Dritte, vierte, fünfte oder ›ganz andere‹ Sichtweisen finden keinen Platz – es sei denn um den Preis der Zuordnung zu einem der beiden Lager. Es ist leicht zu sehen, dass das Schema der Kontroverse gerade nicht zur Problementfaltung führt, sondern einseitig der schnellen Entscheidungsfindung dient.
Tatsächlich stehen bioethische Kontroversen stets im Zeichen der Dringlichkeit: Eine neue, spektakuläre technologische Option – sagen wir: die Stammzellforschung – soll sofort realisiert werden oder aber sofort verhindert. Die Politik wiederum will ebenfalls zügig den volkswirtschaftlich vorteilhaften gesetzgeberischen Kompromiss. Zeitdruck und Ethik gehören zusammen wie Sonne und Schatten.
Schließlich wundert nicht, dass im Schema der Kontroverse selten Zusammenhänge diskutiert werden. Es steht vielmehr stets ein eng begrenzter Verhandlungsgegenstand zur Debatte: eine technische Neuerung, eine bestimmte, aktuell beunruhigende und möglicherweise regelungsbedürftige Technologie. Das Schema der Kontroverse steht auf diese Weise sowohl der Ethik als auch der Politik sehr nahe: Was zählt, ist der durch Machbarkeit bemessene Handlungsbedarf. Im deutschsprachigen Raum erlebten wir in den vergangenen vier Jahren auf diese Weise ›portioniert‹ eine Genomdebatte, eine Klonierungs- und Stammzell-Debatte, eine Gen-Nahrungsmittel-Debatte. Derzeit sind eine Nano-, eine Neuro-, eine Gentest- und eine Euthanasie-Debatte im Gang. Solche Debatten überlappen sich. Sie konkurrieren miteinander, nicht nur um die öffentliche, sondern auch um die wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Grundsatzfragen werden immer wieder berührt, aber bleiben merkwürdig unverbunden.
Die elf Kapitel dieses Buches weisen den Denkrahmen der Ethik wie auch das enge Schema von Pro und Kontra zurück. Unter dem Titelbegriff »Biomacht« geht es gerade nicht um die ethische Therapie, sondern darum, gleichsam über die Diagnose, also über Vorfragen, das Wie und Warum der Problematisierungen selbst nachzudenken. Dies sind Fragen philosophisch-politischer und auch historischer Art. Sie drehen sich um die Herkunft, die Gestalt und die eigentümliche Macht der Gegenstände sowie der Argumentationsformen von Bioethik und Biopolitik.
Was heißt nun »Biomacht«? Der Begriff bio-pouvoir, Biomacht, stammt von dem Wissenshistoriker Michel Foucault, der ihn allerdings eher heuristisch|10|, das heißt: als Suchbegriff verwendet. Entsprechend offen hat Foucault Biomacht definiert, nämlich als »die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.« (Foucault 1976, S. 166 f.), als eine Macht, »die den Körper und das Leben vereinnahmt oder die das Leben im allgemeinen […] mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite in Beschlag genommen hat.« (Foucault 1975 f./1999, S. 293), wobei die Biomacht – jedenfalls primär – eine »Macht zur Erhaltung des Lebens ist« (ebd.). Es wäre für die politische Machtform namens Biomacht also charakteristisch, dass sie gerade nicht in der Weise traditioneller staatlicher Herrschaft das physische Leben von Untertanen oder Bürgern einfach nur aufs Spiel setzt. Sie beschränkt sich gerade nicht darauf, die Körper der Menschen gleichsam bloß zu verschleißen oder zu ›verbrauchen‹ – klassisch: in der Arbeit oder im Krieg. Biomacht geht vielmehr auf eine spezifisch moderne Weise über dieses bloß ›verbrauchende‹ Verhältnis des politischen Souveräns zu seinen Untertanen hinaus. Am Leitfaden der Wissenschaften Ökonomie und Biologie entdeckt diese neue Machtform, dass das physische Leben der Individuen einer Gesellschaft eine nicht nur verwendbare, sondern eine steigerbare Ressource ist, die im Medium der Fruchtbarkeit und der biologischen Fortpflanzung verbessert und vermehrt werden kann. Anders gesagt: Die Biomacht entdeckt die Bevölkerungspolitik, die sozialhygienische Gattungsverbesserung, die genetische Qualität des Einzelnen und der Art. Sie erfindet den biologischen Mehrwert.
Foucaults Begriff ist plakativ. Irritieren mag auch, dass hier ein Theoretiker von einer Machtform in einer Weise spricht, als würde da eine bloße Struktur aktiv etwas tun: etwas »vereinnahmen«, »entdecken«, »erfinden«. Auf dieser Linie ist Foucaults Machtbegriff in der philosophischen Diskussion kritisiert worden (exemplarisch: Habermas 1985). Zu Foucaults Machttheorie im Allgemeinen wäre viel zu sagen, was solche Einwände entkräften könnte. Hinter der Redeweise Foucaults jedenfalls steckt nicht einfach ein Universalismus der Macht, sondern ein komplizierteres Projekt: ein Verfahren zur Untersuchung von Machtprozessen in ihrer historischen Immanenz, also ohne der Macht so etwas wie einen ›Machthaber‹, eine ›Quelle‹ oder ähnliches zuzuschreiben (vgl. Deleuze 1980, zur Auseinandersetzung Gehring 2004 a). Der zusammengesetzte Begriff »Bio-Macht« wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass er – im Unterschied zur diskussionsüblichen ethischen Begrifflichkeit, im Unterschied aber auch zur Kategorie der »Biopolitik« – gerade nicht einfach als Erklärungsgröße oder als |11|Wert-Wort gesetzt wird, sondern eine historische These beinhaltet. Biomacht soll kein diabolischer Akteur sein, keine dunkle Größe, die im Gewand der Biologie den Raum der Politik usurpiert. Sie ist eine bestimmte, wirklichkeitsorganisierende Form, deren Herausbildung man im Rahmen einer historischen Typologie ermitteln, lokalisieren und datieren kann – also nicht einfach für sich genommen, sondern durch den Vergleich mit anderen Machtformen. Andere Machtformen finden sich im Werk Foucaults ebenfalls beschrieben. Da wäre etwa die Pastoralmacht, die Menschenführungstechniken der mittelalterlichen Kirche (Foucault 1981, 1978/2004). Oder der juridische Machttyp des klassischen absolutistischen Souveräns (Foucault 1975). Oder die »Disziplinarmacht« im Verwaltungsstaat des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (ebd.). Oder eine moderne »Normalisierungsmacht«, die sich weder auf Untertanen, noch auf Bürger, sondern auf eine sozialwissenschaftlich zu erschließende »Gesellschaft« richtet (Foucault 1966, 1976).
Biomacht ist also eine beschreibende Kategorie. Als epochenspezifische Form der Ordnung der Wirklichkeit, des Einsatzes von Wissen, der Menschenregierung datiert Foucault ihr Heraufkommen auf das 19. Jahrhundert. Bereits im 18. Jahrhundert finden sich allerdings Neuerungen, auf die sich das, was später als qualitativ andere Machtform erscheint, stützen kann. Bestimmte wohlfahrtliche Maßnahmen einer Politik des Lebens beginnen sich in Europa und Nordamerika flächendeckend zu verbreiten: Man betrachtet das, was vormals einfach Untertanen waren, in seiner physischen Substanz, und man beginnt, das physische Leben nicht nur einzelner Menschen, sondern der ganzen »Bevölkerung«, als Bedingung für das Wohl des Staates und somit Ziel von Politik zu erkennen und zum Gegenstand von politischen Maßnahmen zu machen. Physisches Leben – das sind Gesundheit, aber auch Ernährungszustand, Arbeitskraft, Fruchtbarkeit. Die zu diesem neuen ›Realismus‹, oder besser: zu diesem neuen Naturalismus gehörenden Maßnahmen sind sozialstaatlicher sowie fortpflanzungsmedizinischer Art und sie verdichten sich im 19. Jahrhundert zu einem kompakten Geflecht, in dem neben Medizin und Ökonomie nicht zuletzt die neuen empirischen Wissenschaften des Sozialen eine wichtige Rolle spielen.
Hervorstechendes Anzeichen für das, was Foucault Biomacht nennt, ist die neue Brisanz der Sexualität in der Medizin, in der Erziehung, in der Familienpolitik und in der Straftäterbehandlung des 19. Jahrhunderts. »Vier große strategische Komplexe« einer Konzentration auf Geschlechts- und Sexualfragen hat der bürgerliche Sozialstaat in dieser Zeit hervorgebracht: |12|Die »Hysterisierung des weiblichen Körpers«, die »Pädagogisierung der kindlichen Sexualität«, die »Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens« der Paare und die »Psychiatrisierung der perversen Lust« (vgl. Foucault 1976, S. 125 ff.). Die Sexualität ist ein »Dispositiv«, so nennt Foucault den beherrschungspolitisch-operationalen Charakter dieses eigentümlichen neuen Elements, welches die Individuen, die Familien und auch das Bevölkerungsganze gleichsam in ein neues Kraftfeld von Anreizen und Zwängen versetzt.
Biomacht und Sexualität, Biomacht und Fortpflanzungspolitik, aber auch Biomacht und Leben überhaupt gehören für Foucault zusammen. Das Wort Biomacht kann sozusagen gar nicht wörtlich genug genommen werden. Was mit dem 18. Jahrhundert beginnt und seit dem 19. Jahrhundert unsere Moderne prägt, ist »nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte […], in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken.« (Foucault 1976, S. 169) Gemeint ist hier nicht einfach das erzählbare Leben, das Leben, das man erinnert und erlebt. Gemeint ist »Leben« in einem physisch-naturwissenschaftlichen Sinn: biologische Sachverhalte, »Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind« (ebd.). Der eigentliche historische Einschnitt liegt also darin, dass sich die neuen politischen Techniken des Sozialstaats nicht allein auf die Fügsamkeit oder auf die Arbeitskraft der Menschen richten, sondern auf deren biologische, »lebensstoffliche« Qualitäten, und genauer dann: auf die Ernährung und den Schutz vor schädigenden Stoffen, auf die biologische Vermehrungsfähigkeit, auf die gesunde Kinderproduktion, auf die vererbte Gesundheit und die vererbten Eigenschaften des Einzelnen sowie auf die erbbiologische Verbesserbarkeit in der Generationenfolge. »Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen.« (Ebd., S. 170) Diesen Satz kann man einerseits als eine Aussage über den expliziten Biologismus des 19. Jahrhunderts lesen: Tatsächlich entsteht im Gefolge Darwins eine Biologie, die das Soziale einschließlich des gesamten Feldes der Politik in den Begriffen einer biologischen Wissenschaft rekonstruiert, und es entsteht auch das Programm einer »biologischen Politik« (Schallmayer 1903). Man kann den Satz von der Reflexion des Biologischen im Politischen andererseits aber auch gewissermaßen ›substantieller‹ lesen, und dann gewinnt er die abgründige Dimension eines tatsächlichen Kurzschlusses von Politik und Biologie: Die Gattung als solche – als Lebenskontinuum, als Gesamtheit von Erbeigenschaften, als Biomasse, als Genpool – wäre zum Politikfeld geworden und |13|die politische Selbstreflexion der Moderne könnte gar nicht umhin, diejenige eines »lebenspolitischen« Politikverständnisses zu sein. Einfach weil das Wesen des Politischen sich verschoben hat.
Der Hinweis auf die technische Seite der »Macht zum Leben« durchzieht alle einschlägigen Schriften Foucaults: Das 19. Jahrhundert konstruiert mittels neuer Rechentechniken neue Entitäten. Entscheidend für die neuen Kollektivgrößen »Bevölkerung«, »Gesellschaft«, »Population« oder »Gattung« im biologischen Sinn sind sozialstatistische Darstellungstechniken, die den Einzelnen auf neue Weise mit der Generationenfolge und dem Ganzen verknüpfen. Gerade die Vererbung des »Lebens« wird populationsweit gedacht – und auch populationsbezogen behandelt. Im Einzelnen verschlechtert oder verbessert sich das Ganze. So hängen auch Biomacht und der Entartungsgedanke, Biomacht und Eugenik, Biomacht und der Staatsrassismus des 20. Jahrhunderts eng zusammen.
Fassen wir es schließlich abstrakt, so bricht Biomacht auch mit den traditionellen logischen Mustern der Herrschaftsausübung. Nicht eine Verbotslogik, auch keine bloße Sicherungs- oder Stabilisierungslogik, sondern eine Lebens-Steigerungslogik zeichnet sie aus. Anstelle fester Gesetze spielen Ökonomien eines »Normalen« eine zentrale Rolle, dessen flexible Randbedingungen Politik verändern kann. Graduelle Qualitäten und Verbesserungsoptionen überlagern die binären Alternativen wie richtig oder falsch.
Wo es nach diesem neuen Muster gilt, das biologische Sosein des Einzelnen wie des Ganzen zu verbessern und zu vermehren, da fungieren Machtprozesse zwar weiterhin in vielem repräsentativ oder disziplinierend. Vor allem aber sind sie regulatorischer Natur, sie müssen Dynamiken nicht nur kanalisieren, sondern auch anreizen können und Veränderungen forcieren. »Anstelle der Drohung mit dem Mord«, schreibt Foucault, und zielt damit auf den Souverän alten Typs, der vor allem über den Tod seiner Untertanen verfügte, »ist es nun die Verantwortung für das Leben, die der Macht Zugang zum Körper verschafft. Kann man als ›Bio-Geschichte‹ jene Pressionen bezeichnen, unter denen sich die Bewegungen des Lebens und die Prozesse der Geschichte überlagern, so müßte man von ›Bio-Politik‹ sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen.« (Foucault 1976, S. 170).
Wie das letzte Zitat zeigt, verwendet auch Foucault nicht nur den Begriff der Biomacht, er spricht von Biopolitik als Epochensignatur der Moderne|14|. Bis heute ist Biopolitik bei Autoren, die Foucaults Überlegungen fortsetzen wollen, sogar der prominentere Begriff (vgl. etwa Agamben 1995). Wie also stehen die beiden Begriffe zueinander und warum wähle ich für die Zwecke dieses Buches die Bezugsgröße nicht der Biopolitik, sondern der Biomacht?
Will man präzisieren, was Biopolitik und Biomacht unterscheidet, so muss man die konzeptionellen Ebenen auseinanderdefinieren, auf denen die Begriffe gelagert sind. Biopolitik betrifft den Bereich des politischen Handelns. Nimmt man die oben zitierte Passage mit ihrer Begriffsbestimmung wörtlich, so wäre sogar das absichtsvolle politische Handeln gemeint, der »Bereich der bewußten Kalküle«, also wohl in einem etwas lockeren Sinne: die Politikerpolitik. Biomacht wäre demgegenüber der Name eines Abstraktums, einer bis zu einem gewissen Grade generalisierbaren Form, die erst durch die Beschreibungs- und durch die Vergleichsarbeit des Historikers Gestalt gewinnt. Zweifellos kann Biopolitik in der Ära der Biomacht im politischen Feld beobachtet werden. Biopolitik ist mit großer Wahrscheinlichkeit auch immer im Hinblick auf Biomacht interpretierbar. Weniger sicher ist jedoch, ob ich primär im Feld der Biopolitik (oder gar nur dort) Spuren der Biomacht finde. Methodisch gesehen ist Biopolitik also der phänomenologischere, aber auch der engere und der weniger gut differenzierbare Begriff.
Foucault hat allerdings den Biomacht-Begriff für den Zweck historischer Untersuchungen geprägt. Er hat ihn im Blick auf das 18. und 19. Jahrhundert gewonnen, allgemeiner angesetzt, aber nicht auf die Gegenwart angewandt. Nicht nur aus diesem Grund betone ich, dass ich die Frage nach der Biomacht zwar aufgreife, in den nachfolgenden Kapiteln aber trotzdem etwas anderes unternehme als Foucault. Im Unterschied zu Foucault charakterisiere ich nicht vor allem eine – und sei es die fortwirkende – Vergangenheit. Die Blickrichtung ist wahrscheinlich eine verfänglichere, denn sie verspricht weniger Distanz: Ich setze bei aktuellen Phänomenen ein und versuche, das, was die Gegenwart verändert, im Wege von Rückfragen zu begreifen – und zwar in seiner historischen Neuheit. Es geht also weniger um die Geschichte der Gegenwart als um eine Gegenwart der Geschichte und die Gegenwart in der Geschichte.
Die Verschiebung beinhaltet einen Perspektivenwechsel: Es ist nicht so, dass ich den Biomacht-Begriff einfach auf die aktuellen Verhältnisse anwenden will. Zwar ragt die Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts unverkennbar ins 21. Jahrhundert hinein. Sie ist in einem gewissen Sinne |15|nicht vergangen. Man betrachte nur die vielen fortwirkenden Verschränkungen der im 19. Jahrhundert entstandenen Lebenswissenschaft Biologie mit den ebenfalls in dieser Zeit sich formierenden Sozialwissenschaften. Wir leben eben daher heute beispielsweise in einer Wirklichkeit der Statistik und der Population (Ewald 1986, Desrosières 1993). Dennoch gibt es zwischen der historischen Analyse und der Aktualität einer Gegenwart kein Kontinuum, das es erlauben würde, eine aus der Arbeit am 19. Jahrhunderts gewonnene Kategorie wie »Biomacht« einfach auf das Heute zu übertragen. Man kann Geschichte nicht »anwenden«, genauso wenig wie man von der Gegenwart her Geschichte »verstehen« kann. Gleichwohl plädiere ich dafür, von der Aktualität die Finger nicht ganz zu lassen und – wenn man so will: gegen Foucault – nicht nur von der Geschichte, sondern auch von der Gegenwart zu sprechen und dabei Phänomenologie und Genealogie zu verbinden. Ausdrücklich geht es aber um Machtformen, und das flaggt der Begriff Biomacht aus. Nicht über »Politik« im engeren Sinne gilt es zu reden, sondern eben über absichtslose, historisch kontingente »Formen« von Wirksamkeit im Foucaultschen Sinn.
Mit dem Reizwort Absichtslosigkeit schließt sich der Kreis. Macht wird nicht von Menschen geschaffen, sondern tut sich als Ermöglichungsbedingung von Sinnprozessen absichtslos auf. Auch an diesem Punkt kann man den Konzeptbegriff Biomacht von der »Biopolitik« klar unterscheiden: Biomacht wird nicht eigens ›ausgeübt‹. Sie kennt keine Machthaber – allenfalls Profiteure. Sie steckt nicht erst in den Handlungen, sondern bereits in der Wahrnehmung, in der Kommunikation, im erfahrbaren Sinn. In letzter Instanz sollten Machtprozesse daher strikt täterlos gedacht werden, sonst verkennt man ihre Wucht und wirklichkeitsbildende Kraft. Auch aus diesem Grund ziehe ich die abstraktere Hypothese der Biomacht dem handlungstheoretisch unterlegten Begriff der Biopolitik vor.
Die nachfolgenden Kapitel haben nicht Antworten, sondern sie suchen Antworten auf die Frage Was ist Biomacht? Sie sind in einer ersten Fassung in den vergangenen Jahren jeweils zu unterschiedlichen Anlässen geschrieben worden. Die Überlegungen knüpften sich jedoch zunehmend ineinander. Heute bilden sie einen Zusammenhang, der nun auch zusammenhängend zu lesen sein soll.
Die Zugänge sind verschieden, aber sie ergänzen sich. Idealerweise ergibt sich also in der Lektüre so etwas wie ein Facettenblick. Das Kapitel über Neue Ökonomien setzt bei handfesten Verfahrensweisen ein: Bluttransfusion|16|, Organverpflanzung, Mutterpass, Datenbanken, Biometrie. Das Kapitel über Eigentum am Körper führt in die Geschichte der Rechtstheorie und diskutiert den Status des menschlichen Körpers. Wessen Stoffe, wessen Proben, wessen Daten? besichtigt die heutige institutionelle Alltagspraxis in diesem Feld. Im Kapitel über die Stammzelle geht es um die bioethische und biorechtliche Karriere eines Laborprodukts, im Kapitel über die Bio-Vaterschaft um die geschlechterpolitischen Implikationen eines Biotestverfahrens. Die nachfolgenden beiden Kapitel setzen sich mit der Bioethik auseinander. Dasjenige über die Zukunftspolitik der Bioethik untersucht einen diskursiven Sachverhalt: Ethiker argumentieren suggestiv mit Zeit und Zukunft. Dasjenige, das sich anschließt, fragt: Ist die Bioethik ein »Diskurs«? und dreht die Perspektive auf Bioethik um. Zuerst wurde die Bioethik selbst betrachtet, nun dient sie gleichsam als Testfall für den strengen Diskursbegriff Foucaults. Probehalber wird das Foucaultsche Schema auf die Bioethik angewandt. Dieses Übertragungsexperiment ist ergiebig in zwei Richtungen: Es lehrt etwas über die Bioethik und es lehrt etwas über die Anwendungsbedingungen des Theorems »Diskurs«. Zwischen Menschenpark und soft eugenics steht für eine weitere Facette: Die philosophische Begriffsgeschichte kann zeigen, wie lang und doch auch kurz die geschichtliche Linie ist, die zur heutigen Gestalt des Motivs der Menschenzüchtung führt. Mit der Hirnforschung als Aspekt von Biomacht beschäftigt sich das neunte Kapitel. Es beleuchtet nicht nur den wissenschaftstheoretischen Status neurophysiologischer Determinismus-Thesen, sondern vor allem den Zusammenhang zwischen Hirnforschung und Strafrechtspolitik. Das zehnte Kapitel verfolgt die Frage nach der Sterbehilfe. Im Zeitalter der Biomacht wird auch der Tod zu einem Aktivposten für das Leben.
Einigen Kapiteln liegen aktuelle Vorträge, einigen anderen Aufsätze zugrunde, die an verstreuter Stelle erschienen sind. Alle Texte sind für die Zwecke des Buches noch einmal deutlich verändert worden.
|17|Kapitel 1
Mit den biotechnischen Optionen der Gegenwart sind lebendige menschliche Körperstoffe wertvoll geworden. Das stoffliche Innere der Individuen, das über Jahrtausende unvernutzbares Niemandsland war, terra nullius, wurde im 18. Jahrhundert dem ärztlichen Blick zugänglich gemacht. Heute erscheint nun unser Inneres zur Nutzbarmachung erobert. Ein Menschenkörper enthält von Blutbestandteilen über die Knochen bis zum Samen wertvolle Rohstoffe für diversifizierte Märkte. Er ist ein ökonomisches Expansionsfeld – auch für Produktentwicklung weit außerhalb der Medizin. Speziell mit der Genforschung und Gentechnik schreitet diese technische Durchdringung des Körpers und die ökonomische Inwertsetzung rasch voran.
Man kann diese Veränderung unterschiedlich charakterisieren. Man kann sagen, es handele sich um einen »technologischen Wandel«: Biotechnologien bemächtigen sich des Körpers. Man kann einen »Normenwandel« konstatieren oder auch die »Pluralisierung« einer ehemals eindeutigen Moral, die den Körper früher mit Tabus umgab. Man kann auch sagen: Es gibt da den sozialen Tatbestand einer »Kommerzialisierung« des Körpers. Gerade diese letzte Bestimmung trifft natürlich den eingangs genannten Sachverhalt: Blut, Organe, Zellen aller Art, Gewebe und auch Daten werden abgenommen, gelagert, verwertet, können gehandelt werden.
Gleichwohl kann man zweifeln, ob es ausreicht, von einer Kommerzialisierung des Körpers zu sprechen, denn die fragliche Veränderung geht tiefer und sie kann anders beschrieben werden. Mit der Nutzbarmachung der Substanzen wird der Körper nicht nur finanziell neu, nämlich ›höher‹ bewertet, sondern es wandelt sich das, was ein lebendiger Körper ist. Die individuellen Körper der Menschen werden anders behandelt, anders verwendet, anders wahrgenommen und anders dargestellt. Sie, oder vorsichtiger gesprochen: etwas von ihnen, etwas an ihnen, scheint selbst zirkulationsfähig zu werden.
|18|Die Körper sind nicht nur Teil der Ökonomie, sondern ein Medium neuer Ökonomien geworden – dieser Vermutung geht das folgende Kapitel nach. Mittels der neuen Märkte scheint man tatsächlich technisch immer mehr in den Stand zu geraten, nicht den Körper für Geld, sondern den Körper wie Geld, gleichsam ›physisch‹ zirkulieren zu lassen. Es ist der Körper selbst, und zwar verwandelt in eine eigenartige, technogene Substanz, der – einem Kapital nicht unähnlich – unter dem Namen des ›Lebens‹ zwischen den Individuen zirkulationsfähig wird. Es geht auch nicht einfach um die Gewinnung von Stoffen, die Geld wert sind, sondern um die Gewinnung von Stoffen, die ›Leben‹ wert sind – biologisches, physisches Leben. Das Geld wäre aus dieser Sicht gleichsam nur Mittel zum Zweck. Der eigentliche Wert, um den es geht, wäre aber der steigernde, verbessernde, verlängernde Effekt auf der Ebene des biologischen Lebens selbst.
Wo es um das Leben im biologischen Sinne geht, ist wiederum eine weitere Beobachtung zu machen. Nicht etwa metaphorisch, sondern ganz real wird die Einheit des Individuums unterminiert – als Einheit nämlich, die über eine unabsehbare Tradition hinweg an die Hautgrenze des Einzelnen gebunden war. Allgemeiner gesprochen: Das biologische ›Leben‹ bringt ganz neue Grenzen hervor, die quer durch ein einzelnes Individuum hindurchgehen, das dieses ›Leben‹ nur exemplarisch verkörpert.
Alle diese Thesen sollen im Folgenden erläutert werden, und zwar anhand einer ganzen Reihe von Beispielen. Ich trenne zu diesem Zweck zunächst die Frage nach den neu zirkulationsfähig gemachten Körperstoffen von der Frage nach den neuen Daten, die ebenfalls zum Zwecke des Zirkulierens über den Körper gewonnen werden. Es soll also zunächst ein ›substantieller‹ Körper und dann separat sozusagen ein ›Daten-Körper‹ betrachtet werden. In einem dritten Schritt hebe ich diese Unterscheidung wieder auf, denn der Substanzenkörper und der Datenkörper des Menschen des Bio-Zeitalters sind nicht getrennt. Die beiden Paradigmen Substanz und Information durchdringen einander – und dies nicht nur in der Molekulargenetik, sondern auch auf der Ebene der Wahrnehmung, der Evidenz von Diagnosen und Prognosen im Hinblick auf den individuellen Körper oder aber bezogen auf ganze Bevölkerungen, Populationen.
|19|1. Die Zirkulation der Körperstoffe
Dass die Medizin zerteilt und schneidet, sich über die Hautgrenze hinwegsetzt und ins Innere des Individuums eindringt, ist seit der Anatomie der Neuzeit der Fall, und wie man weiß ist die theoretische Rekonstruktion des Körpers als Funktionszusammenhang1 wie auch die praktisch-technische Erschließung des Körperinneren seither ungeheuer vorangeschritten. Nicht nur chirurgisch, sondern auch mittels Mess- und Darstellungsverfahren oder pharmakologisch sind wir heute gleichsam ›durch und durch‹ zugänglich – und nicht erst postum, sondern in vivo, als lebendige Materie. War das Innere des Kranken früher der Medizin in vielem ein Rätsel, so sind ihr heute die Bestandteile und Funktionen seines Körpers bekanntes Terrain. Dass aber die Medizin jenseits davon auch zwischen den Körpern Verbindungen stiftet, also nicht nur ›eindringt‹, sondern stoffliche Körpergrenzen bewusst überbrückt, – das ist vergleichsweise neu. Betrachten wir, sehr knapp, aber in der historischen Reihenfolge, einige Meilensteine dieser Entwicklung.
1.1. Blut
Das Blut ist der erste Stoff, den man aus dem Inneren des einen in das Innere des anderen zu übertragen begann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ›entdeckte‹ und überwand man das Problem der körpereigenen Abwehr. Im Jahre 1908 erfolgte die erste moderne (eine direkte) Bluttransfusion.2 Mit der Entdeckung der Blutgruppen und risikoarmer Haltbarmachungsverfahren wurde die Praktik der Übertragung von Blut zwischen Mensch und Mensch rasch zu einer medizinischen Elementartechnik – und ebenso selbstverständlich etablierten sich die Blut-»Spende«, die Lagerung von Blutkonserven und auch eine ganze Industrie zur Verwertung von Blut-Bestandteilen (Plasma, Blutkörperchen und anderen Komponenten). Längst gibt es daher einen regelrechten Blut-Markt, und der Rohstoff Blut |20|zählt »mit Sicherheit zu den wertvollsten Flüssigkeiten der Welt« (Starr 1999, S. 10). Lagerung, Transport, Distribution und Qualitätssicherung von Humanblut sind international standardisiert, während es zugleich (wie bei jedem Produkt mit hohem Preis) auch einen weltweiten »grauen« und illegalen Bluthandel gibt. Das Blut zirkuliert, mit anderen Worten, auf einem Markt, als Rohstoff und Ware. Zugleich zirkuliert es aber auch zwischen den Individuen. Der individuelle »Lebenssaft« (wie es hieß) ist übertragbar geworden. Im Hinblick auf Blutnachschub ist die Menschheit sozusagen stets liquide.
1.2. Organe
Eine zweite Praxis ist ähnlich gelagert, geht in ihren Eingriffen und Folgen aber erheblich weiter. Etwa seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Chirurgie mit der Mensch-zu-Mensch-Übertragung von komplexeren lebenden Organen begonnen, also von Nieren, Herzen, Lebern etc. Aus der Transfusion, gleichsam dem Hinüber-Fließen-Lassen, wird die Transplantation, also das Hinüber-Pflanzen.
Zur (in ihren Details grausamen) Geschichte der Organverpflanzung von den ersten Menschenversuchen bis zur heute sich einbürgernden Praxis der »Lebendspende« gäbe es viel zu sagen.3 Unter dem Gesichtspunkt der durchlässiger werdenden Körpergrenze ist entscheidend, dass parallel zur Technik der Transplantation von Organen nicht weniger als ein neues Körpermodell entstanden ist. Gemeint ist das Konzept des Immunsystems, – das als Antwort auf die Erfahrung der Abstoßung fremder Organe entwickelt wurde. Es enthält und es realisiert die Hypothese der Regulierbarkeit der körpereigenen Widerstände gegen den aus dem fremden Körper herübergeholten Stoff. Auch der Immunkörper ist ein transplantationstechnischer Sachverhalt, denn die pharmakologische so genannte »Immunsuppression« gehört untrennbar zur Organtransplantation hinzu: Man muss den Körper durch fortdauernde Medikamentengabe dazu bringen, dass er die neu eingepflanzte Substanz nicht zerstört und als seine ›eigene‹ annimmt.
|21|Anders gesagt: Damit der Stoff von Individuum zu Individuum übertragen werden kann, führt die Medizin ein ganz bestimmtes Körperschema ein: das der zwar vorhandenen, aber unterdrückbaren Grenze. Nicht mehr die stofflich-sinnfällige, sondern die Immungrenze definiert, was zu welchem Körper gehört. Und im Kontinuum der Körperstoffe lässt sich die Immungrenze – im Prinzip jedenfalls – willkürlich ziehen. Die Idee der Regulation lässt die Substanzgrenze in den Hintergrund treten, um sie durch eine Funktionsgrenze zu ersetzen. Das, woraus wir bestehen, kann behandelt werden als eine zirkulationsfähige und eigentümlich »todlose« Allsubstanz.
Auch der Tod verändert sich – es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass hier ein Zusammenhang besteht: Der immunologischen Abstraktion, die nötig ist für das Einpflanzen von lebendigen Organen, entspricht eine Abstraktion, die auf der Seite der Entnahme von lebendigen Organen nötig ist – nämlich das Konzept des »Hirntodes«, demzufolge das Fehlen einer messbaren Hirnaktivität den Zeitpunkt des Todes definiert. So kommt durch Definition zustande, was für den stofflichen Transfer nötig ist: ein für »tot« erklärter Körper mit gleichwohl »lebenden« Organen als Ressource für die Transplantation (vgl. Schlich, Wiesemann (Hrsg.) 2001).
1.3. Fortpflanzungs-Substanzen
Es folgt nach dem Blut und den Organen ein drittes Beispiel. Vom Blut zu Beginn und dem Organtransfer in der Mitte des 20. Jahrhunderts ging man in den 1980er Jahren zum Transfer von ganz speziellen Zellen über: den Körperstoffen für das (und aus dem) »Befruchtungs«-Geschehen. Gewiss sind Kulturtechniken der Einflussnahme auf die Fruchtbarkeit von Frauen wie auch Männern so alt wie die Menschheit. Gleichwohl stellt die Laborbefruchtung unter Verwendung lebender menschlicher Zellen eine neue Qualität dar – nicht zuletzt als Zumutung für die Frau: Der Laborbefruchtung (In-vitro-Fertilisation, abgekürzt »IVF«) gehen massive Hormongaben sowie eine chirurgische Explantation von Eizellen voraus. Im Effekt entscheidend ist, dass mit der IVF nicht nur die gesonderten Keimzellen durch einfache Kühlung haltbar und frei verfügbar sind, sondern dass auch das Produkt lang gelagert werden kann, für das sie als Rohstoff dienen: das nach der Befruchtung entstandene mehrzellige Objekt, der Embryo.
|22|Die Praktik der IVF setzt auf das Modell der Befruchtung durch Kernverschmelzung als Kombination des lebenden Erbguts sowie auf die nachfolgende kunstgerechte Bearbeitung der sich teilenden Zellen. Die so genannte ›künstliche‹ Befruchtung in vitro verdient gleichwohl das Attribut ›künstlich‹ nicht deshalb, weil sie die erste manipulierte Befruchtung wäre, denn – wie gesagt: manipuliert wurde an der Fruchtbarkeit schon immer. Vielmehr ist sie künstlich, weil sie in vitro stattfindet, also nicht Eltern, sondern allein Dritte (und zwar im Rahmen einer Expertenkultur und mittels eigens konstruierter Werkzeuge) mit dem Zellmaterial hantieren und gemäß der Logik der Produktherstellung den Nachwuchs herstellen. In der Reproduktions-Ethik spricht man oft etwas vage von Embryonen-»Gewinnung«. Rein von der Sache her gesehen werden im Reagenzglas Embryonen produziert, und zwar so, dass deren weitere Verwendung – rein technisch gesehen – für die verschiedensten Zwecke frei steht.
Wieder ein Thema, zu dem man eine Menge sagen kann. Ich beschränke mich auf den Gesichtspunkt des Durchlässig-Werdens der individuellen Körpergrenze im Zeichen des ›Lebens‹ – mit dem Resultat der Zirkulationsfähigkeit der Körperstoffe aus den beteiligten Körpern und der Ökonomisierung in einem umgreifenden Sinn.
Die Reagenzglas-Befruchtung öffnet theoretisch wie praktisch einer Fülle von Anwendungen das Tor, sie lädt zum Basteln ein – auf der Basis des einfachen Modells einer im Prinzip freien Kombinatorik von Kern plus Kern plus Hülle. Die Ausgangsstoffe liegen bearbeitungsoffen zutage, und alles scheint möglich; nicht durch Zufall spricht man von »Gen-Design«. Auf dieser Basis hat sich in wenigen Jahren eine ganze Palette von »neuen Möglichkeiten« entwickelt, und die meisten von ihnen sind auch schon im Fortpflanzungsalltag zu haben. Jeweils sind zunächst spektakuläre Präzedenzfälle geschehen und ausdiskutiert worden, und was sich dann abzeichnet, ist eine – rein rechtlich international unterschiedlich ausgestaltete – Normalität: IVF ist die Basistechnologie für die Injektionsbefruchtung ICSI (intra-cellular-semen-injection), für die homologe und heterologe Leihmutterschaft, für die Ermöglichung einer Befruchtung außerhalb normaler Altersgrenzen und für die PID (Präimplantationsdiagnostik), den Gencheck zur Qualitätskontrolle der künstlich hergestellten Embryonen vor dem Einpflanzen in eine Frau.4 Man kann mit den Fortpflanzungssubstanzen |23|im Labor aber auch Eier durch Eier wie wahrscheinlich auch Samen durch Samen sowie (im Prinzip) über Artgrenzen hinweg mit Tierzellkernen befruchten – und man kann auf verschiedenen Wegen Keimzellen identisch vervielfachen, also klonen. Klontechniken können sowohl bloß rohstofforientiert (wie man so schön sagt: »therapeutisch«) als auch zwecks Geburt, also zur Zwillingsherstellung, eingesetzt werden. Zum Zweck der Rohstoffgewinnung ist das Klonen bereits in vielen Ländern erlaubt.
Dass der Transfer von Körperstoffen gerade im Bereich der Befruchtung einen explodierenden Markt eröffnet, ist nicht schwer zu sehen. Befruchtungspraxen sprießen aus dem Boden, für Eizell- und Samenspende wie auch Leihmutterschaft sind internationale Märkte entstanden, Modellrechnungen zur Senkung öffentlicher Gesundheitskosten durch PID sind nicht bekannt, aber sie dürften existieren. Deutlich ist jedoch auch, dass in diesem Feld erneut nicht allein Zahlungen zirkulieren, sondern die humane Substanz selbst – und zwar nun die autonom wachsende Substanz, man möchte fast sagen: das Reproduktionsvermögen als solches. Der fruchtbare Stoff wird in Form von ›Nachwuchs‹, dem ›eigenen‹ Kind und Erbgut sowie als prognostizierte Erbgesundheit gleichsam unmittelbar gewinnbringend eingesetzt. Er fungiert als allgemeines Äquivalent nicht für finanziellen Gewinn, sondern für die Verbesserung von ›Leben‹.
Der Stoff der einen kann der flexibel einsetzbare Rohstoff der Schwangerschaft der anderen werden: Dank dieser Loslösung kann das, was vorher schlicht zum leiblichen Ganzen einer Frau gehörte, die reproduktive Substanz, das durch Kernverschmelzung der juristischen Definition gemäß entstandene »werdende Leben«, dem Wohl der Menschheit plötzlich auf vielerlei Weisen nützlich sein. Die biologische Gattung scheint sich im |24|Medium ihrer eigenen Generativität zu steigern – eben indem die humane Leiblichkeit nicht für eine Ökonomie, sondern als eine Ökonomie fungiert.
1.4. Stammzellen
Mit einem letzten Beispiel zur Zirkulation menschlicher Körperstoffe treffen auf gewisse Weise die Paradigmen Transplantation und Fortpflanzung zusammen und verbinden sich zugunsten einer weiteren Option. Auch dieses Stichwort ist bekannt: »nachwachsende Organe«. Gemeint ist die Herstellung von nachwachsendem menschlichem Gewebe, das, an Ort und Stelle eingesetzt, genau die Aufgaben eines dort benötigten spezifischen Zelltyps übernehmen kann. Man transplantiert nun also nicht ein fremdes Organ, sondern implantiert gleichsam eine differenzierungsfähige Anfangsform für eine im Körper selbständig heran- und festwachsende – sagen wir: Milz oder Leber. Technologische Voraussetzung für diese Vision einer Gewebe-Ingenieurskunst, eines tissue-engineering bis hin zum ausgewachsenen Organ5 , ist die so genannte Stammzelllinie, eine identisch sich teilende und gleichsam alterslos weiterwachsende Zell-Kultur. Diejenigen Zellen aber, denen man nachsagt, extrem wachstumsfreudig zu sein und zugleich für Ausdifferenzierung offen, sind die von Embryonen. Menschliche embryonale Stammzelllinien wurden 1998 erstmals kultiviert und stehen seither im Fokus der Forschung.
In der Stammzellnutzung scheinen sich Reproduktionstechnologie und Organtransfer auf eigenartige Weise zu begegnen. Die Metaphysik des »werdenden Lebens« wird gleichsam mit der Idee der Lebensverlängerung mittels Organersatz fusioniert. Ein neues Handlungsfeld tut sich auf: Die embryonale Stammzelle erscheint als der schlechthin universale Rohstoff, aus dem man Gewebe nun flexibel nachzüchten kann – immer vorausgesetzt es gelänge, die unfestgelegten Zellen so zu »programmieren«, dass sie nach dem Einwachsen ihrer vorgesehenen Funktion entsprechen.
Im Sommer 2002 gab es eine hitzige Pro-Kontra-Debatte über die Forschung an embryonalen Stammzellen. Als Philosophin wie auch als Feministin sehe ich das Ergebnis mit Skepsis. Die Debatte endete mit einer einfachen moralischen Inwertsetzung »des Embryo«, der von theologischer |25|Seite wie auch von Frauenpolitikerinnen zur Quasi-Person erhoben wurde, anstatt die Embryonaltechnologie als das zu analysieren, als was man sie aus mehr Abstand auch sehen und kritisieren kann: Als eine höchst eigentümliche Neuerung, in der gleichsam auf einen Schlag alle biopolitischen Phantasmen von der vollständig flexibilisierten Lebens-Rohmasse zusammenschießen. Weswegen der Embryo vor allem ein technogenes Faszinosum ist, in dessen Namen man Frauenkörper vernutzten darf und kann.
In allen diskutierten Gewinnungsvarianten – ob als direkte Verwendung embryonaler Zellen, als Reprogrammierung so genannter adulter Zellen oder als Nutzung von quasi »mütterlichen« Embryonalzellen (nämlich Stammzellen aus dem Nabelschnurblut) –, in allen diesen Varianten haben wir mit der Stammzelle nahezu in Reinkultur vor uns, was dem Ideal einer universal zirkulationsfähigen menschlichen Rohsubstanz entspricht: Einen entindividualisierten Lebensstoff, der den Einzelnen mehr wie ein Strom durchläuft, als dass er dessen Körper ausmachen würde oder substantiell mit diesem Körper oder auch nur mit seinem Alter identisch wäre.
Nehmen wir dies als ein Zwischenergebnis. Wie ein Brennglas bringt gerade die phantastische Stofflichkeit der Stammzelle alle Aspekte zusammen, auf denen das körperpolitisch Neue der biomedizinischen und biotechnischen Epoche beruht: Ein Kontinuum von ›Leben‹ scheint die sinnfällige Körpergrenze zwischen mir und meinem Gegenüber, aber auch zwischen mir und der biologischen Gattung verblassen zu lassen. Die alte Grundidee des intakten Individuums, das man allenfalls um seiner selbst willen – wenn es krank ist – behandelt, scheint im Schwinden begriffen. Statt dessen richtet sich eine Ökonomie der zirkulierenden lebendigen Bio-Materialien ein, die dem Menschen nicht nur verabreicht werden, sondern auch aus Menschenkörpern gewonnen oder in Menschenkörpern produziert worden sind. Neue »allgemeine« Stoffe mit biochemischem, immunologischem oder genetischem Profil – das Blut-Serum, der Antikörper, die T-Zelle, die DNA, der Zellkern – werden dabei in Wert gesetzt. Alte Singularitäten – etwa die Identität ›meines‹ Herzens, die ererbten Eigenschaften ›dieses‹ Kindes oder auch die biographische Einheit ›meines‹ körperlichen Geschlechts – werden als Realität entwertet. Damit muss nicht gesagt sein, dass die alten Bezugsgrößen automatisch herabgesetzt oder abgewertet werden. Sie sind jedoch nicht mehr so wirklichkeitsmächtig wie vorher. Sie sind entintensiviert, sind disponibel geworden.
|26|2. Die Zirkulation der Biodaten
Ein empirisches Datenphänomen ist »der Mensch« – als Einzelgröße und in der in früheren Zeiten unbekannten Form der »Population« – seit es die empirischen Sozialwissenschaften gibt. Diese Wissenschaften sind im 19. Jahrhundert entstanden, sie stellen einen wirklichkeitswissenschaftlichen Anspruch, den es auf das Soziale bezogen bis dahin nicht gab, und sie bringen dabei eine neue Sorte von Mathematik in Anschlag: die Sozialstatistik. Im Rahmen einer Population, also einer Gruppe von Individuen, die aufgefasst wird als ein Kontinuum, in dem sich messbare Eigenschaften gemäß einer objektivierbaren ›Normalität‹ verteilen, kann man Beliebiges als Datengröße erfassen, typisieren, gruppieren, zuordnen.
Eine wichtige Leistung der Statistik ist die auf die Zukunft anwendbare Wahrscheinlichkeitsaussage: die Realität der statistischen Prognose. Es handelt sich bei der Normalität um einen Objektivitätstyp, den es vor dem 19. Jahrhundert nicht gab – und der im übrigen zeitgleich mit seiner Anwendung auf das Feld des Sozialen auch die ›exakten‹ Naturwissenschaften zu erobern beginnt, namentlich die Biologie, aber auch die Nationalökonomie, die heutige Volkswirtschaftslehre (vgl. Foucault 1966). Ferner entwickelt die Statistik nicht nur numerische, sondern auch bildhaft-abkürzende graphische Darstellungsverfahren – bis hin zu den uns heute vertrauten animierten Visualisierungen von Normalität.6 Es existiert also ein komplexes Feld von historischen Möglichkeitsbedingungen der Daten-Phänomene, um die es im folgenden Abschnitt geht.
In aller Kürze soll es nun um die Vermutung gehen, dass heute der substantiellen, der sozusagen ›fleischlichen‹ Seite des Körpers eine informationelle Seite, ein Daten-Körper entspricht. Wurde bisher betrachtet, wie Körperflüssigkeiten, gekühlte Körperstücke, herauspräparierte Zellgewebe sich in Bewegung versetzen und zwischen den individuellen Körpern kreisen, so zeigen sich analoge Phänomene im Reich der Information. Erneut möchte ich hierzu eine Folge von Beispielen abschreiten – Beispielen dafür, wie man Sozialdaten, klinische Daten einsetzt, aber eigentlich ganz allgemein alle digitalisierbaren Daten, die ja in diesem nicht mehr ›analogen‹ Zustand mit beliebigem anderem digitalem Material verrechenbar sind. Ich denke, auch im Bereich der Bio-Daten zeichnen sich neue, |27|gewissermaßen leibhaftige Zirkulationen ab, und auch in dieser neuen Bio-Ökonomie steht das bisherige Sosein von Leiblichkeit selbst auf dem Spiel.
2.1. Gesundheitspässe
Medizinische Daten über den Körper eines Individuums sind weder rein biologische noch einfach Sozialdaten. Sie sind als beides wirksam. Medizinische Daten sind einerseits als naturhaft-unverrückbar zu nehmen und andererseits doch immer auch soziale Tatsachen, das macht sie so besonders brisant. Im Rahmen der sozialstaatlichen Gesundheitspolitik des 20. Jahrhunderts ist man dazu übergegangen, ganze Bündel individueller medizinischer Daten bevölkerungsweit zu erheben und in standardisierter Form permanent präsent zu halten. In jedem Einzelfall wird so zum einen eine Normalität zum fraglosen Orientierungsmaß – und zum anderen kann man zu beliebigen Zwecken jederzeit einen individualisierten Datensatz auswerfen, der fest mit dem Sosein des jeweiligen Individuums verklammert ist. Handfestes Anzeichen solcher bevölkerungsweiter und gleichsam fest mit dem Körper verschweißter biomedizinischer Informationspakete sind Ausweise7 , Pässe oder Chipkarten, die man ja auch tatsächlich physisch bei sich trägt, damit sie das Überprüfen und Messen – also das vergleichende Wahrnehmen jeweils eigens – ergänzen oder ersetzen.8
Einen unrühmlichen Prototyp aller flächendeckenden Dokumente dieser Art bildet der Erbgesundheitspass als Teil der eugenischen Biopolitik des Dritten Reichs. In negativer Hinsicht war er ein Instrument biologischer Selektion; in ›positiver‹ Hinsicht war er ein Instrument des biopolitischen Projekts einer Erbgutverbesserung. Der Datenkörper, der die Erbanlagen mitteilte, fungierte als Grundlage für beides.
Für die Bundesrepublik setzte in Sachen Körper-Daten die Erschließung der Schwangerschaft Maßstäbe. Mit der Karriere des »Mutterpasses«, den spätestens seit den 1960er Jahren jede schwangere Frau bekommt, den sie bei sich zu führen hat (!) und dessen Datenvolumen sich mehrfach |28|vergrößert hat, ist der weibliche Köper zu einer geschlossenen Datendecke geworden. Ob man diese Daten inzwischen zentral erfasst, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls enthalten Mutterpässe heute ausdifferenzierte Messwerte und Verlaufsprotokolle, psychologische Angaben und Sozialdaten eingeschlossen. Frauen müssen eine wachsende Zahl von Pflichtstationen, Messungen, Ultraschall-Checks etc. abarbeiten und ein ausgeklügeltes institutionelles Regime sorgt dafür, dass die künftigen Mütter aus dem System nicht ausscheren – ohne dass je grundrechtsverletzungsverdächtige Gesetze oder ähnliches nötig gewesen wären. Fehlende Kooperationsbereitschaft wird durch Vorsorge-Moral und Versäumnisandrohung erzwungen sowie im Zweifel indirekt sanktioniert, nämlich über die Drohung, Kostenrisiken selbst zu tragen. Auch die Daten des neugeborenen Kindes werden eingetragen und in verschiedenen bundesweiten Registern zentral erfasst.
Man könnte einwenden, dergleichen Daten seien doch nur abstrakte »Informationen« und nicht Teil eines Körpers. Ich denke aber, so einfach ist es nicht. Der Schwangerschafts-Daten-Körper ist von Gewicht: Er durchdringt die soziale Erfahrung, die den Körper für uns evident macht und seine »Natur« konstituiert. Und er stiftet auch »Natur«. Um bei der Konstitution des Mutter-Körpers zu bleiben: Hier ist beispielsweise die Blutgruppe einschließlich des Rhesus-Faktors ein solcher wirklichkeitsdefinierender Punkt. Unverträglichkeit mit den Werten eines möglichen Vaters bedeuten die konkrete Gefahr einer Fehlgeburt. Ähnlich konstitutiv ist das durch die Erfordernisse des Passes regulär zugemutete Wissen um Anzeichen für Besonderheiten eines erwarteten Kindes – der Pass fragt beispielsweise nach Daten, die auf das so genannte Down-Syndrom hinweisen. Dann gibt es da dasjenige Daten-Wissen, das ein Individuum gleichsam im Medium seines Körpers zum Angehörigen einer bestimmten Patienten-Gruppe oder Risiko-Gruppe macht: Den konstitutiven Bluthochdruck, den Diabetes, die Allergie, den positiven HIV-Testwert oder auch die mitgeteilte Erbkrankheit (die Ethik diskutierte dies am krassen Fall der spät ausbrechenden, tödlichen Erkrankung Corea Huntington) trägt man im Kontext der modernen Medizin quasi bei sich. Selbst wenn es einem selbst egal wäre, so weiß man sich doch – eben weil die Daten ja zirkulieren – entsprechend differenziert erfasst und wahrgenommen. Man wird sich zu der in den Biodaten gelegenen Realität als etwas verhalten, das ›objektiv‹ Teil des eigenen Körpers ist.
|29|2.2. Die Humangenetik
In Form von Pässen zirkulieren (noch) physisch heterogene Stücke von Wissen. In der Humangenetik sieht das anders aus. Die Humangenetik ist eine statistische Wissenschaft, sie integriert Informationen – und zwar inzwischen, im Zuge der Verwandlung der Genetik in die Genomforschung, bei gleichzeitiger Gesamterfassung des Human-Genoms. Auch zu dieser wissenschaftsgeschichtlichen Verschiebung ließe sich viel sagen, die Geschichte der Genetik wurde in den vergangenen Jahren gut untersucht (Jacob 1970, Rheinberger 1995, Jacob 1997, Kay 2000). Aus erkenntnistheoretischer Sicht ist vor allem der changierende Charakter des Objektfeldes dieser lebenswissenschaftlichen Forschung interessant. Mit dem Schritt von der Genetik zur Genomforschung tritt zum Paradigma des biologischen ›Lebens‹ das Paradigma der Schrift, und zwar einer biochemischen Schrift von der Art einer Komplett-Beschreibung, die zugleich als Programm funktioniert, also als operativer Befehl.9 Nicht einzelne Informationen über den Körper werden diesem Modell zufolge gleichsam eingekörpert, sondern der gesamte Genotyp erscheint wie ein riesiger, in sich aktiver Datensatz – der seinerseits wiederum als Teil eines noch viel komplexeren ›Pools‹ von Daten fungiert, nämlich gewissermaßen des Daten-Körpers der Gattung.
Die Sogwirkung der Annahme, das Genom könne die Universalschrift sein, die letztlich alle anderen Körperdaten in sich aufnimmt, ist groß. Alltagswirksame Folge ist die explosionsartige Vermehrung von möglicherweise relevanten und von tatsächlich erfassten Daten aller Art. In Island, Estland, auf Zypern sind Totalerfassungsprojekte im Gange, deren Witz darin liegt, biografische und medizinische Daten umfassender Art und – als möglicherweise genetisch relevant – ergebnisoffen zusammenzutragen. Erhoben werden in der Humangenetik nicht nur Geschichten, sondern Messdaten. Die Zeiten unverbindlicher Fragen nach Sachverhalten |30|wie »Erkrankungen der Eltern?« sind vorbei. Faktorenspezifische Gen-Tests und Gen-Checks beherrschen das Bild. Jeweils geht es um Normalverteilungen bzw. um Abweichungen, die maßgebliche Relation ist also stets das Verhältnis des Einzeldatums zum Ganzen einer Population. Am konsequentesten realisiert sich diese Logik im Gen-Screening, also bei flächendeckenden Gentests. Hier ist der Wert der Einzelinformation maximiert, weil zugleich nicht nur eine repräsentative Population, sondern auch die Totalität der Fälle bekannt ist. Aber nicht nur für die Aussagekraft im Einzelfall, sondern auch prinzipiell ist der Universalismus des neuen Modells entscheidend – der Rekurs auf die Totalität der Daten, die Totalität des Genoms, gibt dem Datum seinen Wirklichkeitswert, nicht nur irgendein singuläres Detail, sondern ein genetisch relevantes Datum zu sein. Jede humangenetische Einzelaussage mobilisiert so im Grunde ein ganzes Daten-System, das die Sicht auf den individuellen Körper bestimmt.
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|35|Kapitel 2
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|55|Kapitel 3
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|74|Kapitel 4
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|203|Kapitel 10
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