Big City Rap - Maria Seidemann - E-Book

Big City Rap E-Book

Maria Seidemann

4,6

Beschreibung

„Klee vertreibt den Nebel“. Was ist denn das für ein komischer Satz? Klee vertreibt den Nebel. So hatte Abel, der am 4. Juli gerade seine neunte Klasse beendet hatte, ein Bild genannt, das seine Mom gemalt und ihm geschenkt hatte. Darauf waren verschwimmende Farbflächen zu sehen und er nahm es mit in sein Zimmer und stellte es dort auf sein Regal. Allerdings hat Abel ein Problem, denn in seinem Zeugnis steht: „Nicht versetzt.“, und damit würde er im nächsten Schuljahr auch nicht mehr neben Silly in der Klasse sitzen. Zunächst einmal trifft Abel seine Kumpels: Dann kamen Chuck und Gecko auf Geckos Fahrrad, sie hatten Döner dabei. Wir setzten uns auf die Zementröhren und teilten die beiden Döner, danach rauchten wir erst mal eine. War noch viel zu früh, um in die Glasfabrik zu fahren. Aber bald kam Wind auf, und der Rauch von der wilden Müllkippe am Wäldchen drehte in unsere Richtung. Auf der Kippe brannte immer irgendwas, und meistens konnte man den Gestank kaum aushalten. Chuck meinte, wir sollten zu den Garagen gehn und sprayen. Wir gingen in den Wagen, und ich holte meine neuen Skizzen aus der Kiste. Wir nehmen immer meine Skizzen. Ich kann mir stundenlang Graffiti ausdenken, immer neue, manchmal zeichne ich auch was anderes, aber meistens sind es Entwürfe für Graffiti. Aber das wird ihm zumindest in der Schule nicht immer zu seinem Vorteil ausgelegt. Und so will Abel auch gar nicht weiter zur Schule gehen – selbst dann nicht, als man ihm einen Kompromiss anbietet und ihn gleichsam auf Bewährung doch versetzen will. Wird er bei seiner Ablehnung bleiben? Auch sonst passiert bis zum Ende der Ferien noch manches Schöne, aber auch jede Menge Schreckliches. Sogar Tote gibt es. Das hat auch mit einem Feuer in dem Wohnheim für Asylbewerber aus Afrika zu tun. Und dann ist da noch die Geschichte mit Silly, mit der er zusammen aufgewachsen ist: Sie ist ein halbes Jahr älter als ich. Wir haben schon immer auf derselben Etage gewohnt, solange ich denken kann. Mom und ich, wir hatten zuerst die kleine Mittelwohnung, Wand an Wand mit Sillys Familie. Ich war früher oft tagsüber bei Sillys Mutter, als Mom noch in die Schule ging, und später auch über Nacht, als sie studierte, und noch später, wenn sie abends länger im Malsaal bleiben musste. Sillys Mutter ist Hausfrau, sie arbeitet nur manchmal im Megamarkt als Aushilfe. Silly und ich, wir waren wie Geschwister. Jedenfalls damals. Als wir noch Kinder waren. Und jetzt soll Silly schwanger sein?

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Impressum

Maria Seidemann

Big City Rap

ISBN 978-3-86394-790-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1998 im Arena Verlag, Würzburg.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Wir haben unsere Zeugnisse eingesteckt und sind nach Hause gegangen, Silly und ich. Unterwegs haben wir kein Wort geredet. Gab sowieso nichts zu sagen. Freitag, vierter Juli. Unabhängigkeitstag - haahaa. Abhängigkeitstag hätte besser gepasst. Der Fahrstuhl war wieder mal kaputt. Wir stiegen die acht Stockwerke hoch. Oben holten wir unsere Schlüssel raus. Jeder schloss seine Türe auf. Silly rechts und ich links.

Mom war noch nicht da. War heiß in der Wohnung. Auf dem Tisch stand ein Kuchen. Der war für mich, sah ich sofort, weil er mit lauter Schokolinsen bestreut war. Mindestens hundert Schokolinsen. Neben dem Kuchen lehnte das kleine Nebel-Bild, das Mom vorige Woche gemalt hatte. Ich hatte ihr gesagt, dass es mir gefiel, und jetzt stand es hier auf dem Tisch, für mich, zum Abschluss der Neunten. Ich schluckte, meine Kehle war trocken. Auf dem Zettel stand: Herzlichen Glückwunsch, Abel! Den Rest schaffen wir auch noch. Und unter dem Zettel lag ein Geldschein für die Party in der Glasfabrik. Das Bild roch nach frischem Firnis, der Kuchen roch nach warmer Schokolade. Mir wurde schlecht.

Ich machte alle Fenster auf und ging unter die Dusche. Danach war mir besser.

Ich trug das Bild in mein Zimmer und stellte es auf mein Regal. Lange starrte ich auf die verschwimmenden Farbflächen, ohne etwas zu sehen. Ich erinnerte mich an den Nachmittag, als das Bild fettig geworden war. Damals fragte mich Mom, wie ich es nennen würde. Ich überlegte, und dann sagte ich: "Klee vertreibt den Nebel."

Ich dachte, Mom würde mich auslachen oder irgendeine Erklärung verlangen. Aber sie nahm den dünnsten Rundpinsel und schrieb mit winziger Spinnenschrift dicht über den unteren Bildrand: Klee vertreibt den Nebel. Das war ein besonderer Augenblick. Einer von denen, wo ich mich mit meiner Mom ohne ein einziges Wort total verstehe. Als wir so standen und schwiegen und das Bild anschauten, kam Gernot. Er wollte wissen, was das werden sollte, auf dem Bild. Er tut immer so, als ob ihn Moms Bilder interessieren. Vielleicht interessieren sie ihn ja wirklich, was weiß ich.

"Gerri! Das Bild ist doch fertig!", sagte Mom und lachte. Gernot guckte von einem zum anderen und fragte, ob wir ihn vielleicht verschaukeln wollten. Dann entzifferte er den Titel.

"Ich sehe auf dem ganzen Bild kein bisschen Klee, und neblig ist es da auch nicht", sagte er.

"Klee war ein Maler, Mann!", stöhnte ich. Und vorsichtshalber erklärte ich ihm auch, dass Paul Klee schon lange tot ist. "Das Bild heißt so, weil man sich an ihn erinnert, wenn man das Bild sieht. Und dass irgendwie Klarheit herrscht."

"Irgendwie Klarheit, klar!" Gernot grinste. "Ich warte ja immer noch darauf, Suse, dass du ein einziges Mal etwas malst, was ein einfacher arbeitender Mensch wie ich verstehen kann."

Suse, so heißt meine Mom. Susanne Abel. Der Name passt zu ihr. Damals hatte sie noch die langen Haare. Rotblond und wellig, bis über die Schultern.

Sie sollte nicht nur Linien und bunte Kleckse malen, meinte Gernot, sondern irgendwas, was so aussieht wie die Wirklichkeit. Dann würde sie vielleicht als Künstlerin berühmt und müsste nicht mehr Kulissen pinseln.

Na ja, Gernot hat keine Ahnung. Dafür kann er nichts. Ist eben ein Bulle, und Bullen verstehen nichts von Bildern. Ich konnte mir einfach nicht erklären, was Mom an ihm fand. Ich dachte, sie braucht ihn, um sich zu trösten. Weil sie nicht allein sein wollte, nur mit mir. Aber sie hätte sich 'n besseren Typen raussuchen können. So wie sie aussieht, und wie sie denkt und redet. Sie ist 'ne Superfrau. Ausgerechnet einen von der Polizei, 'n Spießer mit Bausparvertrag und Kegelabend. Ätzend. Gernot ist vierzig, fast so alt wie Sillys Vater. Und Sillys Eltern haben gegen Mom schon immer wie 'n Rentnerehepaar gewirkt.

Als ich an Silly dachte, fiel mir die Schule wieder ein. Und natürlich das Zeugnis. Das war so ein Tag, an dem nicht mal Klee den Nebel vertreiben konnte, ehrlich. Ich ging auf meinen Balkon und stützte mich auf die Brüstung. Als wir vor zwei Jahren in die größere Wohnung gezogen waren, hatte ich das Balkonzimmer bekommen. Fand ich echt Klasse. Bei allen anderen Familien, die ich kannte, war das Kinderzimmer das kleinste. Auch Konrads hatten Silly den mickrigsten Raum gegeben. Bei uns war das kleine Zimmer neben der Küche das Malzimmer, das Atelier. Dort war genau das Licht, das Mom zum Arbeiten braucht.

Ich starrte hinunter in den Innenhof. Der Hof war so groß wie ein Stadion. Überall Autos und ganze Armeen von Mülltonnen. Im vorigen Jahr hatten sie zum zweiten Mal kleine Bäume gepflanzt. Aber sie waren wieder nicht angewachsen. Die Sonne knallte auf die Steinplatten, Auf den Balkons hing massenhaft Wäsche. Blasmusik dröhnte aus irgendeinem der tausend Fenster. Der Hof war ziemlich menschenleer, wie meistens. Die Leute blieben in ihren Wohnungen, jeder vor seinem Fernseher oder an seinem Staubsauger oder in seinem Bett. Nur vor dem Silo stand eine Gruppe Vietnamesen. Sie lachten und debattierten so laut, dass ich jedes Wort hätte verstehen können. Aber ich kann kein Vietnamesisch. Ich kann gar nichts. Im Wasserbecken, in dem nie Wasser war, tobten 'n paar Kiddys mit ihren Skateboards rum.

Ich konnte gar nicht daran denken, was ich nun machen sollte. Mom hatte gefragt, ob es mir was ausmacht, wenn wir über den Sommer hier bleiben. Sie wollte in den Theaterferien einen Kurs an der Akademie machen. Gernot verdrehte immer die Augen, wenn Mom davon redete, dass sie vorhatte, irgendwann ihr Studium abzuschließen. Der Job im Malsaal müsste ihr eigentlich reichen, meinte er. Jetzt hatte ich plötzlich Angst davor - die ganzen Ferien in Beton-City, irgendwie war das kein Ding. Aber noch mehr Angst hatte ich vor dem Ende der Ferien. Wenn ich nicht mehr jeden Tag neben Silly in der Klasse sitzen würde. Was sollte ich nach dem Sommer machen? Vielleicht würde Mom heulen, wenn sie mein Zeugnis sah. Nicht versetzt.

Ich legte das Zeugnis neben den Kuchen, nahm das Geld vom Tisch und ging aus der Wohnung.

War noch keiner da. Ich holte den Schlüssel aus dem Versteck und schloss den Bauwagen auf. Ich kramte in den Farbdosen rum, aber ich hatte keine richtige Lust zum Sprayen. Die Graffiti am Wagen waren sowieso okay, kein Grund dran rumzubessern. Die Dosen fassten sich warm an, wie frische Brötchen.

Plötzlich dröhnte vor dem Wagen Grandmaster Flash los, volle Lautstärke. Draußen stand Scheuni. Er hatte einen brandneuen Ghettoblaster dabei.

"Was sagstn dazu, Alter?"

Ich nickte nur. Geiles Teil, logisch.

Den Blaster hatte Scheuni für sein Zeugnis gekriegt. Zehnte Klasse, Realschulabschluss, dafür hatten seine Großeltern was springen lassen.

Manchmal wünsche ich mir auch eine Oma oder einen Opa. Meine Großeltern kenne ich nicht. Wollten mich nie sehen. Haben ihre Tochter Suse rausgeschmissen, als sie mit mir schwanger war. Wie im Mittelalter. Mom ging damals noch in die Schule. Hätte jede Menge Hilfe gebraucht. Meine Mutter war immer stolz drauf, dass sie mich ganz alleine groß gekriegt hat.

"Und was is mit dir, Abel?"

Ich sagte, was mit mir war.

Scheuni lachte. "Oh shit. Und nu?"

Ich zuckte mit den Schultern. Auf einmal war es nicht mehr so ätzend. Scheuni war eigentlich auch übel dran. Er hatte zwar seinen Schulabschluss, aber keine Lehrstelle. Dreiunddreißig Bewerbungen, null Erfolg. Wozu hatte er sich also gequält. Seine Mutter wollte ihn nach Neustadt-Hebelheim schicken, er sollte ihrer Schwester im Laden helfen.

Scheuni lachte immer noch. Er würde nie weggehen aus der Stadt! Nie!

Dann kamen Chuck und Gecko auf Geckos Fahrrad, sie hatten Döner dabei. Wir setzten uns auf die Zementröhren und teilten die beiden Döner, danach rauchten wir erst mal eine. War noch viel zu früh, um in die Glasfabrik zu fahren. Aber bald kam Wind auf, und der Rauch von der wilden Müllkippe am Wäldchen drehte in unsere Richtung. Auf der Kippe brannte immer irgendwas, und meistens konnte man den Gestank kaum aushalten.

Chuck meinte, wir sollten zu den Garagen gehn und sprayen. Wir gingen in den Wagen, und ich holte meine neuen Skizzen aus der Kiste. Wir nehmen immer meine Skizzen. Ich kann mir stundenlang Graffiti ausdenken, immer neue, manchmal zeichne ich auch was anderes, aber meistens sind es Entwürfe für Graffiti. Die besten Ideen hatte ich immer im Deutschunterricht. Die Taube Nuss hatte mich sowieso schon abgeschrieben. Frau Taube! Meine Klassenchefin! In ihren Stunden hab ich pausenlos skizziert. Ich hatte einen ungeheuren Verbrauch an Faserstiften. Wenn mich die Taube Nuss beim Zeichnen erwischte, nahm sie mir die Skizzen weg. Na und. In meinem Kopf war jedes einzelne Bild gespeichert. Ich stelle mir vor, dass es irgendwo im Sekretariat oder beim Schulrat einen Aktendeckel gibt, darin sind meine sämtlichen Zeichnungen abgeheftet, Graffitientwürfe, Comics und Bilder. Auf dem Aktendeckel steht: A Punkt Abel, Versager. Vielleicht bewahrt die Taube Nuss die Blätter auch bei sich zu Hause auf, und abends, statt Fernsehen, guckt sie sich die Dinger an und ärgert sich so, dass sie Kamillentee trinken muss. Die Taube Nuss hält Graffiti für eine der biblischen Plagen. Pest, Endzeit, Apokalypse.

Wir gingen immer zu dritt oder zu viert sprayen. Simon kam nie mit. Hatte Angst, erwischt zu werden. Wenn er bei einer strafbaren Handlung ertappt wird, kann er aus Deutschland ausgewiesen werden. Ab, zurück nach Afrika, zusammen mit seinen Brüdern. Sprayen ist eine strafbare Handlung, wie Diebstahl oder Brandstiftung oder Rauschgiftdealen. Sind wir also Verbrecher, logisch. Die Sprühdosen besorgte Gecko in den Baumärkten. Er war noch nie erwischt worden. Manchmal kauften wir auch welche.

Gecko sagte: "W-w-was will der hier, ey?" Er zeigte nach draußen.

Da kam der alte Krawicki. Man konnte ihn nicht verwechseln, er hatte einen komischen Gang wegen seinem steifen Knie. Krawicki wohnte neben dem Ausländersilo, im zweiten Hochhaus, ganz unten. Zog Tomaten auf seinem Balkon und Radieschen.

Luciano Schulze behauptet, Krawicki hätte ein Schwein in seiner Wohnung gehalten. Luciano Schulze ist selber ein Schwein.

Krawicki kam langsam näher, manchmal blieb er stehen und schaute zurück zu den Häusern. In der Hand trug er einen Sack.

"Der hat 'n krummes Ding vor, wetten?", sagte Chuck.

Scheuni drehte den Blaster ab. Wir zogen die Tür ran. Krawicki und ein krummes Ding, das passte nicht zusammen. Krawicki war furchtbar fleißig und ordentlich. Er pflegte die Grünanlage vor seinem Hochhaus und die vorm Silo gleich mit, obwohl das die Sache von Sillys Vater gewesen wäre. Krawicki rackerte vom Morgen an. War dran gewöhnt, mit den Hühnern aufzustehen. Er kam aus der Lausitz. Sein Dorf war weggebaggert worden wegen der Kohle, und Krawicki zog her, weil seine Tochter auch hier wohnte. Er hatte sonst niemanden, glaub ich. Aber die Tochter ging mit ihrer Familie nach Bremen, und seitdem hatte Krawicki nur noch die Beete vor den Hochhäusern.

Krawicki hinkte an dem verrosteten Drahtzaun lang bis zu der Stelle, wo wir zwei Zaunfelder rausgenommen hatten. Er betrat die verlassene Baustelle und schaute sich argwöhnisch um, ehe er weiterging. An der abgesoffenen Baugrube hielt er an.

Wir reckten die Hälse. Chuck blieb mit seinen selbst gedrehten Rastas an einem Nagel hängen. Er riss sich los und stieß gegen die Kiste mit den Dosen. Die Kiste knallte auf den Bretterboden. Gecko zischte, aber Krawicki hatte nichts gehört, weil gerade eine S-Bahn vorbeidonnerte. Krawicki hob den Arm, holte Schwung und schmiss den Sack ins Wasser.

"W-w-was issn da drin, ey?", flüsterte Gecko. "D-d-das ist doch irgend 'ne Umweltsauerei, a-alte Batterien oder so was!"

Vielleicht Insektengift von Krawickis Rosen, dachte ich. Aber das würde er bestimmt bis auf das letzte Gramm verbrauchen.

Krawicki hinkte ab und verschwand hinter den Garagen. Wir rannten zur Baugrube. Der Sack trieb auf dem Wasser. Er bewegte sich. Schwaches Gezappel.

"Da ist 'n Hund drin!", sagte Scheuni ungläubig. "Krawicki hat seinen Hund ersäuft!"

Gecko schüttelte den Kopf. Krawicki hatte keinen Hund.

Chuck sprang mit einem Satz in die Grube. Er machte zwei, drei hektische Schwimmzüge, dann jaulte er plötzlich auf, als ob er sich verletzt hätte. Der Sack war untergegangen, aber Chuck kriegte ihn zu fassen. Der Grubenrand brach weg, als er sich rausziehen wollte. Wir hievten Chuck an Land. Gecko schnitt die Strippe mit seinem Schmetterlingsmesser auf.

In dem Sack waren ganz kleine Katzen, fünf Stück. Hatten die Augen zu. Scheuni traute sich als Erster, sie anzufassen. Vier waren tot. Eine bewegte sich noch.

"Dieses fiese Schwein!", flüsterte Scheuni.

Er trocknete die Katze mit seinem T-Shirt ab. Sie war nicht größer als meine Hand. Schwarz, mit winzigen weißen Pfoten.

Chuck zerrte seine Timberlands von den Füßen, sie waren klatschnass und voller Blut. Er hatte sich das Bein aufgerissen, dicht unterm Knie. In der Grube war ja jede Menge Schrott liegen geblieben, als die Baufirma damals Pleite gemacht hatte. Wenn Chuck sich bewegte, ging die Wunde auf und zu, wie ein Mund. Chuck heulte. Das Blut lief an seinem Bein runter, und die Timberlands waren ganz neu. Aber ich glaube, er heulte wegen den Katzen.

Gecko rannte zum Megamarkt und holte eine Tüte Milch, er bezahlte sie sogar. Aber die Katze trank nicht. Sie streckte sich ein bisschen, und dann war sie auch tot. Chuck drehte sich um und würgte den Döner raus. Da saßen wir mit den fünf toten Katzen. Scheißtag. Und Chuck blutete wie ein Schwein. Er zog sich aus und wickelte seine Unterhose um den Schnitt. Ich wusch das Blut aus seinen Shorts, und er zog sie wieder an. Dann brachte ihn Gecko mit dem Fahrrad in die Ambulanz hinter dem Silo.

"Wir treffen uns in der Glasfabrik!", sagte Chuck und zog den Rotz hoch.

Scheuni und ich, wir blieben da. Scheuni warf den Blaster an. Grandmaster Flash, The Message. Wir nahmen die Schaufel mit dem abgebrochenen Stiel aus dem Bauwagen und gruben ein Loch beim Wäldchen. Knochenharter Boden. Überall Wurzeln. Auf das Grab rollten wir eine Zementröhre. Vorsichtshalber. Vielleicht gab es im Wäldchen Füchse oder so was. Ich glaube, Füchse fressen keine toten Katzenjungen. Egal. Ich drückte das Wasser aus Chucks Timberlands und schloss sie im Wagen ein. Drin war es heiß genug, sie würden bis zum nächsten Tag trocknen.

Wir gingen in großem Bogen um die Hochhäuser rum. Vor dem Silo palaverten immer noch die Vietnamesen. Sillys Vater war nirgends zu sehen, auch sonst keiner, den wir kannten. Wir griffen uns zwei Steine aus der Grünanlage vor Krawickis Haus und schmissen ihm die Fensterscheiben ein, Scheuni nahm die Küche und ich das Zimmer. Wir hörten Krawicki toben, als wir wegrannten, er beschimpfte die Ausländer, gelbes Pack, aber die lachten nur.

Ich ging von hinten in unser Haus, und als ich aus dem Kellergang auftauchte, kam Silly die Treppe runter. Sie hatte mich schon gesucht. Wir verzogen uns in den Fahrradkeller. Silly stieg aus der klein karierten Hose, die sie immer tragen muss, wenn sie irgendwohin will. Sie soll anständig aussehen. In einer Plastiktüte hatte sie ihre Fetzenjeans und ein ärmelloses Shirt.

Ich sah zu, wie Silly sich umzog. Unter ihrem Shirt hatte sie einen dunkelblauen BH an, aus Spitze. Mein Hals wurde irgendwie trocken.

"Was guckst du so?", fragte Silly.

Ich schluckte. "Du siehst gut aus."

"Stimmt!", sagte Silly.

Silly und ich, wir sind zusammen aufgewachsen. Sie ist ein halbes Jahr älter als ich. Wir haben schon immer auf derselben Etage gewohnt, solange ich denken kann. Mom und ich, wir hatten zuerst die kleine Mittelwohnung, Wand an Wand mit Sillys Familie. Ich war früher oft tagsüber bei Sillys Mutter, als Mom noch in die Schule ging, und später auch über Nacht, als sie studierte, und noch später, wenn sie abends länger im Malsaal bleiben musste. Sillys Mutter ist Hausfrau, sie arbeitet nur manchmal im Megamarkt als Aushilfe. Silly und ich, wir waren wie Geschwister. Jedenfalls damals. Als wir noch Kinder waren.

Silly hatte auch Geld gekriegt für ihr Zeugnis. Für jede Zwei 'n Zehnmarkschein. Na ja, sie hatte meistens Dreien, obwohl sie immer alle Hausaufgaben machte. Sillys Eltern meinten, ein Durchschnitt von zwo-komma-acht, das reicht für ein Mädchen.

Auf dem Bahnsteig trafen wir Simon. Die S-Bahn war grade weg, und wir warteten zehn Minuten. Wir saßen unter dem Schild mit dem Stationsnamen. Vor fünf Monaten hat Chuck das Schild sauber weiß übersprüht und mit fettem schwarzem Edding den neuen Namen angeschrieben. Steht immer noch da: Beton-City.

Der Gegenzug kam und spuckte Massen von Leuten aus, Hunderte von kleinen Ameisen, sie drängten durch den Tunnel, wir sahen von oben, wie sie sich in einzelne Ströme teilten und in die verschiedenen Höfe wimmelten, in ihre Aufgänge, zu ihren Kindern, Kühlschränken und Videorecordern. Freitag, Feierabend. Wochenende. Ferien.

Ich zeigte Simon den Geldschein von Mom, aber er hatte heute selber Geld für die Eintrittskarte. Seine Brüder fuhren jetzt jeden Morgen mit der ersten S-Bahn raus, immer abwechselnd. Auf 'ne Obstplantage, Kirschen ernten. Erst wollten sie alle pflücken gehen, aber der Mann von der Plantage sagte, drei Schwarze kann er nicht gebrauchen, da fällt es gleich von weitem auf, dass er Schwarzarbeiter beschäftigt. Ein Bimbo ist genug. Deshalb wechselten sich die älteren Brüder ab, der Obstmucker konnte sie sowieso nicht voneinander unterscheiden, für ihn ist ein Schwarzer wie der andere.

Simon sagte, er hätte die letzten drei Tage so massenhaft Kirschen gegessen, dass ihm ganz schlecht wäre. Er überlegte, ob er nicht lieber im Silo bleiben sollte, in seinem Bett, und sich auskurieren. Sah irgendwie komisch aus. Blass war er eigentlich nicht, ist vielleicht auch gar nicht möglich bei seiner Hautfarbe. Aber grau sah er aus, krank. Wir überredeten ihn, trotzdem mitzukommen. Ich erzählte, dass uns heute allen schlecht gewesen war. Wegen meinem Zeugnis. Und wegen den Katzen.

Silly fing fast an zu heulen, als ich auf Krawicki und den Sack zu sprechen kam. Sie wünschte sich schon lange eine Katze. Oder irgendein anderes Tier. Was zum Streicheln. Aber ihr Vater erlaubte das nicht. Kein Viehzeug in meiner Wohnung. Ehrlich, wenn ich mir Sillys Alten angucke, bin ich froh, dass ich keinen Vater habe. Zu ihrer Mutter hab ich immer Tante Nadja gesagt. Aber zu ihrem Vater immer Herr Konrad.

Konrad hatte verlangt, dass Silly schon um zehn zu Hause sein sollte. Die Party fing erst halb zehn an, um acht war Einlass, und wir brauchten mit der S-Bahn über eine Stunde bis zur alten Glasfabrik. Hätten wir gleich zu Hause bleiben können. Aber Silly durfte abends nur weg, wenn sie mit uns ging. Tante Nadja hatte dann gesagt, Silly müsste erst um zwölf da sein, sie wollte das auf ihre Kappe nehmen. Ich versprach Silly, dass wir um elf zurückfahren würden, dann käme sie nur 'ne Viertelstunde zu spät.

Simon lachte mitleidig. Er hatte auch schon Erfahrungen mit Sillys Vater gemacht. Konrad war zwar nur Hausmeister im Silo, aber er hielt sich für den Chef und tat immer so, als wären alle Ausländer seine Untergebenen. Besonders gerne brüllte er im Treppenhaus rum, weil es dort so extrem schallte. Simon sagte, wenn ich die Neunte wiederholen müsste, könnten wir vielleicht im neuen Schuljahr zusammen in eine Klasse gehen. Er sollte zwar in die Achte, weil er noch nicht so gut Deutsch konnte, aber er wollte in den Ferien Sprachunterricht nehmen.

Aber ich wollte bestimmt nie wieder in die Schule gehen. Nie wieder vor der Tauben Nuss kuschen. "Wir gründen lieber 'ne Band, wir beide."

"Tame Birds", sagte Simon und grinste. Tame Birds hieß der Song, den er gemacht hatte, schon bevor er das erste Mal am Bauwagen auftauchte. Zahme Vögel singen von Freiheit. Wilde Vögel fliegen.

Endlich kam die S-Bahn.

In der Glasfabrik ging schon die Post ab, als wir ankamen. Die Band war noch nicht auf der Bühne, aber die beiden DJs von PDM legten auf, und die Stimmung war super. Gleich neben dem Eingang stand ein Tisch, wo die neue Scheibe von der PDM Posse verkauft wurde. Ich wollte die Platte unbedingt haben, aber ich würde sie lieber erst später kaufen, weil ich nicht wusste, wo ich sie hintun sollte beim Tanzen. Es wurde schnell voll.