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Drei alte Damen treffen sich in einem Café: Verbindendes und Trennendes in ihrem Leben wird deutlich. — Ein Mann hat anlässlich eines Staatsfeiertages eine Auszeichnung bekommen: Wie benimmt er sich danach? — Ein Mädchen sorgt für den kleinen behinderten Bruder und durchbricht in seinen Wünschen und Träumen alle Konventionen und Zwänge des Elternhauses. — Eine junge Frau, von vielen als asozial verleumdet, findet ihren Weg zu einem sinnvollen, erfüllten Dasein ... Um Menschen in der DDR geht es in diesen und anderen Geschichten Maria Seidemanns, um ihre Träume und Enttäuschungen, um Relikte aus früheren Entwicklungsabschnitten und um Prozesse des Werdens und der Veränderung durch Umwelteinflüsse. Maria Seidemann, die mit diesem Band als Prosaistin debütiert, findet in oft unscheinbaren Vorgängen poetische Markierungen. Einher geht damit ein unterschwelliger feiner Humor, mit dem sie die menschlichen Verhaltensweisen vor ihrem konkreten gesellschaftlichen Hintergrund zu deuten versucht. Und doch bittet die Autorin bei aller verhaltenen Ironie um Nachsicht für die Verletzbarkeit derer, über die gelacht wird. Charakteristisch für Maria Seidemanns Erzählhaltung ist ihre starke Affinität zur Malerei, die sich gleichermaßen in ihrer Themenwahl und einem sinnlich-bildhaften Stil ausdrückt. INHALT: Kloster am Berge Schlehdorn Sonntag eines Mädchens Der Brückenbauer Champagner für die alten Damen Schweigepflicht Rosen Freundschaftsvertrag Feierabend Der Hirsch Das Landhaus In Wachstuch gebunden Wachtelbalz Der hilfreiche Rabe Der Tag, an dem Sir Henry starb Gamander Die Vertreibung aus dem Paradies
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Seitenzahl: 184
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Maria Seidemann
Der Tag, an dem Sir Henry starb
ISBN 978-3-95655-163-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1980 im Eulenspiegel Verlag, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Unvermittelt erhob sich der Berg aus der herben, grünen Landschaft. Die Farben seines Gipfels mischten sich mit dem Blau des Himmels, das in jenem Sommer von seltener Kraft war und auch des Nachts nicht abstumpfte. In seiner Flanke barg der Felsen ein Kleinod von robuster Schönheit: das Kloster. Dorthinauf führte ein Sträßlein in endlos steilen Serpentinen, wie ein Fremdkörper schien es der Haut des Berges aufgeklebt.
Lange schon lebten hier keine Franziskaner mehr. Das Kloster beherbergte eine Bibliothek, eine Bildersammlung und einen weltberühmten Mosaiksaal. Man musste von der Liftstation zu Fuß herüberkommen oder auf einem der landesüblichen braunen Esel heraufreiten.
Wir kamen im Juli. Bis in den Herbst hinein sollten wir Gäste im Kloster sein mit keiner anderen Verpflichtung als der, einander in befruchtenden Gesprächen kennenzulernen, Impulse zu geben und zu nehmen.
Während der Fahrt vom Flughafen schlief ich. Salzmann weckte mich sanft, ich erblickte den gewaltigen Berg und die Esel, die bereits von unseren Gefährten beladen wurden. Alle hatten sie ungewöhnlich viele Manuskripte mitgebracht, die Eseltreiber stöhnten, doch endlich war alles verstaut. In beschaulicher Karawane ritten wir den Felsen empor. Nach jedem Serpentinenschwung eröffnete sich die Ebene weiter, der Fluss, Felder, Tagebaue, Städte, Gebirge, das Meer in Ebbe und Flut, die Erde mit ihren Völkern und die Sonne, die um sie kreiste — all das lag unter unseren Augen und wartete, erkannt und beschrieben zu werden. Beeindruckt reichte ich meine Hand hinüber zu Salzmann, der neben mir ritt. Vor uns bewegte sich im Rhythmus gemächlichen Eseltrabes eine Reihe bedeutender Köpfe, auf, ab, auf, ab, dem einen Ziele zu.
Endlich nahm uns das Refektorium auf.
Außer Salzmann kannte ich nur Lore Blum, obgleich ich sicher war, noch viele andere kennen zu müssen, ihre Gesichter hatte ich in Zeitungen und auf dem Bildschirm gesehen, ihre Bücher gelesen, doch zu meiner Verlegenheit waren mir die Namen ausnahmslos entfallen.
Das Unbehagen bei dem Gedanken, wie Salzmann und ich in dieser erlesenen Runde bestehen sollten, löste sich bald in der harmonischen Umgebung. Eine Wolke von Freundlichkeit hüllte das Kloster ein, Küche und Keller füllten uns mit Wohlbehagen. Es wurde tagtäglich gelesen und ausgetauscht, gelobt und ermuntert. Auf allen Gesichtern lag bukolische Heiterkeit, ich merkte, wie auch Salzmann die Anspannung der letzten schweren und unschöpferischen Wochen abwarf, und fühlte mich glücklich unter Gleichgesinnten. Nur die strengen, wenngleich warmen Züge der Lore Blum zeigten kein Lachen, kein Lächeln, bis zum Ende des siebten Tages, und da war doch das Schlimmste schon fast geschehen.
In der Nacht, die dem fünften uneingeschränkt glücklichen Tage folgte, erwachten die Klosterinsassen von einem Erdstoß, der die starken Mauern schwanken ließ. Ein armdicker Riss zerstörte den Fußboden des Mosaiksaales. Während wir uns verwirrt im Refektorium sammelten, brach in der Bibliothek ein Feuer aus, das wir nur mit beinahe übermenschlicher Anstrengung löschen konnten. Als wir nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes ins Freie traten, bot uns die Natur einen veränderten Anblick: Ein Stück des Berges war in die Tiefe gebrochen und mit ihm die Liftstation samt den ersten beiden Serpentinen. Zunächst waren wir alle bestürzt. Doch die unberührte Weite und Schönheit der den Berg umgebenden Welt ließ die Beunruhigung bald vergessen. An Salzmanns Arm wandelte ich wie die anderen zurück ins Refektorium, wo an diesem Tage der Lyriker mit dem rassigen Pferdeprofil, dessen Name mir schon wieder entfallen war, sein neues Poem vortrug, aus dem zu hören seit Langem alle begierig waren.
Salzmann fragte die dunkel blickende Lore Blum, ob sie sich nicht der allgemeinen Freude darüber anschließen wolle, dass das Feuer gelöscht und wir alle unversehrt seien. Lore Blum antwortete, sie habe in ihrem Leben noch einiges vor. Bestätigend lachte Salzmann, mir aber kroch Kälte in den Nacken, und ich betrachtete den Berg in Sorge.
In der nächsten Nacht stürzte der gesamte Gipfel hinab und zerschellte in schartige Brocken, die den Berg an seinem Fuße umlagerten. Im verbleibenden Stumpf klaffte ein breiter Spalt, sodass wir in die einzigartige Lage kamen, durch den Berg hindurch den unveränderlich klaren, starkfarbenen Himmel anschauen zu können.
Ein Riss jedoch ging auch durch unsere Mitte, die schöne Eintracht zerbrach. Lore Blum erklärte laut, sie werde den Berg sofort verlassen, wer den Mut zu leben habe, möge ihr folgen. Gewichtige Stimmen mahnten zur Besonnenheit, die günstigen Bedingungen dieses Treffens gelte es unter jedem Umstand zu erhalten.
Hier geschah es plötzlich, dass Lore Blum zum ersten Male lachte, es war ein ungutes Lachen und passte doch beängstigend glatt in ihr Gesicht, als hätte es lange dort versteckt gelegen. Eine Gruppe um einen grobknochigen Alten, der mit rollendem Akzent sprach und die kräftigen Hände seine Worte unterstreichen ließ, verlangte, die im Kloster befindlichen Kunstschätze, sämtlich mehrere Jahrhunderte alt, nicht unbeaufsichtigt einer entfesselten Natur auszuliefern. Zu meiner Überraschung tat Salzmann den Mund auf und fragte, was aus unser aller Manuskripte werden solle, die wir im Falle einer Flucht wegen ihres Gewichtes zurücklassen müssten. Er gebrauchte das Wort Flucht als erster. Der Lyriker mit dem rassigen Profil bot an, die Papiere ihm zu sicherer Verwahrung anzuvertrauen, er hätte einflussreiche Verwandte. Da lachte Lore Blum wieder.
Der bekannten, stets bernsteingeschmückten Dramatikerin - mir fiel erst jetzt auf, dass sie grün gefärbtes Haar trug - gelang es, Ängstliche und Aufgeregte zu besänftigen, gewiss würde man uns schon in der nächsten Stunde abholen, mit Hubschraubern, mit einer Rutschbahn oder wie auch immer. Auf jeden Fall würden wir erfahren, wie wir uns weiter zu verhalten hätten, wir dürften nur jetzt nicht Mut und Vertrauen verlieren.
Lore Blum wandte sich entschieden zum Gehen. Augenblicklich war mir klar, dass ich ihr folgen müsste. Sie nahm nichts mit und verabschiedete sich von keinem. Ich beschwor Salzmann, sich zu retten, er lehnte ab. Er könne seine Manuskripte, an denen ein Dutzend seiner Lebensjahre hingen, nicht anderen überlassen, die sie womöglich für sich selbst verwenden würden. Auch zu mir habe er übrigens kein Vertrauen mehr. Das traf mich unvermutet. Mir blieb aber keine Zeit, ihm Beweise meiner unbedingten Liebe zu geben, Lore Blum verließ das Plateau, und ich ging von Salzmann fort.
Ich trug unser Kind vor mir her auf den Armen — sagte ich schon, dass wir das Kind mit auf den Berg genommen hatten? - und begann den Abstieg. Es folgte der Mann mit dem Pferdegesicht, er schleppte ein Bord aus altersgeschwärztem Palisander, die Bücher, die daraufgestanden hatten, hatte er entschlossen auf den ohnehin geschändeten Mosaikboden gefegt. Nach ihm kamen noch andere, ich drehte mich nicht um. Lore winkte mir. Der Berg bebte. Wasser lief den Felsen herab und machte die Serpentinen gefährlich glatt. Wir bogen um einen Felsvorsprung, der Weg war nun weniger steil, das Wasser aber floss immer stärker. Teile der Ebene waren bereits überflutet. Mir schien, wir durchquerten einen Fluss, ab und an ragte ein Baum aus den Wellen, ein anderes Ufer war vorerst nicht zu sehen.
Ich rief Lore zu, wie froh ich wäre, könnte ich das Kind auf meinen Rücken binden, um die Hände freizuhaben. Sie antwortete: Mit dem Kind schaffst du es nie. Ich schrie sie erschrocken an: Soll ich es etwa ins Wasser werfen? Da sagte sie: Vor dieser Entscheidung stehen wir früher oder später alle einmal. In diesem Augenblick ächzte der Berg auf und barst.
Ohne mich umzublicken, wusste ich, das Kloster gab es nicht mehr. Ich erwachte, und mir schien, die Dielen höben sich unter mir auf. Ruhig schlief das Kind. Das Bett neben meinem lag unberührt, Salzmann war nicht nach Hause gekommen.
Noch immer beschleunigte Angst meinen Herzschlag. Ich wusste, dass ich nicht wieder einschlafen würde, und stand auf, um mir Tee zu brühen. Ein paar Sekunden tastete ich vergeblich nach dem Lichtschalter, meine Hände flatterten. In der Küche musste ich feststellen, dass der Hahn über dem Spülbecken keinen Tropfen Wasser gab. Den Terrazzofußboden durchzog ein meterlanger Riss, den ich vorher nie bemerkt hatte.
Ganz grün war der Himmel vor Hitze, und die Grillen lärmten wie im Hochsommer, doch es war erst Mai. Auf den späten, strengen Winter war ein Frühling gefolgt, so kurz, dass sie ihn kaum bemerkt hatten, und schon brach der Sommer herein, viel zu früh. Die ganze Natur ist durcheinander, meinte die Großmutter, und Regina konnte dazu nur bestätigend nicken. Sie sprachen wenig, das Mädchen und die Großmutter, aber sie wussten gut und sicher miteinander umzugehen, denn sie lebten zusammen, so weit Regina zurückdenken konnte, und das zählte mehr als die Worte, die bei ihnen den Weg zum Munde nur langsam fanden. Über die Schlehen aber wollte Regina mit der Großmutter reden, nachdem sie die Romane umgetauscht hätte, denn es wurde Zeit, die Blüten zu pflücken.
Der Weg in die Leihbücherei war mehrere Kilometer lang, aber Regina fuhr nicht gerne mit dem Bus. Lieber lief sie eine Stunde oder anderthalbe, erst die paar hundert Meter auf der Buckelstraße, vom Bahnwärterhäuschen am Abzweig nach Sommerfeld, wo die Großmutter die Schrankenanlage bediente, bis zur Leipziger Chaussee, und dann immer neben der Chaussee her, von der den Weg ein mit Schlehdornbüschen bewachsener Graben trennte. Zur Rechten hatte Regina die Felder, auf denen die Gerste in einer einzigen Woche um drei Handbreiten gewachsen war.
Dieses Jahr wächst alles besonders schnell, wie ich, dachte Regina.
Sie war um Weihnachten zwölf geworden und bekam breite Schultern und Fleisch auf die Hüften, die Großmutter war kopfschüttelnd mit dem Metermaß um Regina herumgewandert, und dann hatten sie sich hingesetzt, um einen Brief an die Mutter nach Rostock zu schreiben, damit sie zu Ostern die Sachen für Regina nicht zu klein mitbrächte.
Die Mutter kam jedes Jahr zu Ostern auf Besuch ins Bahnwärterhäuschen. Weihnachten konnte sie nicht, denn sie hatte in Rostock einen Mann und einen kleinen Sohn. Wenn Regina die Schulzeit hinter sich hätte, könnte sie vielleicht nach Rostock ziehen, zu Mutters Familie. Aber Regina glaubte nicht, dass sie das wollte, immer mit der Mutter zusammen. Die Mutter lachte zu viel, und man wusste nie genau, was sie wirklich dachte. Trotzdem war es natürlich immer wunderbar, wenn die Mutter da war, es ging laut her im Bahnwärterhäuschen, den ganzen Tag drehten sich die mitgebrachten Schallplatten, und die Mutter zeigte Regina den neuen Wechselschritt mit den dazugehörigen Hüft- und Armbewegungen. Sie war noch jung, die Mutter, man sah ihr die dreißig Jahre nicht an. Die Großmutter verlangte nur, sie sollten den Plattenspieler nicht so maßlos aufdrehen, sonst könnte sie nebenan die Schrankensignale überhören. Sie tranken Bohnenkaffee, Regina mit sehr viel Milch, und wie jedes Jahr brummte die Großmutter, Kaffee wolle sie nicht, der wäre ungesund. Aber die Mutter hatte schon als Kind einen Abscheu vor dem Schlehentee gehabt, den die Großmutter Tag für Tag kochte, und brachte sich zu Ostern ihren Kaffee mit.
Die Mutter hatte Regina Jeans gekauft und ein Safarihemd. Regina fand, dass sie darin sehr erwachsen aussah, wie sie den Weg nach Sommerfeld entlangmarschierte, mit kräftigen Schritten, die beiden Romane im Beutel über der Schulter. Eigentlich war die Großmutter nicht einverstanden, dass Regina den weiten Gang zu Fuß machte, allein, wenn ihr etwas zustieße, würde es niemand von der Chaussee aus bemerken, weil der Schlehdorn im Graben so hoch stand. Aber Regina hatte keine Angst. Sie war umsichtig und vor allem kräftig, sie war die Stärkste in ihrer Klasse und konnte Holz hacken mit der linken Hand wie mit der rechten, das hatte sie von der Großmutter gelernt, die mit Axt und Säge umging wie ein Mann und auch die Schaukel im Garten allein gebaut hatte.
Die Schlehen blühten üppiger als je, sie dufteten schwer in der flimmernden Hitze. Aus der Ferne war ihr Geruch süß, ging man aber näher heran, so dicht, bis man sehen konnte, dass die Blüten nicht reinweiß waren, sondern kleine faulfarbene Flecken hatten, dann roch man auch das Merkwürdige, das Regina immer wieder bewog, ihr Gesicht tief in die Schlehenbüsche zu stecken. Es war wie ein unbekanntes Gewürz, was da aus den Blüten stieg, anziehend und abstoßend zugleich, es erzeugte ein eigenartiges Gefühl hinter dem Magen, wenn man lange daran roch. Faszinierend, sagte Regina, ein Wort, das sie von der Mutter hatte. Am ehesten erinnerte der Geruch der Schlehenblüten an den warmen Dunst, den die Hühner ausströmten, die die Großmutter vor Feiertagen mit abgehackten Köpfen vom Stall in die Küche brachte und die Regina dann gleich rupfte, bemüht, den Atem anzuhalten.
Manche Leute behaupteten, bei Vollmond erblühte Schlehen wären giftig. Die Großmutter war jedoch eine praktische Frau und glaubte nicht an den Mond. Sie pflückten die blauschwarzen, kirschgroßen Schlehen nach dem ersten Frost, niemand machte sie ihnen streitig. Großmutter presste süßen Saft aus den Früchten, sie kochte auch Marmelade und setzte jeden Winter zwei Ballons Wein an. Im Frühjahr machten sie sich zum zweiten Male über die Büsche her und pflückten einen Teil der Blüten ab, die auf dem Dachboden ausgebreitet und getrocknet wurden und dabei den eigentümlichen Geruch verloren. Sie gaben dann den von der Mutter verabscheuten Tee, der alle möglichen Gebrechen verhindern sollte, und es musste wohl etwas daran sein, denn weder Regina noch die Großmutter waren je ernstlich krank gewesen. Der letzte Winter hatte den nötigen Frost nicht gebracht, die Schlehen bekamen keine Süße, und die Ernte fiel aus. Als im März dann die unerwartete Kälte hereinbrach, waren die Schlehen schon auf dem Ast verfault.
Regina dachte, auf dem Rückweg könnte sie ihren Beutel voll Blüten pflücken und gegen Abend nochmals mit zwei Körben herausgehen. Vielleicht schaffte sie es in diesem Jahr allein, ohne die Großmutter, das wäre schön. Da sah sie das Fahrrad liegen, halb auf dem Weg, halb im Graben, auf den blanken Teilen flirrte die Sonne, dass Regina die Augen zukneifen musste.
Sie dachte gleich an ein Kind, das mit dem Rad in den Graben gestürzt wäre und sich an den langen Dornen verletzt hätte, und sie rannte zu der Stelle, um irgendwie zu helfen.
Es war das einzige Loch in der Hecke, hier hatten die Chausseearbeiter im vergangenen Jahr zwei Sträucher herausgeschlagen. In der so entstandenen Höhle saß zwischen den dichten Blütendolden ein Mann, halb liegend, er starrte Regina mit qualligen Augen an und lächelte verzerrt. In der ersten Sekunde meinte sie, es wäre ihr Onkel Heinz, wegen der Hasenscharte. Dann sah sie, dass seine Hose offenstand und dass er mit den Händen etwas Langes, Rötliches knetete. Regina erschrak so sehr, dass sie den Stich als scharfen Stich im Körper fühlte, sie taumelte zurück, stolperte über das Fahrrad und schlug hin. Verstört sprang sie auf. Was der Mann zu ihr sagte, hörte sie nicht, sie rannte los, so schnell sie vermochte. Am Ortseingang stand immer ein Polizist, das wusste sie, es waren höchstens noch zwei Kilometer bis dahin, aber ihr war klar, dass sie in diesem Tempo keinesfalls mehr als achthundert Meter durchhalten könnte. Schon jetzt klebten die Sachen feucht an der Haut.
Ich hätte einfach das Fahrrad nehmen sollen, dachte Regina.
Aber der Mann folgte ihr nicht, und sie fiel wieder in ihren gewohnten langen Schritt. Der Schreck saß noch immer als schmerzender Klumpen im Leib. Sie zweifelte keinen Moment an dem, was sie gesehen hatte, obwohl die Großmutter ihr nie dergleichen erzählte. Plötzlich erinnerte sie sich an Strubbel, das war ihr Hund gewesen, als sie noch klein war. Eigentlich war es eine Hündin. Die Großmutter hatte sie Regina geschenkt, damit sie beim Spielen nicht ganz allein wäre, denn es kamen nie Kinder aus dem Ort zu Regina, das Bahnwärterhaus lag zu weit draußen. An einem Nachmittag war ein großer verwilderter Hund aus dem Busch gerannt gekommen, Schaum flog ihm vom Maul, er war dürr und räudig, und unter dem Bauch stand ihm ein dicker schleimiger Stängel. Er stürzte sich auf Strubbel und biss sich an ihrem Hals fest. Die Großmutter rannte in die Dienststube und telefonierte nach der Polizei. Regina hörte von der Küche aus, wie Strubbel schrie und mehrmals auf die Erde klatschte. Der tolle Hund wurde erschossen, aber Strubbel war ganz zerfleischt, und der Polizist erschoss sie gleich mit. Dann mussten Großmutter und Regina ins Ambulatorium und bekamen jede eine sehr schmerzhafte Spritze in den Bauch.
Regina war es auf einmal übel, und ohne dass sie es verhindern konnte, liefen ihr die Tränen übers Gesicht, aber weil es keiner sah, machte es nichts. Sie zerrte ihr Taschentuch aus der Hosentasche, dabei entdeckte sie, dass die neuen Jeans an der Innenseite ganz blutig waren.
Der Polizist stand an der Kreuzung wie immer, aber Regina ging auf der anderen Straßenseite vorbei, denn sie fürchtete sich davor, erklären zu müssen, dass das Blut an der Hose nichts mit dem Mann in den Schlehen zu tun hatte. Eine unbestimmte Wut kroch in Regina hoch, sie hatte sich noch nie so gedemütigt gefühlt, dabei wusste sie doch Bescheid, die Mutter hatte ihr schon im vorigen Jahr alles erklärt und letzte Ostern noch einmal.
Ich weine ja wegen der Großmutter, sagte sich Regina, wie soll ich ihr das beibringen, sie denkt, ich bin noch ein Kind, die Arme.
In der Sommerfelder Drogerie kaufte Regina, was sie brauchte, als wäre es nicht das erste Mal. In der Bibliothek ging sie auf die Toilette und säuberte sich.
Schade um die Jeans, dachte Regina.
Plötzlich fiel ihr ein, sie könnte der Mutter in einem Brief die ganze Sache berichten, die Mutter würde sich amüsieren und Geld oder gleich eine neue Hose schicken. Regina spülte ihr Gesicht lange mit kaltem Wasser ab, bis die Augenlider nicht mehr geschwollen waren.
Dann tauschte sie die Romane um. Die Bibliothekarin war freundlich und alt, viel älter als die Großmutter. Sie schaute fassungslos auf Reginas Beine und beugte sich sogar ein wenig vor, denn sie sah schlecht, sagte aber kein Wort, und Regina blickte ihr gerade ins Gesicht und nannte die Buchtitel, die ihr aufgetragen waren.
Nun fuhr sie doch lieber mit dem Bus zurück, sie wollte nicht noch einmal an der Stelle vorbeigehen. Im Bus achtete niemand auf Regina, sie saß ganz hinten, zusammengeduckt und den Beutel fest gegen den Schoß pressend. Sie meinte, ihr ganzer Körper ströme den süßlich dumpfen Schlehengeruch aus, und sie müsste unbedingt duschen, sehr lange duschen. Sie dachte auch, dass sie heute Abend gewiss nicht mit den beiden Körben an die Hecke gehen würde, nein, ganz bestimmt nicht. Und morgen auch nicht. Am liebsten würde sie sich auf die Schaukel hocken und schaukeln, bis die Großmutter sie zum Abendbrot riefe, oder überhaupt nicht mehr aufhören zu schaukeln, beim Schaukeln wird der Kopf so angenehm leer.
Am Abzweig hielt der Bus, Regina stieg rasch aus. Von dem Mann im Graben erzähle ich der Großmutter nichts, beschloss Regina, obwohl sie ihr doch bisher nichts verheimlicht hatte.
Am Sonntagvormittag bügelte Mina ihren steif gestärkten Petticoat, dabei beaufsichtigte sie Hermann, der am Boden mit seinen Schachteln und Klötzchen spielte. Jeden Sonntag wusch sie den Petticoat in einer Emailleschüssel, drückte ihn durch gallertdicken Stärkebrei und bügelte die dreifachen Falbeln trocken. Das alles dauerte mehrere Stunden. Dann stand der glockenförmige Unterrock, ohne dass er gehalten werden musste, auf dem Tisch wie eine riesige rosa Eistorte, bedeckt von weißem Sahnegekräusel und mit einem Krater in der Mitte, brandigen Duft verströmend.
Damit Mina sonntagvormittags für ihre Wäsche sorgen konnte, nahm es die Mutter auf sich, das Essen ohne Hilfe zu bereiten. Sie sank dann erschöpft am gedeckten Tisch nieder. Das Mittagsläuten von Sankt Annen drang durch die geschlossenen Fenster, die Kirche stand dem Hause schräg gegenüber.
„Gesegnete Mahlzeit“, sagte der Vater.
Dann aßen sie.
Beim Essen wurde grundsätzlich nicht gesprochen. Nur Hermann gurgelte ab und zu Unverständliches.
Die Mutter schnitt ihm das Fleisch und zerdrückte die Kartoffeln in der Soße, sie half mit der Gabel nach, wenn Hermann die Speisen nicht auf seinen Löffel bekam.
Der Vater aß hastig und vornübergebeugt. Die Mutter schnitt auch ihm das Fleisch. Vor dem Krieg war der Vater Klarinettist in der Staatskapelle gewesen. Als er vor zehn Jahren aus der Gefangenschaft heimkam, war er dreiundvierzig Jahre alt und hatte nur noch einen Arm. Er wurde Souffleur im Opernhaus, und dabei blieb es. Er hatte Mina versprochen, wenn sie sechzehn wäre, würde er sie in die Oper führen. Er stellte sich vor, ihr erstes Theatererlebnis müsste Mozarts Zauberflöte sein. Leider war Mina nun schon mehrmals mit der Schulklasse im Theater gewesen, es waren nicht die wertvollsten Aufführungen, darauf konnte er als Vater natürlich keinen Einfluss nehmen.
Obgleich die Eltern ganz offen mit Mina über die charakterlichen Qualitäten und Mängel der Lehrer sprachen, hatten sie sich doch darüber verständigt, Mina keinerlei Steine in den Weg zu legen. Sie billigten alles, was die schulische Entwicklung der Tochter förderte.
Deshalb wurde auch der heutige Muttertag stillschweigend übergangen. Seit vier Jahren gab es Blümchen und selbst gebastelte Geschenke für die Mutter nur noch am achten März.
Aus ähnlichen Erwägungen hatte Mina vor drei Wochen wie die meisten ihrer Klassenkameradinnen die Jugendweihe erhalten. Dem Vater war es zugefallen, mit Pfarrer Sölling ein offenes Wort zu sprechen, denn die Eltern schämten sich für diesen Entschluss. Zwar gingen sie nie zum Gottesdienst, sie hatten in Minas Interesse darauf verzichtet. Doch um Hermanns willen bezahlten sie ihre Kirchensteuer pünktlich. Die Mutter ging öfter, doch nicht zu oft, nachmittags auf eine Tasse Kaffee zu Pfarrers. Aus den Gesprächen mit Herrn und Frau Sölling schöpfte sie Mut. Die neun Jahre seit Hermanns Geburt hatten ihr wahrhaft übermenschliche Kräfte abverlangt, und Gott allein wusste, welche Prüfungen ihr noch bevorstanden.
Pfarrer Sölling besorgte ihnen auch das Medikament aus der Schweiz. Sie bezahlten eins zu sieben, aber für das Heil ihrer Kinder wollten sie gern auf vieles verzichten. Verordnet hatte das Präparat Professor Rubarth, die Mutter ging mit Hermann einmal wöchentlich zur Visite zu ihm. Er hatte vor dem Kriege einer Anstalt vorgestanden und verlangte entsprechende Honorare. Rubarth schrieb auch das Attest für Minas Sportbefreiung. Denn Mina bewegte sich ungeschickt und kraftlos, und eine mittelmäßige Sportzensur hätte ihr den Durchschnitt verdorben.
Als Rubarth kurz vor Weihnachten sein Haus auf der Höhe, seine Praxis und seine Musikinstrumentensammlung herrenlos zurückließ, um nach Heidelberg zu gehen, musste Hermann notgedrungen in der Städtischen Poliklinik weiterbehandelt werden. Die junge Ärztin sagte zur Mutter, auf das teure ausländische Präparat könnte guten Gewissens verzichtet werden, es müsse wirkungslos bleiben, da Hermann leider nicht zu heilen sei. Man beobachte dieses angeborene Krankheitsbild oft, wenn die Eltern bei der Zeugung des Kindes schon alt seien. Sie verordnete Hermann Kräftigungsmittel, gesunde Kost, ausreichend Bewegung und für die Nacht ein Gipsbett.
Die Mutter zitterte vor Empörung über die Taktlosigkeit der Ärztin, die zudem Mina für völlig gesund erklärte und verlangte, dass sie im kommenden Schuljahr ohne jede Einschränkung am Sportunterricht teilnähme. Zwar befolgte die Mutter peinlich genau die Hermann betreffenden Anweisungen, doch das Schweizer Medikament verabreichte sie ihm nach wie vor, und so blieb die Dankespflicht gegen den Pfarrer bestehen.
Gundula hieß Pfarrer Söllings Tochter, und Mina sollte sich an ihr ein Beispiel nehmen, aber nur bezüglich ihres Äußeren. Auch Gundula trug das Haar glatt herabhängend, auch Gundulas Kleidung war schlicht und aus naturhaften Materialien. Auch Gundula brauchte kein Fahrrad. Gundula ließ ihre Schultern beim Gehen nicht nach vorn fallen und sprach mit hübschem norddeutschem Akzent.
Nach dem Essen brachte Mina ihren Bruder Hermann aufs Klosett, zog ihn aus und legte ihn zum Mittagsschlaf ins Kinderzimmer. Sie schloss die Schnallen des Gipsbettes, in dem Hermann unbeweglich auf dem Rücken liegen musste, und zog die Vorhänge zu. Im Schlafzimmer ruhte die Mutter. Der Vater war ins Wohnzimmer gegangen, um ein wenig zu arbeiten, und durfte nicht gestört werden. Mina wusste, dass er am Schreibtisch saß und alte Fotografien und Konzertprogramme anschaute, manchmal schlief er auch mit seitlich herabgesunkenem Kopf und offenem Mund.
Mina saß in der Küche und ärgerte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, ihr Buch aus dem Matratzenversteck zu nehmen. Jetzt konnte sie nicht noch einmal ins Kinderzimmer, Hermann brauchte unbedingte Ruhe. Er schlief mittags nie, lag aber still und geduldig in seinem Panzer.