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Die Provinz ist erfunden, die Figuren mit ihren merkwürdigen Geschichten von damals und heute sind es auch. Und doch reicht vieles, was in diesem Erzählband Maria Seidemanns zu lesen ist, in Bereiche, die den Leser zur Positionsbestimmung zwingen, zur Auseinandersetzung mit sich und der Gesellschaft. Zwischen Verantwortung und Versagen, zwischen Hoffnung und Frustration ist das Spannungsfeld abgesteckt, auf dem sich Schicksale vollziehen. Fantasievoll, poetisch und mit hintergründiger Ironie erzählt die Autorin von Menschen, deren Verdienst in Vergessenheit geriet, von Leuten, deren Träume sich nicht erfüllten oder die ihre Ziele selbst verraten haben, aber auch von den Jungen, deren Ideal mit der Wirklichkeit zusammenprallt. Diese Geschichten sind geprägt von Kraft und Sensibilität zugleich, und sie sind Zeugnisse von Maria Seidemanns Bemühen um Ausdrucksfähigkeit und Klarheit der Sprache. INHALT: Nachts in der neuen Zeit Nasenflöte Klara und die Tauben Brücke bei Sladkoje Elefant im Spiegel Die tönernen Jungfrauen Guten Gewissens Lennarts Haus, Lennarts Frau Inselparadies Sonntagskind Das Fenster am Kammerplatz Großvaters Braut
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Seitenzahl: 170
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Maria Seidemann
Nasenflöte
Geschichten aus der Provinz
ISBN 978-3-95655-157-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Eulenspiegel Verlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Der Wind rüttelt an den Jalousiestäben. Auf dem Hof heult der Hund des Bäckers. Max liegt wach.
Angst hat er nicht. Ein deutscher Junge fürchtet sich nicht, sagt Vater. Max kennt alle nächtlichen Geräusche. Außerdem ist er schon sechs. Vater und Mama müssen oft abends zur Versammlung. Dann passt Max auf das Baby auf und denkt nach über das, was die Erwachsenen so daherreden.
Das Baby heißt Katharina. Katharina ist ein guter deutscher Name. Aber es ist auch ein russischer Name, und das kann in den heutigen Zeiten von Nutzen sein, sagt Vater. So ein gottverdammter Quatsch, sagt darauf Mama. Vater beschwert sich über Mamas Ausdrücke und möchte sich verbeten haben, dass Max so was von ihr lernt. Mama eignet sich nicht zum Kindererziehen. Vater dagegen stammt aus besseren Verhältnissen und hat von seinen Eltern ein weißes Hemd und einen Schlips bekommen, damit sieht er sehr schön aus, beinahe wie der Doktor, der Max die Kehle durchgeschnitten hat, als er krank war und sterben sollte. Aber damals war der Vater verschollen und und hatte noch kein weißes Hemd. Mama schimpft, Vater soll sich schämen, er weiß doch genau, dass die Fetzen vom schwarzen Markt stammen. Auf dem schwarzen Markt gibt es schwarzen Kaffee, schwarze Spitzen und schwarze Existenzen, neuerdings auch weiße Hemden. Vater sagt, er ist nicht für seine Eltern verantwortlich, sondern nur für das, was er selber gemacht hat, und dafür war er lange genug hinter dem Ural. Viel begriffen hat er aber hinter dem Ural nicht. Wahrscheinlich muss er deshalb mit Mama den Lehrgang machen.
Der Lehrgang bereitet Max viel Sorgen. Manchmal wird er kaum fertig mit allem den Tag über, wenn die Eltern auf der Schulbank sitzen. Das Baby ist noch sehr klein. Manchmal kocht die Milch über. Einmal war sie sauer, das Baby nahm die Flasche nicht und schrie den ganzen Tag. Kartoffelschälen ist auch nicht einfach. Man muss mit der Schneide schälen, nicht mit dem Messerrücken. Einkäufen wenigstens geht Mama jetzt selber, seit Max eine halbe Lebensmittelkarte verloren hat.
Wenn der Lehrgang zu Ende ist, wird Max ein Familienleben haben. Dann ist Schluss mit der polnischen Wirtschaft, alles kriegt seine Ordnung, wie Vater sich das vorstellt.
Vater und Mama werden Neulehrer. Heutzutage werden Hinz und Kunz Lehrer, sagt die Bäckerin. Max hat Mama gefragt, ob Hinz und Kunz auch auf dem Lehrgang sind, aber darauf hat sie nicht geantwortet.
Mama hat gesagt, das schafft sie nicht mit zwei Kindern. Aber die Partei — das ist der glatzköpfige Willi mit dem blauen Anker auf dem Unterarm — die Partei kann alles verlangen, weil Mama gebraucht wird wegen ihrer Vergangenheit. Sie hat aber darauf gesagt, sie macht es nur mit Vater zusammen, der hat es nötig. Sicher meint sie damit, dass Vater keinen Beruf hat. Er ist ein ungünstiger Jahrgang. Erst hat er eine Weile studiert, wie man mit jemandem kurzen Prozess macht, aber dann ist er marschiert. Mama sagt, er hat friedliche Dörfer in Schutt und Asche gelegt. Max weiß nicht, was er davon halten soll, Vater schwärmt doch vom Leben auf dem Dorfe. Nach dem Lehrgang lässt er sich versetzen, dann haben sie Landluft, ein Häuschen mit Garten, Gemüse, Hühner, eine Kuh, Hunde und Katzen und ein Storchennest. Und Max geht in die demokratische Einheitsschule, wo ihn Vater, zusammen mit den Bauernkindern, zu einem neuen Menschen erzieht. Das wird sich machen lassen, denkt Max, denn Mama soll sich dann ja selber um das Baby, die Kuh und die Tabakbeete kümmern, bis sie alle aus dem Gröbsten raus sind. Vater kann endlich seine Familie ernähren, wie sich das gehört. So haben wir aber nicht gewettet, mein Lieber, sagt Mama. Sie hat etwas gegen das gesunde Landleben, weil sie nur aus der Arbeiterklasse kommt. Vater hat sie trotzdem geheiratet, denn sie ist fleißig, treu und rothaarig.
Max ist auch rothaarig. Das Baby hat noch keine Haare. Dafür hat es eine Stimme wie eine alte Torangel. Max fährt erschrocken auf. Das Baby schreit, also ist es zehn Uhr. Er stopft Katharina den Nuckel in den Mund und tastet im Bett der Eltern nach der Milchflasche. Mama hat die Milch vor der Versammlung heißgemacht und unter die Zudecke gepackt. Die Flasche ist umgekippt und hinterlässt einen klebrigen Fleck auf dem Laken. Max wickelt das Baby aus der nassen Windel und legt es trocken, dann füttert er es.
Der Bäckereihund schleppt seine Kette rasselnd über den Hof. Statt das Mehl zu bewachen, heult er den Mond an. Vater hat gesagt, den Köter knallt er eines Nachts ab. Da kann Max nur lachen, er weiß genau, dass der Vater entwaffnet ist.
Der arme einsame Hund, der hat keinen, um den er sich kümmern kann.
Vater muss sich deshalb so aufspielen, weil er keine Stellung in der Familie hat. Er ist im Krieg nur zweimal aufgetaucht. Beim ersten Mal hat er mit Mama getanzt, und beim zweiten Mal hat er sie heiraten müssen. Dann ist er gefallen, aber es war eine Verwechslung, und er ist wieder auferstanden. Max kannte den Vater noch nicht, als der sich im vorigen Jahr neben ihn an den Tisch setzte und mitessen wollte. Und als wäre der eine zusätzliche Esser nicht genug, bekam Mama das Baby.
Das Baby ist beim Trinken eingeschlafen. Max trinkt den Rest aus der Flasche selbst. Der Junge ist dürre zum Umpusten, sein Vater ist wohl zu fein zum Arbeiten, hat die Bäckerin im Laden gesagt, und: Wovon leben die eigentlich?
Dumme Frage, denkt Max, wir leben von der Schwerarbeiterkarte. Die Schwerarbeiterkarte kriegt Mama als Ersatz für Oma und Opa. Die kennt Max nicht, sie sind auf der Strecke geblieben. Max kann sich vorstellen, was das bedeutet. Opa, der auch Max hieß, war Streckenläufer bei der Bahn, und Oma Katharina hat ihm das Essen an die Strecke gebracht, und von da sind sie wahrscheinlich nicht wiedergekommen. Wenn ich nicht das Baby hätte, überlegt Max, ich würde auch gerne auf den Bahndamm klettern und loslaufen, immer auf den Gleisen lang, einfach weggehen. Vielleicht ist es woanders besser. Notfalls kann man ja zurückkommen, wenn es dunkel wird. Vater hat gesagt, Opa Max und Oma Katharina waren die fünfte Kolonne und haben ihm einen Dolchstoß versetzt, während er seine anständigen Knochen hinhalten musste. Max hätte gern erfahren, ob sie deshalb weggelaufen sind, aber Mama hat ihn auf die Treppe geschoben, und dann haben sie sich hinter der Tür angeschrien.
Max seufzt und legt das Baby in den Wäschekorb. Sie müssen sich alle drei an die neuen Zeiten gewöhnen. Das beste wird sein, er geht im Herbst nicht in die Schule, sondern kümmert sich zu Hause um Katharina, das Essen und die Hühner, damit Mama ausprobieren kann, wie man Kinder erzieht. Lernen wird er später, wenn er groß ist, auf einem Lehrgang.
Max öffnet das Fenster und schiebt die Jalousiestäbe auseinander. Hinter den planierten Trümmern am Bahndamm steht, ein schwarzer Klotz, die Schule, kein Fenster ist hell. Das bedeutet, die Versammlung ist aus, und Max ist noch nicht fertig mit Denken. Er kriecht unter die Decke und stellt sich schlafend. Morgen ist auch noch ein Tag.
Zu Pulsnitzers Geburtstag fiel der erste Schnee. Pulsnitzer freute sich darauf, die Kinder zu einer Schneeballschlacht anzuregen. Zwar waren Schneebälle auf dem Schulhof untersagt, doch Pulsnitzer überging seit jeher solche Verbote. Der Winter ist ein harter Mann, trällerte er auf dem Wege zur Schule. In der großen Pause bat ihn die Sekretärin zum Direktor.
Pulsnitzer hatte eine größere Feier nach Unterrichtsschluss erwartet, mit Musik und einer Ansprache und vielen persönlichen Geschenken von den Kollegen. Es kam ihm nicht auf die Geschenke an, wahrhaftig nicht, sondern auf eine Würdigung seiner fast dreiunddreißig Berufsjahre. Im Stillen hoffte Pulsnitzer sogar auf einen Orden, eine Aktivistennadel zumindest. Er hatte die kleine Rede im Kopf, die er nach der Verleihung halten wollte und in der, notdürftig unter Konjunktiven verborgen, viel Selbstlob enthalten war.
Direktor Keller war allein im Zimmer.
Er gratulierte Pulsnitzer zum Siebzigsten, überreichte Blumenstrauß und Präsentkorb und goss zwei Gläser Weinbrand ein. Dann fragte Keller, ob Pulsnitzer nicht daran dächte, sich nun verdientermaßen zur Ruhe zu setzen.
Pulsnitzer entgegnete lachend: „Keineswegs! Ich bin mit den Kindern und der Musik jung geblieben. Bedenke, dass ich niemals krank war.“
Keller schwieg und trank und sagte dann: „Du erinnerst dich sicher, dass wir in den letzten fünf Jahren dreimal über dein Ausscheiden aus dem Schuldienst gesprochen haben. Georg, du bist jetzt siebzig!“
„Soll das heißen“, fragte Pulsnitzer mit stockendem Atem, „soll das heißen — ?“
„Ja“, sagte Keller.
Pulsnitzer tastete nach dem Glas und schluckte hastig. Er argwöhnte, der Schnaps könnte von billiger Qualität sein, aber darauf kam es jetzt nicht an. „Und wenn ich nicht aufhören will? Erwin, ihr könnt doch nicht einfach auf meine Erfahrung verzichten! Und die Kinder, willst du sie meines Unterrichts berauben? Sie sind mir so dankbar.“
„Weißt du, wie die Schüler dich insgeheim nennen? Nasenflöte!“
Pulsnitzer kicherte nervös. „Ich bin eben ein Original. Nicht jeder kann das von sich sagen.“
„Georg, sie lachen doch nur über dich! Seit Jahren versuchen wir dir klarzumachen, dass der Musikunterricht an unserer Schule nicht so weitergehen kann. Du hältst dich nicht an den Lehrplan. Natürlich hast du Verdienste, aber sie liegen Jahrzehnte zurück.“
„Wie taktlos du bist an meinem Ehrentag. Ich biete den Kindern musische Erlebnisse, die in keinem Lehrplan stehen! Jede Klasse bekommt bei mir eine mehrstündige Unterweisung in historischer Instrumentenkunde. Die Kinder dürfen die Instrumente in die Hand nehmen, ich bin auch bereit, sie darauf zu unterrichten, du selbst erwähntest soeben die Nasenflöte. Erwin, welcher Lehrer kann das heutzutage noch!“
Keller schüttelte müde den Kopf. „Du willst nicht verstehen. Die Kollegen sind ungehalten über die Schwierigkeiten, die wir deinetwegen haben. Ich erinnere nur an diesen eigenmächtigen Wandertag im Oktober.“
„Ich habe mit der 7b während der Musikstunde die Rabensteine erstiegen. Wir sangen Volkslieder vom Gipfel ins Tal. Das war ein Erlebnis!“
„Die Klasse hat die anschließenden vier Stunden versäumt. Niemand wusste, wo die Schüler waren!“
„Die Stunden konnten sie nachholen. Aber das Gefühl, verstehst du, dieses Gefühl auf dem Gipfel, das ist etwas Bleibendes, daran werden sie sich noch im Alter erinnern. Sie sind so dankbar, es mangelt ihnen an solchen Erlebnissen.“
„Mach dir nichts vor. Sie waren dankbar, dass deshalb die Physikarbeit in der dritten Stunde ausfiel. Georg, wir besetzen deine Stelle im kommenden Schuljahr mit einer Absolventin. Wir können dich nicht länger halten. Es ist besser, wenn du selbst gehst.“
Pulsnitzer starrte Keller an, und ihm wurde die Ungeheuerlichkeit dieses Gesprächs klar. Mit fliegender Stimme beschwor er die Zeit, da sie nebeneinander die Schulbank drückten, um Neulehrer zu werden, beide waren eben aus der Kriegsgefangenschaft heimgekommen. Keller war neunzehn Jahre alt, Pulsnitzer sechsunddreißig. Pulsnitzer hatte vor dem Kriege Musik studiert, und er bewältigte den Lehrgang leicht. Der wenig vorgebildete Keller schloss sich ihm Hilfe suchend an, er beherrschte zum Beispiel den Gebrauch des Konjunktivs nur mangelhaft, das hatte er wohl längst vergessen. Aber Pulsnitzer versagte sich stolz den kleinen Triumph, Keller heute daran zu erinnern. Beide gingen nach dem Lehrgang an die Schule, an der sie noch immer unterrichteten. Pulsnitzer sah seine Aufgabe darin, der von Krieg, Hunger und Zerstörung verletzten Jugend in der Musik eine geistige Heimat zu geben. Er widmete dem Musikunterricht all seine Kraft und seinen Enthusiasmus, denn er meinte, dass eine Jugend, die Herz, Hirn und Kehle voller Lieder habe, unfähig sei, Böses zu tun oder gar erneut in einen Krieg zu marschieren. Dass er selbst singend durch Polen und Frankreich marschiert war, stand für Pulsnitzer auf einem ganz anderen Blatt. Pulsnitzer hatte sogar ein Buch geschrieben, das vor dreißig Jahren gedruckt worden war und für das er damals eine Anerkennung in Form einer Urlaubsreise nach Thüringen erhielt. Es hieß: Kleine Musikinstrumentenfibel für die Jugend.
„Während du Politik und Karriere gemacht hast“, sagte Pulsnitzer, „habe ich mich um die Seelen der Kinder gekümmert. Ja, ich weiß, dass dir das Wort Seele nicht gefällt.“
„Ich beurlaube dich für den Rest des Tages“, antwortete Keller und stand auf. „Feiere deinen Geburtstag und denke in Ruhe über meinen Vorschlag nach.“
„Vorschlag“, wiederholte Pulsnitzer bitter. Aber dann fiel ihm etwas ein, und er setzte würdevoll hinzu: „Ich kann mich also fortan mit ganzer Kraft meinen Forschungen widmen.“
„Tu das, Georg!“, rief Keller erleichtert und klopfte ihm gar die Schulter.
Pulsnitzer trug Blumen und Korb in seine Hochhauswohnung. Kellers Undankbarkeit kränkte ihn, und der schmerzhafte Schlag hatte ihn unerwartet getroffen. Eine tonlose Leere war in Pulsnitzer. Er versuchte sie zu vertreiben, indem er ein wenig auf der Nasenflöte musizierte, aber es heiterte ihn nicht auf. Dann überlegte er, ob er jetzt das Paket von der Post abholen sollte, das ihm seine Tochter zum Geburtstag geschickt hatte. Aber er blieb lieber zu Hause, denn während er unterwegs wäre, könnte vielleicht Keller kommen, um sich für seine Taktlosigkeit zu entschuldigen, oder ein Gratulant.
Pulsnitzer untersuchte den Präsentkorb auf leicht verderbliche Nahrungsmittel. Eine Wurst, einen Baumkuchen und einen Kasten Pralinen nahm er heraus, sie würden in der überheizten Wohnung rasch an Geschmack verlieren. Er zog den vor dem Fenster in der kühlen Novemberluft hängenden Leinenbeutel herein, in dem er Butter und Schmalz aufbewahrte, und tat die Sachen aus dem Präsentkorb dazu. Pulsnitzers Tochter hatte versucht, ihn zum Kauf eines Kühlschrankes zu überreden. Aber Pulsnitzer erklärte ihr, wofür er sparte: Nach seiner Pensionierung würde er Zeit haben, seine Forschungen zur Musikinstrumentenkunde abzuschließen und das Buch zu vollenden, das alle Instrumente aller Zeiten und aller Völker in ihrem historischen und geografischen Bezug erfassen würde. Er müsste es dazu auf sich nehmen, in fremde Länder zu reisen, obwohl er das Unterwegssein seit dem Kriege hasste, und überall Instrumente abzeichnen und beschreiben. Nun hatte Pulsnitzer Zeit, aber der Gedanke daran ängstigte ihn.
Während er den Beutel wieder hinaushängte, lauschte er zur Tür, ob nicht erste Gratulanten sich bemerkbar machten, frühere Schüler oder ehemalige Studenten, die er vor Jahren betreut und mit wertvollen Erkenntnissen fürs Leben ausgestattet hatte. Pulsnitzer stellte sich vor, wie sie sich lautlos auf dem Etagenflur vor der Aufzugstür gruppierten und dann den Kanon anstimmten, den er komponiert und in allen seinen Klassen einstudiert hatte. Die Nachbarn würden die Türen öffnen, die Blumensträuße sehen und verwundert erkennen, mit welcher Persönlichkeit sie seit drei Monaten in einem Haus lebten, sie haben Pulsnitzer vielleicht bisher für einen braven Schalterbeamten gehalten oder für irgendeinen Abteilungsleiter, von dem sie nichts wussten, als dass er zurückhaltend und bescheiden auftrat, niemanden belästigte und stets freundlich grüßte. Nun aber wird Pulsnitzer in der Tür erscheinen und mit weit geöffneten Armen seine lieben Gäste begrüßen, er wird leutselig die Nachbarn zu einem winzigen Schnäpschen einladen und von diesem Tage an Achtung genießen im Hause.
Draußen rührte sich nichts.
Pulsnitzer sitzt am Tisch und wartet.
Als Pulsnitzers Frau noch lebte, hatte sie zu Geburtstagen immer Kekse gebacken. Er war vor zwei Tagen in ein Süßwarengeschäft gegangen und hatte sich verschiedene Gebäckschachteln zeigen lassen, aber sie schienen ihm alle zu teuer und zu wenig solide. Pulsnitzer vermisste seine Frau bei solchen Gelegenheiten besonders. Ihr hätte er jetzt auch die Bestürzung über seine neue Lage andeuten können, und sie hätte ihn in keiner Weise gedrängt, sondern ihm, obwohl nun alle Voraussetzungen für sein großes Werk gegeben waren, Besonnenheit angeraten. Auf keinen Fall dürfte er sich seiner verantwortungsvollen Aufgabe mit Hast nähern, er würde Ruhe brauchen und Zeit, um darauf hinzudenken, sehr viel Zeit. Aber die Frau war seit elf Monaten tot.
Als sie starb, schickte Pulsnitzer ein Telegramm an seine Tochter.
Pulsnitzer dachte, die Tochter könnte zu ihm ziehen in die große Wohnung. Er würde ihr die Kammer geben, in der noch die Möbel aus ihrer Kindheit standen, ein zweites Bett aufschlagen, für den Jungen, der ja an seiner dunkelbraunen Haut keine Schuld trug. Pulsnitzer hatte seiner Tochter längst verziehen, schließlich war sie sein Fleisch und Blut und nach dem Tode der Frau nun der ihm nächste Mensch. Sie hätte Kost und Logis frei, und dafür, dass sie ihm die Zimmer und die Wäsche sauber hielt und die Mahlzeiten besorgte, wollte er ihr ein monatliches Taschengeld aussetzen. Sie wären wieder eine Familie gewesen, eine Familie, in der die Aufopferung füreinander schließlich eine gewisse Tradition besaß.
Zuerst hatten sich Pulsnitzers Eltern für ihn aufgeopfert samt seinen unverheiratet gebliebenen älteren Schwestern, damit er sein musikalisches Talent ausbilden konnte. Der Vater war Apothekengehilfe, und es war nie genug Geld da für die fünf Kinder, aber Pulsnitzer studierte mit Unterbrechungen bis zum Beginn des Krieges. Dann hatte sich seine Frau für Pulsnitzer aufgeopfert, sie verzichtete auf ihre Laufbahn als Pianistin, als Pulsnitzer erklärte, er als Gelehrter brauche ihre Fürsorge ohne Einschränkung. Und hatte er sich nicht zwei Jahrzehnte lang für die Erziehung seiner einzigen Tochter aufgeopfert, um ihr Bescheidenheit, Anstand und Streben nach höheren Werten einzupflanzen?
Aber er hatte es immer schwer gehabt mit der Tochter. Voller Rührung entsann er sich, wie ihm seine Frau, als er bereits zwei Jahre aus dem Kriege wieder daheim war, verschämt gestanden hatte, sie habe sich an ihren Arzt um Hilfe gewandt, warum sie wohl keine Kinder bekämen. Pulsnitzer und seine Frau waren nicht mehr sehr jung, und der Arzt sagte, für Pulsnitzers Begriffe recht rüde, sie müssten eben etwas eifriger zu Werke gehen. Noch im gleichen Jahr bekamen sie die Tochter. Pulsnitzer bestand nun darauf, dass seine Frau keine Klavierstunden mehr gab. Er hatte sich ohnehin nur schwer damit abgefunden, das gute Piano von klebrigen Kinderhänden traktiert zu sehen, und das dilettantische Geklimper konnte er kaum ertragen. Doch die Klavierstunden hatten sie beide schließlich eine Zeit lang ernährt. Leider schien Pulsnitzers Tochter die Liebe zur Musik nicht geerbt zu haben. Sie weigerte sich, Klavier spielen zu lernen. Als sie das Klavier verkauft hatten, um die ersten Instrumente für Pulsnitzers Fundus anzuschaffen, versuchte er ohne Erfolg, sie für die Radleier zu begeistern oder für das Trumscheit. Sogar in sein liebstes Stück, die Nasenflöte, zu blasen, sträubte sie sich und bekundete gar Ekel. Als sei es nicht viel hygienischer, eine Flöte mit der Nase zu blasen als mit dem Munde, falls die Hygiene in der Kunst überhaupt etwas zu suchen hätte.
So war Pulsnitzer früh in allen Hoffnungen, die Tochter betreffend, enttäuscht worden. Da sie aber, wie er zu erkennen glaubte, ein braves Zeichentalent zeigte, schickte er sie zur Lehre in die Porzellanfabrik. Leider verstand die Tochter es nicht, sich dort eine geachtete Position zu erarbeiten. Kaum einundzwanzigjährig, verließ sie die Dekormalerei, und Pulsnitzer erfuhr, dass sie an der Kunstakademie immatrikuliert sei. Ohne ihn zu fragen. Als hätte er nicht gern alles hingegeben, damit sie eine berühmte Künstlerin werden und der Familie Ehre machen könnte. Aber wirklich schlimm war etwas anderes: Die Tochter hatte ein Verhältnis mit einem Neger, einem Nigerianer, und als Pulsnitzer das hörte, kam es zum Krach. Dazu hatte er das Mädel nicht großgezogen! Ehre, Tugend und Anstand galten in seinem Heim noch etwas, und so musste die Tochter wählen zwischen dem Afrikaner und dem Elternhaus. Weder Pulsnitzer noch seine Frau hätten es für möglich gehalten, dass die Tochter sich für diesen Schwarzen entschied. Nun, Pulsnitzer blieb konsequent, die Tochter betrat seine Wohnung nicht wieder. Und er behielt recht: Der Nigerianer verschwand und ließ dem Mädel einen unehelichen dunkelhäutigen Sohn zurück. Eine berühmte Künstlerin wurde die Tochter auch nicht, sie illustrierte nur Bücher. Bei seinem einzigen Besuch im Haus der Tochter bot Pulsnitzer ihr an, sie dürfe gegen ein kleines Entgelt die Musikinstrumente für sein Buch von seinen eigenen Pausen abzeichnen. Aber das wollte sie nicht, obwohl sie als Porzellanmalerin Genauigkeit doch gelernt hatte. Das Geld hätte sie gewiss nötig gehabt, ihm schien, sie lebte in ihrem eigenen Hause wie eine Magd. Pulsnitzer erinnerte sich, wie er mit seiner Frau schweigend in der spärlich möblierten Stube gesessen und sich gefragt hatte, was er eigentlich in diesem Bauernhause suchte, während die Tochter und die Mutter des Untermieters draußen sich laut unterhielten und Hühner rupften. Keinen Bissen bekam Pulsnitzer herunter bei dieser Mahlzeit. Er hatte vom Fenster beobachtet, wie seine Tochter die Hühner mit Körnern anlockte und ihnen dann die Hälse umdrehte. Außerdem war das Fleisch mit Knoblauch gewürzt, und Knoblauchgeruch konnte Pulsnitzer schon im Kriege nicht ertragen. Pulsnitzer fühlte sich auch brüskiert durch die familiäre Selbstverständlichkeit, mit welcher der Untermieter und seine Mutter bei ihnen am selben Tische aßen, und er bemühte sich, durch besonders vornehmes Verhalten Distanz zu wahren zu der lauten, bäurischen Atmosphäre. Es war ihm angenehm, dass der Mulattenjunge ihn nicht Opa nannte, er duldete allerdings mit stillem Verständnis die Versuche der Frau, sich dem Kinde zu nähern. Als der Brief der Tochter eingetroffen war, der erste seit vielen Jahren, die Einladung in das eben erworbene Haus enthaltend, hatte Pulsnitzer etwas Gediegeneres erwartet und war nun wiederum enttäuscht.
Im folgenden Sommer erschien die Tochter gemeinsam mit dem Untermieter zur Beerdigung von Pulsnitzers Frau. Pulsnitzers Schwester Els’ fragte, wer der bärtige Mann mit dem Negerkind sei, und dann wies sie ihn auf den offensichtlich hoffnungsvollen Zustand seiner Tochter hin. Abends verteilte Pulsnitzer die Schlafgelegenheiten: Vater und Tochter in den Ehebetten, Schwester Els’ in der guten Stube auf der Couch, das Kind in der Kammer und der Untermieter im Studierzimmer auf dem Harmonikabett. Die Tochter sagte, Franz sei nicht ihr Untermieter, und sie schliefen immer im selben Bett. Pulsnitzer hatte nach dem Hinweis von Schwester Els’ dergleichen geahnt, wollte es aber unter seinem Dache nicht dulden. Die Tochter erinnerte ihn in respektlosem Tone, der dem Trauertag nicht angemessen war, dass sie schon dreißig Jahre alt sei, und Pulsnitzer entgegnete, dann solle sie sich auch ihrem Alter gemäß benehmen. Franz lenkte ein, und so geschah alles, wie Pulsnitzer wollte. Seine Vorstellungen, das künftige Zusammenleben mit der Tochter betreffend, behielt er allerdings für sich, und auch Franzens Bitte, doch zu ihnen auf den Bauernhof zu ziehen, lehnte er ab, das hielt er für eine Zumutung. „Ich bin an der Schule unabkömmlich“, sagte er. Ja, das hatte Pulsnitzer geglaubt.