Das geschminkte Chamäleon - Maria Seidemann - E-Book

Das geschminkte Chamäleon E-Book

Maria Seidemann

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Beschreibung

Was wird aus einer Revolution, wenn die Menschen, die sie gemacht haben, zu saturierten Kleinbürgern entarten, ihre Ideale vergessen und nur noch auf Ruhm, Reichtum, Karriere bedacht sind oder sich anarchisch gebärden? Ironisch distanziert, fordert die Autorin in diesem Zeitgemälde der Jahre 1848 bis 1871 den Leser heraus, die Antwort auf diese Frage zu finden. Das Chamäleon, literarisches Symbol der Anpassung schlechthin, kommt zu allem Überfluß geschminkt daher: höchste Perfektion oder Anachronismus in Natur und Gesellschaft? Dieser erste Roman Maria Seidemanns schildert fiktiv die Entstehung und Wandlung des ehemaligen Friedrich-Wilhelm-Städtischen Theaters in der Berliner Schumannstraße. So hätten die Geschichten der Leute, die mit diesem Theater, jeder auf eine andere tragikomische Weise, verbunden waren, sein können. Es ist kein Roman von historischer Authentizität, aber so die Autorin: »Es ist eine Geschichte von Aufstieg und Niedergang, sie ist traurig und komisch, außerdem ist sie wahr.«

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Impressum

Maria Seidemann

Das geschminkte Chamäleon

Ein ironischer Roman aus dem alten Berlin

ISBN 978-3-95655-151-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1986 im Eulenspiegel Verlag, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Manche Leute, die keine geborenen Narren und einst mit Vernunft begabt gewesen, sind solcher Vorteile wegen zu den Narren übergegangen, leben bei ihnen ein wahres Schlaraffenleben, die Torheiten, die ihnen anfänglich noch immer einige Übenwindung gekostet, sind ihnen jetzt schon zur zweiten Haut geworden, ja sie sind nicht mehr als Heuchler, sondern als wahre Gläubige zu betrachten.

Heinrich Heine

Erstes Kapitel: Drei Briefe aus Berlin

Berlin, den 4ten September 1847

Meine liebe Schwester Charlotte!

Zum Ersten muss ich Dich dringend bitten, dass Du vom Inhalt dieses Briefes unserem Vater nichts mitteilst. Aber auch nicht Deinem Mann, den ich schon immer (verzeih!) mehr für einen heimlichen Gendarmen als für einen Pastor gehalten habe.

Von allen meinen Schwestern bist Du diejenige, die mir am meisten die Mutter vertrat. Deshalb will ich Dir jetzt getreulich alles berichten, was mir seit meiner Ankunft in der großen Stadt widerfahren ist.

Charlotte, ich bin ein glücklicher Mensch! Ich bin voller Begeisterung! Aber ich habe große Angst, weil ich dem Vater nicht gehorcht und alles anders gemacht habe, als er angeordnet und erwartet hat. Lies geduldig bis zu Ende und hilf mir!

Schon die Fahrt mit der Dampfbahn von Potsdam aus war ein aufregendes Erlebnis, obgleich ich angenommen hatte, sie führe mit größerer Geschwindigkeit. Sie brauchte aber fast dreißig Minuten. Halte es meiner Unerfahrenheit zugute, dass ich mich im Coupé von einer jungen Weibsperson ansprechen ließ. Sie sah mir vom Gesicht ab, dass ich ein Student sei, der noch kein Zimmer habe, und pries mir ein sauberes, billiges Chambre garnie im Hause ihres Vaters an. Mein Zimmernachbar würde ein wirklicher Universitätsprofessor sein, und die Hörsäle lägen ganz in der Nähe. Ich war so glücklich über diese Fügung! Zumal die Mamsell mit einem Wagen vom Bahnhof abgeholt und ich samt meinem Reisekorb hinten aufgeladen wurde, was für mich doch sehr bequem war!

Liebe Charlotte! Du wärest wie ich überwältigt von der Größe und Pracht der Stadt Berlin, welche die Erzählungen unseres Vaters bei Weitem übertrifft. Alle Straßen sind mit Steinen gepflastert, manche sind mit Bäumen bepflanzt, genauso wie die Auffahrt zum Gut von Tripperow. Wir sind eine geschlagene Stunde durch die Stadt gefahren, und nirgends war ein Ende zu erblicken. Die Häuser sind mit prächtigen Simsen verziert, oft auch mit Figuren und steinernen Medaillons, und die Fenster mögen so groß sein wie die in unseres Vaters Kirche. Die Menschen in Berlin scheinen wenig zu arbeiten, denn sie spazierten am hellen Tage auf den Straßen herum, sogar einzelne Frauen, und allesamt besser gekleidet als die Frau Major von Tripperow.

Der Wagen, auf dessen Ladefläche ich hockte, ratterte endlich über die Weidendammer Brücke und in ein Stadtviertel hinein, das aus lauter neuen Häusern besteht. Du wirst es nicht glauben, doch zu der Zeit, als unser Vater in Berlin Student war, soll hier noch freies Feld gewesen sein. Dieses Viertel zwischen Oranienburger Tor, Monbijou und Schiffbauerdamm heißt Friedrich-Wilhelm-Stadt, aber man nennt es das Quartier Latin von Berlin. Hier wohnt ein sehr gemischtes Völkchen: ehrbare Handwerkerfamilien, Beamtenwitwen, welche vom Vermieten leben, Arbeiter von der besser verdienenden Sorte, Künstler, Studenten, Nähmädchen, Kleiderverleiher. Auch Ganoven trifft man und sogar Dirnen. Doch nicht aus dieser Richtung kam das Ereignis, das mich in eine andere Bahn warf als die vom Vater bestimmte.

Die Mamsell aus der Dampfbahn nahm mich mit in das Haus ihres Vaters, eines Tischlermeisters mit Namen Magnus. Sie allein kommandiert das gesamte Hauswesen, weil sie — wie wir! — die Mutter früh verlor. Also machte ihr Vater mit mir den Kontrakt, wie sie es wollte, und ich musste die Miete für ein Quartal vorauszahlen. Der Hausherr bestand darauf, mit mir ein Glas scharfen Branntwein zu trinken, der in Kehle, Brust und Hirn brannte, sodass ich Mühe hatte, der Mamsell Marie die Treppe hinauf zu folgen, wo ich endlich mein Zimmer sehen konnte.

Dieses Zimmer sei früher ihrs gewesen, sagte Marie, und das Bett auch, ich sollte es gleich probieren, es sei gut. Kichernd ließ sie sich auf die Matratze plumpsen und wippte darauf hoch und nieder. Ich begann mich über die Sitten der städtischen Jungfrauen zu wundern!

»Versuchen Sie es auch!«, rief sie aber, packte mich und zerrte mich zu sich herab, dass mir ganz schwindlig wurde.

So kam es, dass ich — kaum eine Stunde, nachdem ich in Berlin angekommen — meine Unschuld verlor. Ach, wüsste ich nur, dass Du mir verzeihst! Denn ich kann nicht behaupten, dass ich danach unglücklich gewesen bin. Außerdem ist dieses Ereignis auch nicht das Eigentliche, das ich Dir mitzuteilen habe. Also fahre ich fort in meinem wahrhaftigen Bericht.

Ich wollte frische Luft atmen und öffnete das Fenster, nachdem Marie entsprungen war, weil unten im Hause nach ihr gerufen wurde. Da ich meinen Kopf aus dem Fenster steckte, hörte ich nicht, wie das Schicksal an meine Türe klopfte. Ich sah unten auf dem Hofe etwas, das ich als böses Omen nehmen wollte. Auf zwei schwarz verhängten Wagen, die mit schwarzen Pferden bespannt waren, standen zwei schwarze Särge, bei deren Anblick ich natürlich an unseren Vater denken musste, und mein Gewissen regte sich.

»Ein Unglückstag«, flüsterte ich vor mich hin.

»Ein Glückstag«, sprach eine trockene Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum und erblickte in meinem Zimmer einen etwa vierzigjährigen rothaarigen Mann. Dieser stellte sich als mein Zimmernachbar Professor Blindow vor und bat, sein Eindringen zu verzeihen. Bis vor einigen Minuten habe er aus meinem Zimmer lautes Stöhnen vernommen, das plötzlich verstummt sei.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

Was sollte ich antworten? Ich konnte nicht entscheiden, ob das Blitzen seiner Augen hinter den Brillengläsern wissend war oder nur freundlich.

»Ein Glückstag?«, fragte ich also zurück und deutete auf die abfahrenden Totenwagen.

Mein Nachbar erklärte, dass der Tod nicht nur Kummer und Schmerz, sondern auch Gewinn bringen kann, vor allem in der Stadt Berlin, wo die Bürger ein Leben lang sparen, um nach ihrem Tode mit einem teueren und prächtigen Leichenbegängnis prahlen zu können; und vor allem, wenn man wie unser gemeinsamer Hauswirt sich auf die Sargproduktion umgestellt habe, um dem Würgegriff der großen Möbelhandlungen zu entrinnen. Der Tischler Magnus, liebe Schwester, soll sehr schnell wohlhabend geworden sein während der Cholera-Epidemie im letzten Jahr. Aber danach konnte ihm auch die Missernte mit der folgenden Hungersnot nicht helfen, es wurden nicht genug Särge gekauft. Magnus hat bereits mehr als hundert davon im Lager. Man muss sich das vorstellen, Charlotte, Dein Bruder schläft unter einem Dache mit hundert Särgen. Der Hausherr hofft auf eine neue Seuche.

»Und ich kämpfe mit meinen Mitteln dagegen an«, sagte mein Nachbar.

Da ich ihn mit einfältiger Selbstverständlichkeit für einen Theologieprofessor hielt, nahm ich an, seine Mittel gegen Missernten und Krankheiten seien Gebete und gelehrte Dispute mit dem Herrgott.

Ich fasste sofort Vertrauen in Blindows ruhige, feste Art und vergaß fast, in welcher Verfassung er mich angetroffen. Ja, ich könnte sogar sagen, ich fiel ihm augenblicklich und vollständig anheim, denn ich war erstmals ohne eine starke leitende Hand und außerdem verwirrt.

Mein Professor erwies sich als hilfreicher Mann. Er begleitete mich, ohne dass ich darum bat, zum Polizeipräsidium am Spittelmarkt.

Zu meiner Verwunderung merkte ich, dass der Professor ebenso gern zu Fuß geht wie ich. Wir erledigten diesen Gang ohne Droschke. So nennt man hier die Mietwagen, von denen es Hunderte zu geben scheint, und die Kutscher sehen alle gleich aus. Zunächst gingen wir die Friedrichstraße hinunter, die so lang ist, dass auf ihr wohl drei oder vier Dörfer Platz fänden! Und dann, liebe Charlotte, bogen wir in die Straße ein, die man die schönste von Berlin nennt und Unter den Linden heißt. Diese Straße ist mit vier Reihen Linden besetzt, schon daran siehst Du, wie breit sie sein muss. Und wenn ich nicht endlich zum wichtigsten Punkt meines Berichts gelangen müsste, so würde ich Dir viele Einzelheiten über die Kleider und Sonnenschirme der Damen, die Uniformen, die herrlichen Kutschwagen, über Männer mit Drehorgeln und Guckkästen mit Kuriositäten, über Speisehäuser, Kaufläden, die Oper, die Universität und am Ende das Königliche Schloss berichten — was alles man beim Spazieren unter den Linden erblicken kann.

Mein Professor führte mich in ein feines Kaffeehaus, wo man nicht einmal sprechen, nur flüstern durfte, denn dort saßen viele Herren und lasen in ausländischen Zeitungen. Der Kaffee, zu dem mich Blindow einlud, kam von Brasilien. Das liegt zwar in Amerika, aber er war bitter und schmeckte lang nicht so gut wie unsere gebrannte Gerste.

Gleichwohl fühlte ich mich trunken von der Pracht der Berliner Straßen, und in meinem Kopfe kreiste es wie damals vor einem Dutzend Jahren, als ich heimlich vom Messwein getrunken hatte und der Vater mich zwei Tage lang ohne Brot in den Keller sperrte zur Strafe.

Nachdem ich auf dem Polizeipräsidium meine Aufenthaltskarte gegen eine Gebühr von siebeneinhalb Silbergroschen erhalten, wofür ich meinen Pass hinterlegen musste, bat mich Blindow, ihn nun seinerseits auf ein paar Gänge zu begleiten, was ich dankbar zusagte. Schicksal, nimm deinen Lauf!

Wir gingen miteinander am Sonntagmorgen vor das Hamburger Tor hinaus. Ich habe dort Dinge gesehen, die der Herrgott nicht auf seiner Erde dulden würde, wenn er davon wüsste! Dort stehen auf einem kahlen Felde, welches man Voigtland nennt, die elendesten Katen, die Du Dir vorstellen kannst. Und mitten dazwischen erheben sich sieben (!) düstere, große Gebäude. Mein Professor bezeichnete sie als die Familienhäuser. Er nahm mich in eines mit hinein, wobei er mich aufforderte, auf alles genauestens zu achten.

Ich wagte nicht, mein Schnupftuch vor die Nase zu halten, weil ich mich vor Blindow schämte. Es stank in diesem Hause wie in einer Jauchenkute. Aber dort lebten keine Rinder und Schweine, sondern Menschen. In diesen sieben Häusern gibt es insgesamt vierhundert Zimmer, halb so groß wie das meine bei Tischler Magnus, in denen zweieinhalb Tausend Leute hausen, die zu arm sind, irgendwo anders zur Miete zu wohnen. Hier kostet eine Kammer zwei Taler im Monat. Oft teilen sich noch zwei Familien einen Raum, indem sie ein Seil durch die Mitte spannen!

In jedem Hause gibt es einen Inspektor, der Zucht und Ordnung hält und die Miete eintreibt. Wer nicht bezahlen kann, landet unweigerlich im Arbeitshaus. Dabei sind die meisten unverschuldet im Elend, vor allem die Kinder. Mein Professor sagte mir, er schriebe ein Buch über die Kinder in den Familienhäusern, die oft die einzigen Ernährer ihrer Familien sind. Sie arbeiten in den Fabriken von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends und verdienen 3 sgr am Tage. Diese Kinder haben Lungenhusten und verkrümmte Beine, viele sind durch Unfälle verkrüppelt oder siech von giftigen Dämpfen.

Da ich in meiner Einfalt nicht daran gedacht hatte, obgleich ich es eigentlich wusste, dass es an der Universität noch mehrere andere Richtungen gibt als die Theologie, war ich überrascht, als ich merkte, dass mein Professor ein berühmter Arzt ist. Er unterrichtet in der Charité Anatomie, aber sein eigentliches Fach sind die Krankheiten, welche die Gesellschaft erzeugt. Er ist unter den Voigtländern bereits wohlbekannt, und die Leute erzählen ihm bereitwillig ihre Lebensläufe, Unfälle und Krankheiten.

Mit einem Einarmigen unterhielten wir uns lange. Er machte einen ungewöhnlich klugen Eindruck, obschon er nur ein Arbeiter ist. Er ist bis nach Paris gekommen und hat etliche Bücher gelesen. Nach seinen Wanderjahren ist er Maschinenarbeiter im Berliner »Eisenland« gewesen — in den großen Fabriken vor dem Oranienburger Tor, in dessen Nähe ich wohne. Ein Schwungrad hat diesem Manne einen Arm abgerissen. Er hat noch das Glück, eine einfache Arbeit gefunden zu haben: Er ist nämlich Lampenputzer in einem Theater.

Dieser Mann verfügt über erstaunliche Einsichten in die Gesellschaft, die mich um so tiefer berührten, da sie in einer Umgebung geäußert wurden, welche um vieles elender ist als die Katen der Ärmsten von Tripperow. Er wollte mir ein Buch aufreden, das hieß: Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte. Der Professor hielt mich davon ab, es zu nehmen. Er wolle mir am Abend ein besseres geben, versprach er.

Auf dem Heimweg sagte der Professor zu mir, dass diese armen Menschenkinder gewiss mehr brauchen als das Wort Gottes und — das ist nicht gegen Dich gerichtet, liebe Schwester, da er Dich gar nicht kennt — handgestrickte Wollstrümpfe von wohltätigen Damen. Sie brauchen menschenwürdige Bedingungen. Die müssen ihnen die denkenden Köpfe der Gesellschaft erringen — also wir Geistesmenschen, und nicht einarmige Wirrköpfe, welche glauben, weil sie einmal in ihrem Leben Paris gesehen, wüssten sie, was die Deutschen benötigen!

Hör doch, Charlotte, ein so bedeutender Mann sagte wir, als er von den Köpfen der Gesellschaft zu mir sprach!

Da wir den ganzen Tag ohne Essen waren, gingen wir gegen Abend zusammen in eine Speisewirtschaft in der Schumannstraße, ganz nahe bei unserem Hause. Der Wirt ist ein Patient des Professors und ihm sehr verpflichtet. Außerdem ist er ein politischer Mensch, was hier keineswegs als Schimpfwort gilt.

Habe keine Angst — nicht die Politik ist es, was seit jenem Tage meine Gedanken gefangenhält, ebenso wenig wie jene unglückselige Marie, die am selben Abend wieder in mein Zimmer wollte. Als ob mir der Sinn nach fleischlicher Begier und Lust stünde! Ich lag zu Bette und las. Die Tür hielt ich abgesperrt und mich selber ganz ruhig, als schliefe ich längst. Marie sah aber durch den Türspalt das Licht brennen und fing draußen auf dem Flur an zu bitten und zu fordern. Das trieb sie so lange, bis zu meiner großen Scham der Professor aus seinem Zimmer trat und sie fortschickte, ich hätte viel zu lesen und zu überdenken, denn morgen sollte ich mich immatrikulieren lassen.

Diese Worte waren zweifellos an mich selbst gerichtet! Ich las nämlich in dem Buche, das der Professor mir versprochen. Er in höchsteigener Person hat es geschrieben, in Paris ist es gedruckt, weil von unseren hiesigen Zensurbehörden verboten. Erschrick nicht, liebe Schwester, es ist kein politisches, sondern ein medizinisches Buch. Er schreibt darin über die Berlinische Typhusepidemie vom vorigen Jahre in einer Weise, dass man selbst dabei gewesen zu sein glaubt. Es ist aber eigentlich auch ein Buch darüber, dass die Leiden der Menschen so verschieden sind wie die Verhältnisse, in denen sie leben. Dass die einen in elenden Löchern krank liegen und sterben, während die anderen vor der Seuche ans Meer fliehen oder ins Alpengebirge. Also hat der Arzt die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Menschen saubere Wohnungen haben und ans Meer fahren können. Ist das nicht fantastisch, Charlotte? Möchtest Du nicht auch einmal in Deinem Leben das Meer sehen?

Ich las die ganze Nacht und fiel erst gegen Morgen in Schlummer. Um zehn Uhr ging ich, als wäre es verabredet, mit meinem verehrten Zimmernachbarn zur Charité und schrieb mich dort in seiner Gegenwart als Medizinstudent ein. Das ist es, was ich Dir mitzuteilen habe, nur deshalb die vielen Worte. Ich muss Arzt sein, sonst will ich nichts in der Welt und im Leben!

Liebe Charlotte, vielleicht kannst Du mich nicht verstehen. Weiß ich doch selber kaum, wie es kam: Ich fühle ganz deutlich, dass ich dem Professor mehr Gehorsam und Liebe entgegenbringe als unserem Vater, den ich weiß Gott seit einundzwanzig Jahren ehrlich respektiere.

Obgleich ich dies alles nicht gewollt oder bewusst herbeigeführt habe, fühle ich mich dabei sehr glücklich. Und nur der Gedanke, dass mich der Vater, wenn er es erfährt, nach Tripperow zurückrufen wird, macht mir Pein. Schließlich hat er mich nach Berlin geschickt, damit ich ein Pastor werde wie er selbst, ich bin ja sein einziger Sohn, und ich weiß nur zu gut, dass an Deiner Aussteuer gespart wurde und die anderen Schwestern noch gar keine haben, weil ich studieren soll.

Hilf mir, Charlotte, wie Du mir geholfen hast, wenn ich das griechische Diktat verdorben hatte. Und vor allem: Sage dem Vater nichts!

Ich grüße Dich und wünsche Dir Gottes Segen!

Dein Bruder Karl Klee, Student.

Berlin, den 16ten März 1848

Liebe Schwester!

Aus meiner veränderten Adresse siehst Du, dass ich Dir Neuigkeiten zu berichten habe. Aber zuerst sei bedankt für Deine trostreichen Briefe voller Zuneigung und Verständnis. Dass Du mir verzeihst, ist das Eine. Doch das Andere, wovon Du schreibst, weiß ich selber nur zu genau: Dass mir der Vater niemals vergeben wird, und dass Du, falls er die Wahrheit erfährt und seine Hand von mir abzieht, keine Möglichkeit hast, mir Geld zum Studieren zu schicken. Ich stelle mir sehr lebhaft vor, wie Du jeden Abend vor Deinen Mann hintrittst und ihm Rechenschaft gibst über jeden Pfennig, den Du am Tage für Brot, Nähgarn oder Seife ausgegeben hast.

So habe ich mich damit abgefunden, in der Lüge zu leben — dient dies doch einem edlen Zweck! — und jeden Monat einen falschen Brief heim nach Tripperow zu schreiben, in dem ich meine Gesundheit, meine Dankbarkeit und gute Fortschritte im Studium verzeichne.

Zu Weihnachten habe ich nicht gewagt, nach Hause zu reisen. Der Vater hätte alles ganz genau wissen wollen: die Vorlesungen, die Professoren, die Dispute, er hätte meine Kenntnisse geprüft ... Am Ende hätte ich es nicht mehr ertragen, mich ihm zu Füßen geworfen und alles zerstört, was ich bisher erreicht. So zog ich es vor, eine Influenza zu simulieren, und darauf erhielt ich mit der Post einen leckeren Korb aus Tripperow nebst Briefen vom Vater und den vier Schwestern, die mich sehr erfreuten, zum Teil aber auch erheiterten wegen der guten Ratschläge, meine theologischen Studien betreffend, und wegen der Freude der Schwestern über die von mir gemeldeten Fortschritte. Du musst nämlich wissen, liebe Charlotte, dass ich wirklich ein fleißiger und überaus begabter Student bin, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Jedenfalls versichert das mein Blindow, der mich in sein Herz geschlossen hat und entsprechend stolz auf mich ist. Er kann sich loben, einen jungen Mann vom Lande, der reinen Sinnes in diese babylonische Stadt kam, um ein Diener Gottes zu werden, zu einem Diener an den Menschen zu formen nach seinem eigenen Bilde. Um den Menschen dienen zu können, muss man sie lieben, sagt er. Deswegen studiere ich jetzt ihre Verhältnisse genauestens. Gelegenheit dazu habe ich genug, denn ich logiere neuerdings im Gasthof, seit ich plötzlich meine Wohnung verlor und mitten im Semester keine andere finden konnte. Und nun, da das Semester gewechselt hat, bleibe ich, wo ich bin, denn ich fühle mich hier mittlerweile sehr glücklich.

Nun will ich Dir aber berichten, wie es dazu kam, dass ich das Zimmer im Hause des Sargtischlers verlassen habe:

Ich gestehe freimütig, dass ich meine Türe nicht jeden Abend verschlossen hielt. Du musst wissen, dass vieles, was wir durch unsere Erziehung als verachtenswert und gegen die gottgewollte Moral gerichtet anzusehen gelernt haben, hier in der Großstadt durchaus als normal gilt und keineswegs von der öffentlichen Meinung geächtet wird. So ist es also kein Verbrechen, wenn ein ansonsten ehrbarer junger Mann wie ich ... Liebe Charlotte, Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Versuchung Maries großer, breiter Mund, der immerzu kichert und schnattert, sogar während ... Jetzt musst Du mir verzeihen, dass ich den Brief verdorben habe. Aber lieber verunziere ich nach dem Muster der Zensur mit einem dicken Tintenbalken die ganze Seite, als dass ich Dich die gute Meinung über Deinen Bruder verlieren ließe.

Es genügt nämlich, dass mein Blindow mit mir schimpfte und mir die Konsequenzen dieser heimlichen Liaison vor Augen hielt. Ich solle lernen und nicht poussieren, verlangte er. Er ist eben schon in gesetzten Jahren und ein typischer Hagestolz. Vielleicht war es etwas voreilig von mir zu erklären, dass ich ihm ganz und gar verfallen sei. Zwar ist mir seine Freundschaft in der Universität recht nützlich. Und dass er mich auf den Weg zur Medizin gestoßen, danke ich ihm gewiss.

Aber inzwischen, Charlotte, habe ich einen anderen trefflichen Mann kennengelernt, der meine Zuneigung jetzt mehr und mehr beansprucht. Ich rede von Guillaume, dem Wirt des Klub-Kasinos, in welchem ich seit Kurzem wohne.

Dieser Mann ist ein wirklicher Berliner. Er vereinigt die besten Seiten dieser Stadt in seinem Wesen. Er ist schön wie der Erzengel Michael, groß gewachsen und breitschultrig, auch hat er einen wohlgebildeten Kopf mit durchaus geistigem Ausdruck. Nur fünf Jahre älter als ich selbst, ist Guillaume bereits ein fertiger Mann, an dem man sich ein Beispiel nehmen kann. Leider hinkt er auf einem Bein. Aber dadurch habe ich ihn überhaupt erst kennengelernt.

Mein neuer Freund leidet nämlich an einer seltenen Knochenkrankheit im linken Fuß, und mein Blindow behandelt ihn zu seinem eigenen Ruhme, wobei er mich hinzuzieht, damit ich etwas lerne. Überhaupt nimmt er mich zu vielen seiner Krankenbesuche mit: zu unfälligen Arbeitsmännern oder gar zu heimlichen Geburten in den Häusern, wo die billigen Mädchen wohnen.

Liebe Charlotte, zu meinem Entzücken habe ich die Politik entdeckt!

Erschrick nicht, mein Herz, ich habe nicht die Absicht, das Medizinstudium an den Nagel zu hängen und Gesandter in Frankreich zu werden. Alles, was ich von der Politik bisher wusste, war nicht geeignet, mein Interesse zu wecken. Dass ich den griechischen Ursprung dieses Wortes herleiten kann und auf dem Gymnasium viele facta über die Politik der römischen Kaiser auswendig lernte, weißt Du. Aber dass Politik etwas ist, mit dem man jeden Tag zu tun hat und wobei man zu einer Pfeife Tabak sogar mitreden kann, das habe ich erst hier erfahren, und zwar durch Guillaume. Wie soll eine Sache, die so viel Vergnügen macht, Teufelswerk sein?

Stelle Dir vor: Guillaume, dieser erstaunliche Mensch, hält in seinem Lokal elf ausländische Zeitungen. Leider verstehe ich kein Wort Englisch. Doch mein Französisch ist gut genug, dass ich die erstaunlichen Dinge, die sich derzeit in Paris zutragen, original erfahre und im Kasino mitsprechen kann. Weil Politik nichts für Damen ist, schweige ich von diesen hochinteressanten Dingen und erwähne Dir lieber die Leute, welche hier regelmäßig herkommen und einen ordentlichen Disputier-Klub betreiben. Blindow und ich nehmen natürlich teil!

Zum Beispiel gibt es da einen verabschiedeten Leutnant aus dem Sächsischen, der wegen der Herausgabe einer umstürzlerischen Zeitung mehrere Jahre Festungshaft abgesessen hat. Und der allen Ernstes annimmt, es werde in Berlin bald eine Revolution geben, an deren Spitze er sich stellen will! Dieser Leutnant Drescher hat ein solches Feuer in sich, dass es einen förmlich versengt, wenn er redet. Aber fürchte nichts, Du weißt, ich bin ein kühler Kopf und lasse mich von niemandem beeinflussen.

Doch ich will von Guillaume erzählen! Er ist mit einer erstaunlichen Stimme begabt und singt viel schöner als der Sohn des Lehrers, den wir an Feiertagen manchmal in Vaters Kirche hörten. Opernsänger hat Guillaume wollen werden oder wenigstens Schauspieler. Aber der Herrgott hat ihn vor der Verwirklichung dieses seltsamen Wunsches bewahrt, indem er ihm einen kranken Fuß bescherte.

Es ist schon so, wie mein Blindow sagt: Die Krankheiten werden von den Verhältnissen bestimmt. Denn wäre Guillaume arm, hätte er sein Bein verloren. So aber hat er ein eigenes Haus, saubere Wäsche, gutes Essen, Wärme und genug Wasser, um alles so zu machen, wie Blindow verlangt — und Geld, die Medizin zu kaufen. Freilich muss er an einer Krücke laufen, die zu seiner athletischen Gestalt passt wie Zaumzeug zum Adler.

Guillaume meint ebenfalls, dass die französischen Zustände sich bis nach Berlin ausbreiten werden, und zwar auf Adlerflügeln. Es werde bald keine Zensur mehr geben, sodass wir lesen können, was wir mögen. Auch werden wir reden, wie und worüber und sogar wo wir wollen, ohne gestraft zu werden. Unter freiem Himmel gar, behauptete Guillaume! Er betonte das Wort frei auf eine seltsame Weise, und dann fing er sogar an, in Versen zu sprechen, wovon sich mir einige unvergesslich eingeprägt haben:

»Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder«.

»Wir wollen auf Erden glücklich sein,

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

Was fleißige Hände erwarben.«

Das Himmelreich auf Erden, Charlotte! Begreifst Du, was das heißt? Zuckererbsen und Honig für jedermann, und nicht erst nach dem Tode!

An dieser Stelle muss ich Dich wieder erinnern, dass Du meine Briefe auf keinen Fall Deinem Manne in die Hände fallen lassen darfst!

Guillaume sprach diese Verse mit solchem Ausdruck, dass mir beinah die Tränen kamen.

Mein Professor riss mich aus meiner Hingabe. Mit dürren Worten erklärte er mir, dass diese Verse natürlich verboten seien. Der Dichter, der sie geschrieben hat, lebt in Paris, und hierzulande gibt es einen Haftbefehl gegen ihn. Ach, ich möchte wohl auch in Paris wohnen und Verse schreiben und von Zuckererbsen leben!

Dass mein Blindow einen Dichter verehren könnte, war mir neu. Es passt eher zu Guillaume. Aber der Professor zitierte aus dem Kopfe: »Unsere Nachkommen werden schaudern, wenn sie einst lesen, welch gespenstisches Dasein wir geführt. Unsere Zeit wird als eine große Krankheitsperiode der Menschheit betrachtet werden.«

Findest Du das nicht auch beachtenswert, liebe Charlotte? Guillaume mit seinem Temperament und der Professor mit seiner Nüchternheit — sie sind so verschieden und wollen doch dasselbe: das Himmelreich auf Erden! Das ist es, was ich auch will. Deswegen hat mich der Professor so leicht zur Medizin bekehrt, und deshalb habe ich kein schlechtes Gewissen mehr, wenn ich dem Vater allmonatlich einen Lügenbrief schicke.

Was würde er wohl sagen, wenn er erführe, dass ich im Tiergarten auf einer politischen Studentenversammlung war? Es wird nämlich erzählt, dass der König uns ein Parlament versprechen will, um die Revolution unnötig zu machen und das Himmelreich auf Erden ohne Blutvergießen zu schaffen. Denke Dir nur, Hunderte von jungen Männern aller Fakultäten unter der frühen Märzensonne, viele davon mit langen Bärten und in altdeutscher Tracht, was beides ein Zeichen aufrührerischer Gesinnung sein soll, und die Polizei war auch da.

Ach, Schwester, was dort alles geredet wurde — mir schwoll das Herz! Ich habe das meiste überhaupt nicht verstanden, weil immerzu Hochrufe die Redner unterbrachen und manches Mal mehrere gleichzeitig sprachen. Habe ich vorher nie das Gefühl gehabt, unfrei zu sein, so wird mir jetzt beim Gedanken an die Freiheit, die wir bald bekommen sollen, ordentlich heiß. Du musst aber nicht denken, dass ich nun fortan in Kniehosen und Wams herumlaufen und mir einen vollen Bart stehen lassen will! Was sich schickt und was nicht, hast Du mich fürs ganze Leben gelehrt, und Guillaume geht auch ordentlich gekleidet.

Als ich von jener Versammlung zurückkam und begeistert im Kasino-Klub (das ist unser Disputierverein im Klub-Kasino!) davon berichtete, schlug mir Guillaume brüderlich auf die Schulter. Blindow aber verlangte, ich solle mehr lernen und nicht schwafeln gehen. Das kränkte mich zwar, doch ich dachte: Vielleicht hat er recht. So blieb ich ein paar Tage zu Hause, um mich auf mein erstes Testat (nächste Woche!) vorzubereiten. Auch beanspruchte mich die Mamsell Marie. Du musst Dir vorstellen, dass wir uns in dem leeren Hause vor Überraschungen ziemlich sicher fühlten. Denn ihr Vater war viel unterwegs. Er ist nämlich Schutzbürger geworden: ehrenhalber und ohne Waffen sollen die Schutzbürger in der Stadt für Ordnung sorgen; eine bewaffnete Bürgerwehr ist von der Regierung nicht gestattet worden. Magnus ist auf seine neue Würde so stolz, dass er sich wie ein Truthahn bläht und mit seiner Armbinde und dem weißen Stöckchen vor dem Spiegel posiert.

Der arme Magnus! Was will er mit Stab und Stimme ausrichten, wenn wirklich die Revolution kommen sollte? In der Breiten Straße hat die Infanterie in eine Menschenansammlung geschossen, und die Schutzbürger sind mit den Leuten zusammen geflohen — in großer Unordnung, versteht sich. Das hatte zur Folge, dass Magnus unerwartet früh nach Hause kam und mich in seiner Küche fand, wo ich eben seiner Tochter ins Mieder fassen wollte. Und wenn sie in der Breiten Straße nur ein wenig langsamer geflüchtet wären, säße ich jetzt im Gefängnis, denn dann wäre ich bereits heftiger mit Marie beschäftigt gewesen. So aber warf mich Magnus nur aus dem Hause. Ich käme als Eidam für ihn nicht infrage! Ein mittelloser Student!

Dieser alberne Mensch schien angenommen zu haben, ich wolle seine Tochter heiraten! Ein so sittenloses Frauenzimmer! Ich habe nie daran gedacht, das Himmelreich in einer Sargtischlerei zu errichten. Gewiss wird er nie wieder einen so guten Mieter bekommen. Ich zog also zu Guillaume, der mich als guter Freund aufnahm. Bei ihm zahle ich nicht mehr Miete als vorher bei Magnus.

Einen erheblichen Nachteil hat allerdings meine Kammer. Ich meine nicht, dass sie keinen Ofen hat. Es wird bald wärmer werden. Aber sie liegt direkt über dem Saal, und ich kann abends weder studieren noch schlafen. Eine lärmende Musik dringt jede Nacht zu mir herauf und raubt mir fast den Verstand, dazu Kreischen, Gelächter, das Klirren von brechendem Geschirr ... Schwer kann ich mich damit abfinden, dass mein Kasino-Klub sich nachts in eine so wüste Stätte verwandelt und dass mein erzengelähnlicher Freund, der am Tage aus französischen Zeitungen vorliest und Heineverse rezitiert, am Abend Dirnen mit ihren Galanen bewirtet. Auch schenkt er braven Arbeitsmännern Bier und Branntwein aus, bis sie keinen Groschen mehr in der Tasche haben und besinnungslos auf die Straße taumeln.

Charlotte! Ich werde diese Stadt und ihre Menschen nie richtig verstehen, wenn ich nicht einer von ihnen werde. Nur deshalb gehe ich jetzt jeden Abend in den Saal hinab und mische mich unter diese Leute, um das Leben zu studieren. Das kostet mich einige Opfer, auch finanzielle. In aller Bescheidenheit bitte ich Dich, liebste aller Schwestern, mir etwas, nur ein wenig Geld zu schicken, damit ich Guillaume meine Miete bezahlen kann, denn der Wechsel von Vater reicht nicht mehr aus.

Denk an das Himmelreich auf Erden und hilf mir.

Sei umarmt von Deinem

glücklichen Bruder Karl Klee, Student.

Berlin, den 25ten März 1848

Liebe Charlotte!

Ich bin dabei gewesen. Alles hat sich verändert, am meisten ich mich selbst. Alle Zeitungen haben über die Berliner Ereignisse so lang und breit geschrieben, dass ich ganz sicher annehme, Du hast bei Euch in Neuruppin auch etwas davon gehört, selbst wenn Du in keine Zeitung schaust. Ich will versuchen, Dir zu erklären, wie es kam, dass ich nicht Zuschauer blieb, sondern alles aus nächster Nähe und in allergrößter Beteiligung erlebte.

Am Zwanzigsten sollte ich bei Professor Blindow zum Testat erscheinen. Aber seit Tagen schon sprach in der ganzen Charité kein Student mehr von Anatomie, sondern nur von der Pressefreiheit, der Einberufung des Landtages und der Vertreibung des Militärs, welches die Bevölkerung so drangsalierte, dass etwas geschehen musste. Am achtzehnten sollte ein feierlicher Aufmarsch der Schutzbürger auf dem Schlossplatz stattfinden, wo dem König eine Bittschrift mit den entsprechenden Punkten überreicht werden sollte. Aber am Morgen dieses Tages verteilten die Zeitungsjungen Extrablätter: Der König hatte die Pressefreiheit und den Landtag bereits bewilligt! Aus dem Hörsaal fort liefen die Studenten, und ich auch, zum Schlossplatz. Dort hatte sich bereits eine große Menge Volk angesammelt. Die Stimmung war gemischt. Ich hörte reden, die Bewilligung sei nur ein Schachzug, um den Aufmarsch absagen zu können.

Noch ehe ich mir eine eigene Meinung dazu bilden konnte, erschien plötzlich der König auf seinem Balkon. Die Menge geriet in Ekstase. Auch ich jubelte lauthals mit, denn ich hatte den König noch nie gesehen. Neben dem König stand der Bürgermeister, er las mit starker Stimme das Patent vor, in dem der Landtag und die Pressefreiheit bewilligt wurden. Aber keine Rede war davon, was mit dem Militär würde, das seit dem vergangenen Monat aus Stettin, Halle und anderen Städten in Berlin zusammengezogen war.

»Fort mit dem Militär!«, wurde aus der Menge gerufen.